Das Prinzip Trotzdem - Roger de Weck - E-Book

Das Prinzip Trotzdem E-Book

Roger de Weck

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Beschreibung

Autoritäre Populisten trumpfen auf. Desinformation und Fake News grassieren. Und der Journalismus, der dem wehren sollte? Er kommt aus der Krise nicht heraus. Es gibt zwar mehr Medien, aber immer weniger Mittel für den Journalismus. Verlage wollen ihre Einbußen wettmachen, indem sie noch mehr laute Meinungen und Soft-Themen bringen. Doch die »Boulevardigitalisierung« nützt just den Populisten, die sich derselben Stilmittel bedienen: Zuspitzung, Skandalisierung, Aufregung.

Roger de Weck liebt Journalismus als Beruf. Er kennt ihn in allen Facetten – als Zeitungsmacher und Rundfunkchef, Reporter und Moderator. Und er macht sich Sorgen, weil die Gesetze des Medienbetriebs und die des Journalismus immer weiter auseinanderlaufen. Dagegen setzt de Weck auf das »Prinzip Trotzdem«: Recherchieren, abwägen, sich treu bleiben – trotz Sparmaßnahmen, trotz X & Co. Doch wie geht das? Der Autor zeigt, wie sich Journalismus stärken lässt. Denn ohne diesen wertvollen Spielverderber läuft das Spiel nicht in der Demokratie.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Cover

Titel

3Roger de Weck

Das Prinzip Trotzdem

Warum wir den Journalismus vor den Medien retten müssen

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2863.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-78126-5

www.suhrkamp.de

Widmung

8Für Claudia

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Einleitung Die Kunst heute ist, Journalismus zu machen trotz der Medien

1 Journalismus – ein Rückblick nach vorn

Als der Journalismus erfunden wurde

Fakten und Fake News

Sachlichkeit und Erregung

Vielfalt und Medienmacht

Aktualität und Vertiefung

Massenmedien und Interaktivität

Erst kriegerisch, dann kriegsmüde

Auf der Suche nach sich selbst

2 Wenn Journalismus die sozialen Medien nachahmt

Chefredakteur Google

Der Wettbewerb bringt Angleichung statt Unterscheidbarkeit

Das brüchige Selbstbewusstsein

Journalismus, ein Verlustgeschäft

»Bermuda-Dreieck« des Journalismus

3 Mehr Medien, weniger Journalismus

Expertenjournalismus

Magerjournalismus und Ich-Journalismus

Inhaltebesorgungsjournalismus

Investigativjournalismus

Die Meinungsinflation

Und sie sind nachrichtenmüde

4 Generalangriff auf den Journalismus

Der Spielverderber, ohne den das Spiel nicht liefe

Politik und Justiz ziehen die Schraube an, aber auf die

EU

ist Verlass

Gewalt gegen die Vierte Gewalt

Von der Kritik an Journalisten zum Kulturkampf gegen den Journalismus

Der journalistische Propagandismus

»Medienfreiheit bedroht Meinungsfreiheit«

Redaktionen einschüchtern, säubern und lenken: die Fallbeispiele Polen, Italien, Griechenland, Österreich

Die Mainstream-Schablone

Populismus und Journalismus: Die objektive Allianz

5 Wie sich der Journalismus selbst helfen kann

Den Grundgedanken der Pressefreiheit nicht vergessen

Hyperjournalismus als Abbild der Hyperpolitik? Die fällige Vergewisserung

Mehr zum Nutzen oder Schaden der Demokratie? Die Gretchenfrage stellen

Eine andere Aufmerksamkeitsökonomie

Journalismus mehr als Projekt denn als Produkt

6 Die Infrastruktur der Demokratie instand halten: Eine Staatsaufgabe

Medienförderung stärkt Medienfreiheit

Pressefreiheit ohne Presse?

