Aus Sternen und Staub - T. J. Klune - E-Book

Aus Sternen und Staub E-Book

T. J. Klune

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Beschreibung

Mit farbig gestaltetem Buchschnitt – nur in limitierter Erstauflage der gedruckten Ausgabe (Lieferung je nach Verfügbarkeit)

Nate Cartwright steht vor den Trümmern seines Lebens: seine Eltern sind tot, sein Bruder will nichts von ihm wissen und seinen Job hat er auch verloren. Er beschließt, nach Roseland in Oregon zu fahren. In der Abgeschiedenheit der Berge will er wieder zu sich selbst finden. Pläne schmieden. Vielleicht endlich einen Roman schreiben. Nate war schon seit Jahren nicht mehr in der Hütte seiner Familie. Seit seine Eltern ihn nach seinem Coming-out rausgeworfen haben nicht mehr. Soweit er weiß, sollte die Hütte verlassen sein. Nur, dass sie das nicht ist. Ein Mann namens Alex hat sich dort versteckt und mit ihm ein kleines Mädchen, das auf den obskuren Namen Artemis Darth Vader hört. Die Geschichte, die Alex und Artemis erzählen, ist so unglaublich, dass sie eigentlich nur wahr sein kann. Und plötzlich muss Nate eine Entscheidung treffen: Will er sich weiter den Dämonen seiner Vergangenheit ergeben oder will er für eine Zukunft kämpfen, die er nie für möglich gehalten hätte?

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Seitenzahl: 595

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Das Buch

Nate Cartwright hat alles verloren: seine Eltern sind tot, sein Bruder will nichts von ihm wissen und seinen Job als Journalist bei der Washington Post ist er auch los. Er beschließt, nach Roseland in Oregon zu fahren. In der Abgeschiedenheit der Berge will er sich überlegen, wie es jetzt weitergehen soll. Pläne schmieden. Vielleicht endlich seinen Roman schreiben. Nate war nicht mehr in der Hütte, seit seine Eltern ihn nach seinem Coming-out rausgeworfen haben. Soweit er weiß, sollte sie verlassen sein. Nur, dass sie das nicht ist. Ein Mann namens Alex hat sich dort versteckt und mit ihm ein Mädchen, das auf den eigenartigen Namen Artemis Darth Vader hört. Nate ist misstrauisch. Wieso ist ein vierzigjähriger Mann mit einem zehnjährigen Mädchen auf der Flucht? Die Geschichte, die Alex und Artemis ihm erzählen, ist so unglaublich, dass sie eigentlich nur wahr sein kann. Und plötzlich muss Nate eine Entscheidung treffen: Will er sich weiter den Dämonen der Vergangenheit ergeben oder für eine Zukunft kämpfen, die er nie für möglich gehalten hätte?»Ein modernes Märchen und ein Fantasy- Abenteuer, das genauso aufregend wie lustig ist.« WIRINBAYERN über Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte

»Ein sehr fantastisches Abenteuer mit schön schrägen Charakteren.« WDR 1 Live über Die unerhörte Reise der Familie Lawson

Der Autor

T. J. KLUNE griff im Alter von sechs Jahren zu Stift und Papier und schrieb eine mitreißende Fanfiction zum Videospiel Super Metroid. Zu seinem Verdruss meldete sich die Videospiel-Company nie zu seiner verbesserten Variante der Handlung zurück. Doch die Begeisterung für Geschichten hat T. J. Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Für die herausragende Darstellung queerer Figuren in seinen Romanen wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Mit seinem Roman Mr. Parnassus‘ Heim für magisch Begabte gelang T. J. Klune der Durchbruch als international gefeierter Bestsellerautor. Im Heyne Verlag sind von T. J. Klune außerdem erschienen: Das unglaubliche Leben des Wallace Price und Die unerhörte Reise der Familie Lawson.

T. J. KLUNE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Pfingstl

Titel der Originalausgabe:

THEBONESBENEATHMYSKINDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen..

Deutsche Erstausgabe 10/2023

Redaktion: Charlotte Gerk

Copyright © 2018 by TJ Klune

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-30245-0V002

www.heyne.de

Für alle, die von Sternen träumen.

»ich will nur nach hause«, sagte der astronaut.

»dann komm nach hause«, funkte die bodenstation.

»dann komm nach hause«, sagten die Sterne.

jomny sun

Ihr werdet es nicht verstehen, zumindest nicht gleich, und das ist okay. Vielleicht haltet ihr mich sogar für eine Lügnerin, aber auch das ist okay. Alles, worum ich bitte, ist, dass ihr bis zum Ende zuhört, bevor ihr euch ein Urteil bildet. Ich habe euch eine Geschichte zu erzählen. Von einer Einrichtung in einem Berg. Von den Gedanken der Menschen. Was es bedeutet, ein Mensch zu sein und ein Zuhause an einem Ort zu erschaffen, wo es eigentlich keines geben kann. Und von der Zukunft. Von eurer, meiner und unser aller.

EINS

Er sang die Melodie im Radio mit.

Irgendwas über einen Typen und ein trauriges Lied, mit dem alles im Leben besser wird.

Danach lachte er, bis er kaum noch Luft bekam.

Er überquerte die Grenze zu Douglas County, als das nächste Lied endete. Dann kamen die Nachrichten. Wie jede volle Stunde.

In einem Hotel in Texas war eine Sängerin namens Selena erschossen worden. Er hatte den Namen noch nie gehört.

TAROM Flug 371 war auf dem Weg von Bukarest nach Brüssel kurz nach dem Start abgestürzt. Alle sechzig Passagiere an Bord starben. Eine Untersuchung wurde eingeleitet. Im Moment noch kein Terrorismusverdacht.

Der im Jahr zuvor entdeckte Komet, Markham-Tripp, kam der Erde allmählich näher. Wenn man wusste, wo man hinschauen musste, konnte man ihn schon sehen. Aber keine Sorge Leute, er fliegt nur eine Kurve um uns herum und verschwindet dann wieder in den Weiten des Alls.

Und immer noch keine offizielle Mitteilung zu dem Hubschrauberabsturz im Marine Corps Mountain Warfare Training Center in Kalifornien. Die Ursache werde nach wie vor untersucht, allerdings schien ein Zusammenhang mit dem schweren Unwetter letzte Woche zu bestehen. Auch zu eventuellen Todesopfern wurden keine Angaben gemacht.

Und nun zum Wetter. Es wird ein wunderschöner Tag, seht euch nur die Sonne draußen an! Kaum zu glauben, oder?

Es war der 31. März 1995.

Er fuhr weiter nach Süden.

Je tiefer er in die Berge kam, desto kälter wurde die Luft. Die Sonne wärmte die Hand, die er aus dem Fenster hängen ließ. Der blaue Himmel erstreckte sich weit und immer weiter. Es gab ein paar Wolken, aber nur wenige.

Ein schöner Tag, dachte er. Natürlich. Das ist der Lauf der Dinge.

Am späten Nachmittag erreichte er das Städtchen. Er sah das Schild, alt und ausgeblichen. Es stand schon seit seiner Kindheit dort, als er mit seinen Eltern jeden Sommer ein paar Wochen auf der Hütte verbracht hatte. Die Aufschrift lautete:

Roseland, Oregon

827 Einwohner, Gründung 1851

704 m ü. M.

Tor zu den Cascades!

Er kam an einem Diner vorbei. Einer Kirche. Geschäften zu beiden Seiten. Manche hatten offen. Die Touristensaison würde erst in ein oder zwei Monaten beginnen, und bis dahin wären sie bereit für all die Menschen, die Zuflucht von Hitze und Großstadthektik suchten, ihr Geld ausgaben und Fotos machten, um dann wieder dorthin zu verschwinden, wo sie hergekommen waren.

Es duftete nach Kiefernnadeln und Erde. Es war, als wäre er wieder zehn, als würden sich seine Eltern nach wie vor lieben, lieben, lieben. Lachen und die Lieder im Radio mitsingen. Ihm mit Spielen die Zeit vertreiben: Ich sehe was, was du nicht siehst. Wer bin ich? Nummernschilder aus möglichst vielen verschiedenen Bundesstaaten entdecken. Alle fünfzig zu schaffen, war vollkommen unmöglich, wie er bald herausfand. Sein Rekord lag bei sieben. Das war ein guter Tag gewesen. Auf einem hatte Maine gestanden, was damals unvorstellbar weit weg gewesen war.

Noch vor der Tankstelle sah er das Hinweisschild. Es schaukelte träge im Wind, trotzdem konnte er die Aufschrift lesen. BIGEDDIE’S TANKSTELLEUNDMINIMARKT. Er seufzte erleichtert. Es war schön zu wissen, dass manche Dinge sich nie änderten. Egal was sonst passierte.

Er bog von der Straße ab, die Reifen seines Pick-ups rollten über das dünne schwarze Kabel, und im Laden läutete ein Glöckchen. Neben der Zapfsäule blieb er stehen, stellte den Motor ab und hörte ihm beim Ticken zu.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, bevor er die Fahrertür öffnete und seinen knackenden Rücken streckte. Er war erst siebenundzwanzig, doch die Tage, an denen er problemlos Stunden hinter dem Steuer sitzen konnte, waren vorbei. Seine Muskeln schmerzten. Ein gutes Gefühl.

