Das Newton Projekt - Hans-Erdmann Korth - E-Book

Das Newton Projekt E-Book

Hans-Erdmann Korth

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Beschreibung

Das letzte Werk des großen Sir Isaac Newton, seine Berichtigung der antiken Chronologie, führt die Physikerin Sandra Bossi und den Kunsthistoriker Norbert Terrarius auf eine Spur, der sie bis zum Ende folgen müssen. Vieles, was sie als gesichert angesehen haben, erweist sich dabei als irrig. Was berichtet die Geschichte? Was sagen die Naturwissenschaften? In immer rascherer Folge finden sie neue Puzzlesteine, welche die Beobachtungen Newtons bestätigen. Aber wie konnte es zu dieser Verwirrung der Jahreszahlen kommen? Die Spuren weisen nach Konstantinopel, ins 10. Jahrhundert ... Hans-E. Korth, Jahrgang 1945, war 25 Jahre lang als Leitender Berater für Messtechnik eines führenden Computer-Herstellers tätig. In seinem neuen Buch gelingt es ihm auf anschauliche und unterhaltsame Weise, die uns überlieferte Geschichte der Antike und des Frühmittelalters auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen.

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Hans-Erdmann Korth

DAS NEWTON PROJEKT

Nach 300 Jahren bewiesen: Newtons Geschichtsthese

Roman

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Titelblatt:

Isaac Newton - nach einem Portrait von Enoch Seeman (1726)

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

I. Der Verdacht

II. Die Suche

III. Die Komplizen

IV. Der Basilisk von Byzanz

Ausklang

Historische Fakten in Tabellen

Quellenangaben

Stichwortverzeichnis

Endnoten

Für Annerose

Prolog

London, den 12. Mai 1728

An die hochwohlgeborene Duchess of Marlborough,

Kammerfrau unserer allergnädigsten Königin

My Lady, demütigst erlaube ich mir, Euch anbei das erste Druckexemplar des nachgelassenen Werkes von Sir Isaac Newton über die zu berichtigende Chronologie des Altertums zu übersenden, um dieses − dem dringlichen Wunsch des im vergangenen Jahr verstorbenen Verfassers entsprechend − Ihro Majestät zukommen zu lassen.

Sir Isaac war gewiss der bedeutendste Wissenschaftler der Vereinigten Königreiche. Mit Gottes Hilfe ist es mir gelungen, die Drucklegung rechtzeitig zur bevorstehenden Einweihung seines Grabmonuments in der Abtei zu Westminster abzuschließen. Mit einigem Stolz erlaube ich mir, dies zu erwähnen. So steht zu hoffen, dass auch Newtons letzterschienenem Werk, an dessen fast 400 Seiten jener über Jahrzehnte hinweg und bis zuletzt gearbeitet hat, der Erfolg der ihm voraus gegangenen, wegweisenden Veröffentlichungen zuteil werden möge.

Bitte berichtet der Königin auch das Folgende, so sich Euch dazu Gelegenheit bietet: Die Thesen Newtons zur Chronologie wurden schon seit längerer Zeit denunziert. Sie seien ein Anzeichen dafür, so hieß es hämisch, dass der vortreffliche Gelehrte den Höhepunkt seines Schaffens bereits weit überschritten habe. Je nun, die Motive dieser üblen Nachrede aus Kreisen der Academie Française und des Hofs von Versailles sind nur zu offensichtlich. Tatsächlich entsprechen die von Sir Isaac herangezogenen Beobachtungen zum Lauf der Gestirne jenen des königlichen Observatoriums zu Greenwich. Jederzeit nachprüfbar, stehen selbige gänzlich außer Frage.

Mit untertänigster Empfehlung verbleibe ich

Jacob Tonson,

Königlicher Bibliothekar und Herausgeber

I. Der Verdacht

Und wenn ich's wohl bedenke scheint mir,

Dass diese Sach' allein entsteht,

Weil es nicht ist, wo sie es suchen.

Galileo Galilei1

1

Es war wohl doch keine sonderlich gute Idee gewesen, den Abschluss des Vertrags mit einem frisch gezapften Pils zu besiegeln − beim Thomaner, am Hans-im-Glück Brunnen in der Altstadt. Sandra Bossi hatte endlich wieder einen größeren Auftrag an Land ziehen können und ihre Geschäftspartnerin, die Inhaberin einer seit längerem am Rande der Insolvenz wirtschaftenden Firma für Medizintechnik, konnte neue Hoffnung schöpfen, das leidige Problem mit den Ermüdungsbrüchen doch noch in den Griff zu bekommen, das ihr Unternehmen endgültig in den Abgrund zu reißen drohte.

Ein Glas Bier − und sonst nichts. Für Frauen ohne Begleitung galt das immer noch als recht eigenartige Form der Freizeitgestaltung. Sandra war auf den Vorschlag ihrer neuen Kundin sofort eingegangen. Sie kannte das Lokal, welches nur wenige Minuten von deren Geschäftsräumen entfernt lag. Und Durst hatte sie nach den stundenlangen Verhandlungen auch.

