Das unglaubliche Leben des Wallace Price - T. J. Klune - E-Book
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Das unglaubliche Leben des Wallace Price E-Book

T. J. Klune

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Beschreibung

Der erfolgsverwöhnte Anwalt Wallace Price kennt nur drei Dinge: Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Es kommt ihm daher äußerst ungelegen, als er eines Tages tot umfällt und in der Zwischenwelt landet. Dort erwartet ihn der Wächter Hugo, der Wallace auf seine Reise ins Jenseits vorbereiten soll. Doch Wallace ist noch nicht bereit, und so wird ihm Zeit gewährt, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Zeit, in der Wallace den wahren Sinn des Lebens entdeckt. Und die Liebe findet ...

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Das Buch

»Seine Beerdigung war nur spärlich besucht. Wallace war nicht erfreut. Er war nicht einmal sicher, wie er hierhergekommen war. Im einen Moment hatte er noch auf seinen Körper gestarrt. Dann hatte er geblinzelt und sich irgendwie vor einer Kirche wiedergefunden, die Türen standen offen, und die Glocken läuteten. Das große Schild vor der Kirche machte die Sache auch nicht besser. FEIERLICHE ZUSAMMENKUNFT ZUM GEDENKEN AN WALLACE PRICE, stand da.«

Der gefühlskalte Anwalt Wallace Price ist Anfang vierzig, erfolgreich, geschieden. In seinem Leben spielen nur drei Dinge eine Rolle: Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Es kommt ihm daher äußerst ungelegen, als er eines Tages tot umfällt und im Teeladen von Hugo Freeman landet. Hugo ist Fährmann, und er wird Wallace alles beibringen, was er über seine Reise ins Jenseits wissen muss. Selbstverständlich hasst Wallace Tee. Er ist Kaffeetrinker. Abgesehen davon hat Wallace auch keine Zeit zum Sterben. Er hat schließlich Termine, die er wahrnehmen, Fristen, die er einhalten und Mandanten, denen er das Geld aus der Tasche ziehen muss. Nach einem missglückten Fluchtversuch wird ihm jedoch klar, dass der Tod keine Verhandlungssache ist. Mithilfe von Hugo und seinen neuen Freunden bekommt Wallace die Chance, etwas über den wahren Sinn des Lebens zu lernen …

Einfühlsam, warmherzig und mit einer gehörigen Portion Humor erzählt Bestsellerautor T.J. Klune in DAS UNGLAUBLICHE LEBEN DES WALLACE PRICE eine berührende Geschichte über das Leben, das Sterben und die Liebe.

Der Autor

Im Alter von sechs Jahren griff TJ Klune zu Stift und Papier und schrieb seine erste Geschichte – eine mitreißende Variante des Videospiels »Super Metroid«. Die Begeisterung für Geschichten hat TJ Klune auch über dreißig Jahre nach seinem ersten Versuch nicht verlassen. Nachdem er einige Zeit bei einer Versicherung gearbeitet hat, widmet er sich inzwischen ganz dem Schreiben. Für die herausragende Darstellung seiner Figuren wurde er mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet. Sein Roman Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste

T.J. KLUNE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Pfingstl

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: UNDER THE WHISPERING DOORDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 04/2022

Redaktion: Charlotte Lungstrass-Kapfer

Copyright © 2021 by Travis Klune

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München, unter Verwendung einer Illustration von Red Nose Studio

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27544-0V002

www.heyne.de

Für Eric. Ich hoffe, du bist an einem außergewöhnlichen Ort aufgewacht.

Vorbemerkung des Autors:

Diese Geschichte handelt sowohl von Leben und Liebe, als auch von Verlust und Trauer.

Der Tod tritt in verschiedenen Formen auf: still, unerwartet oder durch Selbstmord.

Bitte aufmerksam lesen.

EINS

Patricia weinte.

Wallace Price hasste es, wenn Menschen weinten.

Kleine Tränen, große Tränen, bebende Schluchzer, egal. Tränen waren sinnlos, und Patricia zögerte das Unvermeidliche nur hinaus.

»Woher wussten Sie das?«, entgegnete sie mit feuchten Wangen und griff nach der Kleenex-Schachtel auf seinem Schreibtisch. Sie sah nicht, wie er das Gesicht verzog. Das war wahrscheinlich auch besser so.

»Wie hätte es mir entgehen können?«, sagte er und faltete die Hände auf seinem Eichenholzschreibtisch. Sein Arper-Aston-Stuhl quietschte, während er sich auf das vorbereitete, was mit Sicherheit ein Fall von übertriebenem Theater werden würde, und er gleichzeitig versuchte, keine Grimasse zu schneiden wegen des Gestanks nach Bleichmittel und Glasreiniger. Jemand von der Nachtschicht musste etwas in seinem Büro verschüttet haben, der Geruch war penetrant und unangenehm. Er überlegte, alle in einem Memo daran zu erinnern, dass er eine empfindliche Nase hatte und man nicht von ihm erwarten konnte, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Es war geradezu barbarisch.

Die Jalousien an den Fenstern seines Büros waren geschlossen wegen der Nachmittagssonne, die Klimaanlage dröhnte und hielt ihn wach. Vor drei Jahren hatte jemand angefragt, ob man den Regler auf 21 Grad stellen könne. Wallace hatte nur gelacht. Wärme machte faul. Wer fror, der blieb in Bewegung.

Außerhalb seines Büros lief die Firma wie eine gut geölte Maschine, geschäftig und selbstständig, ohne dass er sich groß einmischen musste. Genau wie Wallace es mochte. Er hätte es nicht so weit gebracht, wenn er jeden Mitarbeiter im Detail überwachen müsste. Natürlich hatte er immer noch ein wachsames Auge auf seine Angestellten. Sie wussten, dass sie arbeiten mussten, als ob ihr Leben davon abhinge. Ihre Klienten waren die wichtigsten Menschen auf der Welt. Wenn Wallace sagte, sie sollten springen, erwartete er, dass alle in Hörweite genau das taten. Ohne belanglose Fragen von der Sorte: Wie hoch?

Was ihn wieder zu Patricia brachte. Die Maschine war kaputt, und auch wenn niemand unfehlbar war, musste Wallace das betreffende Teil gegen ein neues austauschen. Er hatte zu hart gearbeitet, um sie ausgerechnet jetzt ausfallen zu lassen. Das letzte Jahr war das profitabelste der Firmengeschichte gewesen, und dieses schickte sich an, noch besser zu werden. Egal, was auf der Welt gerade vorging, es musste immer irgendjemand verklagt werden.

Patricia putzte sich die Nase. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das interessiert.«

Wallace starrte sie an. »Wie um alles in der Welt kommen Sie denn darauf?«

Patricia lächelte feucht. »Sie sind nicht unbedingt der Typ dafür.«

Er wurde ungehalten. Wie konnte sie es wagen, so etwas zu sagen, vor allem zu ihrem Chef? Er hätte schon vor zehn Jahren, als sie sich bei ihm für die Stelle als Rechtsanwaltsgehilfin beworben hatte, wissen müssen, dass ihm das Ganze auf die Füße fallen würde. Sie war ausgelassen gewesen, und Wallace hatte geglaubt, dass sich das mit der Zeit legen würde, denn eine Anwaltskanzlei war kein Ort für Ausgelassenheit. Wie sehr er sich geirrt hatte. »Natürlich habe ich …«

»Es ist nur alles so schwer in letzter Zeit«, sprach sie weiter, als hätte er gar nichts gesagt. »Ich habe versucht, es unter Verschluss zu halten, aber ich hätte wissen müssen, dass Sie es merken würden.«

»Exakt«, erwiderte Wallace in dem Versuch, das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken. Je schneller er es zu Ende brachte desto besser für sie beide. Das würde auch Patricia merken. Irgendwann. »Ich habe es sofort gemerkt. Wenn Sie jetzt bitte …«

»Und es ist Ihnen nicht egal«, fuhr sie fort. »Das weiß ich. Ich wusste es von dem Moment an, als Sie mir letzten Monat den Geburtstagsstrauß geschickt haben. Das war sehr nett von Ihnen. Auch wenn keine Karte oder Ähnliches dabei war, ich wusste, was Sie damit zum Ausdruck bringen wollen: Ihre Wertschätzung für mich. Und auch ich schätze Sie sehr, Mr. Price.«

Er hatte keine Ahnung, wovon zum Teufel sie redete. Er hatte ihr gar nichts geschenkt. Das musste seine Verwaltungsassistentin gewesen sein. Er würde ein Wörtchen mit ihr reden müssen. Blumen waren unnötig. Wozu waren sie schon gut? Am Anfang waren sie noch hübsch, aber dann starben sie, die Blätter und Blüten vertrockneten und verfaulten und hinterließen eine Sauerei, die es ohne die Blumen gar nicht erst gegeben hätte. Mit diesem Gedanken im Kopf nahm er seinen lächerlich teuren Montblanc-Füller zur Hand und kritzelte eine Notiz (IDEEFÜRMEMO: PFLANZENSINDEINGRÄUEL, NIEMANDSOLLTEWELCHEHABEN). Ohne aufzublicken, sagte er: »Ich wollte nicht …«

»Kyle wurde vor zwei Monaten entlassen«, fuhr sie fort.