Die gläserne Eingangstür des Ladens schwang auf. Ein großer Mann kam heraus und wischte sich die Hände an einem Lumpen ab. Wäre da nicht das Lächeln auf seinem Gesicht gewesen, hätte man beim Anblick des Kerls glatt erschrecken können. Der Typ war der größte Mensch, den er je gesehen hatte. Musste an der Bergluft liegen.

»Sieh mal einer an, wen haben wir denn da?«, fragte Big Eddie Green mit seiner Bassstimme. »Der leibhaftige Nate Cartwright.«

Nate zwang sich zu einem Lächeln. »Big Eddie. Schön zu sehen, dass der Saftladen immer noch dir gehört.«

»Pass auf, was du sagst«, erwiderte Big Eddie, doch sein Lächeln blieb unerschütterlich. Nate konnte seine bezaubernd schiefen Zähne sehen. Eddie streckte ihm seine kräftige Hand entgegen. Die Ölflecken darauf machten Nate nichts aus. Er erwiderte die Geste. Big Eddies Händedruck war fest, aber nicht übertrieben. So war er nicht, zumindest nicht, dass Nate sich erinnern konnte. Er hatte ihn seit seinem einundzwanzigsten Geburtstag – dem letzten Mal, dass er auf der Hütte gewesen war – nicht mehr gesehen, und sie waren schließlich nicht befreundet. Auch wenn Big Eddie die Gabe hatte, sich mit jedem anzufreunden, wenn er es wollte. Sein Lächeln hatte eine beruhigende Wirkung auf Nate. Es war vertraut. Auf herzzerreißende Weise.

»Auf dem Weg zum Berg?« Big Eddie ging bereits zur Zapfsäule. »Bleifrei?«

»Genau«, erwiderte Nate und lehnte sich gegen den Kotflügel. Sein Blick wanderte zum Laden. Drinnen stand ein Junge über die Theke gebeugt und schrieb fieberhaft. Zwischen seinen Schneidezähnen lugte die Zunge hervor, als wäre er hochkonzentriert. »Großer Gott, ist das Benji?«

Big Eddie lachte. »Ja«, erwiderte er. Nate hörte die Zuneigung in seiner Stimme, rau und süß. »Er wächst wie Unkraut. Bald kann er seiner Ma und mir auf den Kopf spucken. Verrückt, oder?«

»Ist es«, bestätigte Nate, weil er wusste, dass genau das erwartet wurde. So funktionierten Unterhaltungen eben. Er war nicht sonderlich gut darin, und auf seiner Flucht ins Nirgendwo war das hier wahrscheinlich die letzte Gelegenheit zum Üben.

Die Benzinpumpe summte.

Big Eddie warf einen Blick auf die Ladefläche des Pick-ups und stieß einen Pfiff aus. »Das sind eine Menge Vorräte. Hast du vor, länger zu bleiben?«

Nate zuckte die Achseln. »Eine Weile.«

Eddies Lächeln wurde ein wenig sanfter. »Die Sache mit deinen Eltern tut mir leid. So was … Na ja, recht viel mehr kann ich dazu nicht sagen. Muss hart gewesen sein. Ich kann es mir nicht mal vorstellen, also will ich dich nicht beleidigen, indem ich so tue, als ob.«

Nate wusste nicht genau, wie er reagieren sollte. Hart, sicher. Und wie. So wie jeder erweiterte Selbstmord. Sein Vater war zu Nates Mutter gefahren, verletzt und aufbrausend wie meistens, wenn er getrunken hatte. Sie stritten. Die Nachbarn sagten, sie hätten Geschrei gehört und gedacht, es wäre der Fernseher. Oder eine dieser häuslichen Auseinandersetzungen, bei denen man sich nun mal nicht einmischte. Nate nahm es ihnen nicht übel. Vor allem nicht, da sein Vater schließlich zu genau dem Pick-up gegangen war, an dem er und Big Eddie gerade lehnten, seine Schrotflinte von der Ladefläche genommen hatte und zurück nach drinnen gerannt war, um zuerst seine Exfrau und dann sich selbst zu erschießen.

Gar nicht so leicht, wie ihm der Kommissar erschöpft erklärt hatte. Sich mit einer Schrotflinte selbst das Licht auszupusten. Aber sein Vater hatte einen Weg gefunden. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und die Flinte zwischen die Beine geklemmt. Dann das Kinn auf den Lauf gelegt und – man stelle sich vor – mit dem großen Zeh den Abzug gedrückt. Es war eine schreckliche Schweinerei gewesen.

Zumindest glaubte Nate das. Er hatte das Haus danach nicht betreten. Sein Bruder hatte sich darum gekümmert. Für so etwas gab es Firmen, wie er Nate am Telefon sagte. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie miteinander sprachen. Tatortreinigung nennt sich das. Kostet ein Heidengeld, aber dafür tun sie, was sie können. Natürlich ließen sich die Spuren nicht restlos beseitigen, aber so war das nun mal. Sie richteten alles wieder her, dann wurde das Haus verkauft.

Etwas später telefonierten sie noch einmal. »Dad hat dir den Pick-up hinterlassen«, sagte sein Bruder. »Und Mom die Hütte.«

»Oh«, war alles, was Nate damals herausbrachte. »Oh.«

Was er sagen wollte, war: Wie konnte das passieren? Wie konnte es so weit kommen? Klar, sie hatten sich nicht gut verstanden. Sie hatten sich nicht umsonst scheiden lassen, verdammt. Aber sein Vater hatte nie auch nur die Hand erhoben. Gegenüber niemandem. Er war kein freundlicher Zeitgenosse gewesen, aber er hatte seine Kinder nie geschlagen. Auch nicht seine Frau. Kein einziges Mal. So war er nicht gewesen.

»Ja«, sagte Nate. »Es war hart.«

Eddie nickte. »Hast du das Wasser anstellen lassen?«

»Ich hab vor ein paar Tagen angerufen. Morgen kommt jemand vorbei. Den Rest erledigt der Generator, dürfte also nicht allzu kalt werden. Oder nicht lange.«

»Stimmt, der ganze Schnee ist schon wieder weg. War ein milder Winter dieses Jahr. Fünfzehn Grad an Weihnachten, ob du’s glaubst oder nicht. Ich nehme an, die leeren Kanister hättest du auch noch gerne aufgefüllt, oder?«

»Wenn möglich.«

»Kein Problem. Warst du mal wieder dort, seit …«

»Nein.«

Eddie nahm die Kanister von der Ladefläche und nickte bedächtig. »Deine Ma war mal hier. Letzten September, glaube ich. Mit ihrer Freundin. Josie? War das der Name?«

»Joy.«

»Ja, genau. Joy. Die beiden haben gegackert wie die Hühner. Sind zwei Wochen geblieben. Hab sie aber nicht gesehen, als sie wieder abgefahren sind. Deine Ma war glücklich, Nate. Falls dir das was hilft.«

»Danke«, brachte Nate heraus – denn war das nicht genau der Trost, den er gesucht hatte? Sie war glücklich und hat gelacht. Sie hatte sich seit Jahren nicht mehr bei ihm gemeldet, aber, hey, sie hatte eine gute Zeit. Wie schön für sie. »Das ist … nett. Danke.«

»Sie hat von dir gesprochen, weißt du?«, fuhr Big Eddie beiläufig fort, als würden sie gerade im Supermarkt in der Kassenschlange plaudern. »Sie hat gesagt, du wärst groß rausgekommen in Washington. Als Reporter oder so.«

»Journalist«, berichtigte Nate wie automatisch.

Eddie nahm den Zapfhahn aus dem Tankstutzen und steckte ihn in einen der beiden Kanister. »Journalist. Ja, richtig. Journalist für die Washington Post. Sie war mächtig stolz auf dich.«

Nate wollte lachen. Er wollte schreien. Er wollte gegen den Kotflügel treten und Big Eddie anbrüllen, er solle verdammt noch mal die Klappe halten, anstatt von Dingen zu schwafeln, von denen er keine Ahnung hatte. Mochte sein, dass seine Mutter sich vor Stolz den Mund fusselig geredet hatte, aber mit welchem Recht? Damals, als sein Vater ihm sagte, Nate solle bloß verschwinden, er wolle keine verdammte Schwuchtel zum Sohn, war sie stumm geblieben. Nicht ein einziges Wort hatte sie zu Nates Verteidigung gesagt, während sein Vater brüllte, er würde an Schwulenkrebs sterben wie all die anderen Tunten. Nate sah sie flehend an, doch sie blieb stumm. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und ihre Unterlippe zitterte, aber sie sagte nichts. Und damit hatte sie sich zur Komplizin gemacht.

Seine Eltern waren plötzlich in der Tür gestanden. Niemand hatte damit rechnen können, dass sie auf die Hütte fahren würden. Monate zuvor hatten sie Nate eröffnet, dass sie sich scheiden ließen. Allein die beiden miteinander zu sehen, war verwirrend gewesen. Er hatte noch verzweifelt versucht, sich und seinen damaligen Freund zuzudecken, ihrer beider Haut glänzend vom Schweiß, Nates Puls am Rasen. Er schämte sich und wusste selbst nicht genau, wofür. Er tat nichts Falsches. Er war erwachsen und konnte auf die Hütte mitnehmen, wen immer er wollte. Trotzdem hatte er sich schlecht gefühlt, als er das angewiderte Gesicht seines Vaters sah, die feuchten Augen seiner Mutter. Er hatte sich entsetzlich gefühlt.