Strukturwandel als Strukturzerstörung: die Medienwüsten

Der deutsche Stillstand

7 Journalismuspolitik: Vier Stoßrichtungen

1. Die Unabhängigkeit des Journalismus ist ebenso schützenswert wie die des Bundesverfassungsgerichts

2. Journalismus fördern oder die große Wirkung kleiner Maßnahmen

3. 

ARD

und

ZDF

sind wichtig, ihr Umbau ist dringlich

4. Auch die Plattformen müssen zu einem »Fundament der Demokratie« werden

Nachwort Gutenberg und

KI

Anmerkungen

Einleitung Die Kunst heute ist, Journalismus zu machen trotz der Medien

1 Journalismus – ein Rückblick nach vorn

2 Wenn Journalismus die sozialen Medien nachahmt

3 Mehr Medien, weniger Journalismus

4 Generalangriff auf den Journalismus

5 Wie sich der Journalismus selbst helfen kann

6 Die Infrastruktur der Demokratie instand halten: Eine Staatsaufgabe

7 Journalismuspolitik: Vier Stoßrichtungen

Nachwort Gutenberg und

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Einleitung Die Kunst heute ist, Journalismus zu machen trotz der Medien

Journalismus ärgert. Der gute Journalismus erbost diejenigen, die er treffsicher kritisiert. Der schlechte Journalismus ist sowieso eine Plage. Am schlimmsten aber ist die Absenz von Journalismus. Demokratisch gesinnte Menschen vermissen ihn schmerzlich in Diktaturen, die keine unabhängige Presse dulden. Und vielerorts im Westen verabschiedet sich der Journalismus vom Journalismus: von seinem Berufsethos und Berufsstolz, von seiner Herkunft als Kind der Aufklärung, von seinem Dienst an der res publica – just zu dem Zeitpunkt, da Desinformationen grassieren und autoritäre Populisten die Demokratie bedrängen. Der Journalismus findet nicht aus seiner Krise, warum?

Es gibt immer mehr Medien, aber immer weniger Mittel für den Journalismus. Online-Märkte, Google, Facebook und andere digitale Plattformen vereinnahmen die Werbung, die einst den Journalismus finanzierte. Zahlreiche Presseverlage wollen ihren Niedergang aufhalten, indem sie das Angebot graduell boulevardisieren, viele Soft-Themen und laute Meinungen bringen. Um Digital-Abonnements und Klicks zu erzielen, tun sie fast alles. Und solche »Boulevardigitalisierung« 10nützt den Populisten, die sich derselben Stilmittel bedienen, Aufregung und Zuspitzung.

Taktgeber sind die sozialen Medien. Viele journalistische Medien ahmen sie nach, statt sich zu unterscheiden. Ähnlich wie Posts auf Instagram sind zahllose Artikel und Videos auf dem Egotrip. Ich-Journalismus ist angesagt, und oft nimmt dieses Ich mehr Platz ein als der Gegenstand der Berichterstattung. Wie TikTok-Influencer betreiben sogar Qualitätszeitungen life coaching. Täglich beglücken sie die Leserschaft mit Tipps für ein langes Leben, ein erfülltes Liebesleben, neues Sexleben, ausgeglichenes Familienleben, optimiertes Büroleben und testamentarisch wohlgeordnetes Ableben.

Schnelle Interviews anstelle der gründlichen Auseinandersetzung mit einem Thema: Allzeit befragte Expertinnen und Experten haben jenes Wissen einzubringen, das Schrumpfredaktionen abgeht. In Unkenntnis der Fakten freilich hat man umso schneller eine Meinung. Die Meinungsinflation im Journalismus wie bei X & Co. entwertet sowohl die Fakten als auch die Meinungen als auch die Medien.

Alle Viertelstunde ist ein neuer Beitrag ins Netz zu stellen, in den meisten Redaktionen wird mehr produziert und weniger recherchiert. Viele gescheite Köpfe meiden oder verlassen eine Branche, die seit drei Jahrzehnten vornehmlich abbaut, statt zu investieren. Der Braindrain läuft, er ist die größte Gefahr, von der am wenigsten die Rede ist.