Wallace brauchte länger, als er zugeben wollte, bis ihm einfiel, wer gemeint war. Kyle war ihr Mann. Er hatte ihn bei einer Firmenveranstaltung kennengelernt. Kyle war betrunken gewesen; der Champagner, den Moore, Price, Hernandez & Worthington nach einem weiteren erfolgreichen Jahr gestiftet hatten, schmeckte ihm offensichtlich. Mit gerötetem Gesicht unterhielt Kyle die Partygesellschaft mit einer detaillierten Geschichte, die Wallace nicht im Geringsten interessierte, vor allem nicht, da Kyle Lautstärke und üppige Ausschmückungen anscheinend für einen unverzichtbaren Teil des Erzählens hielt.

»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte er steif und stellte sein Telefon auf den Schreibtisch. »Aber ich glaube, wir sollten uns auf das eigentliche Thema konzentrieren …«

»Er findet keine Arbeit«, sagte Patricia, zerknüllte ihr Taschentuch und nahm sich ein neues. Sie wischte sich die Augen ab und verschmierte dabei ihr Make-up. »Es kam zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Unser Sohn heiratet diesen Sommer, und wir sollen die Hälfte der Hochzeit bezahlen. Ich weiß nicht, wie wir das machen sollen, aber wir werden es schon schaffen. Wir schaffen es immer. Ein kleiner Stolperstein, nicht mehr.«

»Masel tov«, sagte Wallace. Er wusste nicht einmal, dass sie Kinder hatte. Er beschäftigte sich nicht mit dem Privatleben seiner Angestellten. Kinder waren eine Ablenkung, und zwar eine, für die er sich nie hatte erwärmen können. Sie waren der Grund, dass ihre Eltern – seine Angestellten – sich freinahmen für Dinge wie Schulaufführungen oder Krankheit, während andere für sie die Arbeit erledigten. Und da die Personalabteilung ihm mitgeteilt hatte, er könne seine Angestellten nicht bitten, von einer Familiengründung abzusehen (»Sie können den Leuten nicht sagen, sie sollen sich lieber einen Hund anschaffen, Mr. Price!«), hatte er es zu oft mit Müttern und Vätern zu tun, die den Nachmittag frei brauchten, damit sie ihren Kindern lauschen konnten, wie sie sich erbrachen oder Lieder über Kugeln und Wolken und anderen Unsinn plärrten.

Patricia blies erneut in ihr Taschentuch. Ein langes und furchtbar feuchtes Geräusch, das bei Wallace Gänsehaut auslöste. »Und dann ist da noch unsere Tochter. Sie hatte keinerlei Orientierung im Leben, ich dachte schon, sie würde als Chinchillazüchterin enden, aber dann hat die Firma ihr liebenswürdigerweise ein Stipendium gewährt, und sie hat ihren Weg endlich gefunden. Ausgerechnet ein Wirtschaftsstudium. Ist das nicht wunderbar?«

Wallace blinzelte sie an. Er würde mit seinen Partnern sprechen müssen. Ihm war nicht bekannt, dass sie Stipendien vergaben. Sie spendeten für wohltätige Zwecke, ja, aber die Steuervergünstigungen machten das mehr als wett. Wallace wusste nicht, was für eine Art von Rendite es abwerfen sollte, wenn sie Geld für etwas so Lächerliches wie ein Wirtschaftsstudium verschenkten, selbst wenn auch das abgeschrieben werden konnte. Die Tochter würde wahrscheinlich so etwas Dämliches wie ein Restaurant eröffnen oder eine gemeinnützige Organisation gründen. »Ich glaube, wir haben eine unterschiedliche Definition von ›wunderbar‹.«

Patricia nickte, aber er glaubte nicht, dass sie ihn hörte. »Diese Arbeit ist so wichtig für mich, jetzt mehr denn je. Die Leute hier sind wie eine Familie. Wir unterstützen uns gegenseitig, ohne sie hätte ich es nie so weit gebracht. Und dass Sie gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt, und mich gebeten haben hierherzukommen, damit ich mich aussprechen kann, bedeutet mir mehr, als Sie sich vorstellen können. Es ist mir egal, was die anderen sagen, Mr. Price. Sie sind ein guter Mensch.«

Was sollte das denn bedeuten? »Was sagt man denn über mich?«

Patricia erbleichte. »Ach, nichts Schlimmes. Sie wissen ja, wie das ist. Sie haben diese Firma gegründet. Ihr Name steht auf dem Briefkopf. Das … schüchtert ein.«

Wallace entspannte sich. Jetzt ging es ihm wieder besser. »Ja, nun, ich vermute, das …«

»Ich meine, zugegeben, die Leute reden darüber, wie kalt und berechnend Sie sein können. Und wenn etwas nicht sofort erledigt wird, werden Sie erschreckend laut. Aber die anderen sehen Sie nicht so wie ich. Ich weiß, dass sich hinter den teuren Anzügen ein fürsorglicher Mann verbirgt.«

»Verbirgt«, wiederholte Wallace, freute sich aber, dass sie seinen Geschmack bewunderte. Seine Anzüge waren teuer. Schließlich waren es nur die besten. Deshalb gehörte zu dem Paket, mit dem die neuen Mitarbeiter begrüßt wurden, eine detaillierte Aufzählung akzeptabler Kleidungsstücke. Er verlangte zwar nicht, dass jeder sich Designermarken leistete (zumal er wusste, was es hieß, einen Studentenkredit zurückzuzahlen), aber wenn jemand etwas trug, das offensichtlich von einem Discounter stammte, bekam er eine ordentliche Standpauke, gefälligst auf ein angemessenes Äußeres zu achten.

»Sie haben eine harte Schale, aber Ihr Kern ist weich wie ein Marshmallow«, fügte sie hinzu.

Wallace war noch nie in seinem Leben so beleidigt worden. »Mrs. Ryan …«

»Patricia, bitte. Ich habe es Ihnen schon so oft gesagt.«

Hatte sie. »Mrs. Ryan«, wiederholte er mit fester Stimme. »Ich schätze Ihre Begeisterungsfähigkeit, aber ich glaube, wir haben andere Dinge zu besprechen.«

»Richtig«, sagte sie hastig. »Selbstverständlich. Ich weiß, dass Sie es nicht mögen, wenn man Ihnen Komplimente macht. Ich verspreche, es wird nicht mehr vorkommen. Wir sind schließlich nicht hier, um über Sie zu reden.«

Wallace war erleichtert. »Exakt.«

Ihre Unterlippe zitterte. »Wir sind hier, um über mich zu reden und darüber, wie schwierig die Dinge in letzter Zeit geworden sind. Deshalb haben Sie mich herbestellt, nachdem Sie mich weinend in der Abstellkammer gefunden haben.«

Er hatte geglaubt, sie mache Inventur und habe allergisch auf den Staub reagiert. »Ich denke, wir sollten uns wieder aufs Thema konzentrieren …«

»Kyle fasst mich nicht mehr an«, flüsterte sie. »Es ist Jahre her, dass ich seine Hände gespürt habe. Ich habe mir eingeredet, dass das passiert, wenn ein Paar so lange zusammen ist, aber irgendwie glaube ich, dass mehr dahintersteckt.«

Wallace zuckte zusammen. »Ich weiß nicht, ob das angemessen ist, vor allem, da Sie …«

»Genau!«, rief sie. »Es ist überhaupt nicht angemessen. Ich weiß, ich arbeite siebzig Stunden die Woche, aber ist es denn zu viel verlangt, dass mein Mann seine ehelichen Pflichten erfüllt? Er hat es geschworen.«

Was für eine schreckliche Hochzeit das gewesen sein musste. Die Feier fand wahrscheinlich in einem Holiday Inn statt. Nein. Schlimmer. In einem Holiday Inn Express. Wallace schauderte bei dem Gedanken. Er zweifelte nicht, dass Karaoke im Spiel gewesen war. So, wie er Kyle in Erinnerung hatte (nicht sehr gut), sang er wahrscheinlich ein Medley aus Journey und Whitesnake, während er sein Bierchen exte.

»Aber die vielen Überstunden machen mir nichts aus«, fuhr sie fort. »Sie gehören zu meinem Job. Das habe ich schon bei meiner Einstellung gewusst.«

Ah! Eine Gelegenheit! »Da wir gerade von Ihrer Anstellung sprechen …«

»Meine Tochter hat sich die Nasenscheidewand piercen lassen«, sagte Patricia verzweifelt. »Mein kleines Mädchen sieht jetzt aus wie ein Stier. Als wäre sie auf der Suche nach einem Torero, der sie in die Ecke treibt und Dinge in sie hineinsteckt.«

»Jesus Christus«, murmelte Wallace und rieb sich das Gesicht. Er hatte keine Zeit für so etwas. In einer halben Stunde begann eine Besprechung, auf die er sich noch vorbereiten musste.

»Genau!«, rief Patricia. »Kyle sagte, das gehört zum Erwachsenwerden. Dass wir ihr erlauben müssen, sich auszuprobieren und Fehler zu machen. Aber ich wusste nicht, dass dazu auch gehört, sich einen verfluchten Ring durch die Nase zu schieben! Und fragen Sie erst gar nicht nach meinem Sohn.«

»Okay«, sagte Wallace. »Ich frage nicht.«

»Er will ein Hochzeitscatering von Applebee’s! Applebee’s.«

Wallace schnappte entsetzt nach Luft. Er hätte nicht geglaubt, dass geschmacklose Hochzeiten erblich waren.