Danach packten er und der Typ hastig ihre Taschen, ohne die Reißverschlüsse zuzuziehen. Seine Eltern blickten nicht mal vom Küchentisch auf, als er ging. Nate vergaß einen seiner Wanderschuhe und bekam ihn zwei Monate später mit der Post zugeschickt. Ohne eine Zeile dazu, ohne Absender, aber er wusste, dass es seine Mutter gewesen war.

Nate warf den Schuh weg.

Die Beziehung zu seinem Freund hielt danach nicht mehr lange. Ein paar Wochen noch. Aber das war egal. Es war nichts Ernstes gewesen. Eine Ablenkung, mehr nicht.

Er bekam die Hütte.

Er bekam den Pick-up.

In Ordnung. Seine Eltern waren tot und hatten ihm zwei Dinge vermacht, mit denen er so gut wie nichts anfangen konnte.

Vielleicht würde er beides einfach verbrennen. Die Zeit dazu hatte er, nun, da er arbeitslos war.

Wie toll, dass seine Mutter stolz auf ihn gewesen war. Wie absolut großartig.

»Großartig«, erwiderte Nate tonlos. »Freut mich zu hören.«

Big Eddie summte leise vor sich hin. Er nahm sich den zweiten Kanister vor. »Hast du Telefon da oben?«

Nate schüttelte den Kopf.

»Ein Handy?«

Hatte er. »Warum?«

»Gib mir deine Nummer. Nur für den Fall. Du, ganz alleine dort oben, wer weiß? Ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Ich bezweifle, dass ich dort Netz habe.« Schon hier war die Abdeckung wegen der Berge ringsum nur sporadisch. Auf der Hütte wäre es damit wahrscheinlich ganz vorbei.

»Trotzdem. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

Richtig. Nate ging zur Fahrertür. Das Handy lag auf der Sitzbank, ein rotes Nokia mit gesprungenem Display, weil es ihm einmal beim Gehen heruntergefallen war, als er die Hände voller Kaffeebecher hatte. Big Eddie diktierte seine Nummer, Nate tippte sie pflichtschuldig ein und speicherte sie unter EDDIE.

Big Eddie wuchtete die vollen Kanister auf die Ladefläche und wischte sich die Hände ab. Nach einem Blick auf die Zapfsäule sagte er: »Das macht sechsunddreißig Dollar fünfzig, außer du brauchst noch was von drinnen. Letzte Gelegenheit vorm Nirgendwo.«

Nate schüttelte den Kopf. Er nahm seinen Geldbeutel und zog die Kreditkarte heraus, die er erst seit ein paar Monaten hatte. Er staunte immer noch, wie viel praktischer sie war als Bargeld und Schecks.

Big Eddie grinste wieder. »Bin gleich wieder da.«

Nate blickte ihm hinterher.

Die Sonne stand schon weit im Westen. Bald würde es dunkel werden und er wollte weiter. Er hatte mindestens noch eine Stunde Fahrt vor sich. Die zweite Hälfte der Strecke bestand aus von Schlaglöchern übersäten Schotterstraßen, die bei Dunkelheit nicht sehr angenehm waren. Nate hätte früher losfahren sollen, aber der Kater heute Morgen war fürchterlich gewesen, seine Zunge hatte sich geschwollen angefühlt und sein Mund, als wäre er voller Watte. Selbst jetzt hatte er noch leichtes Kopfweh, die letzten Zuckungen eines Schmerzes, der sich den ganzen Vormittag über in sein Hirn gefressen hatte.

Big Eddie stand im Inneren des Ladens und sagte etwas zu seinem Sohn. Nate sah, wie er Benji über den Kopf strich. Benji schlug die Hand weg, und Big Eddie lachte. Dann sagte er etwas, und Benji blickte aus dem Fenster. Nate winkte verhalten. Der Junge winkte mit einem dünnen Ärmchen zurück, sein ganzer Körper wackelte dabei. Lachend kam Big Eddie wieder nach draußen. Den finsteren Blick, den Benji ihm hinterherwarf, sah er nicht.

»Mathe«, erklärte Eddie. »Läuft nicht besonders gut.«

»Mathe nervt«, bestätigte Nate. »Ich hab’s auch nie kapiert.«

Eddie reichte ihm seine Kreditkarte und die Rechnung. »Er will nicht einsehen, warum er das Zeug lernen soll, wenn er doch eines Tages die Tankstelle übernimmt. Ich habe ihm gesagt, er soll seine Ziele ein bisschen höherstecken als Roseland. Aber er wollte nichts davon hören.«

»Manchmal muss man sie tun lassen, was sie für richtig halten.« Nate bereute seine Worte sofort.

»Ja.« Eddie rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vermutlich. Ich habe … Wahrscheinlich ist das einfach so, wenn man Kinder hat. Man will das Beste für sie, will sehen, wie sie flügge werden und das Nest verlassen. Auf Benji wartet eine große Zukunft, glaube ich. Eines Tages. Aber nicht hier.« Er zuckte die Achseln. »Du wirst noch an mich denken, wenn du selber mal Kinder hast.«

Das war eher unwahrscheinlich. Nate hatte nicht die nötige Geduld. Er mochte Kinder nicht, und sie mochten ihn nicht. Das war einfach nichts für ihn. Trotzdem erwiderte er: »Klar.« Weil er wusste, dass das von ihm erwartet wurde.

»Ich lass dich dann mal weiterfahren«, meinte Eddie. »Du hast noch ein ganzes Stück vor dir, und ich könnte den ganzen Tag hier draußen stehen und quatschen. Zumindest sagt meine Frau das. Und ihre Schwestern. Und Benji. Und die meisten hier in Roseland.«

Nate bezweifelte es nicht. Big Eddie war genau der Typ dafür: offen und freundlich. Nate war nicht so. Überhaupt nicht. Er steckte seinen Geldbeutel wieder ein. »Danke.«

Eddie schüttelte ihm noch einmal die Hand. Ein bisschen fester diesmal, als wollte er Nate stumm etwas mitteilen. »Wenn du was brauchst, rufst du mich an, verstanden? Deine Vorräte werden nicht ewig halten. Ruf an, dann treffen wir uns auf halbem Weg, damit du es nicht so weit hast.«

»Das ist nett, aber du musst nicht …«

»Nate, nimm es als das, was es ist: ein bisschen Freundlichkeit. Manchmal brauchen die Menschen das, auch wenn sie sich nicht trauen, darum zu bitten.«

Nate sah weg und räusperte sich. »Danke. Mach ich.« Er drehte sich um.

Bevor er losfuhr, warf er einen Blick zurück. Eddie stand neben seinem Sohn an der Theke und starrte das Blatt Papier dort an. Benji tat das Gleiche. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war erstaunlich. Wie der Vater, so der Sohn.

Nate trat aufs Gaspedal und ließ Roseland hinter sich.

Hinter einem kleinen Dickicht aus Büschen und Sträuchern stand ein Schild. Wenn man nicht wusste, dass es da war, konnte man es glatt übersehen und die Abzweigung auch. Nate wäre beinahe daran vorbeigefahren. Ein Hirsch, der links der Straße zwischen den Bäumen verschwand, hatte ihn abgelenkt. Er trat fester auf die Bremse als beabsichtigt. Der Sicherheitsgurt grub sich in seine Hüfte, und die Reifen quietschten. Dann warf er einen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass bei seinem trotteligen Fahrmanöver niemand hinter ihm gewesen war.

Die Straße war leer. Seit Roseland hatte Nate kein anderes Auto mehr gesehen.

HERSCHELLAKE stand auf dem Schild. 15 MEILEN.

Der Pfeil darunter wies zu einem Feldweg.

Dort stand er nun, mitten auf einer Straße mitten im Wald, und das weit länger als nötig.

Dann schaltete Nate den Blinker ein und bog ab.

Die Fahrt war angenehmer, als er erwartet hatte. Big Eddie hatte recht gehabt mit dem milden Winter. Die Frühlingsluft fühlte sich anders an, elektrisch. Normalerweise lag um diese Jahreszeit noch Schnee, das Rot und Violett der bereits sprießenden Blumen beinahe ein Schock zwischen all dem Weiß. Auch Stürme waren zu dieser Jahreszeit keine Seltenheit.

Aber so war es einfacher. Nate hatte nicht daran gedacht, Schneeketten aufzuziehen, als er Eugene nach dem Termin mit dem Notar verlassen hatte. Er war von DC hergeflogen, und der Notar hatte ihn am Flughafen abgeholt. Nates Bruder hatte keine Zeit gehabt. Das hatte er zumindest behauptet, aber Nate wusste es besser. Er spürte, dass der Notar ihn mit Fragen bombardieren wollte (warumwarumwarum), doch aus irgendeinem Grund hatte er es nicht getan. Stattdessen beteuerte er, wie leid ihm die Sache mit Nates Eltern tat, um im nächsten Atemzug von den Trailblazers zu reden.

»Hab Sie gar nicht bei der Beerdigung gesehen«, sagte er.

»Richtig«, erwiderte Nate und starrte aus dem Fenster.

»Kein Geld«, sagte der Notar etwas später. »Die Leute wollen immer wissen, wie viel Geld sie bekommen, deshalb sag ich’s Ihnen gleich: Die Familie Ihres Bruders hat alles geerbt. Für die Kinder. Das College ist teuer.«

Nate wollte ihr Geld nicht.