Sandra betrieb ein Labor für Messtechnik und Materialanalyse. Das klang weit großartiger, als es in Wirklichkeit war. Der weltbekannte Computerkonzern mit den drei schraffierten Buchstaben hatte vor einigen Jahren seine Produktionsstätten auch in Deutschland aufgegeben, die zugehörigen Labors geschlossen und die dort Beschäftigten mit einer vergleichsweise ordentlichen Abfindung nach Hause geschickt. Die Physikerin Sandra konnte damals allerdings erst wenige Dienstjahre vorweisen, sodass die Prämie für sie eher bescheiden ausgefallen war. Zu jenem Zeitpunkt nahm sie das Ganze jedoch noch mehr von der sportlichen Seite. Als ihre Arbeitsstätte, ein Forschungsinstitut des Konzerns in Sindelfingen bei Stuttgart, aufgelöst wurde, sicherte sie sich einige der hochwertigen Geräte zum Schrottpreis. Seitdem war sie stolze Besitzerin eines Axiomat-Mikroskops von Zeiss, eines Wunderwerks optischer Präzisionstechnik, welches, zur Freude des mit dem Verramschen des einst hochwertigen Inventars betrauten Schrotthändlers, fast einen Zentner auf die Waage gebracht hatte. Es war eine Spontanreaktion. Wozu sie das mächtige Mikroskop verwenden wollte, war ihr jedenfalls nicht klar gewesen. Vermutlich, so überlegte sie sich wenig später, als sie in ihrer kleinen Wohnung einen Platz für das sperrige Teil gesucht hatte, war sie ein spätes Opfer der Werbung geworden, mit welcher die Firma Zeiss die zuvor unerreichte Stabilität des Gerätes einst angepriesen hatte: Einem Foto mit einer 500er BMW, welcher der Axiomat als Standfuß diente! Das hatte sie überzeugt, denn Motorrad fahren war ihre Leidenschaft, ihr Ausgleich zur kühlen Verstandeswelt der Wissenschaft.

Obgleich die Räume im Obergeschoss des Thomaner jeweils nur wenige Tische fassten, herrschte dort jetzt, um kurz nach 20 Uhr, eine gewaltige Lautstärke. Die meisten Biergläser waren schon mehrfach nachgefüllt worden und viele Stimmen versuchten, sich zugleich Gehör zu verschaffen.

Gleich wieder gehen? Ein kleiner Tisch war noch frei. Durst und inzwischen auch Hunger siegten. Sie nahmen Platz. Eine aufmerksame Bedienung reichte ihnen die Karte. Sie bestellten. Eine Unterhaltung war kaum möglich. Die Diskussion am Nebentisch übertönte alles.

»...und dann hat mich der Typ eine halbe Stunde lang am Telefon zugeschwallt!« Ein Herr mit einer einst modischen Brille und gelockerter Krawatte setzte offenbar gerade dazu an, sich den Frust des Tages von der Seele zu reden. »Unsere Institutssekretärin, dieses Herzchen, hatte ihn gleich zu mir durchgestellt, als er 'den Herrn Professor' sprechen wollte. Ich durfte mir dann seine 'wichtige Erkenntnis' anhören, dass die Mormonen sich mit dem dicken Kim Jong in Nordkorea zusammengetan hätten, um die Weltwirtschaft ins Verderben zu stürzen − totaler Blödsinn!«

»Warum auch nicht? Natürlich konntest Du ihm dann fachkundig darlegen, was Sache ist, Othmar?« Die Frage klang etwas spöttisch.

»Eben nicht! Das Einzige womit Verschwörungstheoretiker recht haben ist, dass ihre 'Beweise' unwiderlegbar sind: Was immer du entgegnen magst, es bestätigt ihnen nur die raffiniert umsichtige Vorgehensweise der finsteren Mächte. Und wenn du auf deinen Einwänden beharrst, dann beweist ihnen dies, dass du entweder mit jenen im Bunde stehst, oder dass du ein ignoranter Trottel bist: Ist es auch Wahnsinn hat es doch Methode.« − »Noch ein keines Bier und dann die Rechnung«, wandte er sich an die soeben vorbeihuschende Kellnerin, während er ihr sein leeres Glas entgegen reckte.

»Wo du gerade auf Shakespeare anspielst«, ergriff sein Gegenüber das Wort, ein noch ziemlich blondhaariger Mann mit jungenhaften Zügen, die es schwer machten, sein wahres Alter abzuschätzen. »Würdest du dessen Landsmann Isaac Newton − viele halten den für den bedeutendsten Wissenschaftler aller Zeiten − auch als einen Freund von Verschwörungsideen bezeichnen? Ich habe gestern im Amt über Heinrich Schickardt recherchiert, den großen Baumeister, dem Stuttgart und Freudenstadt, aber auch Reichenweiler im Elsass einen guten Teil ihres Charmes zu verdanken hatten. Sein Neffe Wilhelm erfand eine der ersten Rechenmaschinen, die Newtons Konkurrent Gottfried Wilhelm Leibnitz dann verbesserte und der Royal Society in London vorstellte − da finden sich einige Verknüpfungen. Und Newton vertrat, was anscheinend nur wenig bekannt ist, die Ansicht, dass die Geschichte des alten Roms und Griechenlands, so wie sie uns überliefert wird, um mehr als dreihundert Jahre zu alt datiert sei.2 Er hat sogar ein Buch darüber geschrieben, welches kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Mit einer Einleitung an die Königin von John Conduitt, einem Parlamentarier und Leiter der englischen Münzanstalt. Steht alles im Internet.«

Als das Wort 'Newton' am Nachbartisch fiel, spitzte Sandra unwillkürlich die Ohren. Wie die meisten Physiker empfand sie eine tiefe Verehrung für den Mann, der zu Recht als Begründer der modernen Naturwissenschaften galt. Der Gedanke, dieser Meister des präzisen Denkens könnte sich in wilden Spekulationen verloren haben, erschien ihr einfach absurd. Frau Kächele, die Unternehmerin ihr gegenüber, hatte zwischenzeitlich damit begonnen, die lange Geschichte des einst von ihrem Großvaters begründeten Betriebs in epischer Breite zu rekapitulieren. Dabei verspeiste sie mit einigem Appetit ihren Wurstsalat, nachdem sie zuvor die Zwiebelringe darauf sorgsam zur Seite geschoben hatte. Sandra ließ sie reden, während sie zum Nebentisch hinüber lauschte.