11All das mindert zusätzlich den Stellenwert des Journalismus, der sein Monopol als Vermittler von Informationen verloren hat. Darauf reagiert er nervös. Die mediale Aufgeregtheit macht nicht wenige Menschen »nachrichtenmüde«; still und leise gehen sie auf Abstand zum Medienbetrieb. Das stachelt diesen an, erst recht alle Schliche anzuwenden, um Klicks zu ergattern, abermals auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Ein Teufelskreis.

Er lässt sich durchbrechen. Es gibt Grund zum Optimismus, zu einem »sorgenvollen Optimismus«, wie US-Außenministerin Madeleine Albright zu sagen pflegte. Der Medienbetrieb bringt zwar jeden Unsinn, der sich schreiben, ausstrahlen oder ins Netz stellen lässt. Aber dann kritisiert er ebendiesen Unsinn. Journalismus ist hoch anfällig – und entfaltet starke Abwehrkräfte. Keine Branche ist dermaßen selbstgerecht und zugleich dermaßen selbstkritisch.

Wie die Demokratie ist Journalismus der vorweggenommene Verzicht auf Perfektion, zugunsten von Versuch und Irrtum, Lernfähigkeit und kleinen Schritten nach vorn. Von der Demokratie wie vom Journalismus lässt sich sagen: Vieles läuft schlecht, doch ohne sie liefe es noch schlechter. Der Fluch ist ein Segen. Und so wie die Demokratie aus der Imperfektion des Menschen das Bestmögliche macht, so leistet der Journalismus auf imperfekte Weise insgesamt hervorragende Dienste an der Demokratie, aber nicht nur, nicht immer und nicht automatisch. Auf dieses »insgesamt« 12kommt es an: Wie entwickelt sich per Saldo das Verhältnis zwischen guten Diensten und Bärendiensten?

Journalismus beeinflusst die Voraussetzungen von Demokratie – die politische Kultur; die Sachlichkeit der Debatte und Qualität der Meinungsbildung; die entsprechende Lernbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger; ihren mehr oder minder ausgeprägten Gemeinsinn; und den Zusammenhalt des Gemeinwesens – kurzum die Kraft der Demokratie.1 Und wo diese jetzt angefochten wird: Gäbe es denn nicht einen demokratiefreundlicheren Journalismus?

Die Presse ist zugleich ein Fundament und eine Infrastruktur der Demokratie. Doch die meisten Verleger, Medienmanagerinnen, Redakteure und Journalistinnen ziehen daraus einen falschen Schluss: Sie haben die Vorstellung verinnerlicht, dass alles, was sie tun, letztlich der Demokratie nütze. Dass der wildgewordene Kampf um Aufmerksamkeit diese Demokratie beschädigen kann, wollen viele Medienleute ungern wahrhaben. Einzelne Fachportale wie uebermedien.de, eine Gründung des Journalisten Stefan Niggemeier, pflegen eine konsequente Branchenselbstkritik. Einzelne gestandene Redakteurinnen und Redakteure nutzen ihre Talkshow-Auftritte, um Untugenden des eigenen Gewerbes zu erörtern. Aber in den Publikumsmedien gilt die Debatte mehr den Fragen des Handwerks und der Haltung, etwa dem geeigneten journalistischen Umgang mit der AfD, als strukturellen Missständen. Der Medienbetrieb erörtert am laufenden Band Fehlent13wicklungen in Politik und Wirtschaft, aber oft verdrängt er die Folgen eigener Auswüchse. Dabei ist dies ein hochaktuelles Thema. Populismus und der raumgreifende »Boulevardismus« bilden eine Art objektive Allianz, die per Provokation und Bewirtschaftung von Ängsten und Aufgeregtheiten die Wählerschaft bzw. Nutzerschaft maximiert. Journalismus kann sehr wohl die Feinde der Pressefreiheit stärken.

