Das Mädchen und der Junge - Günter Görlich - E-Book

Das Mädchen und der Junge E-Book

Günter Görlich

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Beschreibung

Zu den guten Eigenschaften der Kinder- und Jugendbücher von Günter Görlich gehört, dass sie einen von der ersten Seite an in die Handlung hineinziehen und relativ schnell mit ihren Hauptfiguren bekannt und sogar vertraut machen – als würde man sie und ihre Familien schon lange und gut kennen. Das gilt auch für dieses Buch, in dessen Titel Das Mädchen und der Junge noch namenlos sind. Anfangs kennen sich die beiden jungen Leute noch gar nicht. Zu im wahrsten Sinne des Wortes näherer Begegnung verhilft dem Mädchen und dem Jungen ein Zusammenstoß auf einer Eisbahn, wonach das Mädchen in die Poliklinik muss: Der Arzt behandelte die Wunde und legte einen neuen Verband an. Er tröstete das Mädchen: „Wenn Sie Hosen tragen, fällt es gar nicht auf. Sie werden ein bisschen humpeln, der Schmerz vergeht nach ein paar Tagen. Es ist eine tiefe Fleischwunde. Hätte schlimmer kommen können. Eine Kufe kann den Knochen zerschmettern. Kommen Sie in drei Tagen wieder. Ich verschreibe Ihnen ein paar Tabletten. Sie hätten ruhig ein bisschen weinen können, das hilft manchmal.“ Draußen wartet der Junge, mit dem sie zusammengestoßen ist, und der sie mit seinem Moped nach Hause fährt. Da kennen sie sich vielleicht eine Stunde. Am nächsten Tag sitzt der Junge, der Frank heißt, im Zimmer des Mädchens, das Katrin heißt, von ihrem Vater aber immer nur Katja genannt wird, und wartet auf Tee. Dann erzählen Kathrin und Frank von sich und ihren Familien. Frank ist schon, Katrin soll auf die EOS, die Erweiterte Oberschule. Wenige Tage später fährt sie wie immer mit den Eltern eine Woche zum Winterurlaub in eine Waldhütte. Doch diesmal denkt sie dauernd an Frank. Diesmal will Katrin weg, möchte in die Stadt, mit dem Jungen zusammen sein. Dieser Wunsch ist so stark, dass sie es nicht schafft, sich von ihrer gedrückten Stimmung zu befreien. Und dann fasst sie einen Entschluss: Gegen Ende des Frühstücks sagt Katrin: „Ich möchte nach Hause fahren.“ In den nächsten Monaten beginnt so etwas wie eine Liebesgeschichte. Katrin will immer mit Frank zusammen sein. Doch dann sagt an einem gewöhnlichen Wochentag Frau Rumke, Katrins Klassenlehrerin, zu ihr: „Ich möchte mit dir sprechen. Vielleicht heute Nachmittag?“ „Reicht nicht die große Pause, Frau Rumke?“ „Nein, die Zeit ist zu knapp.“ „Ich habe was vor.“ „Und morgen?“ Frau Rumke macht sich Sorgen um das Mädchen. Ein vergnüglich-nachdenkliches Buch über die Kunst und die Kraft, einen eigenen Kopf zu haben und eigene Wege zu gehen.

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Impressum

Günter Görlich

Das Mädchen und der Junge

978-3-96521-689-1 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1981 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

1.

Sie wird nach ihrem Namen gefragt und nach der Adresse.

„Katrin Schumann“, sagt sie, „Schumann ohne h, Simon- Dach-Straße, im vierten Stock. An der Warschauer Brücke, wissen Sie.“

„Weiß ich“, sagt die Frau, die das aufschreibt, unwirsch.

Die Frau scheint in Eile zu sein, will vielleicht zum Mittagessen, es ist kurz vor zwölf.

„Wie alt?“, fragt sie.

„Vierzehn“, sagt Katrin Schumann, „aber bald fünfzehn.“

Die Frau hinter dem Schreibtisch schaut sie zweifelnd an. „Vierzehn? Zwei Jahre älter würde ich sagen. Wie du aussiehst.“

Was hat die bloß, denkt Katrin, hab ihr doch nichts getan. Schließlich ist das ihre Arbeit, ich bin ja nicht zum Spaß hier. – Wie die ihre Fingernägel angemalt hat, lila. So was hab ich noch nicht gesehen.

