Ein Anruf mit Folgen - Günter Görlich - E-Book

Ein Anruf mit Folgen E-Book

Günter Görlich

0,0

Beschreibung

Wie stellt man sich den Tagesablauf eines Schriftstellers vor? Er kann ziemlich genau eingeteilt sein, wie die ersten Sätze dieser Erzählung von Günter Görlich zeigen: Der Anruf kam um zehn Uhr dreißig. Robert Berger wusste das später so genau, weil er kurz vor dem Läuten auf die Uhr geschaut hatte. Eine Seite hatte er geschrieben, lag also gut in der Zeit. Es ist ein modernes Telefon, dessen Läuten ihn immer noch erschrecken lässt. Eine gewisse Überraschung ist ihm auch anzumerken, als er den Hörer für das erste Gespräch dieses Mittwochs abnimmt und sich meldet, ohne seinen Namen zu nennen: „Spreche ich mit Herrn Berger?“, fragte eine Männerstimme. Berger bejahte. Die Stimme klang gelangweilt oder müde. „Hier ist die Direktion 3, Mitte. Kriminalpolizei, Kommissar Hinrich. Herr Berger, kennen Sie einen Jens Krause, oder auch Till Spiegel?“ „Ja“, sagte Berger, „ich kenne ihn, und mir sind auch beide Namen bekannt.“ „Sie sind der Schriftsteller Robert Berger?“ „Ja, ich war 's auf jeden Fall, und bin's wohl auch noch“, antwortete Berger. „Wir möchten Sie sprechen, Herr Berger“, sagte der Kommissar, „geht es morgen Vormittag?“ Berger reizte die Stimme am Telefon. „In welcher Angelegenheit?“, fragte er. „In der Sache Jens Krause oder Till Spiegel“, meinte der Kommissar. „Was ist mit Jens Krause?“ „Jens Krause ist tot.“ Wie Berger weiter erfährt, weiß auch die Polizei noch nicht, ob es ein Unfall oder ein Verbrechen war. Aber sie hätten einen angefangenen Brief an ihn gefunden, und im Notizbuch stünden seine Adresse und seine Telefonnummer. Deshalb wollten sie ihn sprechen – morgen um elf in Dienstzimmer des Kommissars. Berger beginnt sich an den jungen Kollegen zu erinnern, der gerade dreißig geworden war. Er hatte sich gegen manche Widerstände für die außerordentliche Begabung dieses Mannes und das Veröffentlichen seiner Bücher eingesetzt. Ihm hatten vor allem zwei Dinge gefallen: Der junge Mann schrieb Prosa, eine lakonische, erstaunlich dichte Prosa. Berger schrieb auch Prosa. Und den Älteren beeindruckten die Ehrlichkeit des jungen Schreibers, seine Versuche, hinter die Dinge zu kommen. Für Diskussionen sorgte besonders eine Erzählung: In „Requiem für Sandra“ ging es um Sehnsüchte, Träume, Enttäuschungen und den Selbstmord einer Studentin. Ein Thema, über das auch Berger einmal geschrieben hatte. Und jetzt war Jens Krause tot. Hatte er sich auch selbst umgebracht? Oder war es Mord? Später bekommt Berger einen Aktenkoffer mit brisanten Aufzeichnungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 216

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Günter Görlich

Ein Anruf mit Folgen

Roman

ISBN 978-3-96521-715-7 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1995 im SPOTTLESS-Verlag, Berlin.

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

1. KAPITEL

Der Anruf kam um zehn Uhr dreißig. Robert Berger wusste das später so genau, weil er kurz vor dem Läuten auf die Uhr geschaut hatte. Eine Seite hatte er geschrieben, lag also gut in der Zeit.

Beim melodischen Läuten des Telefons fuhr er immer noch zusammen, erst seit zwei Monaten hatten sie den neuen Telefonapparat, Marke Siemens. An den alten Ruf war Berger schließlich Jahrzehnte gewöhnt gewesen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte sich das Telefon noch lange mit dem gewohnten Ruf melden können. Aber seine Frau Ilona wollte ein modernes Telefon.

Als Berger zum Apparat ging, der auf der Flurkommode stand, stellte er fest, dass dies der erste Anruf an diesem Mittwoch war.

Er meldete sich, ohne seinen Namen zu nennen.

„Spreche ich mit Herrn Berger?“, fragte eine Männerstimme.

Berger bejahte. Die Stimme klang gelangweilt oder müde.

„Hier ist die Direktion 3, Mitte. Kriminalpolizei, Kommissar Hinrich. Herr Berger, kennen Sie einen Jens Krause, oder auch Till Spiegel?“

„Ja“, sagte Berger, „ich kenne ihn, und mir sind auch beide Namen bekannt.“

„Sie sind der Schriftsteller Robert Berger?“

„Ja, ich war 's auf jeden Fall, und bin's wohl auch noch“, antwortete Berger.