Patricia nickte eifrig. »Als ob wir uns das leisten könnten. Geld wächst schließlich nicht auf Bäumen! Wir haben unser Bestes getan, um unseren Kindern ein gewisses Verständnis für finanzielle Angelegenheiten zu vermitteln, aber wenn man noch jung ist, hat man das nicht immer im Griff. Und jetzt, wo seine zukünftige Braut schwanger ist, kommt er zu uns und bittet um Hilfe.« Sie seufzte theatralisch. »Zurzeit schaffe ich es morgens überhaupt nur aufzustehen, weil ich weiß, dass ich hierherkommen und … alldem entfliehen kann.«

Wallace spürte ein seltsames Ziehen in der Brust. Er rieb sich das Brustbein. Wahrscheinlich Sodbrennen. Er hätte die Finger von dem Chili lassen sollen. »Ich bin froh, dass wir Ihnen eine Zuflucht bieten konnten, aber das ist nicht der Grund, warum ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe.«

Sie schniefte. »Ach?« Sie lächelte wieder. Zuversichtlicher diesmal. »Was denn dann, Mr. Price?«

Er sagte: »Sie sind gefeuert.«

Patricia blinzelte.

Wallace wartete. Sie würde es bestimmt jeden Moment begreifen, und dann konnte er wieder zurück an seine Arbeit gehen.

Sie sah sich um, ein verwirrtes Lächeln auf dem Gesicht. »Ist das eine dieser Reality-TV-Shows?« Sie lachte – ein Gespenst ihres damaligen Überschwangs, von dem er dachte, es sei längst gebannt. »Filmen Sie mich etwa? Kommt gleich jemand hereingesprungen und ruft Überraschung? Wie heißt diese Sendung? Du bist gefeuert, aber nicht wirklich?«

»Das bezweifle ich sehr«, sagte Wallace. »Niemand ist autorisiert, mich zu filmen.« Er sah die Handtasche auf ihrem Schoß an. »Oder aufzunehmen.«

Patricias Lächeln wurde eine Spur verhaltener. »Dann verstehe ich das nicht. Was meinen Sie?«

»Ich weiß nicht, wie ich es noch klarer ausdrücken soll, Mrs. Ryan. Ab heute sind Sie nicht mehr bei Moore, Price, Hernandez & Worthington beschäftigt. Bevor Sie das Gebäude verlassen, wird der Sicherheitsdienst Ihnen gestatten, Ihre Habseligkeiten einzusammeln, und dann werden Sie aus dem Gebäude eskortiert. Die Personalabteilung wird sich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen, um den finalen Papierkram zu erledigen, falls Sie sich um … Oh, wie hieß das noch gleich?« Er blätterte durch die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Ah, ja. Arbeitslosenunterstützung. Denn anscheinend können Sie, auch wenn Sie arbeitslos sind, in Form meiner Steuergelder dennoch am staatlichen Milchfläschchen nuckeln.« Er schüttelte den Kopf. »In gewisser Weise ist es also so, als ob ich Ihnen immer noch Gehalt zahlen würde. Nur eben nicht mehr so viel. Oder während Sie hier arbeiten. Denn das tun Sie nicht mehr.«

Ihr Lächeln verschwand. »Ich … was?«

»Sie sind gefeuert«, wiederholte Wallace langsam. Er wusste nicht, was daran so schwer zu verstehen war.

»Warum?«, fuhr sie auf.

Endlich waren sie beim Thema. Das Warum der Dinge war Wallace’ Spezialität. Nichts als die Fakten. »Wegen des Amicus-Briefs in der Cortaro-Sache. Sie haben ihn zwei Stunden nach Ablauf der Frist eingereicht. Er ist allein deshalb noch angekommen, weil Richter Smith mir einen Gefallen schuldete, und selbst das hätte beinahe nicht gereicht. Ich musste ihn daran erinnern, dass ich ihn und seine zur Geliebten gewordene Babysitterin dabei beobachtet hatte, wie … Es spielt keine Rolle. Sie hätten die Firma Tausende von Dollar kosten können, und das entspricht nicht einmal ansatzweise dem Schaden, den es unserem Klienten verursacht hätte. Diese Art von Fehler wird nicht toleriert. Ich danke Ihnen für Ihr jahrelanges Engagement für Moore, Price, Hernandez & Worthington, aber ich fürchte, Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt.«

Patricia stand ruckartig auf, ihr Stuhl kratzte über die Hartholzdielen. »Ich habe ihn nicht zu spät eingereicht.«

»Doch, haben Sie«, erwiderte Wallace gemessen. »Ich habe den Zeitstempel aus dem Büro des Sachbearbeiters hier, wenn Sie ihn sehen wollen.« Er tippte mit den Fingern auf den Ordner, der auf seinem Schreibtisch lag.

Ihre Augen verengten sich. Wenigstens weinte sie nicht mehr. Mit Wut konnte Wallace umgehen. An seinem ersten Tag an der juristischen Fakultät hatte man ihm gesagt, dass Anwälte zwar unabdingbar für eine funktionierende Gesellschaft seien, aber stets allen Zorn abbekommen würden. »Selbst wenn ich ihn zu spät eingereicht habe, ist so etwas noch nie vorgekommen. Es war ein einziges Mal.«

»Und Sie können sich beruhigt in dem Wissen zurücklehnen, dass es auch nie wieder vorkommen wird«, sagte Wallace. »Denn Sie arbeiten nicht mehr hier.«

»Aber … aber mein Mann. Und mein Sohn. Und meine Tochter!«

»Richtig«, sagte Wallace. »Ich bin froh, dass Sie es ansprechen. Falls Ihre Tochter ein Stipendium von uns erhalten hat, ist es hiermit natürlich aufgehoben.« Er drückte eine Taste auf seinem Tischtelefon. »Shirley? Könnten Sie bitte an die Personalabteilung weiterleiten, dass die Tochter von Frau Ryan kein Stipendium mehr von uns erhält? Ich weiß nicht, was da zu tun ist, aber ich bin sicher, dass die irgendein Formular ausfüllen müssen, das ich unterschreiben muss. Kümmern Sie sich sofort darum.«

Die Stimme seiner Assistentin knisterte durch den Lautsprecher. »Ja, Mr. Price.«

Er sah zu seiner ehemaligen Anwaltsgehilfin auf. »So. Sehen Sie? Ich habe mich um alles gekümmert. Bevor Sie jetzt gehen, möchte ich Sie bitten, daran zu denken, dass wir Profis sind. Es gibt keinen Grund zu schreien oder mit Gegenständen zu werfen oder mit Dingen zu drohen, die zweifellos als Straftat gelten würden. Und bitte achten Sie beim Ausräumen Ihres Schreibtisches darauf, nichts mitzunehmen, was der Firma gehört. Ihre Nachfolgerin fängt am Montag an, und ich möchte mir nicht vorstellen, wie es für sie wäre, wenn ihr ein Hefter oder ein Klebebandroller fehlen sollte. Was Sie sonst an Nippes angesammelt haben, gehört natürlich Ihnen.« Er nahm den Stressball mit dem Firmenlogo darauf von seinem Schreibtisch. »Die sind wunderbar, nicht? Ich meine mich zu erinnern, dass Sie zur Feier des siebenjährigen Firmenbestehens einen bekommen haben. Nehmen Sie ihn mit, mit meinem Segen. Ich habe das Gefühl, Sie werden ihn noch brauchen.«

»Sie meinen es ernst«, flüsterte Patricia.

»Todernst«, erwiderte Wallace. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss …«

»Sie … Sie … Sie Monster!«, schrie sie. »Ich verlange eine Entschuldigung!«

Natürlich tat sie das. »Eine Entschuldigung würde implizieren, dass ich etwas falsch gemacht habe. Das habe ich nicht. Wenn überhaupt, dann sollten Sie sich bei mir entschuldigen.«

Ihr Antwortschrei beinhaltete keine Entschuldigung.

Wallace behielt einen kühlen Kopf und betätigte noch einmal die Taste an seinem Tischtelefon. »Shirley? Ist der Sicherheitsdienst inzwischen eingetroffen?«

»Ja, Mr. Price.«

»Gut. Schicken Sie ihn herein, bevor ich noch etwas an den Kopf geworfen bekomme.«

Das Letzte, was Wallace Price von Patricia Ryan sah, waren ihre wild um sich tretenden Füße, als ein großer Mann namens Geraldo sie wegzerrte, wobei sie Wallace’ Warnung, keine strafpflichtigen Drohungen auszusprechen, lauthals ignorierte. Er war fast schon beeindruckt, mit welcher Hingabe Mrs. Ryan ihm einen glühenden Schürhaken in den Schlund rammen wollte, bis der Haken – wie sie es nannte – seinen Genitalbereich durchstoßen und ihm extreme Qualen verursachen würde. »Sie werden auf den Füßen landen!«, rief er ihr von der Bürotür hinterher in der Gewissheit, dass die gesamte Etage zuhörte. Alle sollten wissen, dass ihm solche Dinge nicht egal waren. »Die eine Tür schließt sich, dafür geht eine andere auf und so weiter.«

Die Fahrstuhltüren glitten zu und unterbrachen Patricias Wortschwall.

»Ah«, sagte Wallace. »So ist es schon besser. Zurück an die Arbeit, Leute. Nur weil heute Freitag ist, heißt das nicht, dass ihr faulenzen dürft.«

Alle setzten sich sofort in Bewegung.

Perfekt. Die Maschine lief wieder wie geschmiert.

Er ging zurück in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.