»Wie ich mit Genugtuung feststellen darf, mein lieber Norbert, ist inzwischen selbst in eurem Denkmalsamt endlich der PC eingezogen und ihr könnt euch nunmehr auch die langen Arbeitstage mit Surfen im Internet verschönern.«

Der Angesprochene überhörte die Anzüglichkeit. »Newton hatte, wie bekannt sein dürfte, ursprünglich Theologie studiert. Die Priesterweihe hat er dann allerdings abgelehnt. Wie wohl die meisten Gelehrten seiner Zeit kannte er sich auch vorzüglich in der Geschichte aus. In seinem Buch über die Chronologie verglich er die Überlieferungen von Griechen, Römern, Ägyptern und einigen anderen mit denen des Alten Testaments. Seine Überlegungen klingen eigentlich ganz plausibel. Er zieht auch die Astronomie als Beweis heran. Das kann ich natürlich nicht überprüfen.«

»Vielleicht hatte der Apfel, der Newton auf die Birne fiel, auf dass er die Gesetze der Schwerkraft entdecken konnte, doch dauerhafte Schäden bei ihm bewirkt«, wandte ein kinnbärtiger Mann mit rotkariertem Hemd ein, der bisher geschwiegen hatte.

»Er wäre gewiss nicht der einzige große Geist, der auf's Alter dement wurde«, stimmte der Professor zu.

»Erinnert sich einer von euch beiden übrigens noch den Vornamen von Alzheimer?« Der Kinnbart blickte fragend in Runde. »Seht ihr, so fängt's an!« Er kicherte vergnügt.

»Alois«, knurrte Norbert, etwas verärgert darüber, dass die Freunde seine Ausführungen zugunsten ihrer Kalauer ignoriert hatten. »Doktor Alzheimer hieß Alois mit Vornamen. Also, wenn Newton damals tatsächlich schon etwas gaga gewesen wäre: Wie hätte er dann ein so umfangreiches Buch schreiben können, dessen Darlegungen auf den ersten Blick immerhin schlüssig erscheinen?«

»Entschuldige, aber du redest Quatsch«, widersprach der Professor. »Wenn Newton behauptet, dass irgendwelche Leute die Jahreszählung manipuliert hätten, dann ist genau das eine Verschwörungs-theorie. Das Thema hatten wir heute schon.«

»Könnte es nicht tatsächlich eine Verschwörung gegeben haben?«, wandte der Kinnbart ein, den die professorale Selbstgewissheit seines Freundes langsam zu stören begann.

»Sicher könnte es! Hat es hier aber nicht! Verschwörungen und Intrigen hat es immer gegeben. Nimm nur die angeblichen Massenvernichtungswaffen des Irak. Entweder du kannst die Verschwörung nachweisen, ohne Wenn und Aber, oder du solltest diese Idee ganz schnell vergessen. Im Falle der Chronologie stehen da die Wetten allerdings ziemlich schlecht für dich. Alles spricht dafür, das unsere Jahreszählung korrekt ist. Was tausende von Forschern über Jahrhunderte untersucht haben, ohne auch nur die kleinste Spur einer Unstimmigkeit zu finden, das müssen wir nicht anzweifeln!«

»Newton steht also gegen den Rest der Welt?« Norbert gab so schnell nicht auf. »Qualität gegen Quantität? Das mit der Verschwörung ist deine Vermutung. Vielleicht gab es die ja gar nicht? Und selbst wenn Newtons Schlussfolgerung falsch ist: Stimmen seine Beobachtungen oder stimmen sie nicht?«

Sir Isaac Newton 1643-1727 - Portrait von Enoch Seeman -

»Norbert, alte Goldlocke, Vergiss es! Wir müssen uns nun mal darauf verlassen, was die Überlieferungen berichten. Einiges mag sogar gefälscht sein. Wer kann das schon wissen? Wir können uns trotzdem sicher sein, dass die Geschichte im Großen und Ganzen stimmt, solange wir nicht die wissenschaftliche Methodik als solche anzweifeln.« Die Stimmung am Tisch blieb etwas gereizt, auch wenn sich die Männer, die sich seit Jahrzehnten kannten, wegen derartiger Meinungsverschiedenheiten nicht wirklich böse sein konnten.

Frau Kächele hatte inzwischen gezahlt und und sich kurz darauf erhoben. Da hatte Sandra plötzlich eine Idee: Sie griff in ihre Tasche, ging zu Norbert hinüber, der sich so wacker für ihr großes Vorbild Newton eingesetzt hatte, und gab ihm ihre Visitenkarte: »Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, ob Newtons Befunde zur Chronologie richtig sind oder nicht, dann rufen Sie mich bei Gelegenheit an.« Ohne sich noch einmal umzusehen verließ sie mit ihrer Geschäftspartnerin das Lokal.

»Sieht so aus, als hättest du eine neue Verehrerin«, bemerkte der Kinnbart anerkennend.

2

Mit zwei Fingern hämmerte Norbert Terrarius den Ablehnungsbescheid im Namen des städtischen Denkmalamtes in seine Tastatur. Ein Hausbesitzer hatte Einspruch erhoben, nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass sein Mietshaus wegen der erhaltenswerten Fassade, insbesondere aber wegen seines Stuttgarter Daches unter Denkmalsschutz gestellt werden sollte. Diese Dachkonstruktion, bei der steile, mit Dachpfannen gedeckte Flanken eine ebene Bewahrung aus geteertem Zinkblech umgaben, war vor dem 1. Weltkrieg bei den besseren Mietshäusern in der Stadt recht verbreitet gewesen. Sie bot einen wesentlich erfreulicheren Anblick als die modernen Flachbauten und war schon deshalb zweifellos schützenswert.

Der Hausbesitzer hatte argumentiert, dass der letzte seiner Mieter ohne Migrationshintergrund bereits vor zwanzig Jahren in eine attraktivere Wohngegend umgezogen war. Den derzeitigen Bewohnern seien Fassade und Dach durchaus gleichgültig, solange ihre Mietzahlungen nicht davon betroffen wären.

Dass die Kosten der Auflagen des Denkmalsschutzes am Besitzer hängen bleiben würden, war für Terrarius kein Argument. Eigentum verpflichtet! Grundgesetz! Basta!