„Wir möchten Sie sprechen, Herr Berger“, sagte der Kommissar, „geht es morgen Vormittag?“ Berger reizte die Stimme am Telefon.

„In welcher Angelegenheit?“, fragte er.

„In der Sache Jens Krause oder Till Spiegel“, meinte der Kommissar.

„Was ist mit Jens Krause?“

„Jens Krause ist tot.“

„Jens ist tot?“, fragte Berger bestürzt, „ein Unfall?“

„Können wir nicht sagen. Er wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden.“

„Ein Verbrechen?“

„Wir wissen es noch nicht. Deswegen wollen wir Sie ja auch sprechen, Herr Berger. Wir haben einen angefangenen Brief an Sie gefunden, und im Notizbuch stehen Ihre Adresse und die Telefonnummer.“

„Jens Krause ist tot. Er war noch sehr jung“, sagte Berger.

„Im Januar ist er dreißig geworden“, bestätigte der Kommissar. Dann nannte er die Adresse der Direktion, die Nummer seines Zimmers dort, und legte die Zeit fest, elf Uhr.

„Einverstanden, Herr Berger?“

„Natürlich“, sagte Berger, „um elf bin ich bei Ihnen.

„Okay“, sagte der Kommissar, „dann bis morgen.“

Robert Berger ging in sein Arbeitszimmer zurück. Er fand sofort die drei schmalen Bücher, die ihm Jens Krause geschenkt hatte.

Berger setzte sich an eins der Fenster, das weit offen stand. Draußen war ein heller Maitag, weiße Wolken trieben von Osten heran, glitten über die Häuser, entfernten sich ruhig. Berger liebt dieses Zimmer, den Platz am Fenster und den weiten Blick über die Dächer nach Süden hin. Seit Jahrzehnten leben die Bergers in dieser Wohnung in der Allee. Sie hatten nie daran gedacht, von hier wegzuziehen. Für Berger war diese Allee, die nach dem Krieg entstanden war, der Lebensraum, war seine Heimat geworden. Die hatte er erlebt und sich erschrieben. Die meisten seiner Geschichten hatte er hier angesiedelt, die für Kinder und die für Erwachsene.

In diesem Zimmer mit den hohen Bücherregalen, dem altmodischen Schreibtisch und der abgenutzten Sesselecke war auch Jens Krause einige Male gewesen. In der ersten Zeit mit kurzem Haarschnitt, scheu und nicht sehr sicher, später langhaarig, nervös, viel rauchend, heftig streitend und diskutierend.

Das erste Bändchen war eine Anthologie, herausgegeben vom Stadtbezirk Treptow. Zwanzig kurze Geschichten von jungen Literaten waren in ihr gesammelt, darunter eine von Jens Krause. Dort erzählt er die Geschichte eines jungen Mannes, der von seiner Freundin kommt und in die Kaserne zurück muss. Eine S-Bahn-Fahrt.

Die Geschichte hat den lakonischen Titel „Mach's gut!“. Berger hatte sie in die Anthologie gebracht, weil sie ihn sehr berührte. Die Stimmung in der S-Bahn, die genauen Beobachtungen, die gut geschilderte innere Befindlichkeit des jungen Mannes, der sich von seinem Mädchen lösen muss, den die raue Welt der Kaserne erwartet.

Eine Widmung steht in dem Bändchen.

Für Herrn Berger mit Dank. Jens Krause. Januar 1984.

Damals hatte er sich noch nicht den Namen Till Spiegel zugelegt.

Berger blätterte in den beiden später herausgekommenen Büchern. Das sind eigenständige Erzählungen. Eine erschien 1986 im Jugendverlag.

Wieder ein lakonischer Titel: „Auf Wache“. Und wieder die Geschichte eines Soldaten. Der steht, die Maschinenpistole vor der Brust, auf einem Wachturm, der ein militärisches Gelände sichert. Dieses Gelände liegt mitten in der großen Stadt. Der Soldat schaut auf die zuckenden Lichter, hört die Geräusche rollender Güterzüge, verfolgt den Anflug der Flugzeuge auf die verschiedenen Flughäfen der Stadt. In die Überlegungen des jungen Mannes auf dem Wachturm ist die ganze Stadt einbezogen, der östliche Teil, in dem er Wache hält, und auch der westliche, den er von seinem Wachturm im Blick hat. Und das ist das Besondere an dieser Geschichte.

Berger erinnerte sich, dass es Probleme gab mit dieser Erzählung Das hing mit dem westlichen Schauplatz zusammen. Der Verlag hatte Bedenken.

Der Teil der Stadt, der von der Mauer eingeschlossene, hatte in allen öffentlichen Darstellungen etwas Unwirkliches. Wenn überhaupt vorkommend, dann im unguten Lichte, Mietwucher, Korruption, Landsmannschaften, der Inbegriff eben des Kapitalismus.