Er wollte weder die Hütte noch den Pick-up.

Er nahm sie trotzdem, weil es sonst nichts gab.

»Unterschreiben Sie hier«, hatte der Notar gesagt. »Und hier, hier die Initialen, und hier und hier, und sehen Sie sich das an: Sie sind jetzt stolzer Besitzer eines 1974er Ford F-100 und einer Hütte mit vier Morgen Grund mitten im Nirgendwo. Glückwunsch. Shelly, würden Sie bitte die nötigen Kopien für Mr. Cartwright machen.«

Die Sekretärin ließ ihren Kaugummi knallen und tat wie ihr aufgetragen.

Nate bekam die Schlüssel. Vordertür. Hintertür. Schuppen. Zwei für den Pick-up.

Er bekam die Kopien.

Man brachte ihn zur Tür.

»Melden Sie sich, wenn Sie noch etwas brauchen«, sagte der Notar, doch beide wussten, dass dies das letzte Mal war, dass sie miteinander sprachen.

Der Pick-up stand auf dem Parkplatz. Sein Bruder hatte ihn ein paar Tage zuvor dort abgestellt.

Weiß mit grünen Zierleisten. Die Reifen sahen schon ein wenig abgefahren aus. An der Heckscheibe befand sich ein Gewehrständer – derselbe, auf dem sein Vater die Schrotflinte abgelegt hatte, mit der er Nates Mutter und dann sich selbst erschossen hatte. Nate stand lange auf dem Parkplatz und starrte den Ständer an.

Er blieb ein paar Tage in Eugene, mietete sich ein Zimmer im Motel 6 und erledigte Telefonate. Damit das Wasser wieder angestellt wurde. Außerdem bezahlte er noch ein paar weitere Monate im Voraus die Miete für den Lagerraum in DC. Seine Korrespondenz ließ er an ein Postfach weiterleiten, das er jeden Monat überprüfen würde.

Damit war Nate Cartwrights Leben handlich eingepackt und verschnürt.

In seiner letzten Nacht im Motel starrte er die Decke an und lauschte den Trucks auf dem Highway.

Am nächsten Tag ging Nate zu Walmart, kaum dass der Laden geöffnet hatte, und kaufte alles, was er für einen ausgedehnten Aufenthalt in den Bergen brauchen würde. Als die Kassenkraft ihm den Betrag nannte, zuckte er mit keiner Wimper. Es spielte keine Rolle.

Nate fuhr über ein Schlagloch.

Der ganze Pick-up erzitterte.

Er nahm ein wenig Tempo raus, denn er hatte keinen Ersatzreifen dabei und konnte keinen Platten gebrauchen.

In den Fünfzigern und Sechzigern war Herschel Lake ein beliebtes Urlaubsziel gewesen. Wo früher nur eine Handvoll Hütten gestanden hatte, standen plötzlich Dutzende. Ferienhäuser und Zweitwohnungen, gerade weit genug voneinander entfernt, um den Bewohnern ein Gefühl von Abgeschiedenheit zu vermitteln. Der umliegende Wald hallte von Picknickgeräuschen wider, der See von spielenden Kindern, die von den Stegen und Seilschaukeln aus ins Wasser sprangen.

Gegen Ende der Siebziger war es damit jedoch vorbei. Die Firma, der die meisten der Hütten gehörten, ging bankrott. Das Landverwaltungsamt kaufte einen Großteil des Waldes und überließ die Hütten dem Verfall.

Nates Eltern kamen 1980 hierher. Sie hatten sich in die Gegend verliebt und ein zum Verkauf stehendes Häuschen entdeckt, weit weg von allen anderen. Der Besitzer war von seinen Kindern ins Altersheim gesteckt worden und nun wollten sie die Hütte loswerden. Zwei Monate später gehörte sie den Cartwrights.

Er war dreizehn, als er das erste Mal herkam.

Die Stille machte ihm Angst.

Nach einer Woche hatte er sich daran gewöhnt.

Sein Zuhause kam ihm danach immer so laut vor.

Genau das wollte er jetzt: Stille. Zeit zum Nachdenken. Überlegen, wie es weitergehen sollte.

Zwanzig Minuten später sah er den See. Die Sonne spiegelte sich auf der Oberfläche und er musste gegen die Nachbilder in seinen Augen anblinzeln.

Er überlegte anzuhalten. Seine alten Chucks auszuziehen und die Füße ins kalte Wasser zu strecken. Lake Herschel wurde von Gebirgsbächen gespeist. Die Luft war bereits deutlich kühler als in Roseland. Vielleicht würde die Kälte ihm einen wohltuenden Schock verpassen. Sein Gehirn zu einem Neustart veranlassen.

Aber die Sonne stand schon tief, der Himmel begann sich zu verdunkeln.

Nate wollte die Hütte noch im Hellen erreichen. Und die lag auf der anderen Seite des Sees.

Er fuhr weiter.

Als er die Abzweigung zu der langen Zufahrt erreichte, gingen die ersten Sterne auf. Zehn Minuten zuvor hatte er die Scheinwerfer eingeschaltet, weil die dicken Bäume das ersterbende Sonnenlicht abschirmten. Auch das Fenster hatte er hochgekurbelt. Das Kribbeln auf seiner Haut kam bestimmt von der kalten Bergluft, sagte er sich.

Als er in die Zufahrt einbog, blinkte er wieder. Die Macht der Gewohnheit. Außer ihm gab es hier niemanden.

Die Fahrbahn war etwas rauer als auf dem Feldweg. Sein Pick-up ratterte und ächzte. Das Licht der Scheinwerfer ließ die Schatten zwischen den Bäumen tanzen. Er fuhr langsam, lauschte, wie seine wenigen Habseligkeiten auf der Ladefläche herumhüpften und die Benzinkanister lautstark über das Blech schabten.

Und dann, genau wie vor vierzehn Jahren, als er sie zum ersten Mal erblickt hatte, sah er die Hütte.

Nichts Großartiges. Einstöckig, mit einer kleinen Veranda und zwei Schlafzimmern, das eine ein bisschen größer als das andere. Zwei Bäder, beide mit Duschen, aus denen das Wasser entweder kochend heiß oder eiskalt kam. Eine behelfsmäßige Küche mit einem Ofen und einem uralten Kühlschrank. Ein Wohnzimmer mit Couch. Seine Mutter hatte darauf bestanden. Sie wolle nicht wie eine Wilde im Wald hausen, hatte sie gesagt. Es war eine ziemliche Plackerei gewesen, das Ding mit Expandern auf die Ladefläche zu schnallen und hier raufzufahren, nur um dann festzustellen, dass sie nicht durch die Eingangstür passte. Einen Moment lang hatte Panik geherrscht. Seine Eltern bekamen diesen Gesichtsausdruck, der stets einen Schreianfall ankündigte. Da wies Nates Bruder sie darauf hin, dass die Hintertür breiter war, und dann funktionierte es doch. Die Polsterung bekam zwar einen Riss ab, und der Türrahmen splitterte leicht, aber sie schafften es. Alle vier lachten, während ihnen der Schweiß von den Gesichtern tropfte.

Doch für Nate waren das Beste an der Hütte die Bücher.

Sie hatten die Hütte in dem Zustand gekauft, in dem sie war. Die Kinder des Vorbesitzers hatten alle wichtigen Erinnerungsstücke mitgenommen und dabei Dinge zurückgelassen, die Nate noch nie gesehen hatte. Einen Hirschkopf mit glänzend schwarzen Augen im Wohnzimmer. Es war ein Achtender. (»Nimm das runter«, sagte seine Mutter noch während der ersten Minuten.) Mehrere Dutzend Dosen Pökelfleisch. (»Das Zeug wird wohl nie schlecht«, murmelte sein Vater mit einem Blick in die Speisekammer.) Zwei Zigarettenschachteln, beide bereits geöffnet. (»Erzähl bloß Mom nichts davon«, warnte ihn sein älterer Bruder. »Die will ich alle wegqualmen.«)

Und Bücher, so viele Bücher.

Sie säumten das alte Regal an der hinteren Wohnzimmerwand. Hunderte, die meisten davon Western von Louis L’Amour (Brennende Hügel und Eine Frau für 60.000 Dollar und Eiskaltes Blut und Die Plünderer). Auf ein paar Bücher konnte Nate nur einen kurzen Blick werfen, bevor seine Mutter sie verschwinden ließ (Teacher’s Pet und Perversity und Anything Goes). Die spärlich bekleideten Frauen auf dem Umschlag hatten sich in anzügliche Posen geworfen. In einem der Klappentexte war von einer Judy die Rede, die nach dem Unterricht immer länger blieb und dank spezieller Nachhilfe doch noch ihren Abschluss schaffte. Von einer verführerischen Frau mit unersättlichem Appetit. Solche Sachen eben.

Die anderen Bücher aber blieben und waren leichte Beute. So wurden Nates Sommer zu Western voller Cowboys und Indianer und Hochplateaus unter einer glühend roten Sonne. Er schnappte sich ein oder zwei davon und verschwand damit in den Wald. Zum Mittagessen aß er Brombeeren, seine klebrigen Finger hinterließen fliederfarbene Flecken auf den Seiten.

Nate war glücklich gewesen.

Frei.