Katrin ist unsagbar müde und kann sich nicht aufregen. Unter anderen Umständen wäre sie der Frau eine Antwort nicht schuldig geblieben.

Das Mädchen hat eine Spritze bekommen, die zu wirken beginnt. Zwei hat man ihr gegeben, eine gegen Wundstarrkrampf und eine zur Beruhigung, damit die Schmerzen nachlassen, wie der Arzt sagte.

Der hatte sich ganz anders verhalten als die Frau hier, sehr behutsam den Verband gelöst und gesagt: „Gleich haben wir’s, noch ein kurzer Ruck. Das ist aber eine Wunde. Wie ist das passiert?“

„Ein Schlittschuh, die Kufe“, erklärte Katrin gepresst, denn es tat verdammt weh. Aber gestöhnt hatte sie nicht. Es ist nicht die Art der Katrin Schumann, gleich zu jammern, wenn mal was passiert.

Der Arzt behandelte die Wunde und legte einen neuen Verband an. Er tröstete das Mädchen: „Wenn Sie Hosen tragen, fällt es gar nicht auf. Sie werden ein bisschen humpeln, der Schmerz vergeht nach ein paar Tagen. Es ist eine tiefe Fleischwunde. Hätte schlimmer kommen können. Eine Kufe kann den Knochen zerschmettern. Kommen Sie in drei Tagen wieder. Ich verschreibe Ihnen ein paar Tabletten. Sie hätten ruhig ein bisschen weinen können, das hilft manchmal.“

So der Arzt. Und die Frau hier? Die fährt fort im Verhör. „Vater, Mutter, Vornamen. Arbeitsstellen?“

„Dieter Schumann, mein Vater. Arbeitet im Reichsbahnausbesserungswerk an der Warschauer. Meine Mutter heißt Marianne. Arbeitet in der Glühlampe. Am Band. Leuchtstoffröhren. Wie die überm Waschbecken.“

„Und die Glühlampe ist auch an der Warschauer, wie?“

„Ja, auf der anderen Seite.“

„Nun wissen wir ja Bescheid, alles an der Warschauer“, sagt die Frau. Erneut spürt Katrin den gereizten Ton und möchte nun doch fragen, warum die Frau so mit ihr spricht.

Die sagt jetzt gleichgültig: „Bring das nächste Mal den Versicherungsausweis mit. Den hat man möglichst immer in der Tasche.“

Die Frau ist aufgestanden, stellt sich vor den Spiegel, lässt die Leuchtstoffröhre aufflammen und geht mit ihrem Gesicht dicht an das Spiegelglas heran, sie muss kurzsichtig sein.

Katrin steht auf, und die Schmerzen lassen sie zusammenzucken. Sie humpelt zur Tür und weiß wieder einmal, dass es solche und solche Leute gibt.

Wenn draußen vor dem Arztzimmer nicht einer auf sie warten würde, könnte sie sehen, wie sie nach Hause kommt. Hoffentlich hat der keine Mücke gemacht.

Im langen Flur wartet der Junge. Er hat sie hergebracht, und er ist es auch, dem sie die Wunde verdankt. Aber schuld war er nicht, nein, wirklich nicht. Er zog seine Bogen und Schleifen auf dem Eis, und Katrin war beeindruckt davon. Doch weil eine Katrin Schumann träumte, passierte der Zusammenstoß.

Dieser Junge also wartet vor der Tür und springt auf, als das Mädchen herauskommt. „Mann, siehst du blass aus“, sagt er.

Sieht aber nicht weniger blass aus, der Junge.

„Geht schon“, sagt Katrin, „bloß die Hose ist hin. Ist wohl nicht mehr zu flicken.“

„Wir kaufen eine neue“, sagt der Junge, „natürlich. Wozu haben meine Eltern eine Versicherung.“

Sie stehen sich gegenüber und werden auf einmal verlegen. Sie kennen sich vielleicht eine Stunde. Länger ist der Zusammenstoß auf dem Eis nicht her. Katrin schlug hin und spürte zunächst nichts, dann durchfuhr sie ein schneidender Schmerz.