Obwohl das Sekretariat auf der anderen Seite des Ganges lag, konnte er die Stimme von Frau Birkle hören, die auch heute wieder mit ihrer Freundin im Innenministerium telefonierte. Diese Gespräche von Frau zu Frau, das wusste er inzwischen, konnten die Spanne zwischen zwei Hauptmahlzeiten mühelos überbrücken. Schon allein das Thema Diät war unerschöpflich.

Für Gertrud Birkle hatte sich die Einführung von Bürocomputern als ein Segen erwiesen, der sie von einem Großteil ihrer Routinearbeiten entlastet hatte. Ohne dass sie je ausdrücklich darauf hätte hinweisen müssen, war den Mitarbeitern des Amts schnell klar geworden, dass alle Schreibarbeiten, die sie nun der Sekretärin überließen, von jener mit äußerst niederer Prioritätsstufe ('wenn sonst nichts vorliegt, innerhalb des nächsten Quartals') erledigt wurden. Dringende Texte könnte schließlich jeder der Herren selbst nieder schreiben. Verwaltungsdirektor Dr. Hochstätter, der Leiter des Amtes, war hingegen positiv überrascht, dass seine Anliegen inzwischen vergleichsweise zügig erledigt wurden. Sollte die Stelle seiner Abteilungssekretärin bei der nächsten Sparrunde wieder einmal zur Disposition gestellt werden, so würde er mit all seiner Macht um deren Erhalt kämpfen. Vor seinem Eintritt in den verdienten Ruhestand, der allerdings noch weit in der Zukunft lag, würde sich da jedenfalls nichts ändern. Eher würde er einen seiner Sachbearbeiter opfern.

Terrarius sah auf die Uhr. Gleich halb zwölf. Einen neuen Vorgang vor der Mittagspause zu beginnen, lohnte sich nicht. Wie kam er eigentlich dazu, Ablehnungsbescheide zu tippen? Hatte er dazu seinerzeit Kunstgeschichte studiert, die Entwicklung der menschlichen Fertigkeiten und des Geistes über die Jahrtausende? Tatsächlich, so erinnerte er sich, hatte der schwarz-eichene Bücherschrank des Großvaters seine Berufswahl ganz entscheidend beeinflusst: Dieser enthielt, zumeist in Leder gebunden, die Werke der geradezu unglaublich kenntnisreichen Historiker des 19. Jahrhunderts: Darunter Jacob Burckhardt, Leopold von Ranke, Jägers sowie Webers Weltgeschichte. Dazu eine Reihe mit den sechzehn goldgeprägten Bänden von Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1890, sowie dickbauchige Wörterbücher für Latein, Griechisch und sogar Hebräisch. Statt mit seinen Schulfreunden weiterhin Karl May-Bände zu tauschen, hatte er damals begonnen, die Berichte über reale Ereignisse der Vergangenheit zu lesen. Dem Geschichtslehrer, der sich zunächst über das sonst eher seltene Interesse seines Schülers gefreut hatte, waren seine mit der Zeit für einen Gymnasiasten außerordentlichen Kenntnisse irgendwann etwas unheimlich geworden.

Als die Berufswahl anstand, hatte Norbert sich dann doch lieber für Kunstgeschichte entschieden, da es ihm wenig reizvoll erschienen war, sich ein Leben lang mit der Aufklärung nachrangiger Details in einem ansonsten abgeschlossenen Wissensgebiet zu beschäftigen. Über Kunst hingegen, ließ sich bekanntlich streiten. Leider war es mit der Hochschullaufbahn dann ja doch nichts geworden. Nach dem unerwarteten Tod seines Doktorvaters hatte er die Energie für einen zweiten Anlauf nicht aufgebracht, was rückblickend wohl ein Fehler gewesen war...

Sein Zufallsfund vor wenigen Tagen, wonach der große Newton die selbstverständliche Grundlage aller Geschichtswissenschaft schon im 18. Jahrhundert angezweifelt, ja widerlegt hatte, war deshalb für ihn ein regelrechter Schock gewesen. Seine Freunde hatten ihn nicht ernst genommen, aber diese junge Frau...

Er griff in seine Jackentasche nach ihrem Kärtchen: Dr. rer. nat. Sandra Bossi, Labor für Messtechnik und Materialkunde. Es folgten eine Adresse und eine Handynummer, sowie die Internetverbindung.

Er zögerte einen Moment. Dann fasste er sich ein Herz und wählte die Nummer an. »Labor Bossi«, meldete sich eine bekannte Stimme. »Mein Name ist Terrarius, Norbert Terrarius. Sie haben mich gestern Abend neugierig gemacht. Wissen Sie mehr über Isaac Newton und sein Verhältnis zur Chronologie?«

»Schön dass Sie anrufen! Tut mir Leid, wenn ich gestern in Ihre Männerrunde hinein gelauscht habe. Als der Name Newton fiel, da musste ich einfach. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, ich weiß nichts dazu. Ich wusste nicht einmal, dass er ein Buch zu diesem Thema geschrieben hat. Interessiert mich aber.«

Sie hat offenbar keine Ahnung, dachte Terrarius enttäuscht. Hatte sie nur ihre Geschäftskarten geschickt verteilen wollen? »Sehen Sie denn eine Möglichkeit nachzuweisen, dass seine Behauptung stimmt, die Zeit der Römer und Griechen sei uns in Wahrheit rund dreihundert Jahre näher?«

»Das dürfte unmöglich sein«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Dagegen sollte es nicht allzu schwer sein, seine Aussage zu falsifizieren, sofern sie nicht richtig wäre. Wenn Sie Interesse daran haben, dann kommen Sie doch einfach auf einen Kaffee vorbei. Bis halb zwei bin ich hier im Sterntaler, in der Filiale links am Königsbau, neben dem Elektronikmarkt. Ich muss noch meine Geschäftspost erledigen − und da habe ich, was ich brauche: Zugang zum Web und einen ordentlichen Cappuccino«, fügte sie erklärend hinzu.

Während Terrarius noch über das Angebot nachdachte, hatte sie ihr Handy schon abgeschaltet.