Die Gesetze des Journalismus und die des Medienbetriebs laufen auseinander. In diesem Spagat besteht die Kunst darin, Journalismus zu machen trotz der Medien: trotz Medienkrise, trotz Medienkonzentration, trotz des Abbaus in Redaktionen, trotz der globalen Plattformen, trotz des kommerziellen Drucks, trotz erodierender Gehälter und Honorare, trotz »Lügenpresse, halt die Fresse«, trotz der postfaktischen Ära. In seinem Wesen wie in seiner Arbeit weiterhin dem »Prinzip Trotzdem« zu folgen – das ist die Aufgabe des Journalismus.

Der 2009 verstorbene (und branchenüblich bald vergessene) Reporter Andreas Kohlschütter hat dieses »Prinzip Trotzdem« formuliert und vorgelebt. Anfang der 1980er Jahre entsandten ihn die damals liberale Weltwoche und Die Zeit für drei Wochen nach Afghanistan, drei Monate später kehrte er zurück. Und war der weltweit Allererste, der warnte, dass die vom US-Geheimdienst CIA damals geförderten Gotteskrieger das Verhängnis des Westens seien und nicht sein Instrument.

14Wenn Fachleute journalistische Beiträge zu ihrem Wissensgebiet lesen, sehen sie oft Fehler, Ungenauigkeiten, Unkenntnis relevanter Zusammenhänge, falsche Proportionen. Manchmal aber besticht und begeistert das kompetente Durchdringen des Stoffs. Das ist die Journalismuschance.

Die Journalismuskrise wiederum ist Bedeutungs-, Identitäts-, Renditekrise. Sie zu meistern ist umso dringlicher, als die Machtwelt der Politik jeden Akteur, der schwächelt, weiter zu schwächen pflegt. Die Überwachungsgesellschaft will die Pressefreiheit einengen, nicht etwa ausweiten.

Die Kapitel 1 bis 3 zeichnen ein kleines Sitten- und Unsittenbild des Journalismus in Geschichte und Gegenwart. Kapitel 4 schildert den laufenden Generalangriff auf die Medienfreiheit. Die Kapitel 5 bis 7 skizzieren, was zu tun ist, wie sich der Journalismus selbst helfen kann und wie der Staat helfen muss. In Deutschland sollten die Regierungen in Bund und Ländern eine »Journalismuspolitik« entwickeln anstelle der herkömmlichen Medienpolitik. Vorrangig ist es, den Journalismus zu fördern und nicht den Medienbetrieb, der verrücktspielt. Doch wie sieht Journalismuspolitik aus? Im Kern: Staatliche Förderung bestärkt die Staatsferne und Freiheit des Journalismus, sofern eine unabhängige Förderinstanz allgemeingültige feste Regeln anwendet.

15Der Philosoph Michel Foucault schrieb 1983: »Ich suche nicht zu behaupten, alles sei schlecht, sondern, alles sei gefährlich – was nicht genau dasselbe ist wie schlecht. Wenn alles gefährlich ist, dann haben wir eben stets etwas zu tun. Folglich führt meine Position nicht zur Apathie, sondern im Gegenteil zu einem pessimistischen Hyper-Aktivismus.«2

Vorderhand bleibt die deutsche Politik unteraktiv, geradezu passiv – obwohl es zu den elementaren Staatsaufgaben zählt, die Presse als kritische Infrastruktur der Demokratie instand zu halten. Die Schweiz tut sich ebenfalls schwer. In einer Volksabstimmung 2022 lehnten 55 Prozent ein »Massnahmenpaket zugunsten der Medien« ab, namentlich weil es große und reiche Verleger begünstigte. Besonders der kleine zweisprachige Kanton Freiburg/Fribourg jedoch hat emblematische Modelle der Förderung von Regionaljournalismus eingeführt. In Österreich wiederum verhindert der landesübliche Filz eine schlüssige Förderstrategie.