Der Junge trug sie an den Rand der Eisfläche. Mit einer Mullbinde verband er recht und schlecht die Wunde, holte sein Moped und fuhr sie hierher in die Poliklinik.

„Ich bring dich nach Hause“, sagt der Junge.

Er trägt eine graugrüne Kutte und verwaschene Jeans. Seine blonden Haare sind nicht zu lang. Und im Augenblick erscheinen seine Augen ganz groß. „Wo musst du hin?“, fragt er.

„Simon-Dach-Straße. Du musst bis zur Allee und dann bis Ostkreuz. Ich sag dir Bescheid.“

„Ich hole lieber eine Taxe. Das Moped ist nicht gut gefedert. Jedenfalls nicht für jemand, der eine Wunde am Bein hat.“

„Taxe? Viel zu teuer.“

„Unsinn. Nach Hause musst du.“

„Ich halt das aus. Die Spritze wirkt schon. Ich hab keine Schmerzen mehr.“

„Wenn’s so ist“, sagt der Junge zögernd, „fahren wir also.“

Beim Auftreten hat sie doch Schmerzen, und der Junge, der sie besorgt beobachtet, fasst sie unter, und sie ist ihm dankbar dafür.

Katrin lehnt sich an ihn. Die Kapuze seiner Kutte scheuert, und sie wendet den Kopf ab.

Es ist nicht kalt. Feiner Schnee treibt, er ist nass und schmilzt augenblicklich auf dem Asphalt. Bei solch einem Wetter muss man vorsichtig fahren.

Katrin klammert sich an den mageren Körper des Jungen. Erschrocken sieht sie auf die Seitenwand eines Lastkraftwagens, der sich riesengroß vorbeischiebt. Der Junge meidet die Schlaglöcher, fährt behutsam. Katrin ruft ihm ins Ohr, wo er langfahren soll. Doch sie merkt bald, dass er die Gegend kennt.

Als sie auf die Modersohnbrücke zufahren, wird das Schneetreiben unangenehmer. Katrin atmet auf, gleich ist sie zu Hause, das hier ist ihre Gegend. Und wo die Simon-Dach-Straße in die Revaler mündet, liegt das Haus, in dem sie wohnt, seit sie denken kann.

Der Junge schaltet den Motor aus, nimmt den Sturzhelm vom Kopf. „Ein ganzes Stück von hier bis zur Eisbahn“, sagt er.

„Gibt bloß die eine“, erwidert Katrin.

Ihr Gesicht brennt vom Fahrtwind. Die Schmerzen im Bein sind weg, die Spritze wirkt. Das Mädchen steigt ohne Schwierigkeiten vom Moped und läuft, ohne zu humpeln.

„Hör mal“, sagt der Junge, „hier hast du meine Adresse. Wenn was ist, rufe an. Tut mir wirklich leid, das alles.“

Er gibt ihr einen Zettel, den sie in die Anoraktasche schiebt. „Ist ja noch gut gegangen, hat der Arzt gesagt. Bist in Ordnung, hast dich um mich gekümmert.“

„Wär eine Schweinerei, wenn ich’s nicht täte“, sagt der Junge erstaunt.

Und nun ist eigentlich alles gesagt.

„Dann mach’s gut. Fahr vorsichtig“, sagt Katrin. Sie hebt die Hand, und er hebt auch die Hand.

„Tschüs“, sagt er.

Das Mädchen geht rasch zum Hauseingang. Doch im Hausflur muss sie sich an die Wand lehnen, die Wunde schmerzt heftig. Warum hat sie eigentlich vor dem Jungen so forsch getan? Stufe für Stufe setzt sie vorsichtig das verletzte Bein auf und merkt, dass vier Stockwerke unter Umständen ganz schön hoch sein können.

Die dämmerige Stille der Wohnung gibt Katrin ein Gefühl der Geborgenheit. Im Flur schaltet sie das Licht ein und tritt vor den Spiegel. Die Haare sind nass und zerzaust, und sie versucht, sie in Ordnung zu bringen. Doch ihre Hände sind steif und klamm. Mühsam zieht Katrin den Anorakverschluss nach unten, der an einer bestimmten Stelle festhakt. Sie muss ziehen und reißen und denkt, sie hätte schon längst einen neuen Reißverschluss einnähen können.