Über Chronologie, die Lehre von der zeitlichen Abfolge der überlieferten Ereignisse, hatte Terrarius seinerzeit im Studium nur wenig erfahren. Was auch? Eigentlich war da doch alles klar. Man hatte sich im Abendland irgendwann darauf geeinigt, die Jahre einheitlich zu zählen, nach Christi Geburt, wie es hieß, obwohl es ja als ziemlich sicher galt, dass Herodes der Große schon einige Jahre vor der Zeitenwende verstorben war. In der DDR hatte man die neutrale Bezeichnung 'nach unserer Zeitrechnung' (n. u. Z.) vorgezogen. Egal. Diese Zählweise, die ein Mönch namens Dionysius Exiguus im 6. Jh. vorgeschlagen hatte, konnte sich dann offenbar nur langsam durchsetzen.

In seiner Geschichte Britanniens hatte der hochgelehrte Mönch Beda Venerabilis die Jahre wohl erstmals nach Christi Geburt geordnet. Und erst im 13. Jh. hatte schließlich auch der Vatikan begonnen, diese Jahreszählung in seinen Urkunden zu verwenden. Bis dahin hatte es eine Unzahl verschiedenster Systeme gegeben, die sich auf die Herrschaft bedeutender Regenten, die Gründung der Stadt Rom, die Olympiaden, die Flucht des Propheten und die Erschaffung der Welt bezogen hatten. Über das genaue Datum der Schöpfung ließ sich jedoch − was nicht wirklich überraschte − kein Einvernehmen erzielen. So entstand dann im Lauf der Zeit noch eine Anzahl unterschiedlicher Schöpfungsären, wodurch den Historikern später der Überblick auch nicht gerade erleichtert wurde.

Der Gedanke, sich mit einer gescheiten jungen Frau zu treffen, beflügelte ihn. Die Cafeteria für die Bediensteten der Stadt öffnete um viertel vor zwölf. Passt genau! Er schloss seinen Schreibtisch ab und verließ das Gebäude.

3

Nicht im Traum wäre es Norbert Terrarius eingefallen, zum Kaffee eine der unzähligen Sterntaler-Filialen zu betreten, die sich seit einigen Jahren über die ganze Welt verbreitet hatten. Er entdeckte Sandra sofort. Sie saß mit dem Rücken zur Wand und bearbeitete konzentriert ein winziges weißes Notebook.

»Da sind Sie ja schon«, begrüßte sie ihn. »Vielleicht holen Sie sich erst mal was zu trinken? Ich muss noch das hier fertig machen.« Sogleich galt ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Bildschirm.

Er begab sich zum Verkaufstresen, versuchte die Vielfalt des Angebotes zu durchschauen und verlangte schließlich nach einem Cappuccino. Der sollte hier ja gut sein, wie seine neue Bekanntschaft versichert hatte. Als die geradezu überschwänglich freundliche Verkäuferin den Betrag nannte, zuckte er kurz zusammen. Der Preis für den Becher, so überschlug er rasch, entsprach etwa dem, was er für eine Packung der Edelmischung Colanka beim Hochland, dem traditionsreichen Kaffeegeschäft der Stuttgarter, bezahlen musste. Und für schwäbische Hausfrauen war mit Colanka bereits die Grenze zur Ausschweifung überschritten. Für gewöhnliche Kaffeegäste brühten die bestenfalls die kaum halb so teure Krönung von Jakobs aus dem Supermarkt.

Mit dem Cappuccino auf dem Tablett balancierte er zu Sandras Tisch. »Moment noch. Gleich bin ich soweit.« Er setzte sich und ließ ein Tütchen Zucker in den Becher rieseln, der nach einiger Zeit träge in dem weißen, kakaoüberpuderten Schaum versank.

Sie blickte auf. »So, jetzt bin ich für Sie da.«

»Also nochmal offiziell: Ich heiße Norbert Terrarius, habe vor langer Zeit mal Kunstgeschichte studiert und bin kürzlich auf die Anmerkungen des Isaac Newton zur Chronologie gestoßen. Und Sie sind Frau Bossi, wie ich Ihrer Karte entnehme? Das klingt nach Italien. Habe ich recht?«

»Stimmt! Aber bevor Sie mich jetzt fragen wo ich Deutsch gelernt habe: Ich bin hier geboren. Mein Vater mochte seinerzeit nicht den Wehrdienst für das italienische Vaterland ableisten. Als der Einberufungsbefehl kam, hat er sich kurzentschlossen nach Deutschland aufgemacht. Nach dem Studium fand er dann gleich einen attraktiven Arbeitsplatz beim Daimler − und so ist er hier sesshaft geworden. Aber wir wollten ja über Newton reden, über den Naturwissenschaftler.« Sie hielt inne.

»Glauben Sie, dass dessen Thesen bewiesen werden können?«

»Beweise für naturwissenschaftliche Beobachtungen sind prinzipiell unmöglich. Als Geisteswissenschaftler mögen Sie etwas für 'bewiesen' halten, wenn es Ihnen hinreichend plausibel erscheint und im Einklang mit allen anderen Erkenntnissen steht. Aussagen der Naturwissenschaften gelten stets unter dem Vorbehalt, dass die zugrunde liegenden Beobachtungen richtig und vollständig sind. Das einzige, was sich sicher erkennen lässt ist, wenn eine Aussage zu anderen im Widerspruch steht. Aussagen über unsere Welt können, das hat der Philosoph Karl Popper klargestellt, allenfalls falsifiziert werden.«

»Aber läuft das nicht auf's Gleiche hinaus?« Terrarius hatte sich bisher tatsächlich meist mit Begründungen beschäftigt, die für etwas sprachen und nicht mit dem Nachweis von Unmöglichkeiten.