Vielleicht war er deshalb jetzt wieder hier. Nate Cartwright war schon lange nicht mehr glücklich gewesen. Das Leben war einfacher gewesen mit dreizehn, vierzehn oder fünfzehn, als sein Körper sich veränderte, als er Pickel auf der Stirn bekam, als seine Stimme brach und an bisher kahlen Körperstellen plötzlich Haare wuchsen. Nate war ein schlaksiger Teenager mit dürren Armen und Beinen, der ständig seine Brille zurechtrückte. Sein Bruder hatte sich bitterlich darüber beklagt, schon wieder von seiner Freundin und seinen Kumpels getrennt zu sein, und seine Eltern hatten sich bereits geistig verabschiedet. Doch Nate schnappte sich einfach ein Buch und setzte sich damit stundenlang unter einen Baum. Manchmal las er, manchmal stellte er sich vor, er wäre ein Siedler im Wilden Westen in seiner selbst gebauten Hütte und allein, wirklich allein. So, wie er es am liebsten mochte.

Vielleicht war er deshalb zurückgekommen.

Um allein zu sein.

Er war nicht hier, weil er eine Verbindung zu den beiden Menschen suchte, die ihn aus ihrem Leben geschnitten hatten. Natürlich nicht. Darüber war er hinweg. Eine ganze Weile schon. Dass sie ihm die Hütte und den Pick-up vererbt hatten, bedeutete ihm nichts. Vielleicht hatten sie am Ende doch noch Schuldgefühle bekommen. Es spielte keine Rolle. Nicht jetzt. Nicht mehr.

Die Hütte war dunkel.

Er war erschöpft.

Wenn seine Mutter im September hier gewesen war, konnte es drinnen nicht allzu schlimm sein. Nate würde die Fenster aufmachen und lüften, vielleicht das bisschen Staub aufwischen, das sich mittlerweile angesammelt hatte. Jedenfalls nicht viel Arbeit. Dafür war er dankbar.

Er stellte den Motor ab. Die Scheinwerfer erloschen.

Einzelne Sterne glitzerten, als er die Fahrertür öffnete.

Der Himmel war rot und rosa und orange.

Der See sah aus, als stünde er in Flammen.

Nate hörte Vögel in den Bäumen und das Plätschern der Wellen am Ufer.

Er stieg aus dem Pick-up.

Kies knirschte unter seinen Sohlen.

Die Autotür knarrte, als er sie zudrückte, und es gab ein leises Echo.

Er ging ans Heck des Wagens und holte seinen Seesack. Darin war die Taschenlampe, die er eigens gekauft hatte. Nate schaltete sie mit einem Klicken ein und richtete den Strahl auf die Ladefläche. Sein Hemd verrutschte, als er sich nach einem der beiden Benzinkanister streckte, und er spürte die kalte Karosserie auf seinem nackten Bauch. Nate erzitterte kurz, dann wuchtete er den Kanister von der Ladefläche.

Auf dem Weg zur Hütte versuchte er, nicht an seinen letzten Besuch hier zu denken. Sie waren auf die Veranda zugestolpert. Sein Freund hatte eine Hand in Nates Gesäßtasche gehabt, mit der anderen rieb er über die Haare auf seiner Brust und machte ihm gleichzeitig einen Knutschfleck auf den Hals. Nate war immer schlank gewesen, aber mit einundzwanzig ging er noch täglich ins Fitnessstudio. Sein Körper war härter gewesen damals, definierter. Seine Haare waren frisch geschoren und so kurz, dass man die Kopfhaut sehen konnte. Die Zähne an seinem Hals und die saugende Zunge ließen ihn aufstöhnen. Nates Hose war bereits bis zu den Knöcheln heruntergezogen, als sie die Hütte betraten. Sein Freund kniete sich vor ihn, Nate spürte die feuchte Wärme um seinen Penis und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Tür in seinem Rücken.

Zwei Tage später waren seine Eltern aufgetaucht.

»Gib mir den Schlüssel«, bellte sein Vater mit blitzenden Augen. »Gib mir den Schlüssel und lass dich nie wieder hier blicken.«

Jetzt war Nate ein Schatten. Er war dünner, die dunklen Haare zerzaust. Seine Schultern waren kantig und sein Körper weicher. Er hatte nicht mehr so viel Zeit fürs Fitnessstudio. Seine Tage bestanden aus Kaffee, Vor-dem-Computer-sitzen und aus Telefonaten. Oder er lief hinter einem Senator her, der mit einem dünnen Lächeln im Gesicht so schnell ging, wie er konnte, während Nate ihn mit Fragen löcherte. Als glaubte der Kerl, seine Affäre oder das Geld, das er veruntreut hatte, würden verschwinden, wenn er den Jungspund mit dem Mikrofon und die blitzenden Kameras nur lange genug ignorierte.

Vor Kurzem hatte Nate sein Spiegelbild in einem Schaufenster gesehen und sich gefragt, wer der Mann dort war. Der Mann mit den vorstehenden Jochbeinen und den eingesunkenen Wangen. Der Mann, dessen blaue Augen so stumpf und kalt aussahen. Der Mann, dessen Dreitagebart ihn so alt und schmutzig wirken ließ. Der Mann mit dem zerknitterten Hemd und den dunklen Augenringen. Der Mann, der keinen Job mehr hatte, weil er großen Mist gebaut hatte. Hier war er nun, nach sechs Jahren Jagd auf belanglose Geschichten, während er davon geträumt hatte, einen Skandal aufzudecken, der Washington, D.C. in seinen Grundfesten erschüttern würde. Nate träumte vom Pulitzer-Preis und konnte sich mit seinem Gehalt in einer Stadt, dessen krankes Herz bei jedem Schlag rot, weiß und blau blutete, kaum über Wasser halten.

Es hatte ihn fertiggemacht.

Dann hatte sein Bruder angerufen. Nate hörte »Hütte« und »Pick-up« und dachte sich, warum nicht, verdammt noch mal? Er verschwendete hier ohnehin nur seine Zeit. Das bisschen Geld, das er angespart hatte, müsste für eine Weile reichen. Er kündigte sein winziges Apartment, packte sein Zeug zusammen, lagerte das meiste ein und machte sich auf den Weg nach Westen.

Die beste Idee, die er seit Langem gehabt hatte.

Ihm würde schon was einfallen. Er würde sich ein paar Tage Zeit nehmen, bis sein Kopf wieder klar war, sich hinsetzen und sich was überlegen. So wie immer. Er war gut darin, wenn er es sich nur erlaubte.

Nate ging auf den kleinen Schuppen mit dem Generator zu und fummelte nach dem Schlüssel. Die Taschenlampe verrutschte in seinen Fingern, und der Strahl fiel auf seine Füße, während das Benzin im Kanister leise hin und herschwappte. Das Gras unter seinen Füßen fühlte sich weich an.

Schließlich fand er den richtigen Schlüssel. Zum Glück war das Klebeband daran mit einem S markiert. Gleich daneben hing einer mit VT für Vordertür, dann noch einer mit HT für Hintertür. Auf einem Stand BH für Bootshaus, aber seine Eltern hatten nie ein Boot besessen und es am Ende ebenfalls als Lagerraum verwendet. Er würde es ausräumen. Später. Nachsehen, was noch da war.

Der Schuppen war …

Nate blieb stehen.

Der Griff des Benzinkanisters grub sich in seine Finger.

Das Vorhängeschloss am Schuppen war nicht zu.

Die Tür stand offen. Aber nur ein kleines Stück.

Das sollte …

Er schüttelte den Kopf.

Halb so wild. Seine Mutter hatte das Schloss einfach nicht ganz zugedrückt, als sie gegangen war. Ein Flüchtigkeitsfehler. Hoffentlich war der Generator noch in Ordnung. Der Winter war mild gewesen, aber geschneit hatte es trotzdem. Und geregnet.

Nate ging bis zur Tür und stellte den Kanister ab.

Dann, nur um sich zu vergewissern, drückte er den Riegel des Vorhängeschlosses herunter. Er klickte. Zu. Er steckte den Schlüssel ins Loch und drehte ihn herum. Der Riegel sprang auf.

Ein Flüchtigkeitsfehler. Wahrscheinlich war sie abgelenkt gewesen. Vielleicht rief Joy gerade nach ihr, als sie absperren wollte.

Doch als Nate die Tür aufdrückte, kam ihm eine Wolke warmer Luft entgegen. Als wäre der Generator bis vor Kurzem noch in Betrieb gewesen.

Er runzelte die Stirn.

Ging nach drinnen, streckte die Hand aus und berührte den Generator. Das Gehäuse war warm. Eindeutig.

Lief er die ganze Zeit schon?

Nein, das konnte nicht sein. Selbst wenn seine Mutter ihn angelassen hätte, wäre schon vor Monaten das Benzin ausgegangen. Selbst ohne Stromverbrauch wäre …

Er hörte das unverkennbare Klicken einer Pistole.

Etwas Hartes wurde gegen seinen Hinterkopf gedrückt.

Eine Stimme sagte: »Du legst jetzt die Taschenlampe auf den Boden, und danach hebst du ganz langsam deine Hände und verschränkst die Finger im Nacken. Wenn du irgendwas versuchst, irgendeine Bewegung machst und nicht genau das tust, was ich dir gerade gesagt habe, jage ich dir eine Kugel in den Kopf. Verstanden?«

Alles wurde schärfer. Nates Gesichtsfeld verengte sich. Sein Herz begann wie wild zu pochen. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Sein Kopf wurde so leer wie ein weißes Tuch.