Ihrerseits sollten aber auch Journalistinnen und Journalisten öfter das Heft in die Hand zu nehmen versuchen. Wer am laufenden Band den Politikern und Managerinnen erläutert, wie sie es besser machen könnten, darf sich selbst ebenfalls in die Pflicht nehmen. Resolut muss der Journalistenberuf seinen Berufsstolz und sein Berufsethos gegen den Medienbetrieb behaupten. Ein Journalismus, der das Prinzip Trotzdem hochhält, hilft sich selbst.

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Journalismus – ein Rückblick nach vorn

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts verbreiten sich in ganz Italien handschriftliche Informationsbriefe, genannt summarii di avvisi: Diese »Zusammenfassungen von Benachrichtigungen« werden mit der Zeit immer professioneller. Hohe Beamte der zahlreichen italienischen Stadtrepubliken, Herzogtümer, Königreiche und des päpstlichen Kirchenstaats in Rom sind darauf angewiesen, einander auf dem Laufenden zu halten. Also lassen sie ihre Sekretäre regelmäßig Resümees der jüngsten Aktualität aufsetzen, mehrfach kopieren und an ausgewählte Kollegen zustellen. Bald beschaffen sich auch Kaufleute solche »Newsletter«. Was sich in der Nachbarschaft tut, wollen sie ebenfalls wissen.

Im 16. Jahrhundert erobert dieses neue Medium des »Aviso« Deutschland. Die mächtigen Handelsherren Fugger in Augsburg lassen solche Nachrichtenbriefe anfertigen und nutzen sie tagaus, tagein. Berufsmäßige »Novellanten« – namenlose Pioniere des Journalismus – schreiben die sogenannten Fuggerzeitungen von Hand. Sie berichten knapp und anschaulich über das politisch-militärische Geschehen. Zuoberst stehen gleichsam als Überschrift das Datum und der Absendeort: Rom, Venedig, Köln, Antwerpen, auch Lyon, Wien, Prag. Unter den 15 ‌000 Fuggerzeitungen der Jahre 1568 17bis 1605 finden sich gar Berichte aus Nordafrika, Asien oder den Amerikas.

In diesem Jahr 1605 gibt der Buchdrucker, Buchhändler, Verleger und Novellant Johann Carolus das erste periodische Blatt heraus, die Wochenzeitung Relation. Der Thüringer Carolus (1575-1634) ist nach Straßburg gezogen, in die Hauptstadt des Buchdrucks. Die ersten Ausgaben der Relation sind verschollen; der vollständige Titel des ältesten erhaltenen Exemplars aus dem Jahr 1609 lautet nicht ganz bündig:

Relation aller Fuernemmen [hervorstechenden] und gedenckwuerdigen Historien /so sich hin unnd wider in Hoch und Nieder Teutschland /auch in Franckreich /Italien /Schott und Engelland /Hisspanien /Hungern /Polen /Siebenbürgen /Wallachey /Moldaw /Türcken /ec Inn diesem 1609. Jahr verlauffen und zutragen möchte. Alles auff das trewlichst wie ich solche bekommen und zu wegen bringen mag, in Truck verfertigen will.

Johann Carolus will akkurat »in Druck geben«, was relevant und markant ist. Mit seinem journalistischen Ethos »treulichster« Verlässlichkeit eröffnet er den Weg, den beispielsweise der Patriarch der New-York-Times-Dynastie drei Jahrhunderte später gehen wird: Der Verleger Adolph S. Ochs, dessen Familie aus Bayern stammte, prägte 1897 das Leitmotiv der Qualitätszeitung, »All the news that's fit to print« – wir bringen alle druckreifen Nachrichten. Ochs hätte sich nie träumen lassen, wie die Verkäufe der New York Times dereinst emporschnellen würden, von anfangs 9000 Exem18plaren auf heute 9,4 Millionen digitale Abonnements zuzüglich 670 ‌000 papierener Zeitungen.