An Patricia dachte er an diesem Nachmittag nur noch einmal, als er eine E-Mail von der Leiterin der Personalabteilung erhielt, in der sie ihm mitteilte, dass sie sich um das Stipendium kümmern würde. Das Stechen in seiner Brust kehrte zurück, aber das war in Ordnung. Auf dem Nachhauseweg würde er sich eine Packung Magensäureblocker besorgen. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr daran – oder an Patricia Ryan. Immer nach vorne schauen, sagte er sich, während er die E-Mail in einen Ordner mit der Aufschrift MITARBEITERBESCHWERDEN verschob.

Immer nach vorne.

Wallace fühlte sich besser. Wenigstens war es jetzt wieder still in seinem Büro.

Nächste Woche würde die neue Anwaltsgehilfin ihre Stelle antreten, und ihr würde er von Anfang an klarmachen, dass er keine Fehler tolerierte. Besser frühzeitig einschüchtern, als sich später mit inkompetenten Angestellten herumschlagen.

Er bekam keine Gelegenheit dazu.

Stattdessen starb Wallace Price zwei Tage später.

ZWEI

Seine Beerdigung war nur spärlich besucht. Wallace war nicht erfreut. Er war nicht einmal sicher, wie er hierhergekommen war. Im einen Moment hatte er noch auf seinen Körper gestarrt. Dann hatte er geblinzelt und sich irgendwie vor einer Kirche wiedergefunden, die Türen standen offen, und die Glocken läuteten. Das große Schild vor der Kirche machte die Sache auch nicht besser. FEIERLICHEZUSAMMENKUNFTZUMGEDENKENANWALLACEPRICE, stand da. Das Schild gefiel ihm nicht, wenn er ehrlich war. Nein, es gefiel ihm ganz und gar nicht. Vielleicht konnte ihm drinnen jemand sagen, was zum Teufel hier vorging.

Er hatte auf einer Bank im hinteren Teil Platz genommen. Diese Kirche war alles, was er hasste: prunkvoll, mit großen bemalten Glasfenstern und mehreren Versionen von Jesus in verschiedenen Stadien des schmerzvollen Leidens, die Hände an ein Kreuz genagelt. Eines der Kreuze war aus Stein, wie es schien. Zu Wallace’ Entsetzen schien sich niemand daran zu stören, dass die prominente Figur, die überall in der Kirche zu sehen war, ausgerechnet in ihrem Todeskampf dargestellt wurde. Er würde Religion nie verstehen.

Er wartete darauf, dass noch mehr Leute eintrafen. Auf dem Schild vor der Tür stand, die Beerdigung würde pünktlich um neun Uhr beginnen. Laut der dekorativen Uhr an der Wand (ein weiterer Jesus, dessen Arme als Zeiger fungierten, wodurch der Betrachter wohl daran erinnert werden sollte, dass Gottes eingeborener Sohn ein Verrenkungskünstler gewesen war) war es fünf vor neun, und es waren nur sechs Leute in der Kirche.

Wallace kannte fünf von ihnen.

Die erste war seine Ex-Frau. Ihre Scheidung war eine bittere Angelegenheit gewesen, voller haltloser Anschuldigungen auf beiden Seiten. Ihre Anwälte hatten sie kaum davon abhalten können, sich anzuschreien, wenn sie sich am Tisch gegenübersaßen. Sie musste hergeflogen sein. Schließlich war sie ans andere Ende des Landes gezogen, um von ihm wegzukommen. Er nahm es ihr nicht übel.

Größtenteils.

Sie weinte nicht. Aus Gründen, die er selbst nicht genau erklären konnte, war Wallace verärgert darüber. Sollte sie nicht schluchzen?

Die bekannten Gesichter zwei, drei und vier gehörten seinen Partnern aus der Anwaltskanzlei Moore, Price, Hernandez & Worthington. Er wartete darauf, dass weitere Firmenmitglieder dazustießen. Schließlich hatte sich MPH&W seit der Gründung vor zwanzig Jahren vom einfachen Garagenbüro zu einer der mächtigsten Kanzleien im gesamten Staat entwickelt. Zumindest erwartete er seine Assistentin Shirley, wie sie mit verschmiertem Make-up und einem Taschentuch in der Hand wimmerte, sie wisse nicht, wie sie ohne ihn weitermachen solle.

Sie war nicht anwesend. Wallace konzentrierte sich voll und ganz auf sie, wollte mit schierer Willenskraft erzwingen, dass Shirley auftauchte und jammerte, wie ungerecht das alles war. Dass sie einen Chef wie Wallace brauchte, um ihr den rechten Weg zu weisen. Nichts geschah, und Wallace runzelte die Stirn. Ein unbehagliches Gefühl spukte durch seinen Hinterkopf.

Die Partner versammelten sich im hinteren Teil der Kirche, in der Nähe von Wallace’ Bank, und unterhielten sich leise. Wallace hatte es aufgegeben, sie darauf hinzuweisen, dass er immer noch da war und direkt vor ihnen saß. Sie konnten ihn nicht sehen. Sie konnten ihn nicht hören.

»Ein trauriger Tag«, sagte Moore.

»Sehr traurig«, stimmte Hernandez zu.

»So schlimm«, sagte Worthington. »Arme Shirley, dass sie ihn so finden musste.«

Die Partner hielten inne, blickten zum Vorderteil der Kirche und verneigten sich respektvoll, als Naomi ihren Blick erwiderte. Sie grinste abfällig und drehte sich wieder um.

Dann:

»Das gibt einem zu denken«, sagte Moore.

»Das tut es«, stimmte Hernandez zu.

»Absolut«, bestätigte Worthington. »Es bringt einen zum Nachdenken. Über eine Menge Dinge.«

»Du hast noch nie in deinem Leben einen eigenständigen Gedanken gehabt«, sagte Wallace zu ihm.

Sie schwiegen einen Moment lang, und Wallace war sicher, dass sie gerade in ihren schönsten Erinnerungen an ihn schwelgten. Gleich würden sie liebevoll erzählen: jeder eine kleine Geschichte über den Mann, den sie ihr halbes Leben lang gekannt hatten, und über den Einfluss, den er auf sie gehabt hatte.

Vielleicht würden sie sogar die eine oder andere Träne vergießen. Er hoffte es.

»Er war ein Arschloch«, sagte Moore schließlich.

»Und was für eines«, stimmte Hernandez zu.

»Das größte von allen«, sagte Worthington.

Alle lachten, versuchten aber, ihre Heiterkeit zu unterdrücken, damit das Geräusch nicht von den Wänden widerhallte. Wallace war vor allem über zwei Dinge schockiert: Erstens hatte er nicht gewusst, dass man in der Kirche lachen durfte, schon gar nicht während einer Beerdigung. Er dachte, das müsse irgendwie illegal sein. Andererseits war er seit Jahrzehnten nicht mehr in einer Kirche gewesen. Möglicherweise hatten sich die Regeln inzwischen geändert. Zweitens: Wie kamen sie dazu, ihn ein Arschloch zu nennen? Er war enttäuscht, als sie nicht sofort vom Blitz erschlagen wurden. »Zerschmettere sie!«, schrie er und funkelte die Decke an. »Zerschmettere sie jetzt … sofort …« Er hielt inne. Warum hallte seine Stimme nicht?

Moore, der offenbar beschlossen hatte, dass die Trauerzeit vorbei war, sagte: »Habt ihr gestern Abend das Spiel gesehen? Mann, Rodriguez war in Höchstform. Ich konnte kaum fassen, wie sie das Spiel noch gedreht haben.«

Und dann waren sie weg und redeten über Sport, als läge ihr ehemaliger Partner nicht in einem siebentausend Dollar teuren Sarg aus massiver Rotkirsche in der Kirche aufgebahrt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Haut blass, die Augen geschlossen.

Wallace drehte sich ruckartig nach vorne, die Kiefer zusammengepresst. Sie hatten gemeinsam Jura studiert und beschlossen, gleich nach dem Abschluss eine Kanzlei zu gründen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern. Am Anfang waren er und seine Partner Freunde gewesen, jung und idealistisch. Doch im Lauf der Jahre waren sie mehr als nur Freunde geworden: Sie waren Kollegen geworden, was für Wallace viel wichtiger war. Er hatte keine Zeit für Freunde. Er brauchte keine. Er hatte seinen Job im dreißigsten Stock des größten Wolkenkratzers der Stadt, seine importierten Büromöbel und eine zu große Wohnung, in der er sich kaum aufhielt. Er hatte alles gehabt, und jetzt …

Tja.

Wenigstens war es ein teurer Sarg. Auch wenn Wallace seit seiner Ankunft vermieden hatte, ihn anzusehen.

Die fünfte Person in der Kirche kannte er nicht. Es war eine junge Frau mit wirrem, kurz geschnittenem schwarzem Haar. Dunkle Augen über einer schmalen Himmelfahrtsnase, darunter blasse, dünne Lippen. Ihre Ohren waren durchstochen, die kleinen Ohrstecker glitzerten im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel. Sie trug einen eleganten schwarzen Nadelstreifenanzug, und ihre Krawatte war leuchtend rot. Eine Powerkrawatte, wie sie im Buche stand. Wallace war erfreut. Alle Krawatten, die er besaß, waren Powerkrawatten. Nein, im Moment trug er keine davon. Anscheinend trug man nach dem Tod immer das, was man als Letztes angehabt hatte, bevor man abgekratzt war. Es war wirklich bedauerlich, dass er offenbar an einem Sonntag in seinem Büro verstorben war. Wallace war kurz hingefahren, um sich auf die kommende Woche vorzubereiten, hatte sich eine Jogginghose und ein altes Rolling-Stones-T-Shirt übergestreift und seine Flip-Flops angezogen, weil er wusste, dass niemand da sein würde.