Gabriele hätte ihn besorgt und ihr dabei geholfen. „Aber nun mal ran, Schwesterlein. Nicht so begriffsstutzig, kleine Krabbe.“

Kleine Krabbe? Die drei Jahre Unterschied. Na ja, vier sind’s fast. – Die Schneiderin Gabriele ist selbstbewusst, rasch und arbeitet gut.

Wie heißt der Junge überhaupt? Er hat sich nicht vorgestellt, hatte was anderes zu tun. Sie hat ihm auch nicht ihren Namen genannt.

Katrin könnte sich die Zunge rausstrecken, widerwärtig hässlich findet sie sich in diesem Augenblick. Und der Schmerz bohrt wieder. Sie humpelt in ihr Zimmer. Es ist das kleinste in der Wohnung, der Teil eines größeren, das sie früher mit der Schwester Gabriele zusammen bewohnte. Das wurde mit der Zeit schwierig, Gabriele ist älter und hat andere Interessen als Katrin.

Vor kurzem hat Vater das Zimmer geteilt und eine Wand eingezogen. Allerdings ist sie nicht sehr dick. Die Schwester liebt laute Musik, zu laute, wie Katrin meint, obwohl sie mit der von den Eltern gewünschten Lautstärke auch nicht einverstanden ist. Das ist ein ewiger Kampf zwischen Gabriele und den Eltern. Er wird manchmal recht lautstark geführt, wenn Gabriele und die Mutter aneinandergeraten.

Gabriele hätte gern Bruder Jörgs Behausung gehabt. Das ist mehr eine Kammer, die am Anfang des Flurs liegt, weiter entfernt vom Wohn- und Schlafzimmer der Eltern, und sie ist im Augenblick unbewohnt. Jörg, der Älteste, ist bei der Armee.

Hin und wieder wird ein Wohnungswechsel erörtert. Mutter macht ab und zu einen Vorstoß, schwärmt von Zentralheizung und Warmwasser.

Vater sagt jedes Mal entschieden: „Jeder von uns hat seine vier Wände. Eine Küche ist da und ein Bad. Ich laufe fünf Minuten zur Arbeit und du zehn. Ist das kein Vorteil?“

Katrin tritt an das Fenster, das vom herantreibenden Schnee leicht beschlagen ist. Sie blickt auf die Straße, auf die kahlen Zweige des alten Baumes und entdeckt den Jungen. Er hat den Sturzhelm in der Hand, sein Haar klebt am Kopf. Aus der Höhe gesehen erscheint ihr der Junge klein und schmal. Ist er aber nicht. Das hat sie gespürt, als sie auf dem Moped saß und hinter seinem Rücken Schutz fand.

Der Junge betrachtet die Hausfront, und das Mädchen ahnt, er sucht sie hinter einem der vielen Fenster. Er ist nicht abgefahren. Sie nach oben zu begleiten, hat er sich nicht getraut. Wie lange wird er noch stehen und hoffen, sie an einem der Fenster zu entdecken?

Katrin zieht den Vorhang zurück. Der Junge hebt die Hand, er hat sie gesehen. Das Mädchen winkt zurück, presst die Stirn und beide Handflächen an das Fensterglas und spürt die Kühle der Scheiben. Hände und Gesicht brennen. Das kommt vom kalten Fahrtwind, denkt sie und weiß sogleich, nicht nur davon.

Der Junge unter dem winterlichen Straßenbaum setzt sich den Helm auf, startet das Moped und winkt noch einmal. Er fährt schnell an, prescht über das feuchtglänzende Steinpflaster, dass Katrin Angst bekommt.

Sie steht noch eine Weile am Fenster und blickt auf die wintergraue Straße, die ihr auf einmal anders erscheint.

Katrin möchte dem Jungen einen Namen geben. Ihr fällt der Zettel mit seiner Adresse im Anorak ein. Sie läuft in den Flur, reißt den Anorak vom Haken, findet das Stück Papier und lässt das Kleidungsstück achtlos auf den Fußboden fallen: Frank Lessow, Wilhelmsruh, Tulpenstraße 8 und eine Telefonnummer.

Nun weiß sie seinen Namen. Er gefällt ihr. Frank. In ihrer Klasse war mal ein Frank, alle haben ihn Franki gerufen.