Just als Adolph S. Ochs 1896 bei der New York Times einstieg, kam das zweite Massenmedium auf. Der italienische Erfinder Guglielmo Marconi ließ das Radio patentieren, das sich in den 1920er Jahren durchsetzte. Bald folgte das Fernsehen als drittes und letztes Massenmedium, das nach dem Prinzip funktioniert: ein Sender oder Absender und Millionen Empfänger. Ganz anders die sozialen Medien, in denen alle zugleich senden und empfangen können; das »Publikum« darf und soll publizieren, wie einst im Aviso-Netzwerk der italienischen Oberschicht.

Als der Journalismus erfunden wurde

Der eigentliche Vordenker des Journalismus jedoch stammt aus der calvinistischen Hochburg Loudun in Westfrankreich – war doch der Protestantismus die Konfession des gedruckten Bibelworts. Das Waisenkind Théophraste Renaudot (1586-1653) bringt es zum Arzt und Autor einer Abhandlung über die Armen. Dem Wort folgt die Tat, er erfindet eine Kontaktbörse für Arbeitslose, startet eine Pfandleihe ohne Wucherzinsen, er begründet das Sozialunternehmertum. Der Protestant steigt zum Leibarzt von König Ludwig XIII. auf, der ihn zum »Generalkommissar für die Armen« beruft. Vor allem schreibt Renaudot gern, viel und gut. 19Ein angesehener Literaturpreis im heutigen Frankreich hält seinen Namen lebendig, der »Prix Renaudot«.

Zwei Jahrzehnte nach Carolus, am 30. Mai 1631 in Paris, lanciert Théophraste Renaudot ein Blatt, das journalistische Gattungen wie Bericht, Kommentar und Glosse pflegt. »Eine Großzahl Nachrichten macht die Runde, man muss sie prüfen und nach der Wahrheit forschen«, kündigt Renaudot in seiner Gazette an. Er benennt sie nach der kleinen venezianischen Münze gazzetta, heute etwa 50 Cent; zu diesem Preis werden die Nachrichtenflugschriften auf dem Markusplatz in Venedig feilgeboten.

Renaudot setzt auf Anhieb Maßstäbe: »In einer Hinsicht werde ich niemandem Zugeständnisse machen, nämlich bei der Suche nach der Wahrheit, wobei ich für dieselbe nicht bürge.«1 Das Publikum anerkennt die Qualität der Gazette, trotzdem stört ihre Existenz. Journalismus wirke subversiv, empört sich der Pionier des modernen Bibliothekwesens Gabriel Naudé:

Aus meiner Sicht ist es unangemessen, dass der Pöbel so viele Nachrichten erfährt; was bringt es denn, ihn zeitnah über Aufstände in Neapel zu informieren, über den Aufruhr in der Türkei […]. Gewiss würde man sich in Rom und Venedig hüten, derart ansteckende Meldungen zu veröffentlichen, denn diese zwei Städte sorgen viel straffer für Ruhe und Ordnung als Paris.

Die Gazette setzt sich durch. In der Hauptstadt erscheint sie samstags in der hohen Auflage von 8000 Exempla20ren, 35 Ortschaften lassen sie nachdrucken. Bald verdoppelt sie ihren Umfang auf acht Seiten. Mitten im Dreißigjährigen Krieg will die des Lesens kundige Minderheit der Franzosen und Französinnen informiert sein. Kardinal Richelieu, starker Mann zu Hofe, unterstützt das Vorhaben. Er schreibt zuweilen spaßeshalber für das Blatt, das den gesamten Spannungsbogen der Mediengeschichte vorwegnimmt. Renaudot ist so sehr der Zeit voraus, dass seine journalistische Haltung und sein Berufsethos bis in die Gegenwart relevant bleiben. Die ewigen äußeren und inneren Konflikte des Journalismus trägt er bereits alle aus, nicht immer mit Bravour.