Berger setzte sich für die Erzählung „Auf Wache“ ein, sie beeindruckte ihn wiederum durch ihre Originalität. Er bewies, dass die Wirksamkeit dieser Geschichte gerade auf dem Standpunkt des Soldaten auf dem Wachturm mitten in der Stadt beruhte. Von dort oben sah er ja die ganze Stadt, zum Beispiel die anfliegenden Flugzeuge auf Schönefeld, wenn er nach Süden schaute, und die auf Tegel, lenkte er seine Blicke nordwärts.

Auf den Standpunkt kommt es doch an, argumentierte Robert Berger beim Verlag und auch bei der Hauptabteilung, die im Kulturministerium für die Druckgenehmigung verantwortlich war. Und er führte einen noch gewichtigeren Grund an, die außerordentliche Begabung dieses jungen Mannes, der sich jetzt Till Spiegel nannte. Diese Begabung galt es zu fördern. Und das war ja seit Jahren eine der Aufgaben Robert Bergers im Verband der Schriftsteller. Er war Vorsitzender der Kommission, die für den Nachwuchs Verantwortung trug. Das brachte Berger nicht wenig Arbeit, und nicht wenig Ärger. Er wusste, der Vorstand hatte ihn berufen, weil er, wie man sagte, mit vielen konnte. Vor allen Dingen war er in der Lage, sich selbst bis zu einem gewissen Grade zurückzunehmen. Der hauptsächliche Grund aber, dass sich Berger Jahr für Jahr dieser zeitaufwendigen Aufgabe widmete, war seine Neugier auf die Nachkommenden. Er dachte oft an seinen eigenen Weg, der Anfang der Fünfzigerjahre begann, nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, an die Begegnungen in der Arbeitsgemeinschaft mit seinesgleichen und den Älteren, die er verehrte. Das war ein schwerer Weg bis zum ersten Buch. Berger vergaß nie, welche Chance ihm, dem jungen Mann ohne gute Bildung, damals gegeben wurde. Ja, das lag Jahrzehnte zurück.

Berger und die Kollegen in seiner Kommission hatten nicht wenig Einfluss auf die Wege der Jüngeren, die dem Verband nahestanden. Berger kannte auch seine Grenzen und die der anderen Kommissionsmitglieder. Und Berger hatte auch seine besonderen Zuneigungen. Und eine galt dem Till Spiegel. Der junge Mann schrieb Prosa, eine lakonische, erstaunlich dichte Prosa. Berger schrieb auch Prosa. Und den Älteren beeindruckten die Ehrlichkeit des jungen Schreibers, seine Versuche, hinter die Dinge zu kommen. Deshalb setzte er sich für die Erzählung „Auf Wache“ ein, und setzte sie durch.

Er wusste natürlich, dass die vorsichtigen Leute im Verlag und anderswo gespürt hatten, dass in dieser Erzählung des Till Spiegel, mit dem Blick über die ganze Stadt ein Tabu durchbrochen wurde. Die Gedanken des jungen Soldaten auf dem Wachturm, wenn er über die anfliegenden und startenden Flugzeuge von Schönefeld und von Tegel reflektierte, gingen weit. In einer Tupolew und einer Iljuschin war er schon geflogen, nach Moskau und in den Kaukasus. Die Boeings, die von Tegel aufstiegen, flogen in eine andere Welt. Die war dem Soldaten auf dem Wachturm verschlossen. Der Soldat nannte Gründe, dass es nicht anders sein konnte. Und doch, zwischen den Zeilen war eine vage Sehnsucht zu spüren nach der unbekannten Welt.

Also, die Erzählung „Auf Wache“ erschien.

Für Robert Berger sehr herzlich. Till Spiegel. April 1985

stand auf der Titelseite geschrieben.

Berger blätterte in dem Buch, suchte die Stelle, in der Mark Teubner, der Soldat auf dem Wachturm, über die unterschiedlichen Flugzeuge über der Stadt nachdenkt.

… Die Boeing zieht eine weite Schleife, für sie existiert keine Grenze in der Stadt, sie setzt zur Landung an. Die Richtungsfeuer blinken. Die Fenster schimmern wie eine Perlenschnur. Die Passagiere haben sich angeschnallt, wie die Passagiere der IL 62, die von Moskau kommend Schönefeld ansteuert. Was sind das für Menschen, die in der Boeing sitzen? …

Berger schlug das Buch zu. April 1985 ist diese Erzählung erschienen. Dreiundachtzig hatte Till Spiegel sie begonnen. Seitdem sind etwas mehr als zehn Jahre ins Land gegangen, in ein Land, das sich sehr verändert hat.

Berger hält eine historische Geschichte in der Hand. Das Militärgelände gibt es wohl nicht mehr, den Wachturm hat man bestimmt abgebaut. Der Held der Geschichte, der Mark Teubner, könnte nach Tegel fahren, am bequemsten mit dem Airport-Bus vom Bahnhof Zoo aus. Und er könnte sich die Menschen anschauen, die durch die Sicherheitskontrolle in die Flughafenhalle drängen.