»Keineswegs! Newtons Chronologie mit Hilfe der Naturwissenschaften zu falsifizieren wäre ausgesprochen einfach: Wir brauchen dazu nur zwei mit der Geschichte und untereinander verknüpfte Zeitreihen. Eine Reihe, mit der sich die Jahre abzählen lassen und eine weitere, um das entsprechende Alter zu bestimmen. Wenn zwischen diesen eine angenähert geradlinige Beziehung besteht, dann sind Newtons Überlegungen widerlegt. Schluss! Ende!«

Sie bemerkte Norberts ratlosen Blick. Es war immer wieder dasselbe. Wie ließ sich ein für sie, wie für wohl jeden anderen Physiker, ganz nahe liegender Gedanke halbwegs allgemeinverständlich formulieren? »Wir brauchen also nur zwei verschiedene Verfahren zur Datierung. Dann vergleichen wir deren Messwerte über den Lauf der Zeit. Dazu könnten wir einmal die Dendrochronologie nehmen, die durch Abzählen der Jahresringe geeigneter Bäume gewonnen wird. Die so gefundenen Jahreszahlen könnten wir dann mit dem Radiokarbon-Verfahren überprüfen. Mit C14, oder richtiger 14C bezeichnet man eine Abart des Kohlenstoffs, die nicht wirklich stabil ist. 6000 Jahre nach ihrem Entstehen sind mehr als die Hälfte dieser Atome schon wieder zerfallen. Misst man den Anteil an 14C in altem Holz, so kann man daraus dessen Alter ermitteln. Liefern also die 14C-Bestimmung und die Baumringe durchweg ungefähr gleiche Jahreszahlen, so können die Überlieferungen nicht um Jahrhunderte verschoben sein. Dann hätte der große Sir Isaac sich geirrt.« Sie runzelte die Stirn. Dabei war ihr anzusehen, dass ihr die Vorstellung eines so fundamentalen Irrtums ihres Vorbildes zutiefst zuwider war.

»Was Sie da vorschlagen, klingt so, als ob Sie ein größeres Hochschulinstitut auf einige Jahre hinaus beschäftigen wollten.« Hinter Terrarius' Spott verbarg sich die Enttäuschung darüber, statt mit einer konkreten Antwort mit einem 'man-müsste-und-man-könnte' abgespeist worden zu sein.

»Aber wieso denn? Das machen wir sofort. Jetzt gleich! Achten Sie lieber darauf, dass Ihr Kaffee nicht kalt wird! Die Daten sind doch schon da. Wir müssen sie nur finden.«

Sandra zog ihr weißes Notebook zu sich heran. «Schaun wir mal, was uns Google über Radiokarbon sagen kann.«

'Meinten Sie vielleicht Radiocarbon?' fragte die Suchmaschine höflich zurück und listete darunter ihre ersten Funde auf. »Danke für den Hinweis.« Sie schob den Mauszeiger auf die Frage. »Hätt' ich eigentlich wissen müssen. Hier, gleich der erste Eintrag. Radiocarbon ist die führende Fachzeitschrift auf diesem Gebiet«, erläuterte sie. Dann wählte sie die Seite an. »Die haben ihre eigene Suchfunktion. Versuchen wir's mal mit 'dendrochronology' und '14C'.

Bingo! 'IntCal04 Terrestrial Radiocarbon Age Calibration, 0–26 cal kyr BP'. Erschien im Heft 3/2004. Für den Artikel wollen die aber Bares sehen. Ich gehe in solchen Fällen lieber in die Uni-Bibliothek. Dort haben sie die wichtigen Zeitschriften im Abo. Aber den Link auf die Daten gibt’s immerhin gratis zum runterladen. Dann machen wir das jetzt mal«. Während die Daten übertragen wurden, warf sie Terrarius einen triumphierenden Blick zu. »Gleich haben wir's. Dann wollen wir uns mal im Tabellenprogramm anschauen, wie C14-Alter und Dendrochronologie zusammenhängen. Wetten sind noch erlaubt.«

Terrarius schaute nur noch staunend zu, wie sie die Daten importierte und zu einer grafischen Darstellung aufbereitete. Um zu verstehen, was genau sie da machte, ging es ihm einfach zu schnell. »Hier haben wir unseren Zusammenhang für die vergangenen 26.000 Jahre. Ziemlich linear. Seltsamerweise sind die 'Radiokarbonjahre' um etwa 1/8 kürzer als die 'Baumringjahre'. Schaun wir uns jetzt die letzten gut 2000 Jahre noch etwas genauer an.« Sie änderte die Darstellung. »Ich hab's doch geahnt. 1:0 für Newton«, strahlte sie. »Ich zeichne noch die Trendlinie ein und eine Parallele dazu bis zur Gegenwart, oder besser noch bis etwa 1950, dann geb' ich Ihnen das Teil rüber.«

Terrarius zog seine Lesebrille hervor, um den kleinen Bildschirm zu studieren, während Sandra mit ihren Erklärungen fort fuhr. »Dass sich die IntCal-Kurve, die über etliche Jahrtausende schnurgerade verläuft, nicht bis zur Gegenwart verlängern lässt, das sieht doch wohl ein Blinder?

Für wie groß schätzen Sie die Abweichung zwischen den beiden Linien, die ich reingemalt habe?«

Der Gefragte versuchte immer noch, sich in der Grafik zurechtzufinden, die ihn an das Börsenchart einer Firma erinnerte, die unaufhaltsam auf ihren Untergang zusteuerte. »Dem Maßstab für das Alter zufolge, dürften es etwa 350 Jahre sein.«

»Radiokarbonjahre«, verbesserte Sandra. »So wie diese Kurve die Verhältnisse wiedergibt, sind die um 1/8 kürzer. Dann entspricht der Abstand rund 300 realen Jahren, was in trefflichem Einklang zu Newtons Beobachtungen steht. Vergessen Sie nicht, ihren Kaffee zu trinken! Kalt schmeckt er nicht.«

Er schreckte hoch und ergriff den Becher, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Könnte es sein, dass Sie mir gerade bewiesen haben, dass die Schulkinder bald neue Lehrbücher für den Geschichtsunterricht brauchen werden?«, fragte er verwirrt.