Sie würde zu dem Jungen nie Franki sagen, passt nicht zu ihm. Wilhelmsruh. Das ist draußen, weit weg von hier. In Pankow war sie schon oft, doch Wilhelmsruh liegt abseits. Katrin legt den Zettel auf den Tisch, damit sie ihn nicht aus dem Auge verliert.

Der Schmerz macht sich wieder bemerkbar und reißt Katrin aus ihren Träumen. Sie legt das Bein hoch.

Sollte richtiger Winter werden? Dann steht die Urlaubswoche im Wald bevor. Auf diese Woche hat Katrin sich stets gefreut. Vater lässt sich diese Tage im Februar nicht nehmen, komme, was wolle.

Er braucht diese Zeit, Mutter ebenfalls. Wenn sich Kälte ankündigt, setzt Vater alle Hebel in Bewegung, beantragt sofort Urlaub und bekommt ihn auch. Seine Arbeit wird im Reichsbahnausbesserungswerk an der Warschauer sehr geschätzt.

Katrin beobachtet den fallenden Schnee, er ist fester geworden, bedeckt sichtbar die Dächer und das weite Bahngelände.

Vater wird das beobachten und seine gewohnte Ruhe verlieren. Warum aber denkt Katrin so gleichgültig an die sonst so sehnlich erwartete Fahrt an den winterlichen See? – Sie schaut auf die Straße. Dort hat der Junge neben seinem Moped gestanden.

Die Fensterscheibe kühlt wieder ihre Stirn. Jetzt müsste sie über sich lachen. Das konnte sie bisher immer, um von einer Sache loszukommen. Doch heute kann sie es nicht – will auch nicht.

Dann ist Katrin eingeschlafen, die Spritze, die Aufregung, die Wärme im Zimmer. Sie erwacht, weil sie jemand am Bein festhält, mit schmerzhaftem Griff. Der Schmerz wird stärker, und das Mädchen will schreien: Lass mich los. Es tut so weh.

In dem Augenblick schlägt Katrin die Augen auf. Niemand hält sie fest. Die Mutter beugt sich über sie. In dieser Sekunde wacht sie ganz auf, erinnert sich an alles.

„Was ist denn passiert?“, fragt die Mutter. „Deine Hose ist zerrissen. Du hast das Bein verbunden.“

Das Mädchen richtet sich auf und kann ein Stöhnen nicht unterdrücken. Sie versucht vorsichtig das Bein zu drehen.

Katrin erzählt alles.

„Auf der Eisbahn? Ach, du bist mir ein Unglücksrabe“, sagt Mutter. „Wer läuft denn so rücksichtslos, dass er dir das Bein kaputt macht?“

„Ich war schuld“, sagt Katrin rasch, „ich hab geträumt. Du weißt ja, wie ich manchmal bin.“

„Ich weiß schon, wie dein Vater. Im ungeeignetsten Augenblick fängt er zu träumen an und vergisst die Welt um sich herum. Hast du Fieber?“

Mutter legt ihre feste, kühle Hand auf Katrins Stirn. „Etwas Temperatur“, sagt sie und hilft der Tochter hoch.

Das Mädchen ist so groß wie die Mutter, die zierlich wirkt und der noch die Mädchengrößen passen. Katrin ist kräftiger, auch in dieser Hinsicht kommt sie nach ihrem Vater.

„An dir ist ja rein gar nichts dran“, spottet Vater manchmal gutmütig über seine Frau, „wie soll’s auch sein bei deiner hastigen Lebensweise.“

„Willst wohl eine Dicke haben, wie? Na, zwei mit so einer Bierruhe, da käme vielleicht was raus.“

Vater lacht dann und betrachtet zärtlich seine Frau, die in solchen Augenblicken wie ein Teufel sprüht.

Jetzt ist Mutter bemüht, ihrer Katrin behilflich zu sein. Löst eine Tablette auf, deckt die Couch mit Bettzeug ein, legt Kissen zurecht, auf denen das Bein hoch liegen kann, und hilft der Tochter beim Ausziehen. Sie betastet vorsichtig den Verband und schüttelt den Kopf. „Du machst Sachen. Und der Verursacher, war der wenigstens anständig?“

„Er hat mich hergefahren“, sagt Katrin, „erst zur Poliklinik und dann hierher.“

„Was? Ein Auto hat er?“

„Auto doch nicht. Ein Moped.“

„Ich bring dir Saft, wird dir guttun. Die Ferien fangen ja heiter an.“ Die Mutter verlässt das Zimmer.