Till Spiegels dritte Erzählung war 1987 in einem Verlag herausgekommen, der sich besonders der Berlin-Literatur verpflichtet fühlte. Sie trug den Titel „Requiem für Sandra“.

Auf diese Arbeit hatte Berger keinen Einfluss gehabt. Er hatte aber einen Vorabdruck in einer Literaturzeitschrift gefunden, die junge Autoren in der Öffentlichkeit bekannt machte. Berger hatte den Text mit gemischten Gefühlen gelesen. Till Spiegels Sprache war hektisch geworden, stellte er fest. Die Geschichte war ein Nachruf auf die Studentin Sandra, die auf nicht geklärte Weise zu Tode kam. Ihre Sehnsüchte und Träume wurden beschrieben, ihre Enttäuschungen und ihre Hilflosigkeit. Da es eine Liebesgeschichte war, kam ein Partner vor. Und der wurde sarkastisch und bitterböse behandelt. In Zuschriften an die Zeitschrift gab es sehr unterschiedliche Reaktionen, krass ablehnende, bedingungslos zustimmende.

Robert Berger erinnerte sich, dass auf einer Sitzung seiner Nachwuchskommission ein Kollege die Sprache auf den Vorabdruck brachte. Diese Literaturprobe habe einen pessimistischen Grundton, kritisierte er und stellte scharf die Frage nach der Verantwortung der Redaktion.

„Wo kommen wir hin“, hatte der Kollege geäußert, „wenn wir diesen Tendenzen Raum geben. Wenn schon das Thema Freitod, das wohl hier zur Aussage steht, dann mit klarer Verurteilung.“

Und der Kollege schaute Berger beziehungsvoll an. Berger hatte Jahre vorher eine Erzählung geschrieben, in der sich ein Mann das Leben nimmt. Über die gab es heftige Diskussionen, aber seltsamerweise fand die Geschichte vorwiegend Zustimmung, auch offizielle.

Berger wehrte in der Sitzung den Angriff auf Till Spiegel und die Zeitschrift ab.

„Das ist ein Vorabdruck“, hatte er gesagt, „wo kommen wir hin, wenn wir Vorhaben junger Leute von vornherein ablehnen?“

Die Erzählung „Requiem für Sandra“ erschien 1987. Die Zeit war schon aus den Fugen geraten. Damals erkannte Berger das nicht. Oder er wollte es nicht erkennen.

An dem Tag aber, da er vom Tod Till Spiegels erfuhr, wusste er, dass es damals so war.

Im dritten Bändchen stand auch eine Widmung von Till Spiegel.

Für Sie, Robert Berger, eine Geschichte, die auch beeinflusst ist durch eine Arbeit aus Ihrer Feder.

Till Spiegel.

Als „Requiem für Sandra“ in die Buchhandlungen kam, studierte Jens Krause an der Humboldt-Universität Geschichte.

Das aber nicht sehr lange. Es kam die Zeit, die Robert Berger damals den Niedergang des Jens Krause nannte. Der verließ die Universität und wurde freier Schriftsteller.

An diese Geschehnisse um seinen Schützling Jens Krause erinnerte sich Robert Berger nicht gern. Zu unklar und konfus verlief die Geschichte um Till Spiegel, der sich an Robert Berger und seine Kommission gewandt hatte, um am Leipziger Institut für junge Literaten angenommen zu werden. Berger hatte damals schon, doch später stärker, das Gefühl, versagt zu haben. Natürlich fand er Entschuldigungen für sein Versagen. Die Zeit, die Umstände, die starre Haltung einiger Kommissionsmitglieder, das unmögliche Verhalten dieses Till Spiegels, der ein aussichtsreiches Studium schmeißt, der maßlose Anspruch des jungen Mannes im Verhältnis zu seinem tatsächlichen literarischen Können.

Die Kommission hatte Jens Krauses Antrag abgelehnt, Robert Berger die Begründung formuliert.

Jens Krause versuchte, mit Berger zu sprechen. Der versagte sich einem Gespräch.

Das trug sich zu Beginn des Jahres 1988 zu.

Robert Berger schlug am offenen Fenster die drei schmalen Bände des toten Till Spiegel gegeneinander, klopfte den Staub aus den Seiten.

Das ist nun das Werk des begabten Jens Krause, der sich Till Spiegel nannte, mehr wird es nicht geben. Doch was würde der Kommissar morgen von ihm wissen wollen? Berger versuchte, sich an den kurzen Lebenslauf des Jens Krause zu erinnern, den er kannte und der außerhalb der literarischen Beziehungen zu ihm lag.

So weit Berger wusste, war Jens Krause in Potsdam groß geworden, war der Sohn eines Staats- oder Parteifunktionärs. Er hatte kaum über seine Eltern und das Verhältnis zu ihnen gesprochen, weder im Guten noch im Schlechten. Das stand bei ihm nicht zur Debatte.