»Bewiesen habe ich gar nichts, weil das bekanntlich nicht möglich ist. Ich habe nur gezeigt, dass Newtons These so nicht zu falsifizieren ist, sondern im Gegenteil bestens mit den Messergebnissen der Naturwissenschaften des 21. Jahrhunderts übereinstimmt − wenn auch nicht mit deren Interpretation.«

Terrarius hatte eine Idee: »Könnte man in diesem Fall nicht umgekehrt versuchen, die Befunde der Fachgelehrten zu falsifizieren«, fragte er zögernd.

»Keine Chance! Diese Vorstellung hat schon Poppers Gegenspieler, der Philosoph Imre Lakatos als naiven Falsifikationismus bezeichnet. Auch bei unserer Kurve könnten wir ja etwas übersehen haben. Wir haben einfach angenommen, der Anteil der radioaktiven Kohlenstoffs in der Atmosphäre wäre im Wesentlichen konstant. Das liegt ja auch nahe und Williard Libby hat den Nobelpreis schließlich zu Recht dafür bekommen, ein von anderen Größen unabhängiges Verfahren zur Alterbestimmung entdeckt zu haben.3 Aber dann hatte man wohl bald festgestellt, dass die Beziehung zu den Baumringen anscheinend nicht linear war. Wenn die Dendrochronologie mit ihren Hölzern aus der Römerzeit fehlerfrei ist, dann bleibt nur die Annahme, dass die Konzentration von 14C sich irgendwann im Mittelalter aus unbekannten Gründen geändert haben muss. Dass Ganze lässt sich dann auch umkehren: Wenn Sie von der Stimmigkeit der Dendrochronologie überzeugt sind, dann können Sie die Kalibrierkurve natürlich auch dazu benutzen, um die Schwankung des 14C über die Jahrhunderte zu bestimmen.«

»Verstehe ich Sie richtig? Die Naturwissenschaft benutzt eine unbewiesene Hypothese, eine Ad hoc -Annahme, um ihre Befunde zu erklären?«

»Esatto! Und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir bei allen anderen Zeitreihen ebenfalls auf solche Annahmen stoßen würden.«

»An welche denken Sie da?«

Sie schaute auf die Uhr: »Ich habe nachher noch einen Termin und sollte allmählich gehen. Sie könnten sich ja als Nächstes mal die vielen Berichte über Sonnenfinsternisse anschauen.«

»Von Sonnenfinsternissen und deren Berechnung verstehe ich nun wirklich nichts. Ich bin schließlich kein Astronom«, versuchte Terrarius zu protestieren. Seine einziger Versuch, einer Verfinsterung der Sonne teilhaftig zu werden, so erinnerte er sich, war großartig gescheitert, als er an einem Augusttag des Jahres 1999 mit seiner extra zu diesem Anlass erworbenen Schutzbrille vor dem Amt stand, vergeblich darauf hoffend, dass sich die Sonne, beziehungsweise deren sichtbare Reste am dicht verhangenen Himmel zeigen würden.

»Das verlangt auch niemand von Ihnen. Die Fachleute von der NASA haben das längst für Sie erledigt. Moment: 'Eclipse' und 'Atlas'«, Sandra übergab die beiden Begriffe der Suchmaschine. »Hier ist die Adresse4! Ich schreib sie Ihnen auf. Dann können Sie sich zu Hause in Ruhe anschauen, wann und wo sich die Sonne verfinsterte. Auf diese Weise können Sie die überlieferten Sonnenfinsternisse nachprüfen. Die säuberlich geordneten Berichte finden Sie in der Landesbibliothek. Moment! Hier, bei Ginzel5. Oder lieber etwas Neueres: 'A. Demandt: Verformungstendenzen in der Überlieferung antiker Sonnen- und Mondfinsternisse, Mainz, 1970'. Dieser Titel! Ich krieg mich nicht mehr! Da haben wir wohl schon die nächste Ad hoc -Annahme gefunden.«

»Wussten Sie denn, dass Alexander Demandt einer der bekanntesten Historiker ist? Ich besitze selbst mehrere Bücher von ihm«, gab Terrarius zu bedenken.

»Na und? Die Arbeit über die Eklipsen muss eine seiner ersten gewesen sein. Sicher hat er sie höchst gewissenhaft verfasst. Und der Titel deutet an, dass er sich eine konkrete eigene Hypothese zur Erklärung seiner Befunde verkniffen hat. 'Verformungstendenzen...'! Einfach krass! Aber aus seiner Sicht völlig korrekt. Wenn er als Überschrift sowas wie 'Ich blick's auch nicht' gewählt hätte, dann wäre seine wissenschaftliche Karriere mit einiger Sicherheit anders verlaufen. Erst recht, wenn er die Überlieferungen angezweifelt hätte. Nicht einmal der große Newton wagte es ja, seine Berichtigung der Chronologie zu Lebzeiten zu publizieren.

So, hier habe ich Ihnen die Titel aufgeschrieben. Nun muss ich aber fort! Wenn Sie was herausgefunden haben, dann lassen Sie mich's wissen.« Beim Aufstehen reichte sie ihm den gelben Notizzettel. Sie verstaute das Notebook in ihrem Rucksack und hatte einen Moment darauf das Kaffeehaus verlassen.

4

Das Mittagessen musste Terrarius am folgenden Tag ausfallen lassen. Aus Anlass ihres Geburtstags hatte Frau Birkle die Kollegen in den Besprechungsraum gebeten, wo eine mächtige Sahnetorte neben einem selbst gebackenen Hefezopf und einem Berg Butterbrezeln auf ihren Verzehr warteten. »Langet noo zua«, forderte die Jubilarin die Eintretenden auf, während sie den Inhalt einer Flasche Sekt auf Plastikbecher verteilte.