Katrin lehnt sich zurück und spürt die Wirkung der Tablette. Auf dem Tisch liegt der Zettel des Jungen. Sie schiebt ihn in ein Buch. Muss nicht jeder gleich sehen. Reicht, was sie erzählt hat. Alles kann und will sie nicht erzählen. Katrin hat wieder das seltsame Gefühl, etwas ganz Merkwürdiges sei geschehen. –

Gabriele ist ins Zimmer getreten. Sie ähnelt der Mutter, auch in den Bewegungen. Nur im Gesicht ist sie voller; manchmal wirkt sie ein bisschen naiv. Vater sagt oft: „Denken ist schwer, nicht wahr. Hat das Mädchen nicht gern. Zu anstrengend.“

Solche Bemerkungen stören Gabriele nicht. Sie kommt mit der Welt zurecht, sie hat ihre Erfahrungen, und nur diese zählen für sie. Und aus dieser Sicht beurteilt sie Menschen und Dinge.

So auch das Malheur, das ihre Schwester getroffen hat. „Katrinchen, Katrinchen, der erste Ferientag. Und wer liegt im Bett mit verbundenem Bein? Die liebe Katrin. Ich war schon tausendmal auf der Eisbahn, mir ist so was noch nie passiert.“

Sie setzt sich auf die Couch, nimmt Katrins Hose, betrachtet den Riss, schüttelt den Kopf. „Blöd, sag ich dir, ziemlich blöd. Flicken kann man das schon. Aber wie sieht es aus. Unmöglich.“

Katrin sagt erschrocken: „Aber die Hose brauch ich. Ich hab sie erst seit Weihnachten. Ist eine schicke Hose.“

„Schick? Na ja, darüber gehen die Meinungen auseinander. Mal sehen. Morgen nehme ich sie mit. Irgendwie kriegen wir es schon hin. Das macht Egon. Kennst du noch nicht. Wenn der nur eine Nadel anfasst, näht die von alleine. Egon schieb ich die Hose auf den Tisch. Und der Junge sieht gut aus. So, Schwesterlein, Kleine, ruh dich nur aus. Wird schon wieder werden.“

Gabriele springt auf und verschwindet mit der Hose. Katrin ist müde geworden durch den Wirbelwind Gabriele.

Vater kommt spät nach Hause. Er tritt in das kleine Zimmer und füllt es fast aus, so groß ist er. Vater bringt Ruhe mit. Auch Katrin ist jetzt ruhig. Sie denkt: Er hat wieder einmal länger gemacht in seiner geliebten Bude. Das passiert zu oft, Mutter hat schon recht, wenn sie manchmal die Nähe der Arbeitsstelle verwünscht.

Aber es würde nicht viel helfen, wenn sie in Pankow wohnen würden. Vater ließe sich auch durch diese Entfernung nicht von seiner Liebe zu seinem Betrieb abbringen.

Hin und wieder stehen Vater und Tochter auf der Warschauer Brücke und blicken auf die hellen Kühlwaggons, die in den Werkhallen repariert werden. Und wenn sie irgendwo einem Kühlzug begegnen, sagt Vater stets: „Da siehst du, wie unsereiner gebraucht wird.“

Jetzt sagt er: „Was machst du bloß für Sachen.“

Er streicht Katrin leicht über den Kopf. Sie stützt sich auf: „Heute wieder spät geworden.“

„Es geht noch. Die Kälte zieht an“, sagt Vater hoffnungsvoll. Er setzt sich nicht auf den Couchrand, holt einen Stuhl. „Unsere Katja hat’s wieder einmal erwischt.“

„Nicht gerade neu, Kollege Schumann“, erwidert die Tochter.

Katja, das gefällt ihr – Katja sagt nur der Vater. Er spricht dann langsam und mit weicher Betonung.

„Wirst du lange liegen müssen?“, fragt der Vater.