Er war schon einmal überfallen worden. In Bethesda, unten in der Metro. Ein Mann mit einem Messer und einem verzweifelten Blick, der ständig hin und her sprang. Er wollte Nates Brieftasche. »Jetzt«, singsangte er. »Jetzt, jetzt, jetzt, ich schwör’s dir, mach schnell, gib sie mir, jetzt.«

Es war das gleiche Gefühl gewesen. Angst, klar, die ihn am ganzen Körper erstarren ließ und einen Kurzschluss in seinem Gehirn verursachte, dessen Knistern Nate beinahe hören konnte. Das Messer war nicht gerade klein gewesen, ein Saufänger, scharf und spitz, doch irgendwie schaffte es Nate, seine Brieftasche hervorzuholen. Der Mann schnappte sie sich und rannte auf und davon.

Die Menschen gingen an Nate vorbei, als wäre nichts passiert.

Er stand lange reglos da.

Schließlich machte er einen U-Bahn-Polizisten ausfindig und gab eine Anzeige auf.

»Die werden Sie nie wieder sehen«, erwiderte der Cop. »Ich weiß, es nervt, aber lassen Sie Ihre Karten sperren und besorgen Sie sich einen neuen Führerschein.«

Und genau das tat er.

Seine Brieftasche wurde nie gefunden.

Sie war aus Leder gewesen, ein Geschenk. Nichts Extravagantes. Es waren nur zwanzig Dollar drin gewesen.

Aber noch Monate später hielt Nate jedes Mal die Augen offen, wenn er mit der U-Bahn fuhr. Er wusste selbst nicht, was er tun würde, wenn er dem Kerl noch einmal begegnen sollte, ihn in einem der Waggons sah oder so. Ihn konfrontieren? Hey, weißt du noch, wie du mir ein Messer unter die Nase gehalten und mir damit jedes Gefühl von Sicherheit genommen hast?

Aber natürlich sah er ihn nie wieder.

Doch Nates Reaktion jetzt im Schuppen war exakt dieselbe. Als wäre er nicht mehr in seinem Körper. Von ihm getrennt. Alles lief mechanisch ab. Draußen war es kalt, aber er spürte die Kälte nicht mehr. Die Wärme des Generators auch nicht.

Es gab nur noch die Waffe an seinem Kopf.

Die tiefe, raue Stimme hinter ihm.

Er bückte sich langsam, ohne dass der Druck des Pistolenlaufs nachließ.

Er ließ die Taschenlampe fallen. Sie schlug mit einem dumpfen Klack auf den Boden.

Wie in Zeitlupe richtete Nate sich wieder auf. Er verschränkte die Hände hinterm Kopf, wie ihm gesagt worden war, und spürte den Schlüsselring in seinem Nacken.

Dann hörte er ein Klimpern und spürte den Schlüsselring nicht mehr.

Der Pistolenlauf blieb, wo er war.

Nate verschränkte die Finger fester.

Er sagte: »Ich habe nicht viel Geld. Mein Portemonnaie ist in der rechten Gesäßtasche. Nehmen Sie alles, was drin ist.«

»Hast du sonst noch irgendwas bei dir?«, fragte die Stimme.

»Nein.«

»Für wen arbeitest du?«

Mit dieser Frage hatte Nate nicht gerechnet. Sein Gehirn konnte sie nicht verarbeiten. Er sagte: »Für niemanden.«

»Bullshit«, knurrte der Mann. »Bist du allein? Wer ist noch bei dir?«

»Niemand.«

»Wer weiß, dass du hier bist?«

Nate blinzelte angestrengt. »Ähm … Big Eddie. Von der Tankstelle in Roseland. Und mein Bruder wahrscheinlich.« Er schluckte schwer. »Der Notar, der mir die Schlüssel gegeben hat. Das war es.«

»Wovon zum Teufel redest du?«

»Sie haben mich gefragt, wer …«

»Kommst du vom Berg?«

»Nein. Ich bin die Straße von Roseland her raufgefahren.«

»Du lügst. Wie hast du uns gefunden?«

»Ich habe niemanden gefunden.« Nate klang jetzt fast hysterisch. Er konnte nichts dagegen tun. Seine Kehle schnürte sich zu, Panik stieg in ihm auf. »Meine Eltern sind gestorben und haben mir die Hütte vermacht. Ich bin hergefahren, um mir eine Auszeit zu nehmen, okay? Das ist alles. Ich habe sonst nichts, nur diese verfluchte Hütte. Den verfluchten Pick-up, mehr nicht, und …«

Noch eine Stimme. Weiblich und jünger. »Ich glaube, er sagt die Wahrheit.«

Der Druck des Pistolenlaufs ließ ein wenig nach. »Ich hatte gesagt, du sollst im Haus bleiben.«

Nate schloss die Augen.

»Ich weiß«, erwiderte das Mädchen. Bei Gott, sie klang wirklich sehr jung. »Trotzdem bin ich jetzt hier.«

»Er lügt.« Der Druck wurde wieder stärker. »Was habe ich dir gesagt?«

Das Mädchen seufzte. »Es gibt keine Zufälle. Alles geschieht aus einem Grund.«

Der Mann hustete. Es klang, als hätte er Schmerzen. »Und jetzt ist er hier.«

»Vielleicht soll es so sein. Vielleicht ist er …«

»Lass das!«

»Deine Verletzung ist noch nicht verheilt. Du solltest dich ausruhen.«

»Mir fehlt nichts. Wir müssen rausfinden, für wen er arbeitet. Es könnte sein, dass sie…«

»Macht er sich gleich in die Hose?«, fragte das Mädchen neugierig. »Das passiert doch, wenn jemand richtig viel Angst hat, oder? Ich habe in einem Buch gelesen, dass man die Kontrolle über den Schließmuskel verliert und …«

»Art. Geh. Ins. Haus.«

»Nein. Ich lasse dich nicht allein. Du hast es versprochen.«

Der Mann stöhnte gequält. »Großer Gott. Ich hab’s nicht vergessen, okay? Ich weiß, was ich dir versprochen habe, aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Es gibt keine Zufälle. Es hat einen Grund, dass er hier ist, und wir müssen …«

»Sie hat recht«, hörte Nate sich sagen. »Ich lüge nicht, das schwöre ich. Ich …«

Noch mehr Druck durch die Pistole. »Kein Wort mehr zu ihr, ist das klar?«, knurrte der Mann. »Sag mir, wie du uns gefunden hast. Sag mir, wer noch alles kommt.«

»Niemand«, krächzte Nate. »Ich bin allein. Das ist die Hütte meiner Eltern. Sie sind tot. Die Hütte ist jetzt mein einziges Zuhause. Ich kann nicht …«

Die Pistole verschwand.

Nate hörte, wie der Mann einen Schritt von ihm weg machte. Er holte tief Luft. Seine Kehle schmerzte.

»Du lässt deine Hände, wo sie sind«, sagte der Mann. »Jetzt dreh dich langsam um. Wenn du nicht tust, was ich sage, erschieße ich dich.«

Beinahe hätte Nate gelacht.

Stattdessen drehte er sich um.

In der Dunkelheit hinter ihm stand ein Mann und hielt eine sehr große Pistole auf ihn gerichtet. Sein kurzes schwarzes Haar erinnerte an einen Buzz Cut, und seine dunklen Augen beobachteten jede von Nates Bewegungen. Er war etwas älter, hatte Falten um den Mund und die zusammengekniffenen Augen. Er war blass und unrasiert und seine Hand zitterte leicht. Die andere hielt er an seine Seite gepresst. Er trug Jeans und ein offenes Flanellhemd. Nate konnte die Haare auf der Brust und dem Bauch sehen, außerdem etwas, bei dem es sich um einen dicken Verband zu handeln schien.

Neben ihm stand ein kleines Mädchen.

Sie schien keine Angst zu haben. Im Gegensatz zu dem Mann neben ihr, an dessen Hemdsaum sie sich mit einer Hand festhielt. Sie sah auch nicht so wütend aus wie er, sondern lediglich neugierig. Ihre blonden Haare waren zu einem losen Pferdeschwanz gebunden, von dem um die Ohren herum ein paar Strähnen abstanden. Sie hatte große Augen und eine Stupsnase. Auf ihrem viel zu großen T-Shirt prangte ein Glücksbärchi.

Der Mann war ein Riese, viele Zentimeter größer als Nate, und schien beinahe genauso breit wie groß zu sein. Das Mädchen reichte ihm gerade mal bis zur Hüfte.

»Howdy, Cowboy«, sagte die Kleine. »Mein Name ist Artemis Darth Vader. Schön, deine Bekanntschaft zu machen.«

»Art«, brummte der Kerl neben ihr.

»Du hast gesagt, dass ich mich normal benehmen soll, Alex«, erwiderte sie. »Normale Leute stellen sich vor. Das habe ich in einem Buch gelesen.«

»Was zum Teufel …?«, murmelte Nate.

»Ich hab dir außerdem gesagt, dass du nicht mit Fremden sprechen sollst«, bellte der Mann – Alex? – zurück. Die Pistole zeigte leicht nach links, als schwankte er.

»Er ist kein Fremder«, widersprach das Mädchen. »Er heißt Nathaniel Cartwright und wohnt in Washington, D.C.«

»Woher weißt du … Ist das mein Geldbeutel?«

Sie sah ihn an. »Ja. Das ist deiner. Messerscharf kombiniert.«

»Wie hast du …« Sie musste ihm das Portemonnaie aus der Hosentasche gezogen haben. Er hatte es nicht mal gemerkt.