Norbert dividierte in Gedanken das Gebäck durch die Zahl der Anwesenden und kam zu dem Schluss, dass Frau Birkle wieder einmal die eigenen Bedürfnisse zum Maßstab genommen hatte, womit sie allerdings die Möglichkeiten ihrer Kollegen weit überschätzte. Er wusste, dass es prinzipiell möglich war, zwei große Stücke Schwarzwälder Kirschtorte ohne jeden zeitlichen Abstand zu verzehren. Für die Angehörigen der Kriegsgeneration war dies offensichtlich völlig normal gewesen und auch Frau Birkle hatte damit keinerlei Probleme. Für ihn selbst galt dies jedoch nicht. Würde er nicht wenigstens ein Stück ihrer Torte essen, dann wäre das Geburtstagskind zutiefst beleidigt. Und sie würde sich lange daran erinnern! Es half also nichts. Er versuchte die Torte zu genießen, während er darauf wartete, dass sich sein Magen mit den Anzeichen einsetzender Übelkeit zu melden begann...

Die frische Luft hatte ihm gut getan. Die Landesbibliothek lag direkt gegenüber vom Landtagsgebäude, nur getrennt durch den rauschenden Verkehr auf der vielspurigen Bundesstraße, welche die Museumsmeile vom Akademiegarten trennte; dort wo einstmals die Hohe Karlsschule gestanden hatte, die so kläglich daran gescheitert war, ihren Zögling Friedrich Schiller auf die gehobene Beamtenlaufbahn vorzubereiten.

Am Schalter im Obergeschoss der Bibliothek ließ sich Terrarius den benötigten Ausweis ausstellen. Mit diesem erhielt er ein Faltblatt, das auch Informationen über die Online-Bestellung umfasste. Er fragte nach den Büchern, welche Sandra Bossi ihm aufgeschrieben hatte. Die Bibliothekarin suchte ihm deren Signaturen heraus und erkundigte sich, ob er diese ausleihen wolle, was er bejahte. Sie würden ab dem späten Nachmittag für ihn bereit liegen. Er wollte sich gerade abwenden, da kam ihm eine Idee: »Ich suche auch nach Informationen über Sonnenfinsternisse in Chroniken der Antike und des Mittelalters. Können Sie mir da weiter helfen?«

Die Bibliothekarin tippte einige Worte in die Maske zur Schlagwortsuche im Katalog: »Ist Englisch auch okay? Wie wär's hiermit: R. R. Newton, Medieval Chronicles and the Rotation of the Earth, 1972, Baltimore? Die Signatur ist T-5510. Es steht in der Präsenzbibliothek. Im Lesesaal, auf der Empore links hinten«.

Terrarius bedankte sich. Noch ein Newton! Aber diesmal einer des 20. Jahrhunderts. Er begab sich in den großen Lesesaal und hatte das Buch bald gefunden. Dann suchte er sich einen freien Arbeitsplatz und begann zu blättern. Der Verfasser war, wie er im Vorwort berichtete, durch einen Auftrag der US-NAVY an sein Thema gekommen. Im Rahmen des anstehenden GPS-Projekts wollte man seinerzeit die Konstanz der Erdrotation überprüfen. Hierzu sollte Professor Newton die Berichte von Sonnen- und Mondfinsternissen heranziehen, die in den Klosterurkunden des frühen Mittelalters gesammelt waren. Das Resultat der eingehenden Studie blieb jedoch recht enttäuschend. Fast keine der Verfinsterungen jener Zeit ließ sich einer modernen Rückrechnung zuordnen. Offenbar, so der Verfasser, hatten die Mönche es mit ihren Berichten nicht sonderlich genau genommen...

Was soll das, fragte sich Terrarius. Wichtigtuerische Klosterbrüder? Wozu dann überhaupt Eklipsenberichte? Und wieso 'offenbar'? Der Verfasser war selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Jahreszahlen der Urkunden korrekt angegeben waren. Sein 'offenbar' war demnach eine weitere Ad hoc -Annahme. Er atmete tief durch. Jetzt stand es 3:0 für Newton − Isaac Newton!

5

Nach Dienstschluss war Norbert Terrarius nochmal zur Landesbibliothek gegangen, um die bestellten Bücher abzuholen. Obwohl sie kaum Gebrauchsspuren erkennen ließen, konnten sie doch den jahrzehntelangen Aufenthalt im Magazin nicht verleugnen, den Staubgeruch und eine leichte Pappigkeit der Buchdeckel.

Auf dem Heimweg hatte er dann noch frisches Brot und etwas Aufschnitt und Käse eingekauft. Zu Hause fand er alles so vor, wie er es am Morgen verlassen hatte. Anscheinend war Frau Petrovich, die ein- oder zweimal pro Woche vorbei kam, um für ein Minimum an Sauberkeit und Ordnung in der Wohnung zu sorgen, wieder einmal durch Wichtigeres verhindert gewesen.

Seit Rhea mit der Kleinen fort war, hatte sein Alltag etwas Provisorisches. Für einen einzelnen Bewohner, das kam hinzu, war die einst großbürgerliche Wohnung mit ihren hohen Stuckdecken, auf die er so stolz war, schlicht überdimensioniert. Fortziehen mochte er schon gar nicht. Vielleicht sollte er dem jungen Paar, welches die hintere Hälfte des dritten Stockwerks bewohnte und bei dem sich, mittlerweile selbst für einen Mann unübersehbar, Nachwuchs angekündigt hatte, bei Gelegenheit einen Wohnungstausch vorschlagen...

Nach dem Abendbrot goss er sich ein weiteres Glas herben Trollinger ein und holte die ausgeliehenen Bücher hervor. Er hatte gehofft, eine geordnete Liste der Sonnen- und Mondfinsternisse vorzufinden, aber in dem schmalen Bändchen über die 'Verformungstendenzen' waren diese nach der Art ihrer Unstimmigkeit6 aufgeführt: Irrtümer beim Jahr, beim Monat, beim Grad der Bedeckung, und so weiter. Er holte sich ein Blatt Papier, um dann eben selbst eine zur Überprüfung geeignete Liste zu erstellen. Nachdem er diese fertig hatte, schaltete er seinen Rechner ein. Es dauerte eine gan