Und genau das trug er jetzt, sehr zu seinem Missfallen.

Die Frau blickte in seine Richtung, als hätte sie ihn gehört. Wallace kannte sie nicht, aber er nahm an, dass er irgendwann einmal in ihr Leben getreten sein musste, wenn sie hier war. Vielleicht war sie eine dankbare Klientin von ihm gewesen. Nach einer gewissen Zeit konnte er all die Menschen nicht mehr auseinanderhalten. Vielleicht war es also das. Wahrscheinlich hatte er in ihrem Namen ein großes Unternehmen wegen heißen Kaffees oder Schikane verklagt – irgendwas – und eine hohe Abfindung für sie herausgeholt. Natürlich war sie voller Dankbarkeit. Wer wäre das nicht?

Moore, Hernandez und Worthington schienen gütigerweise beschlossen zu haben, dass ihre angeregte Unterhaltung über ein Sportereignis ebenso gut ein andermal fortgeführt werden konnte. Sie gingen an Wallace vorbei, ohne auch nur einen Blick in seine Richtung zu werfen, zum Vorderteil der Kirche, alle mit ernster Miene. Sie ignorierten die junge Frau im Anzug und stellten sich stattdessen zu Naomi. Einer nach dem anderen beugte sich zu ihr hinunter, um ihr sein Beileid auszusprechen. Naomi nickte. Wallace wartete auf ihren Weinkrampf. Er war sicher, dass er einem Dammbruch gleichen würde.

Jeder der Partner nahm sich Zeit, eine Weile mit gesenktem Haupt vor dem Sarg zu stehen. Das unbehagliche Gefühl, das Wallace erfüllte, seit er sich draußen vor der Kirche wiedergefunden hatte, wurde stärker. Wie ein grässlicher Missklang. Hier saß er nun, im hinteren Teil der Kirche, und starrte zum vorderen Teil, wo er selbst in einem Sarg lag. Wallace gab sich nicht der Illusion hin, ein gut aussehender Mann zu sein. Er war zu groß, zu schlaksig, und seine garstig kantigen Wangenknochen ließen sein blasses Gesicht umso hagerer erscheinen. Einmal, auf einer Halloween-Party in der Firma, war eine Gruppe von Kindern ganz entzückt gewesen über sein Kostüm. Ein besonders keckes Mädchen hatte gemeint, er gäbe einen hervorragenden Sensenmann ab.

Wallace hatte kein Kostüm getragen.

Sitzend betrachtete er sich selbst, erhaschte hier und da einen Blick auf seinen Körper, während die Partner um selbigen herumschlurften, und das schreckliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte, drohte Wallace zu überwältigen. Der Leichnam trug einen seiner schöneren Anzüge, einen Zweiteiler aus Sharkskin-Wolle von Tom Ford. Er passte gut zu Wallace’ schlanker Figur und brachte seine grünen Augen zum Strahlen. Um ehrlich zu sein, war der Anzug im Moment aber nicht gerade schmeichelhaft, denn seine Augen waren geschlossen und seine Wangen waren mit so viel Rouge bemalt, dass er aussah wie eine ehemalige Kurtisane, nicht wie ein hochkarätiger Anwalt. Wallace’ Stirn war seltsam blass, sein kurzes dunkles Haar war nach hinten gegelt und glänzte feucht im Scheinwerferlicht.

Schließlich setzten sich die Partner auf die Bank gegenüber von Naomi. Ihre Gesichter waren trocken.

Eine Tür öffnete sich. Wallace drehte sich um und sah einen Priester (noch jemand, den er nicht kannte, und wieder spürte er diesen Missklang, wie ein Gewicht auf seiner Brust – etwas stimmte nicht, irgendetwas stimmte hier nicht), der durch die schmale Vorhalle schritt und Gewänder trug, die genauso lächerlich waren wie diese Kirche. Der Priester blinzelte ein paarmal, als könnte er nicht glauben, wie leer die Kirche war. Er zog den Ärmel seines Gewandes zurück, sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf, um schließlich ein stilles Lächeln aufzusetzen. Er ging direkt an Wallace vorbei, ohne ihn zu beachten. »Schon in Ordnung!«, rief Wallace ihm hinterher. »Sie halten sich sicher für wichtig. Kein Wunder, dass die institutionalisierte Religion so schlecht dasteht.«

Der Priester blieb neben Naomi stehen, nahm ihre Hand in die seine und sprach in leisen Worten zu ihr, wie sehr er ihren Verlust bedaure, dass die Wege des Herrn unerforschlich seien und dass wir seinen Plan zwar nicht immer verstehen würden, aber sicher sein könnten, dass es einen gebe und dass dies ein Teil davon sei.

Naomi sagte: »Oh, das bezweifle ich, Vater. Aber lassen wir das Gelaber und machen weiter im Programm. Er soll in zwei Stunden unter der Erde sein, und ich muss meinen Flug heute Nachmittag erwischen.«

Wallace verdrehte die Augen. »Mein Gott, Naomi. Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal ein wenig Respekt zeigst? Du befindest dich in einer Kirche.« Und ich bin tot, wollte er hinzufügen, tat es aber nicht, denn das machte es real, und nichts von dem hier war real. Ausgeschlossen.

Der Priester nickte. »Natürlich.« Er tätschelte Naomis Handrücken, dann ging er zu der Bank gegenüber, wo die Partner saßen. »Mein Beileid für Ihren Verlust. Die Wege des Herrn sind uner…«

»Absolut«, sagte Moore.

»Sehr geheimnisvoll«, bestätigte Hernandez.

»Großer Mann mit großen Plänen«, fügte Worthington hinzu.

Die Frau – die Fremde, die er nicht kannte – schüttelte prustend den Kopf.

Wallace funkelte sie an.

Der Priester ging weiter und blieb mit gesenktem Haupt vor dem Sarg stehen.

Zuvor hatte Wallace Schmerzen in seinem Arm gehabt, ein Brennen in der Brust und einen kleinen, wilden Anflug von Übelkeit in seinem Magen. Einen Moment lang hatte er beinahe geglaubt, dass es an den Chili-Resten lag, die er am Vorabend gegessen hatte. Aber dann hatte er in seinem Büro auf dem exorbitant teuren importierten Perserteppich gelegen und dem Plätschern des Brunnens in der Lobby gelauscht, während er versuchte, zu Atem zu kommen. »Verdammtes Chili«, waren seine letzten Worte gewesen, bevor er sich über seinem eigenen Körper wiedergefunden und das Gefühl gehabt hatte, an zwei Orten gleichzeitig zu sein: Einerseits starrte er zur Decke hinauf, und gleichzeitig sah er auf sich selbst hinab. Es dauerte einen Moment, dann löste sich die Spaltung wieder auf und Wallace lag mit offenem Mund da, wobei das einzige Geräusch, das aus seiner Kehle kam, ein dünnes Fiepen war wie von einem Ballon, dem die Luft ausging.

Was in Ordnung war, denn er war ja nur ohnmächtig geworden! Mehr war es nicht. Nichts weiter als Sodbrennen und das Bedürfnis, ein kurzes Nickerchen auf dem Boden zu machen. Das passierte jedem irgendwann mal. Wallace hatte in letzter Zeit einfach zu viel gearbeitet. Irgendwann musste es ihn ja einholen.

Nachdem das geklärt war, ging es ihm etwas besser damit, dass er bei seinem Beerdigungsgottesdienst Jogginghosen, Flip-Flops und ein altes T-Shirt trug. Er mochte die Rolling Stones nicht einmal. Er hatte keine Ahnung, woher das T-Shirt kam.

Der Priester räusperte sich, blickte auf die wenigen Anwesenden und sagte: »In der Heiligen Schrift steht geschrieben, dass …«

»Liebes Jesulein«, murmelte Wallace.

Die Fremde verschluckte sich.

Wallace riss den Kopf hoch, und der Priester redete weiter.

Die Frau hielt sich die Hand vor den Mund, als müsste sie sich ein Lachen verkneifen. Wallace war wütend. Wenn sie seinen Tod so lustig fand, warum zum Teufel war sie dann überhaupt hier?

Es sei denn …

Nein, das konnte nicht sein, oder?

Er starrte die Fremde an und versuchte, sie einzuordnen.

Was, wenn sie tatsächlich eine ehemalige Klientin war?

Was, wenn er ein weniger wünschenswertes Ergebnis für sie erzielt hatte?

Eine Sammelklage vielleicht. Eine, die nicht so viel einbrachte, wie die Frau gehofft hatte. Wenn Wallace neue Klienten bekam, machte er ihnen stets große Versprechungen von Gerechtigkeit und außerordentlichen finanziellen Entschädigungen. Früher hatte er die Erwartungen eher gedämpft, aber mit jedem Urteil zu seinen Gunsten war er zuversichtlicher geworden. Sein Name wurde in den heiligen Hallen des Gerichts mit großer Ehrfurcht geflüstert. Er war ein skrupelloser Hai, und in der Regel fiel jeder, der sich ihm in den Weg stellte, auf die Schnauze – ohne recht zu wissen, wie es dazu gekommen war.

Aber vielleicht steckte mehr dahinter.