»Du sagtest, wir könnten ihn haben. Oh, da ist wirklich nicht viel Geld drin. Wie schade. Ich mag Geld. Es riecht so lustig.«

»Art!«, bellte der Mann noch einmal. »Geh zurück ins Haus. Jetzt.«

Und dann, wahrscheinlich, weil es die einzige Möglichkeit war, wie der Abend noch bizarrer werden konnte, rollten die Augen des Kerls nach hinten und er brach zusammen.

Die Pistole fiel zu Boden.

»Ich habe ihm gesagt, er soll es nicht übertreiben«, erklärte das Mädchen, das sich als Artemis Darth Vader vorgestellt hatte. »Er muss lernen, besser auf mich zu hören.« Sie sah wieder Nate an. »Also Nathaniel Cartwright aus Washington, D.C. Wie wär’s, wenn du deinen Arsch hier rüberschiebst und einem Kumpel ein bisschen unter die Arme greifst? Wir müssen diesen Cowboy hier in die Hütte kriegen.«

Nate tat das Einzige, was ihm einfiel.

Er verlor ebenfalls das Bewusstsein.

ZWEI

»… du hättest ihn fesseln sollen. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«

»Das werde ich nicht tun. Man bindet Gäste nicht irgendwo fest, Alex.«

»Er ist kein Gast. Er …«

»Er ist auf den Fotos.«

»Was?«

»Die Fotos. Im Schlafzimmer, im Flur, über dem Kamin, auf allen. Er … Nein, nicht bewegen. Ich hole sie, wenn du es selbst sehen möchtest. Wenn du mir einfach vertrauen würdest, könnte ich …«

»Es geht nicht um Vertrauen, sondern ums Überleben, wie ich dir schon oft genug gesagt habe. Wir dürfen nicht…«

Nate stöhnte.

»Oh, sieh mal«, sagte das Mädchen. »Er wacht auf.«

»Bleib weg von ihm. Art, lass …«

Jemand pikste Nate in die Wange.

Er öffnete die Augen.

Das Mädchen blickte neugierig auf ihn herunter. Ihre Augen waren so grün und strahlend, wie er es noch nie gesehen hatte. Geradezu bezaubernd.

Nate schluckte angestrengt und setzte sich ruckartig auf.

»Howdy, Kumpel«, sagte die Kleine. »Willkommen zurück. Du warst zwanzig Minuten und sieben Sekunden lang bewusstlos. Das ist eine lange Zeit für jemanden wie dich.«

Nate saß auf der Couch. Sie hatten ihm seine Chucks ausgezogen und eine Decke über ihn gebreitet, die nun in seinen Schoß gerutscht war. Sein Kopf war schwer, die Muskeln steif.

Der Mann saß ihm gegenüber auf einem Stuhl, den sie aus der Küche geholt haben mussten. Sein Hemd war jetzt etwas weiter zugeknöpft, der Verband nicht mehr zu sehen. Die Pistole lag auf seinem mächtigen Oberschenkel, die Hand hatte er auf den Griff gelegt. Sein Atem ging flach, und er ließ Nate keine Sekunde aus den Augen.

»Sie können mich nicht töten«, sagte Nate. Es war das Erste, was ihm einfiel.

»Doch, das kann ich«, erwiderte der Mann mit einem spöttischen Lächeln. »Ein Kinderspiel. Du wärst überrascht.«

»Er sagt die Wahrheit«, bestätigte das Mädchen ernst. »Er ist ein Revolverheld. Ein einsamer Wolf, der Lauf seines Colts war noch heiß, als er seinen Hut ins Gesicht zog und dem Sonnenuntergang entgegenri…«

»Ich hab dir gesagt, du sollst die Finger von diesen verdammten Büchern lassen«, brummte der Mann.

»Tja, du hättest mir die anderen eben nicht wegnehmen dürfen, die angeblich nicht für mein Alter geeignet sind, obwohl ich …«

»Art.«

Sie verdrehte die Augen. Dann fragte sie: »Hab ich das richtig gemacht? Hab ich genervt ausgesehen, weil ich nicht nachlesen durfte, warum Judy nach dem Unterricht immer länger geblieben ist? Ich meine, warum hat der Lehrer ihr nicht einfach Zusatzaufgaben gegeben, damit hätte sie doch genauso … Oh. Oh.« Sie runzelte die Stirn. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das moralisch korrekt war.«

»Wer bist du?«, fragte der Mann.

»Nathan…« Er musste husten. »Nathaniel Cartwright.«

»Siehst du«, sagte das Mädchen. »Genau wie ich dir gesagt habe.«

»Weshalb bist du hier?«

»Das hier ist meine Hütte«, antwortete Nate und wunderte sich, wo die Wut plötzlich herkam. Andererseits hatte man ihn mit einer Pistole bedroht und zwei Fremde waren in seiner Hütte. Möglicherweise schämte er sich auch ein bisschen, weil er ohne Grund das Bewusstsein verloren hatte. Ja, verflucht, auch das machte ihn wütend. Sein Blut kochte. Er stand auf und die Decke fiel zu Boden. Seine Mutter hatte das hässliche Ding gehäkelt.

Der Mann richtete den Lauf der Pistole auf ihn.

Das Mädchen trat einen Schritt zurück.

»Das ist meine Hütte«, wiederholte Nate, diesmal mit mehr Nachdruck. »Sie haben kein Recht, mich zu fragen, was ich hier tue, denn ich wohne hier. Wer zum Teufel sind Sie überhaupt? Wissen Sie was? Es ist mir egal. Ich rufe jetzt die Cops.«

Der Mann spannte den Abzug. »Das wirst du nicht tun.«

»Wenn Sie es wirklich wollten, hätten Sie mich bereits erschossen«, erwiderte Nate und tastete nach seinem Handy. Da fiel ihm ein, dass er es im Pick-up gelassen hatte.

»Junge, Junge«, meinte das Mädchen. »Das hättest du besser nicht gesagt.«

Der Mann drückte ab. Der Knall hallte kurz und scharf durch das kleine Wohnzimmer, und Nate hätte schwören können, dass er einen Luftzug an seiner Wange spürte. Er drehte langsam den Kopf und sah ein gezacktes Loch in der Wand neben ihm. Seine Haut fühlte sich an, als würde sie vibrieren.

»Täusch dich nicht«, sagte der Fremde kalt. »Denn ich werde tun, was immer nötig ist, um die Kleine …« Er verstummte und beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vornüber.

Das Mädchen war sofort an seiner Seite und fasste ihn an den Schultern.

»Was ist los mit ihm?«, fragte Nate. Er hatte das Gefühl, als würde er schweben. Als hielte ihn nur noch ein dünner Faden auf dem Boden.

»Nichts«, antwortete der Mann durch zusammengebissene Zähne. »Ich habe nur …«

»Er wurde angeschossen«, erklärte das Mädchen. »Von einer blöden Kuh, die uns nicht vorbeilassen wollte.«

»Angeschossen«, wiederholte Nate tonlos. »So wie er mich gerade eben beinahe angeschossen hätte.«

»Er hat dich verfehlt«, protestierte das Mädchen.

»Habe ich nicht«, widersprach der Mann. Seine Stirn glänzte vor Schweiß.

Nate wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. »Warum bringst du ihn nicht ins Krankenhaus?«

Sie blickte über die Schulter. »Weil man nicht ins Krankenhaus geht, wenn man auf der Flucht ist. Weißt du denn gar nichts?«

»Großer Gott, Art. Du wirst uns noch …«

»Er hat keine Ahnung«, fiel sie dem Mann ins Wort. »Und deshalb erkläre ich es ihm. Du sollst nicht so viel sprechen. Je mehr du sprichst, desto stärker werden die Schmerzen, und ich mag es nicht, wenn du Schmerzen hast. Du musst wieder gesund werden und bei mir bleiben. Ich habe geweint, Alex. Es ist nicht nett von dir, wenn du mich zum Weinen bringst.«

Und, oh Wunder, der Gesichtsausdruck des Kerls wurde ein wenig sanfter. »Du brauchst nicht zu weinen, Art. Schon gleich gar nicht wegen mir.«

Sie schob sein Hemd zurecht. »Und du brauchst dich weder anschießen lassen noch so unhöflich sein. Ich mag beides nicht.«

»Es war das erste Mal, dass ich angeschossen wurde.«

»Das schon, aber unhöflich bist du, seit ich dich kenne.«

Der Mann sank wieder gegen die Stuhllehne und legte den Kopf in den Nacken. Die Pistole lag jetzt locker in seiner Hand. Es wäre so leicht …

»Hier«, sagte Art, nahm die Pistole und hielt sie Nate hin.

Der Mann riss die Augen auf. »Was tust du da?«

»Er hat darüber nachgedacht, sie sich zu schnappen«, antwortete Art. Die Waffe sah riesig aus in ihrer kleinen Hand. »Ich dachte mir, wenn ich sie ihm gebe, weiß er, dass er uns vertrauen kann.« Sie überlegte. »Oder zumindest mir, nachdem du ihn beinahe erschossen hättest, um zu beweisen, was für ein harter Kerl du bist.« Sie sah wieder Nate an. »Ist er doch, oder? Sag Ja, dann fühlt er sich gleich besser.«

»Ja«, bestätigte Nate gehorsam.