In Potsdam erwarb Jens Krause das Abitur und ging anschließend drei Jahre zur Armee, diente freiwillig im Eliteregiment der Staatssicherheit in Berlin. Das Studium an der Humboldt-Universität folgte und der plötzliche Abbruch nach einem Jahr, danach der Versuch, ans Literaturinstitut zu kommen, der an Bergers Kommission scheiterte. Doch wie Jens Krause lebte, mit wem er zusammen war, welche Gründe es gab für den Niedergang, wie Berger sein Ausbrechen genannt hatte, darüber wusste Berger nichts. Er hörte und las nichts mehr von Till Spiegel.

Im Neunundachtzigerjahr und dem darauf folgenden geriet Berger, wie so mancher seiner Zunft, selbst in eine tiefe Krise. Doch etwas später und dann noch einmal vor wenigen Monaten kam er mit Jens Krause oder Till Spiegel in Berührung.

Während eines Spaziergangs entdeckte er an einer Hauswand ein mit Computer hergestelltes Schwarz-Weiß-Plakat. Darauf stand geschrieben:

ROHRKREPIERER

Till Spiegel liest und diskutiert seine neue Erzählung in der Kneipe „Marlenes Stall“ in der Linienstraße

Berger kam sofort der Gedanke, dorthin zu gehen, sich die Lesung seines früheren Schützlings anzuhören. Aber die Sache war schon zwei Wochen vorher gelaufen, die Ankündigung überholt.

Berger nahm sich trotzdem vor, „Marlenes Stall“ in der Linienstraße aufzusuchen. Er könnte nach Till Spiegel fragen. Er vergaß sein Vorhaben wieder; er hatte Probleme mit seinem Rentenantrag und auch mit der Steuererklärung, die auszufüllen sich eigentlich nicht lohnte, da er kaum etwas verdient hatte im vorhergehenden Jahr.

An einem kalten Novembertag im vergangenen Jahr traf er Jens Krause am Hackeschen Markt.

Berger hatte sich angewöhnt, möglichst an jedem Tag einen weiten Spaziergang zu unternehmen, der Gesundheit wegen. Und Nachdenken konnte man auf solchen Gängen und beobachten auch.

Er überquerte den Hackeschen Markt, wollte zur Großen Hamburger zu einem Antiquariat, nachschauen, was in den Schaufenstern an Neuerwerbungen ausgestellt war.

Sie sahen sich fast gleichzeitig, Berger und Jens Krause. „Mein Gott“, sagte Berger, „Jens. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?“

„Robert Berger. Das letzte Mal liegt vor der neuen Zeitrechnung“, sagte Jens Krause.

„Ja, es war in der anderen Zeit“, bestätigte Berger. Die Begegnung am Hackeschen Markt hatte für Berger etwas Unwirkliches. Jens Krause schaute auf ihn hinunter, schien ein wenig zu lächeln. Oder war das ein erstarrtes Gewohnheitslächeln?

Auf Bergers Frage nach dem Schreiben sagte er: „Ja, ich versuch's noch. Aber wer bringt's, und was bringt's ein? Das wissen Sie ja schließlich auch.“

Da konnte Berger ihm nur zustimmen.

„Und wie leben Sie sonst?“, fragte er.

„Man schlägt sich so durch. Flexibel muss der Mensch sein heutzutage“, gab Jens Krause zur Antwort.

Über den Hackeschen Markt pfiff ein nasskalter Wind, der hoch aufgeschossene Jens Krause fröstelte und schlug den Kragen der Lederjacke hoch.

Als sie sich zum Abschied die Hände gaben, ließ Jens Krause die Hand Bergers nicht sofort los.

Er sagte in einem merkwürdig weichen Ton, der so gar nicht zu seiner vorhergehenden schnoddrigen Sprechweise passte: „Man müsste sich einfach mal Zeit nehmen und miteinander reden. Aber hat man die Zeit? Und ist es nicht sinnlos?“

Er wartete die Antwort Bergers nicht ab, der hätte vielleicht gar keine gehabt, und ging rasch davon, in die Rosenthaler Straße hinein, verschwand im Grau des Novembertages.

Diese Begegnung lag schon Monate zurück. Aber an diesem sonnigen Maitag hatte Berger sie sehr deutlich vor Augen, den grauen Himmel über der Stadt, die schmutzig, feuchten Hausfassaden. Er spürte wieder den nasskalten Wind am Hackeschen Markt und sah den Jens Krause in seinen ausgewaschenen Jeans und der teuren braunen Lederjacke.

Doch was sollte mit all diesen Überlegungen, den Erinnerungen Robert Bergers an die schmalen Bücher des Toten, den dürftigen Kenntnissen über das sonstige Leben Jens Krauses, der Kommissar Hinrich von der Direktion Mitte anfangen?