„Ich weiß nicht. In drei Tagen muss ich wieder zum Arzt.“

„Wir können bald rausfahren“, sagt Vater, „siehtnach Winter aus.“

Vor wenigen Stunden hat Katrin die Gedanken an die Winterfahrt beiseite geschoben, jetzt aber, durch die Anwesenheit des Vaters, erscheint ihr das Leben draußen im Wald verlockend und schön, so wie es immer war.

„In ein paar Tagen ist mein Bein in Ordnung“, verkündet sie entschlossen.

„Natürlich“, pflichtet der Vater bei, „es ist doch gut verarztet.“

„Der Doktor war in Ordnung.“

„Und der junge Mann hat dich hergefahren? Anständig“, meint Vater.

„Er war wirklich nicht schuld“, beteuert Katrin.

„Schuld hat bei Karambolagen nie einer allein. Ich weiß das von Unfällen im Betrieb.“

Katrin antwortet nicht. Vater meint es immer gut. Er ist vernarrt in seine Jüngste, wie Mutter meint. Katrin könnte das ausnützen, macht es aber nicht. Gabriele wäre anders.

Die Schwester betritt mit einem Tablett das Zimmer. „Abendbrot“, ruft sie, „die Kranke darf in ihrem Zimmer speisen. Das Oberhaupt der Familie zu Tisch. Frau Mama hat schon den Sturmball hochgezogen.“

Vater stellt den Stuhl sorgsam zurück. Als er an Katrin vorbeikommt, spürt sie den vertrauten Geruch von Motorenöl und Metall.

Gabriele setzt das Tablett auf den Hocker. „Prinzessin, geruhen zu speisen.“

Gut ist es, verwöhnt zu werden.

Katrin zieht den Hocker näher heran.

In der Tür stehend, fragt Gabriele: „Der junge Mann, sieht er gut aus?“

Katrin schaut hoch. „Hast du Zeit, dir einen anzugucken, wenn du heulst?“

„Du hast doch nicht die ganze Zeit geheult“, sagt Gabriele.

„Die ganze Zeit nun gerade nicht“, gibt Katrin zu.

„Sieht also gut aus, wie?“

„Was verstehst du unter gut aussehen? So wie Winfried?“

„Winfried? Der sieht doch nicht mehr gut aus. Der sah mal gut aus, als er mit mir zusammen war.“

„Ach, so ist das bei dir.“

„Ist er groß oder klein?“

„Groß. Und Moped fährt er ganz toll.“

Die Schwester lächelt zufrieden. „Na siehst du, was du alles von dem jungen Mann weißt.“ Dann ist Gabriele verschwunden.

Und der Junge ist wieder in Katrins Gedanken …

2.

In der Wohnung ist es still, alle sind früh aus dem Haus gegangen. Ein Ferientag im Winter, wie ihn Katrin liebt. Doch ist sie zu unruhig, um im Bett zu bleiben. Das Bein schmerzt nicht mehr, nur wenn sie eine unbedachte Bewegung macht, bringt sich die Wunde in Erinnerung.

Das Mädchen räumt ihr Zimmer auf, isst zwischendurch gedankenlos das von Mutter zurechtgemachte Frühstück, schaltet das Radio ein, ohne jedoch mitzubekommen, was zu hören ist. Nicht einmal ein Lieblingsschlager findet ihre Aufmerksamkeit.

Sie wartet auf den Jungen, auch wenn sie sich es nicht eingestehen will. Und als am späten Vormittag die Wohnungsklingel schrillt, steht für sie fest, das kann nur er sein. Aber sie lässt sich Zeit, wartet ein erneutes Klingeln ab, legt ein Buch auf den Tisch, geht langsam zur Wohnungstür.

Der Junge steht im Treppenflur und wickelt einen Blumenstrauß aus dem Papier.

„Ach, du bist es“, sagt Katrin.

„Will mal sehen, wie’s dir geht“, sagt er und gibt ihr rote und weiße Nelken.

„Sind die nicht erfroren?“

„Ich hab sie fest eingewickelt“, erklärt der Junge.

„Komm rein“, sagt Katrin und gibt die Tür frei. Für einen Augenblick ist sie verlegen. Sie hat noch nie Blumen von einem Jungen erhalten.