Hatte sich das, was als professionelle Beziehung zwischen Anwalt und Klientin begonnen hatte, in etwas Finsteres verwandelt? Vielleicht war sie auf ihn fixiert, hatte sich verliebt in seine teuren Anzüge und die Art, wie er den Gerichtssaal beherrschte. Redete sich ein, dass entweder sie Wallace Price bekommen würde oder niemand. Sie verfolgte ihn, stand nachts vor seinem Fenster und beobachtete ihn, während er schlief (dass er im fünfzehnten Stock wohnte, konnte ihn nicht von dem Gedanken abbringen; wahrscheinlich kletterte sie einfach über die Hauswand auf seinen Balkon). Und wenn er im Büro war, brach sie in seine Wohnung ein und legte sich auf sein Kissen, atmete seinen Duft ein und träumte von dem Tag, an dem sie Mrs. Wallace Price werden würde. Dann hatte er sie vielleicht unwissentlich verschmäht, und die Liebe, die sie für ihn empfunden hatte, war in bittere Wut umgeschlagen.

Das war es. Das erklärte alles. Immerhin war es nicht ohne Präzedenzfall, nicht wahr? Wahrscheinlich war Patricia Ryan ebenfalls von ihm besessen, wenn man ihre unglückliche Reaktion auf ihre Entlassung bedachte. Höchstwahrscheinlich steckten die beiden sogar unter einer Decke. Und nachdem Wallace getan hatte, was er tun musste, hatten sie … was? Sich zusammengetan und … Moment. Okay … Die zeitliche Abfolge, wie das alles funktionieren sollte, war nicht ganz klar, aber trotzdem.

»… und nun möchte ich jeden, der ein paar Worte über unseren lieben Wallace sagen möchte, einladen, nach vorne zu kommen und dies zu tun.« Der Priester lächelte heiter. Das Lächeln verblasste etwas, als sich niemand rührte. »Es darf wirklich jeder.«

Die Anwesenden senkten die Köpfe.

Naomi seufzte.

Offensichtlich waren sie überwältigt, unfähig, die richtigen Worte zu finden, um sein brillantes Leben zusammenzufassen. Wallace nahm es ihnen nicht übel. Wie sollte man all das, was ihn ausmachte, auch nur annähernd in Worte fassen? Erfolgreich, intelligent, fleißig bis zur Besessenheit und so vieles mehr. Natürlich zögerten sie.

»Steht auf«, murmelte er und starrte die Anwesenden an. »Steht auf und sagt etwas Nettes über mich. Ich befehle es euch.«

Naomi erhob sich.

Wallace schnappte nach Luft. »Es funktioniert!«, flüsterte er voller Inbrunst. »Ja. Ja!«

Der Priester nickte ihr zu und trat zur Seite. Naomi starrte lange auf Wallace’ Leichnam hinab, und er sah überrascht, wie sie ihr Gesicht verzog, als würde sie gleich weinen. Endlich. Endlich zeigte jemand mal Emotionen. Er fragte sich, ob sie sich auf den Sarg werfen und schluchzen würde, warum, warum, warum das Leben so ungerecht sein musste. Und Wallace, ich habe dich immer geliebt, auch wenn ich mit dem Gärtner geschlafen habe. Du weißt schon, das war der, der eine Aversion gegen Oberkörperbekleidung bei der Arbeit zu haben schien. Die Sonne schien auf seine breiten Schultern, der Schweiß rann ihm über die wie gemeißelt aussehenden Bauchmuskeln, als wäre er eine gottverdammte griechische Statue, von der du vorgabst, sie nicht ebenfalls anzustarren. Aber wir beide wissen, dass das Quatsch ist. Schließlich hatten wir denselben Männergeschmack.

Sie weinte nicht.

Sie nieste.

»Verzeihung«, sagte sie und wischte sich über die Nase. »Der musste jetzt mal raus.«

Wallace sank tiefer in seine Bank. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache.

Naomi stellte sich neben den Priester aufs Podium. Sie sagte: »Wallace Price war … am Leben. Und jetzt ist er es nicht mehr. Ich kann beim besten Willen nichts Schlechtes daran finden. Er war kein guter Mensch.«

»Oje«, sagte der Priester.

Naomi ignorierte ihn. »Er war starrsinnig und vermessen und hat sich nur für sich selbst interessiert. Ich hätte Bill Nicholson heiraten können, aber stattdessen bin ich auf den Wallace-Price-Expresszug gesprungen, der mich zu verpassten Abendessen, vergessenen Geburts- und Hochzeitstagen und der ekelhaften Angewohnheit brachte, abgeschnittene Zehennägel auf dem Badezimmerboden zu hinterlassen. Ich meine, der Mülleimer stand direkt daneben. Wie um alles in der Welt konnte er ihn übersehen?«

»Schrecklich«, sagte Moore.

»Und wie«, stimmte Hernandez zu.

»Abgeschnittene Zehennägel gehören in den Mülleimer«, sagte Worthington. »Ist doch nicht so schwer.«

»Moment«, sagte Wallace laut. »So war das nicht gedacht. Du solltest traurig sein, und während du dir die Tränen abwischst, erzählst du, was du alles an mir vermissen wirst. Was für eine Art von Beerdigung ist das hier bitte schön?«

Doch Naomi hörte nicht zu, kein bisschen. Aber wann hatte sie das je getan? »Seit ich die Nachricht erhalten habe, habe ich nach einem Moment aus unserer gemeinsamen Zeit gesucht, der mich nicht mit Reue, Apathie oder einer brennenden Wut erfüllt, als stünde ich auf einer glühenden Herdplatte. Es hat einige Zeit gedauert, aber am Ende habe ich einen gefunden: Einmal, als ich krank war, hat Wallace mir eine Tasse mit heißer Suppe gebracht. Ich bedankte mich bei ihm, dann ging er zur Arbeit, und ich sah ihn sechs Tage lang nicht wieder.«

»Das war’s?«, rief Wallace. »Soll das ein Witz sein?«

Naomis Miene wurde hart. »Ich weiß, man sollte gewisse Gefühle haben und sich entsprechend verhalten, wenn jemand stirbt. Aber ich stehe hier vor Ihnen, um Ihnen zu sagen, dass das Blödsinn ist. Tut mir leid, Vater.«

Der Priester nickte. »Schon gut, mein Kind. Lassen Sie es raus. Der Herr …«

»Und fragen Sie mich besser gar nicht, was ihm wichtiger war: seine Arbeit oder eine Familie zu gründen? Ich habe meinen Eisprung in seinen Arbeitskalender eingetragen. Und wissen Sie, was er daraufhin getan hat? Er hat mir eine Karte geschickt, auf der stand: GLÜCKWUNSCH, BESTANDEN.«

»Du reitest also immer noch darauf herum, wie?«, fragte Wallace laut. »Wie läuft eigentlich deine Therapie, Naomi? Klingt, als solltest du dein Geld zurückverlangen.«

»Autsch …«, sagte die Fremde.

Wallace funkelte sie an. »Haben Sie noch etwas hinzuzufügen? Ich weiß, ich bin ein guter Fang, aber nur weil ich Sie nicht liebe, haben Sie noch lange nicht das Recht, mich zu ermorden!«

Das Geräusch, das Wallace machte, als die Frau seinen Blick erwiderte, bleibt besser der Fantasie überlassen – vor allem, als sie ziemlich lautstark erklärte: »Nee. Sie sind nicht gerade mein Typ, und außerdem soll man keine Leute ermorden, wissen Sie?«

Wallace fiel buchstäblich von der Bank, während Naomi weiter über ihn herzog, als hätte die fremde Frau nicht eben etwas gesagt. Wallace krallte sich an der Lehne vor ihm fest, bis sich seine Fingernägel in das Holz gruben, spähte vorsichtig über die Kante und starrte die Fremde mit großen Augen an.

Sie lächelte und hob eine Braue.

Er brauchte einen Moment, um seine Stimme wiederzufinden. »Sie … Sie können mich sehen?«

Die Frau nickte, drehte sich halb herum und stützte sich mit dem Ellbogen auf die Lehne ihrer Bank. »Kann ich.«

Wallace begann zu zittern. Seine Hände umklammerten das Holz so fest, dass er dachte, seine Finger müssten jeden Moment brechen. »Wie? Was? Ich ver… Was?«

»Ich weiß, dass Sie im Moment noch ein wenig verwirrt sind, Wallace. Diese Dinge können …«

»Ich habe Ihnen meinen Namen nicht genannt!«, kreischte er, unfähig, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.

Sie schnaubte. »Draußen vor der Kirche steht ein großes Schild mit Ihrem Bild und Ihrem Namen darauf.«

»Das habe ich nicht …« Was? Was hatte er nicht gemeint? Er rappelte sich auf. Seine Beine gehorchten nicht ganz so, wie er wollte. »Vergessen Sie das dämliche Schild. Wie ist all das möglich? Was zum Teufel geht hier vor?«

Die Frau lächelte. »Sie sind tot.«

Wallace brach in schallendes Gelächter aus. Ja, er konnte seinen Leichnam in dem Sarg sehen, aber das hatte gar nichts zu bedeuten. Es musste irgendein Fehler vorliegen. Als er merkte, dass die Frau nicht mit einfiel, hörte er auf zu lachen. »Wie bitte?«, sagte er tonlos.