Der hatte vielleicht schon weitaus mehr in Erfahrung gebracht. Jetzt, bei seinem Nachdenken über Jens Krause, war sich Robert Berger der Lücken im Wissen über seinen ehemaligen Schützling bewusst. Ihn hatte eigentlich nur die hoffnungsvolle literarische Entdeckung interessiert. Wie war Jens Krauses Kindheit? Warum ging er freiwillig zum Staatssicherheitsregiment? Warum warf er plötzlich das Handtuch an der Universität? Was waren die Gründe? Und die Jahre der Umwälzungen? Was widerfuhr in dieser Zeit dem Jens Krause oder Till Spiegel? Und sein Tod? Wie war er, gerade dreißig Jahre alt, gestorben?

Am frühen Nachmittag kam Bergers Frau Ilona nach Hause. Sie war noch Lehrerin an ihrer alten Schule, wollte aber in diesem Jahr in Rente gehen. Sie hatte das Alter erreicht, und sie meinte, dass es auch Zeit für sie sei aufzuhören. Aber, dass Bergers noch in der Wohnung in der Allee leben konnten, war vor allen Dingen ihrem Lehrergehalt zu verdanken.

Berger berichtete ihr vom Anruf des Kommissars Hinrich und vom Tod des Jens Krause.

Ilona legte ihre Tasche ab.

„Jens ist tot?“, sagte sie erschrocken, „er ist nur wenig jünger als unser Sven.“

„Zwei Jahre.“

„Weißt du noch, wie wir ihm zum ersten Mal begegnet sind?“

„Daran erinnere ich mich genau. Das war im Frühjahr dreiundachtzig in der Bibliothek in Johannisthal. Du warst mitgekommen zu meiner Lesung.“

„Jens saß an der Seite im überfüllten Bibliotheksraum. Als er zum ersten Mal aufstand in der Diskussion, überraschte mich seine Länge. Und so schmal war er. Und die Haare waren entgegen der damaligen Mode sehr kurz. Wir wussten ja nicht, dass er von der Kaserne rübergekommen war. Der Junge gefiel mir sofort. Und ich weiß nicht warum, er tat mir damals leid. Vielleicht weil er so lang war und so hilflos wirkte.“

„Hilflos? Das war er nicht“, widersprach Berger, „er überlegte genau, was er sagen wollte, suchte nach dem besten Ausdruck.“

„Ich mochte ihn immer, auch als ihr nichts mehr mit ihm zu tun haben wolltet, du und deine Kommission“, sagte Ilona.

„Bitte, lassen wir das“, sagte Robert Berger, „die Zeit war so und nicht anders.“

Er wunderte sich über seine Frau. Noch nie, so glaubte er, hatte sie sich sonderlich für den Jens Krause interessiert. Sie hatte ihn etliche Male in diesem Zimmer erlebt und ihm immer Tee gekocht, den er kannenweise trank. Ilona fragte, wie Jens zu Tode gekommen sei.

„Das wissen sie noch nicht“, antwortete Berger „morgen um elf muss ich beim Kommissar sein. Vielleicht weiß ich dann mehr.“

Und dann sagte er: „Ich brüh' uns einen starken Kaffee.“

Die Wunde, auf die seine Frau den Finger gelegt hatte, schmerzte erneut, war wieder aufgebrochen. Was wäre geschehen mit Jens Krause, hätte die Kommission seinem Antrag zugestimmt, das Studium in Leipzig aufzunehmen? Hätte sich seine Begabung entfalten können? Wäre Ruhe in sein Leben gekommen? Und wie wäre sein Übergang in die andere Zeit verlaufen?

Aber Berger wusste nichts darüber, wie Till Spiegel in die neuen Verhältnisse hineingekommen war. Es hätte ihn damals nicht sehr interessiert. Die eigenen Probleme waren stärker. Der sich auflösende Verband, dem er Jahrzehnte angehört hatte, die sich rasend schnell verändernde Situation der Verlage. Und die geistige Leere, die Ratlosigkeit, von der Leute wie Robert Berger, und davon gab es nicht wenige, erfasst wurden. Da war das lähmende Gefühl vorhanden, nie mehr an einem Buch arbeiten zu können, keine Geschichten mehr zu finden. In einer solchen Situation sollte er sich an einen Till Spiegel erinnern?

Beim Kaffee, am Fenster, im Licht der allmählich sinkenden Sonne, sagte Ilona Berger: „Ach, Robert, die Vergangenheit holt uns doch immer wieder ein. Das ist auch an der Schule so. Ich staune immer wieder, wie manche versuchen, ihre Biografie wie ein Kleidungsstück an der Garderobe abzugeben, um es dann dort zu vergessen. Sie meinen, sie müssten sich nur neu einkleiden, damit wäre alles gelaufen.“

„Das geht nicht auf“, sagte Berger, „nur scheinbar geht das auf.“

Und bei Jens Krause, oder bei Till Spiegel in der Kneipe „Marlenes Stall“, was hat sich bei ihm abgespielt?

Vielleicht bin ich morgen klüger, dachte Berger, vielleicht hilft mir der Kommissar Hinrich weiter.

2. KAPITEL

Kommissar Hinrichs Zimmer war schmal, karg eingerichtet, Schreibtisch und ein Rollschrank für Akten.