Die olivgrüne Kutte des Jungen ist feucht, auch sein Haar, und da er keinen Sturzhelm in der Hand hält, weiß das Mädchen, er ist nicht mit dem Moped gekommen.

„Wozu hast du eine Kapuze an der Kutte“, sagt Katrin und merkt, sie spricht im Tonfall der Mutter, wenn die sich über Leichtsinn der Tochter ärgert. Das Mädchen sagt noch belehrender: „Du kannst dir was wegholen bei dem Wetter.“

„Bin ja nur ein kleines Stück gelaufen“, erwidert der Junge, „nimmst du das Papier?“

Vom frühen Morgen an hat Katrin an den Jungen gedacht und gehofft, dass er kommt. Doch nun weiß sie nicht, was sie sagen soll.

Der Junge hängt seine Kutte an die Garderobe. In einem weißen eng anliegenden Pullover sieht er gut aus.

„Geh in mein Zimmer“, sagt sie schließlich, „immer geradeaus.“

Katrin hat eine Vase gefunden. Die Nelken müsste sie anschneiden, wie das Mutter macht. Sie wird es tun, wenn der Junge weg ist. Katrin will nicht, dass er schnell wieder geht.

Im Flur schaut sie in den Spiegel, rote Flecken zeigen sich im Gesicht, als hätte sie Fieber; das Bein schmerzt auch wieder.

Als das Mädchen mit den Blumen ins Zimmer kommt, steht der Junge am Fenster und schaut hinaus.

„Möchtest du Tee?“, fragt Katrin.

„Hier hast du gestern gestanden“, sagt der Junge, „ja, Tee trinke ich gern, besonders wenn’s kalt ist.“

„Na gut, ich brüh Tee“, sagt sie.

„Ich will keine Umstände machen, hatte keine Ruhe, wollte sehen, wie es dir geht.“

„Schon viel besser. Der Arzt war Klasse.“ Katrin läuft zurück in die Küche, humpelt vor Aufregung und ruft: „Mach dir Radio an, wenn du willst.“

Sie setzt Wasser auf. Was soll sie tun in der langen Zeit, bis das Wasser kocht? Wo findet sie Teebeutel?

Das Mädchen wirft erneut einen Blick in den Spiegel, die Flecken verblassen allmählich. Das gibt ihr die Ruhe wieder.

Noch mehr beruhigt sie die Musik, die sie aus ihrem Zimmer hört.

Was ist auch schon los? Ein Junge, der Frank Lessow heißt, sitzt in ihrem Zimmer und wartet auf Tee. Er hat ihr Blumen gebracht und ist besorgt um sie. Ist alles normal.

Doch dass sie immerzu daran gedacht hat, ob er kommen wird, ist nicht so ganz normal. Oder doch?

Der Kessel pfeift, das Wasser kocht. – Der Tee ist fertig.

Und wo sind Kekse? Gabriele ist eine Naschkatze, sie hat bestimmt welche in ihrem Zimmer.

Katrin hat nun alles beisammen, um ihren Gast zu bewirten. Ihre Unruhe ist verschwunden, das zeigt sich beim Tee-Eingießen, die Hand zittert nicht.

Der Junge hält die Tasse mit beiden Händen und schaut sie aufmerksam an.

„Darf ich rauchen?“, fragt er nach einer Weile.

Katrin springt auf und holt aus Gabrieles Zimmer einen Aschbecher.

Der Junge legt eine zerdrückte Schachtel auf den Tisch und ein kleines Feuerzeug.

„Elektronik?“, fragt Katrin.

„Ja. Sehr zuverlässig. Hat mein Vater aus England mitgebracht.“

„Aus England?“

„Ja, mein alter Herr reist hin und wieder in der Welt herum.“ Der Junge bietet dem Mädchen eine Zigarette an.

„Ich rauch nicht“, sagt Katrin, merkt, dass sie rot wird, und ärgert sich darüber.

„Bist eine Ausnahme“, sagt der Junge erstaunt.

In ihrer Klasse ist sie keine Ausnahme. Einige rauchen noch nicht oder nicht mehr. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich so mancher vor dem Spott des Sportlehrers fürchtet: Rauchen ist keine Kunst, meine Herrschaften. Nichtrauchen eine große, ist einer seiner ständigen Sprüche.

„Ich rauche nur eine“, sagt der Junge.