So schwankt seine Gazette zwischen Aufrichtigkeit und Hofberichterstattung. Das Blatt will der Wahrheit und nur der Wahrheit verpflichtet sein, trotzdem schont der Verleger den Königspalast. Zwischendurch avanciert oder verkommt die Zeitung zum »Offiziellen Organ der royalen Regierung«. Trotzdem erweist sich Renaudot als Bahnbrecher der Medienfreiheit. Eindringlich warnt er »die Fürsten und die ausländischen Staaten davor, unseren Nachrichten den Weg zu versperren: Denn Nachrichten sind eine Ware, deren Handel noch niemand verbieten konnte, ähnlich wie von Natur aus ein Sturzbach bei jeder Sperre anschwillt.«

Das Bild birgt viel Wunschdenken. Absolutistischen Herrschern gelingt es bis heute, die Informierung des breiten Publikums zu steuern. Das müssen sie auch, sonst werden sie verwundbar. Zum Beispiel meint der 21Russe Garri Kasparow, langjähriger Schachweltmeister und Kritiker des diktatorischen Präsidenten Wladimir Putin: »Ein Monat Fernsehen ohne Zensur – und es wird das Regime nicht mehr geben.«2

Fakten und Fake News

Triebfeder von Théophraste Renaudot ist der Kampf gegen Lügen und Gerüchte, denn sie wirkten wie allumettes, Streichhölzer: Sie entzünden Emotionen, Aufwiegler haben dann leichtes Spiel. Es reiche nicht, schreibt der Franzose, wenn Falschnachrichten im Nachhinein »vom Lauf der Zeit« korrigiert würden. Vielmehr müsse die Redaktion alles prüfen, wobei es leider Gottes unvermeidlich sei, dass unter »fünfhundert in Eile geschriebenen Beiträgen unserer Korrespondenten in aller Welt der eine oder andere Bericht missrät«. Denn »mit Nachrichten verhält es sich wie mit Metallen. So wie Letztere beim Verlassen des Stollens oft mit Erde vermengt sind, so kommen Nachrichten normalerweise in Begleitung etwelcher Konfusionen zum Vorschein, erst mit der Zeit werden sie rein wie Metall in der Gussform.«

Meldungen bei Bedarf zu korrigieren, betont Renaudot, sei kein Gesichtsverlust: Das offenbare »nicht etwa eine niedrige Gesinnung (wie das die Flegel wähnen), vielmehr zeugt es von Mut, sich über jene Kleingeisterei zu erheben, die notabene aus kindischem und dok22trinärem Trotz die Wahrheit für sich pachtet – weil Kleingeister es sich nicht vorstellen können, dass mehr Geisteskraft darin liegt, einer besseren Meinung recht zu geben, als auf der eigenen zu bestehen«.

Fakten statt Fake: Auf den Punkt bringt das im 21. Jahrhundert Dmitri Muratow, Gründer einer ganz anderen und verbotenen Gazette, nämlich der oppositionellen Moskauer Novaya Gazeta (neue Zeitung, deren Schwesterblatt Novaya Gazeta Europa in Lettland erscheint). Bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises 2021 sagt Muratow: »Wir sind Journalisten, unsere Aufgabe ist klar – zu unterscheiden zwischen Fakten und Fiktion.«3 Der Kriegsherr im Kreml allerdings kann solche Kraft des Faktischen nicht ausstehen, und so entzieht ein Moskauer Gericht der Novaya Gazeta ein halbes Jahr nach der Invasion der Ukraine die Drucklizenz und bald auch die Online-Lizenz.

Den Nobelpreis teilt sich Muratow mit der philippinischen Investigativjournalistin Maria Ressa, 2019 willkürlich verhaftet. In ihrer Osloer Rede zieht sie wiederum den Kettenschluss: »Ohne Fakten keine Wahrheit. Ohne Wahrheit kein Vertrauen. Ohne Vertrauen haben wir keine gemeinsame Wirklichkeit, keine Demokratie.«4 Zwar besagt ein Leitspruch des angelsächsischen Journalismus: »When you don't know the facts, take the principles« – in Unkenntnis der Fakten halte sich die Redaktion ans Grundsätzliche. Aber Journalismus in Unkenntnis der Sachlage ist ein Widerspruch in sich, wiewohl eine häufige Praxis.