»Tot, Wallace.« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Warten Sie kurz. Was war noch mal die Ursache? Das ist mein erstes Mal, und ich bin ein bisschen nervös.« Sie erstrahlte. »Ach, genau! Ein Herzinfarkt.«

Und da wusste Wallace, dass das alles nicht real war. Ein Herzinfarkt? Lächerlich. Er hatte nie geraucht, ernährte sich so gut er konnte und trieb Sport, wenn er daran dachte. Bei seiner letzten Untersuchung hatte ihm der Arzt gesagt, dass sein Blutdruck zwar etwas erhöht sei, aber sonst sei alles in Ordnung. Wallace konnte nicht an einem Herzinfarkt gestorben sein. Das war nicht möglich. Genau das sagte er der Frau und war sicher, dass die Angelegenheit damit erledigt wäre.

»Rrrrichtig«, erwiderte sie ganz langsam, als wäre er derjenige, der hier nichts kapierte. »Ich spucke Ihnen nur ungern in die Suppe, Mann, aber genau das ist passiert.«

»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich wüsste doch wohl, wenn ich … Ich hätte gespürt, wie …« Ja, was gespürt? Den stechenden Schmerz in seinem Arm? Das Stottern in seiner Brust? Dass er kaum Luft bekommen hatte, egal wie sehr er sich anstrengte?

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, das gehört zu den Dingen, die man nicht gerne wahrhaben möchte.« Wallace fuhr zusammen, als sie aufstand und zu ihm kam. Sie war kleiner, als er gedacht hatte, reichte ihm wahrscheinlich gerade mal bis zum Kinn. Er wich zurück so weit er konnte, was allerdings nicht sonderlich weit war.

Naomi wetterte gerade über eine Reise in die Poconos, die sie offenbar unternommen hatten (»Er blieb die ganze Zeit im Hotelzimmer und veranstaltete Telefonkonferenzen! Es waren unsere Flitterwochen!«), während die Frau sich zu Wallace auf die Bank setzte, dabei aber etwas Abstand hielt. Sie schien noch jünger zu sein, als er zunächst geglaubt hatte, vielleicht Anfang bis Mitte zwanzig, was die Angelegenheit irgendwie noch schlimmer machte. Ihr Teint war etwas dunkler als seiner, und ihre Mundwinkel waren in der Andeutung eines Lächelns nach oben gebogen und gaben den Blick auf ihre kleinen Zähne frei. Sie tippte mit den Fingern auf die Rückenlehne der Bank vor ihnen, dann sah sie ihn an. »Wallace Price«, sagte sie. »Mein Name ist Meiying, aber Sie können mich Mei nennen, wie der Monat, nur anders geschrieben. Ich bin hier, um Sie nach Hause zu bringen.«

Er starrte sie an, unfähig etwas zu sagen.

»Hmm. Hätte nicht gedacht, dass Ihnen das die Sprache rauben würde. Ich hätte es gleich damit versuchen sollen.«

»Mit Ihnen gehe ich nirgendwohin«, presste er zähneknirschend hervor. »Ich kenne Sie nicht.«

»Das hoffe ich doch«, erwiderte sie. »Wenn Sie mich kennen würden, wäre das sehr merkwürdig.« Sie hielt inne und überlegte. »Zumindest seltsam.« Sie nickte in Richtung Altar. »Schöner Sarg, übrigens. Sieht nicht billig aus.«

Wallace wurde allmählich ärgerlich. »Ist er auch nicht. Nur das Allerbeste für …«

»Oh, das glaube ich gerne«, sagte Mei. »Trotzdem. Ziemlich krass, oder? Seinen eigenen Körper so zu sehen. Aber kein schlechter Körper. Ein bisschen dünn vielleicht, aber Geschmäcker sind verschieden.«

Er hatte genug. »Ich teile Ihnen hiermit mit, dass ich ganz gut zurechtgekommen bin mit meinem dünnen … Nein. Ich lasse mich nicht von Ihnen an der Nase herumführen! Ich verlange, dass Sie mir jetzt sofort erklären, was hier los ist!«

»Okay«, sagte sie leise. »Mache ich. Ich weiß, das ist vielleicht schwer zu verstehen, aber Ihr Herz hat den Dienst quittiert und Sie sind gestorben. Es wurde eine Autopsie gemacht, und wie sich herausstellte, litten Sie an einer Verengung der Herzkranzgefäße. Ich kann Ihnen die Y-förmige Narbe zeigen, wenn Sie wollen, aber ich würde davon abraten. Es ist ziemlich eklig. Wussten Sie, dass die Organe nach einer Autopsie manchmal mit Sägespänen in einen Beutel gepackt und zurück in den Körper gelegt werden, bevor sie alles wieder zunähen?« Sie sah ihn freundlich an. »Oh, und ich bin Ihr Sensenmann. Ich bin hier, um Sie an den Ort zu bringen, an den Sie jetzt gehören.« Und dann, als wäre der Moment nicht schon bizarr genug, breitete sie die Hände aus wie eine Zauberkünstlerin auf der Bühne. »Ta-taa!«

»Sensenmann«, wiederholte er benommen. »Was ist … das?«

»Das bin ich«, erwiderte sie und rückte ein wenig näher heran. »Ich bin ein Sensenmann. Wenn jemand stirbt, gibt es jede Menge Verwirrung. Die Betroffenen wissen nicht, was los ist, und sie haben Angst.«

»Ich habe keine Angst!« Das war gelogen. Wallace hatte sich noch nie in seinem Leben so sehr gefürchtet.

»Okay«, sagte sie. »Dann haben Sie also keine Angst. Gut so. Unabhängig davon ist es eine schwierige Zeit für alle Beteiligten. Sie brauchen Hilfe, um den Übergang zu schaffen. Und genau da komme ich ins Spiel. Ich bin hier, damit dieser Übergang so reibungslos wie möglich verläuft.« Sie hielt inne. Dann: »Das war’s. Ich glaube, ich habe alles gesagt. Ich musste eine Menge auswendig lernen, um diesen Job zu bekommen, und vielleicht habe ich hier oder da ein Detail vergessen, aber das war schon mal das Wichtigste.«

Er starrte sie an. Er hörte kaum, wie Naomi im Hintergrund brüllte und ihn einen egoistischen Bastard ohne jegliche Selbstwahrnehmung nannte. »Übergang.«

Mei nickte.

Ihm gefiel nicht, wie sich das anhörte. »Zu was?«

Sie grinste. »Oh Mann. Das werden Sie gleich sehen.« Sie hob einen Arm und drehte die Handfläche nach oben. Dann drückte sie Daumen und Mittelfinger zusammen und schnippte.

Die kühle, frühlingshafte Sonne schien auf Wallace’ Gesicht herab.

Er stolperte einen Schritt nach hinten und sah sich hektisch um.

Ein Friedhof. Sie waren auf einem Friedhof.

»Tut mir leid«, sagte Mei, die gerade neben ihm aufgetaucht war. »Ich hab den Dreh noch nicht ganz raus.« Sie runzelte die Stirn. »Ich bin sozusagen neu in diesem Geschäft.«

»Was ist hier los?«, kreischte er.

»Sie werden gerade begraben«, antwortete sie fröhlich. »Kommen Sie. Sie sollten es sich ansehen. Das hilft, die letzten Zweifel zu zerstreuen, die Sie vielleicht noch haben.« Sie packte ihn am Arm und zog. Wallace stolperte über seine eigenen Füße, schaffte es aber, auf den Beinen zu bleiben. Seine Flip-Flops klatschten gegen seine Fersen, und er hatte Mühe, Schritt zu halten. Sie schlängelten sich zwischen den Grabsteinen hindurch, umgeben vom Lärm des regen Verkehrs und dem Gehupe ungeduldiger Taxifahrer, die Schimpfwörter aus ihren offenen Fenstern brüllten. Wallace versuchte, sich von Mei loszureißen, aber ihr Griff war zu fest. Sie war stärker, als sie aussah.

»Da wären wir«, sagte sie und blieb stehen. »Genau rechtzeitig.«

Er spähte über ihre Schulter. Naomi war da, ebenso die Partner. Sie standen vor einem frisch ausgehobenen, rechteckigen Loch. Der teure Sarg wurde gerade in die Erde abgesenkt. Niemand weinte. Worthington schaute immer wieder auf seine Uhr und seufzte theatralisch. Naomi tippte auf ihrem Telefon herum.

Wallace hätte über alles Mögliche aus der Fassung geraten können, aber was ihn sprachlos machte, war die Tatsache, dass es keinen Grabstein gab. »Wo ist das Schild? Mein Name. Geburtsdatum. Ein paar inspirierende Zeilen, die besagen, dass ich mein Leben in vollen Zügen genossen habe.«

»Haben Sie?«, fragte Mei ohne jede Ironie. Offenbar war sie einfach nur neugierig.

Er riss sich von ihr los und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. »Ja.«

»Spitze. Der Grabstein kommt normalerweise erst nach der Beerdigung. Er muss erst noch beschriftet werden und so. Es ist noch viel zu tun, aber zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber. Sehen Sie: Ab mit dem Sarg unter die Erde! Winken Sie zum Abschied.«

Er winkte nicht.

Mei schon. Ihre Finger wackelten eifrig.