Der Kommissar war Mitte dreißig, schätzte Robert Berger, trug dunkle Jeans und ein kariertes Flanellhemd.

Ein blasser, schlanker Mann schaute Berger interessiert an. Er hat nicht nur eine müde Stimme, er hat auch müde Augen, dachte Berger.

Der Kommissar bot Berger den Stuhl vor seinem Schreibtisch an, auf dem dahinter hing ein Sakko.

Vor dem Kommissar lag ein dünner Aktenordner.

Wahrscheinlich bis jetzt alles, was über den Tod von Jens Krause existiert, mutmaßte Berger.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

Der Kommissar schlug den Aktenordner auf und nahm einen Briefbogen heraus, schob ihn über die Schreibtischplatte.

„Ich sagte Ihnen schon am Telefon, Herr Berger, hier ist ein angefangener Brief an Sie. Durch ihn sind wir auf Sie gestoßen. Vielleicht können Sie uns ein paar Auskünfte über den Toten geben.“

Berger nahm den Briefbogen, glattes, einfaches Papier, bedeckt mit den klaren Schriftzügen Jens Krauses, die Berger von früher noch gut in Erinnerung hatte.

Das Datum zeigte, der Brief war vor fünf Tagen begonnen worden.

Lieber Herr Berger,

ich weiß nicht, warum ich gerade auf Sie gekommen bin, denn bis auf unsere kurze Begegnung im kalten November, sind Jahre vergangen seit der Zeit, da ich Ihnen nahestand. Oder wenigstens annahm, dass es so war. Aber die Begegnung am Hackeschen Markt, die wenigen Sätze, die wir gewechselt haben, sind mir in Erinnerung geblieben. Und Ihre Frage nach meinem Befinden. Ja, mein Befinden damals vor Monaten, und heute. Darum geht es. Es ist nicht gut, mein Befinden, es ist überhaupt nicht gut.

An dieser Stelle brach der Text ab.

„So haben Sie den Brief gefunden?“, fragte Berger.

„Ja, er lag auf dem Tisch, daneben der Kugelschreiber, ohne Kappe, als hätte er ihn nur weggelegt, um bald weiterzuschreiben. Doch dazu kam er nicht mehr.“

„Das Datum ist demnach sein Todestag“, sagte Berger.

„Das ist mit Sicherheit anzunehmen. Aufgefunden wurde Krause am nächsten Tag um dreizehn Uhr“, sagte der Kommissar, „Krauses frühere Freundin, Melanie Schmidt, sie ist Kellnerin in einer Szenenkneipe in der Oranienburger, fand ihn.“

„Zufällig also.“

„Nein, nicht zufällig. Am Vorabend des mutmaßlichen Todestages hatte Krause die Schmidt in ihrer Gaststätte angerufen und mit ihr ein Treffen vereinbart, dreizehn Uhr, vor ihrem Arbeitsbeginn. Sie besaß noch einen Schlüssel zur Wohnung und fand Krause tot auf. Und dann kamen wir.“

„Freitod?“

„Allem Anschein nach ja“, sagte der Kommissar, „Schlaftabletten und eine Flasche Wodka.“

Dann lächelte er schwach.

„Es ist ja so, als wären Sie der Ausfrager, Herr Berger.“

„Entschuldigen Sie“, sagte Berger, „seit Ihrem Anruf gestern geht mir dieser Tod nicht aus dem Kopf.“

„Krause muss Ihnen nahe gestanden haben“, meinte Hinrich, „der begonnene Brief lässt darauf schließen, dass er eventuell mit Ihnen Kontakt aufnehmen wollte.“

„Es ist wie ein Hilferuf“, sagte Berger.

„Ich möchte Sie bitten, dass Sie mir mitteilen, was Sie über Jens Krause wissen“, sagte der Kommissar förmlich.

Robert Berger lehnte sich auf dem harten Stuhl zurück.

„Ich weiß nicht, Herr Kommissar“, begann er zögernd, „ob Ihnen mein Wissen viel nützen wird. Es geht ausschließlich um Literarisches, um den jungen Autor Jens Krause, der sich später Till Spiegel nannte. Und das alles liegt doch einige Jahre zurück, in einer fernen, sehr anderen Zeit.“ Kommissar Hinrich beugte sich vor.