Art wandte sich wieder dem Mann zu. »Geht es dir jetzt besser?«

»Gib mir die Pistole«, sagte der nur.

»Nein. Nathaniel, komm her und nimm sie dir.«

»Nathaniel, du rührst das Ding nicht an, sonst …«

Nate schnappte sich die Pistole und richtete sie auf die beiden. Er hatte keine Ahnung, wie man so ein Ding benutzte.

»Nathaniel«, warnte das Mädchen. »Werd jetzt nicht unhöflich.«

Der Mann erhob sich stöhnend und schob Art hinter sich. Sie stieß ein protestierendes Quieken aus, blieb aber, wo sie war, und beäugte Nate neugierig. »Ich hoffe für dich, dass du damit umgehen kannst.«

Nate legte den Zeigefinger an den Abzug.

Der Lauf zitterte.

»Er wirkt unsicher«, flüsterte Art. »Das macht keinen guten Eindruck, wenn man mit einer Waffe auf jemanden zielt.«

Sie klang kein bisschen verängstigt, trotzdem hatte Nate ein schlechtes Gewissen. Natürlich. Sie war ein kleines Mädchen, und was auch immer hier vorging, war nicht ihre Schuld.

Er sagte: »Ich hole jetzt mein Telefon und dann rufe ich die Polizei.«

»Du hast das Ding immer noch auf mich gerichtet«, sagte der Mann und schob Art noch weiter nach hinten. Diesmal war ihr die Verärgerung deutlich anzusehen. »Und ich habe dir gesagt …«

Es war natürlich nur ein Ablenkungsmanöver. In einem Moment hatte der Fremde Nate noch mehrere Schritte entfernt gegenübergestanden, im nächsten nicht mehr. Jetzt hielt er die Pistole wieder in der Hand.

Nate brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was gerade passiert war. Er ließ seine leere Hand sinken.

Diesmal richtete der Mann die Waffe jedoch nicht auf ihn, sondern setzte sich stöhnend wieder auf seinen Stuhl.

Das Mädchen blickte zwischen ihm und Nate hin und her. »Nachdem ihr zwei Höllenhunde das geklärt habt, könnten wir uns vielleicht um wichtigere Dinge kümmern?«

Keine Balken.

Nicht ein einziger Balken auf dem scheiß Nokia.

Nate saß im Pick-up und starrte das matt schimmernde Display an.

Sie hatten nicht versucht, ihn aufzuhalten. Nun, das stimmte nicht ganz. Der Mann hatte aufstehen wollen, aber das Mädchen hatte ihn mit einer Hand auf seiner Schulter zurückgehalten. Eine beachtliche Leistung für eine so kleine Person.

»Er kommt wieder«, sagte sie nur, als Nate aus der Tür stürmte.

Von wegen.

Er hielt das Telefon an die Decke des Pick-ups.

Keine Balken.

»Komm schon«, murmelte er.

Er stieg aus.

Die Luft war kalt, die Sonne verschwunden.

Er lief im Kreis herum.

Keine Balken.

Er kletterte auf die Ladefläche.

Keine Balken.

Er sprang in die Luft und hielt das Handy so hoch er konnte.

Immer noch keine Balken.

Er sah hinüber zum Dach der Hütte.

Besser nicht, sagte er sich.

Er sollte verschwinden. In den Pick-up steigen und zurück nach Roseland fahren.

Selbst wenn er sich Zeit ließ, wäre er in ein bis zwei Stunden dort.

Dort hätte er Netz und könnte die Polizei verständigen.

Oder Big Eddie anrufen. Wahrscheinlich müsste er dazu nicht einmal die ganze Strecke bis Roseland fahren.

Ja. Das hörte sich nach einem guten Plan an.

»Genauso mache ich es«, sagte Nate leise. »Es ist vernünftig und sicher. Ein guter Plan.«

Er stieg wieder ein und kramte in seiner Hose nach dem Zündschlüssel.

Aber da war er nicht.

Er hatte seinen Schlüsselring nicht mehr.

»Verdammte Scheiße«, knurrte Nate und schlug auf das Lenkrad.

Wann hatte er ihn zuletzt gehabt? Das musste im Schuppen gewesen sein, kurz bevor … Genau, kurz bevor er das Bewusstsein verlor. Er hatte den Schlüsselring gerade noch in seinem Nacken gespürt unter all der Panik wegen der Pistolenmündung an seinem Kopf. Entweder lag er dort auf dem Boden, oder die beiden hatten ihn mitgenommen, als sie ihn in die Hütte …

Etwas klingelte in seinem Hinterkopf, Unglauben vermischt mit tausend Fragezeichen. Hier konnte etwas nicht stimmen. Denn wie genau sollte sich das zugetragen haben? Der Mann war genauso ohnmächtig gewesen wie Nate. Das Mädchen konnte sie unmöglich beide in die Hütte getragen haben. Also musste der Mann wieder aufgewacht sein und …

Aber er war verletzt.

Angeschossen.

Nate war noch nie angeschossen worden, doch er konnte sich die Schmerzen vorstellen, die der Kerl haben musste. Nate mochte schlank sein, aber er war über eins achtzig und damit nicht gerade klein. Zugegeben, der Typ war viel breiter als er und wahrscheinlich gut dreißig Kilo schwerer, doch das änderte nichts an seiner Schusswunde und …

Falls Nate es schaffte, ihn zu überraschen, könnte er …

Oder die beiden taten nur so, als wäre der Mann verletzt.

Oder es war noch jemand in der Hütte. Vielleicht die Mutter der Kleinen?

Nate war sich sicher, dass seine Schlüssel nicht mehr im Schuppen waren.

Also stieg er aus und marschierte auf die Straße zu. Er würde zu Fuß gehen.

Nach drei Schritten blieb er stehen und drehte sich wieder um.

Diese drei waren in seiner Hütte.

Er war nicht derjenige, der hier nicht hergehörte.

Er machte einen entschlossenen Schritt Richtung Veranda.

Aber sie hatten eine Pistole und der Mann hatte bereits auf ihn geschossen.

Sein nächster Schritt war schon etwas weniger entschlossen.

So wie der danach.

Und die darauffolgenden.

Als Nate die Verandatreppe schließlich erreichte, schwitzte er trotz der Kälte. Seine Hände zitterten, und sein Kopf schmerzte.

Er schaffte es die Stufen hinauf, das Holz knarrte unter seinen Füßen.

Die Tür stand immer noch einen Spaltbreit offen, aber Nate konnte drinnen nicht viel erkennen.

Er stählte sich, nahm einen tiefen Atemzug und drückte die Tür ganz auf.

Der Mann saß immer noch auf dem Stuhl, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen.

Das Mädchen stand neben ihm, eine Hand auf seiner Schulter.

Die Pistole lag auf dem Kaffeetisch.

»Ich hab ja gesagt, er kommt wieder«, kommentierte sie, ohne Nate anzusehen.

Der Mann öffnete sein rechtes Auge ein kleines Stück. »Hm?«

»Wer ist sonst noch hier?«, wollte Nate barsch fragen, doch die Worte klangen ein wenig schrill.

Der Mann schloss das Auge wieder. »Was?«

»Hier drin«, wiederholte Nate. »Wer ist sonst noch in der Hütte?«

Art neigte nachdenklich den Kopf, schließlich erwiderte sie: »Niemand. Nur wir drei.«

Nate nickte. »Okay. Dann wurden Sie in Wirklichkeit gar nicht angeschossen.«

Der Mann schnaubte.

»Leider doch«, widersprach das Mädchen und tätschelte das Knie des Kerls. »Es war unnötig, aber er ist nun mal ein Armleuchter. Magst du Sonnenbrillen?«

»Art«, sagte der Mann mit warnendem Unterton.

»Was denn?«, fragte sie. »Es war nur eine Frage.«

Nate war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. »Sonnenbrillen interessieren mich nicht, aber …«

»Oh«, machte das Mädchen. »Wie schade.« Plötzlich hellte sich ihre Miene wieder auf. »Aber sind das da drüben vielleicht deine Bücher, Kumpel? Die mit dem Pferd namens Benny und einer grenzwertig rassistisch-klischeehaften Karikatur eines amerikanischen Ureinwohners an der Seite des Helden, der durch die staubige Prärie …«

»Ja, das sind meine«, unterbrach Nate. »Der Stuhl da gehört ebenfalls mir. So wie alles andere, was du hier siehst.«

»Okay, ist ja gut. Du brauchst nicht gleich so anzugeben.«

»Ich, angeben?«, prustete Nate. »Bist du noch ganz richtig im Kopf?«

Die Kleine kniff die Augen zusammen. »Aber ja. Du etwa nicht?«

»Jetzt hör mir mal gut zu, Mädchen …«

»Mein Name ist Artemis Darth Vader. Das habe ich dir bereits gesagt.«

»Das ist kein richtiger Name!«

»Oh doch«, beharrte sie, und zum ersten Mal, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte, wirkte sie fast ein wenig aufgebracht. »Es ist meiner, er gehört mir. Niemand darf ihn mir wegneh…«

Der Mann hob stöhnend eine Hand und drückte ihr sanft die Schulter.

Das Mädchen atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann seufzte sie.

»Ihr Name ist Artemis oder kurz: Art«, erklärte der Mann leise. »Sie hat ihren Namen sehr gern.«

Nate wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.