»Wie sind wir hierhergekommen?«, fragte er. »Gerade noch waren wir in der Kirche.«

»Wie aufmerksam. Wirklich gut, Wallace. Wir waren tatsächlich eben noch in der Kirche. Ich bin stolz auf Sie. Sagen wir, ich habe ein paar Dinge ausgelassen. Und ich muss mich beeilen.« Sie verzog das Gesicht. »Es ist allein meine Schuld. Also, im Ernst, Mann, verstehen Sie das jetzt nicht falsch, weil ich es absolut nicht so gemeint habe. Aber ich war ein bisschen zu spät dran, als ich mich auf den Weg zu Ihnen gemacht habe. Das ist sozusagen das erste Mal, dass ich alleine jemanden abhole, und ich habe es vermasselt. Bin aus Versehen am falschen Ort rausgekommen.« Sie lächelte glücklich. »Alles gut zwischen uns?«

»Nein«, fauchte Wallace. »Es ist nicht alles gut zwischen uns.«

»Oh. Das ist scheiße. Tut mir leid. Ich verspreche, dass es nicht wieder vorkommt. Ich werde dazulernen und so weiter. Ich hoffe, Sie bewerten meine Dienste trotzdem mit einer Zehn, wenn Sie den Fragebogen bekommen. Es würde mir sehr viel bedeuten.«

Wallace hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Er glaubte beinahe, dass sie die Verrückte war, nichts als eine Ausgeburt seiner eigenen Fantasie. »Es sind drei volle Tage vergangen!«

Sie strahlte ihn an. »Genau! Das macht meine Arbeit so viel einfacher. Hugo wird sehr zufrieden mit mir sein. Ich kann es kaum erwarten, es ihm zu sagen.«

»Wer zum Teufel ist …«

»Warten Sie. Das ist eine meiner Lieblingsstellen.«

Er sah in die Richtung, in die sie deutete. Die Partner standen in einer Reihe hintereinander, Naomi als Letzte. Wallace beobachtete, wie sie sich einer nach dem anderen bückten, eine Handvoll Erde nahmen und sie in das Grab rieseln ließen. Das Geräusch der Erde, die auf den Sargdeckel prasselte, ließ Wallace’ Hände zittern. Naomi stand da, mit ihrer Handvoll Erde über dem offenen Grab, und ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Da und wieder verschwunden. Sie schüttelte den Kopf, warf die Erde in das Loch und wirbelte herum. Das Letzte, was Wallace von seiner Ex-Frau sah, war, wie ihr Haar im Sonnenlicht glänzte, während sie zu einem wartenden Taxi eilte.

»Das bringt irgendwie alles zusammen«, erklärte Mei. »Der Kreis schließt sich. Aus der Erde kommen wir, und in die Erde kehren wir zurück. Hübsch, wenn man darüber nachdenkt.«

»Was geht hier vor?«, flüsterte Wallace.

Mei berührte seinen Handrücken. Ihre Haut war kühl, aber nicht unangenehm. »Brauchen Sie eine Umarmung? Ich kann Sie umarmen, wenn Sie möchten.«

Er riss seinen Arm weg. »Ich will keine Umarmung.«

Sie nickte. »Grenzen. Sehr gut. Ich respektiere das. Ich verspreche, dass ich Sie nicht ohne Ihre Erlaubnis umarmen werde.«

Einmal, als Wallace sieben Jahre alt gewesen war, nahmen seine Eltern ihn mit an den Strand. Er stand in der Brandung und sah zu, wie der Sand zwischen seinen Zehen hindurchlief. Es war ein seltsames Gefühl, das durch die Beine bis in seine Magengrube stieg. Seine Füße sanken ein Stückchen tiefer ein, aber durch die Kombination aus dem abfließenden Sand und den weißen Schaumkronen auf den Wellen fühlte es sich nach so unendlich viel mehr an. Es machte Wallace Angst, und ab da weigerte er sich, noch einmal ins Meer zu gehen, egal wie sehr seine Eltern ihn anflehten.

Es war dasselbe Gefühl, das Wallace Price jetzt verspürte. Vielleicht lag es an dem Geräusch der Erde auf dem Sarg. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass neben dem offenen Grab ein Bild von ihm stand, mit einem Blumenkranz darunter. Auf dem Bild lächelte er stramm. Sein Haar war nach rechts gescheitelt und perfekt gestylt. Seine Augen strahlten. Naomi hatte einmal gesagt, er erinnere sie an die Vogelscheuche aus Der Zauberer von Oz. »Wenn du nur ein Hirn hättest«, hatte sie gesagt. Das war während einer ihrer Scheidungsverhandlungen gewesen, also hatte er es schlicht als einen weiteren Versuch abgetan, ihn zu verletzen.

Wallace ließ sich zu Boden plumpsen, hart, seine Zehen rutschten über den Rand seiner Flip-Flops und berührten das nackte Gras. Mei ließ sich neben ihm im Schneidersitz nieder und zupfte an einer kleinen Pusteblume. Sie pflückte sie und hielt sie dicht vor Wallace’ Mund. »Wünschen Sie sich was«, sagte sie.

Er wünschte sich nichts.

Sie seufzte und pustete dann selbst auf die Löwenzahnsamen. Sie explodierten zu einer weißen Wolke, eine Brise erfasste die Samen und ließ sie um das offene Grab tanzen. »Es ist eine Menge zu verdauen, ich weiß.«

»Tun Sie das?«, murmelte er, das Gesicht in den Händen vergraben.

»Nicht wirklich«, räumte sie ein. »Aber ich habe eine ganz gute Vorstellung davon.«

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie haben gesagt, es wäre Ihr erstes Mal.«

»Das ist es. Allein, meine ich. Aber ich habe die Ausbildung gemacht und war ziemlich gut. Brauchen Sie Mitgefühl? Das kann ich Ihnen geben. Wollen Sie auf etwas einschlagen, weil Sie wütend sind? Auch da kann ich Ihnen helfen. Aber nicht auf mich. Vielleicht auf eine Wand.« Sie zuckte die Achseln. »Oder wir bleiben hier sitzen und sehen zu, wie irgendwann ein kleiner Bagger kommt und den Rest der Erde auf Ihren ehemaligen Körper schaufelt und so die Tatsache besiegelt, dass alles vorbei ist. Ganz, wie Sie Lust haben.«

Wallace starrte sie an.

Sie nickte. »Richtig. Ich hätte mich anders ausdrücken sollen. Sorry. Ich bin noch dabei, den Dreh rauszukriegen.«

»Was … ?« Wallace versuchte, den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. »Was passiert hier?«

Sie sagte: »Nichts weiter, als dass Sie Ihr Leben gelebt haben. Sie haben getan, was Sie getan haben, und jetzt ist es vorbei. Zumindest dieser Teil. Und wenn Sie bereit zum Aufbruch sind, bringe ich Sie zu Hugo. Er wird Ihnen den Rest erklären.«

»Aufbrechen«, murmelte er. »Mit Hugo.«

Sie schüttelte den Kopf und hielt inne. »Nun, in gewisser Weise. Er ist der Fährmann.«

»Ein was?«

»Der Fährmann«, wiederholte sie. »Derjenige, der Ihnen beim Übergang hilft.«

Wallace’ Gedanken rasten. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, auf gar nichts. Es fühlte sich alles zu groß an, um es zu begreifen. »Aber ich dachte, Sie sollten …«

»Ah. Sie mögen mich also doch. Das ist süß.« Sie lachte. »Aber ich bin nur der Sensenmann, Wallace. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Sie zum Fährmann kommen. Er kümmert sich um den Rest. Sie werden schon sehen. Wenn wir erst mal bei ihm sind, werden Sie sich pudelwohl fühlen. Das liegt an Hugos Ausstrahlung, er wirkt nun mal so auf die Menschen. Er wird Ihnen alles erklären, bevor Sie übersetzen, all die lästigen Fragen beantworten, die Ihnen noch im Kopf rumgehen.«

»Übersetzen …«, sagte Wallace tonlos. »Wohin?«

Mei neigte den Kopf. »Na, zu dem, was als Nächstes kommt, natürlich.«

»In den Himmel?« Er wurde blass, ein schrecklicher Gedanke drängte an die Oberfläche. »Die Hölle?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Sicher.«

»Das ist keine Antwort.«

Sie lachte. »Weiß ich doch, Mann. Das macht Spaß. Ich habe Spaß. Sie nicht?«

Nein, hatte er nicht. Kein bisschen.

Mei drängte ihn nicht. Sie blieben, bis rosa und orangefarbene Streifen am Himmel auftauchten und die Märzsonne sich anschickte, hinter dem Horizont zu versinken. Sie blieben sogar, bis der angekündigte Bagger kam, geschickt gesteuert von einer Frau mit einer Zigarette zwischen den Zähnen, während der Rauch aus ihrer Nase quoll. Das Grab füllte sich schneller, als Wallace erwartet hatte. Als die Baggerfahrerin fertig war, leuchteten die ersten Sterne am Firmament, allerdings sehr schwach wegen der Lichtverschmutzung.

Und das war’s.

Alles, was von Wallace Price übrig blieb, war ein kleiner Erdhügel mit einem Leichnam darunter, der nun nur noch Wurmfutter war. Es war eine zutiefst niederschmetternde Erfahrung. Das hatte er nicht erwartet. Seltsam, dachte er. Wie äußerst seltsam.

Er sah Mei an.

Sie lächelte.

Er sagte: »Ich …« Er wusste nicht, wie er den Satz zu Ende bringen sollte.

Sie tätschelte seine Hand. »Ja, Wallace. Es ist real.«

Und, oh Wunder, er glaubte ihr.

Sie sagte: »Möchten Sie jetzt Hugo kennenlernen?«

Nein. Wollte er nicht. Er wollte wegrennen. Er wollte schreien. Er wollte die Fäuste zu den Sternen erheben und schimpfen und toben, wie ungerecht das alles war. Er hatte Pläne. Er hatte Ziele. Es gab noch so viel zu tun, und jetzt würde er nie mehr … Er konnte nicht einmal …