„Mich interessiert alles über den Toten. Ganz besonders jene Seite seines Lebens, von der ich andeutungsweise durch Melanie Schmidt erfahren habe. Sie weiß auch nicht viel über den Till Spiegel.“

So berichtete Berger über seine Beziehungen zu Jens Krause, begann mit der ersten Begegnung auf der Lesung in Johannisthal, erwähnte die Erzählungen aus Krauses, später Till Spiegels, Feder, die Auseinandersetzungen um diese Arbeiten, das Studium an der Humboldt-Uni und den plötzlichen Abbruch. Berger verschwieg auch nicht sein eigenes Versagen beim scheinbaren Abstieg des Jens Krause. Er endete mit der Bemerkung, dass er über Krauses Eltern, die Familie, nichts wüsste, die sogenannte private Seite im Leben des jungen Mannes war ihm verschlossen geblieben. Der Kommissar hatte Berger nicht unterbrochen, und als der dann schwieg, sagte er: „Sehen Sie, und diese Literaturseite seines Lebens kannte ich nicht. Das muss man aber wissen, wenn man über Motive eines möglichen Selbstmordes nachdenkt. Übrigens, über die Eltern kann ich Ihnen einiges sagen. Der Vater hatte in Potsdam eine hohe Funktion im Rat des Bezirks. Die Mutter war Ärztin in einer Poliklinik. Ich habe die Eltern aufgesucht und erfahren, dass sie seit Jahren mit ihrem Sohn keine Verbindung mehr hatten. Der Vater hatte sie abgebrochen, als der Sohn, wie er sagte, abrutschte auf die unmöglichste Weise. Der Mann ist heute verbittert, gebrochen. Die Frau war sichtlich erschüttert über den Tod ihres Sohnes. Der Mann schwieg, zeigte keine Regung.“

Berger dachte, als der Vater ihn verstieß, ließ auch ich ihn im Stich. Verfluchtes Zusammentreffen.

Oder ein logisches?

Und dann fragte er den Kommissar: „Sie sprechen immer vom möglichen Freitod. Gibt es daran noch Zweifel?“

„Eigentlich kaum“, antwortete Hinrich, „Gewaltanwendung wurde nicht festgestellt. Die Wohnungstür war verschlossen, doch von innen steckte kein Schlüssel. Der Weg für die Schmidt in die Wohnung war anscheinend beabsichtigt freigehalten. Die Spurensicherung konnte nichts Besonderes feststellen.“

„Und warum sind dann noch Zweifel?“

„In unserem Beruf muss man immer zweifeln“, sagte der Kommissar, „sehen Sie, wenn nun doch jemand gekommen wäre? Sehr vorsichtig, dem Krause bekannt. Der unterbrochene Brief könnte darauf schließen lassen. Und Krause wurde gezwungen, die Tabletten zu nehmen und den Wodka zu trinken.“

„Sie sagten doch, es gab keine Spuren“, meinte Berger.

„Erfahrene Verbrecher, die Zeit haben, können Spuren beseitigen“, erwiderte der Kommissar.

„Restlos?“

„Möglich ist es, doch schwer machbar. Aber in die Überlegungen muss man alles einbeziehen. Zumal der junge Mann, so sagte uns die Schmidt, in den letzten Monaten, wie sie glaube, in zwielichtige Dinge verwickelt war, Verbindung zu dubiosen Personen, in deren Auftrag er offensichtlich mehrere Reisen unternahm. Das begann, als sie noch zusammen waren. Wohl auch ein Grund des Auseinandergehens. Er verschwand oft für ein paar Tage, sagte ihr nicht, wohin. Veränderte sich in seinem Wesen.“

„Hatte er Arbeit?“, fragte Berger.

„Soweit wir wissen, ging er keiner geregelten Beschäftigung nach. In seiner Wohnung gab es keine Anhaltspunkte dafür. Und das ist auch seltsam, die Wohnung war peinlich aufgeräumt. Im Schrank, in den Schubfächern nichts Besonderes, nichts deutete daraufhin, dass er der Beschäftigung nachging, die Sie mir gerade beschrieben haben. Bücher, ja Bücher sind in der Wohnung, darunter auch welche mit Ihrem Autogramm.“

„Er muss doch von irgendwas gelebt haben“, sagte Berger ratlos.

„Ja, das muss er. Und nun braucht er nichts mehr“, meinte der Kommissar.

„Jens Krause sprach fast perfekt russisch“, erinnerte sich Robert Berger.

„Das ist interessant“, sagte der Kommissar lebhaft, „da hätten wir vielleicht einen Anhaltspunkt, wohin seine Interessen zielten.“

„Wird wohl nicht mehr viel nützen, meine Erinnerung“, sagte Berger skeptisch.

„Da können Sie recht haben“, gab der Kommissar zu, „weit ist das Feld, das mit dem heutigen Russland auf uns zugekommen ist, und noch zukommen wird.“

„Was werden Sie nun tun?“, fragte Berger.

„Den Vorgang abschließen.“

„Freitod?“

„Ja, Selbsttötung. Ich wollte nur noch unser Gespräch abwarten, Herr Berger. Das war für mich sehr interessant, erhellt auch einiges über die Person Krause. Aber es sind Nachrichten aus vergangener Zeit. Ich danke Ihnen. Ich habe noch eine Bitte.“

Der Kommissar lächelte verlegen, als er aus der Schublade ein Buch herausholte, das Berger sofort erkannte. Es war der letzte Roman, den er noch in vergangener Zeit geschrieben und veröffentlicht hatte. Eine Familiengeschichte, angesiedelt in der Gegend, in der Berger seit Jahrzehnten lebte.