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Sachlichkeit und Erregung

Seinerzeit bedauert Renaudot die Vorliebe vieler Leser für das Trügerische bis Betrügerische, wenn denn der Beitrag nur frappant genug ist. »Eine parteiliche Zuschrift, die leichthin gelesen wird, wie sie geschrieben wurde, oder eine ins Ohr geraunte anonyme, abenteuerliche Nachricht […] findet oft mehr Aufmerksamkeit und genießt in den Köpfen mehr Kredit als der verlässlichste unserer […] Artikel, der aus zwei Dutzend Quellen an verschiedenen Orten schöpft.«

Erregungslust trübt jederzeit den Realitätssinn, zumal wenn im 21. Jahrhundert die Algorithmen und der Boulevard unsere Affekte bewirtschaften. Je emotionaler, desto unsachlicher oder »postfaktischer«, so das Wort des Jahrs 2016, als Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, mithilfe des Nachrichtenkanals Fox News von Rupert und Lachlan Murdoch. In ihrem Medienkonzern gilt: Umsatz und Rendite müssen stimmen, aber nicht zwingend die Informationen.

»FBI-Agenten haben den Sturm auf das Capitol organisiert«: Vom Moderator zum Agitator mutierte der Fox-News-Superstar Tucker Carlson.5 Das Eingeständnis, der Demokrat Joe Biden sei rechtmäßig gewählter US-Präsident, hielt Carlson für eine Bedrohung des Geschäftsmodells, denn das verprelle »unsere Kernzuschauerschaft« von Republikanern. Doch der Wahlmaschinenhersteller Dominion Voting reichte Klage ein, weil ihn die Publikumsmaximierer und Fakten24minimierer von Fox der Wahlfälschung bezichtigt hatten. Um einen Prozess abzuwenden, zahlte Murdoch 787 Millionen Dollar. Ausnahmsweise war die Unwahrheit kostspieliger als die Wahrheit. Agitation jedoch bringt in der Regel mehr Geld und Klicks als der Journalismus. »Im Netz verbreiten sich Lügen sechs Mal schneller als gesicherte Informationen«, schätzt Anna-Lena von Hodenberg, deren NGO HateAid den Opfern von Hass und Verleumdung in den sozialen Medien beisteht.6

Tucker Carlson wurde entlassen, umgehend führte er seine Propagandashow auf X fort, einschließlich serviler Interviews mit Wladimir Putin und Donald Trump. Carlsons Nachfolger als prime time extremist heißt Jesse Watters. Der neue »Extremist zur besten Sendezeit« beteuerte, das Pentagon habe die Trump-kritische Sängerin und Pop-Ikone Taylor Swift als Einflussagentin einspannen wollen: »Ich weiß nicht, wer vom Weißen Haus oder woher immer auf sie zuging.«7 Reaktionärer Impetus, medialer Zynismus und kommerzieller Drang münden in einen »Journalismus«, der den US-Präsidentschaftswahlkampf von 2024 ebenso vergiftet hat wie den von 2020. Permanenter Furor soll für Furore sorgen.

Von Anbeginn hatte der Journalismus seine Scharfmacher, zeigt der Rück- und Seitenblick ins 17. Jahrhundert. »Ihr solltet eure Anwürfe besser belegen«, konterte Renaudot, als ihn ein anderes Blatt niedermachte. Ähnlich wie heute durchlebte Europa eine nervöse Zeit 25der Transformation von Politik und Wirtschaft. Nach dem Dreißigjährigen Krieg trug Paris seine Stadtmauern ab, die gegen moderne Kanonen nichts mehr ausrichteten. Bald erstreckten sich auf den geschleiften Bollwerken, auf Französisch boulevards, belebte Alleen, auf denen Zeitungsverkäufer die dramatischen Schlagzeilen ausriefen. Daraus entwickelte sich später die Boulevardpresse, zum Zwecke des Impulskaufs emotional aufgeladen, kurz und knallig.

Das Prinzip der Reduktion, um binnen Sekunden Aufsehen zu erregen, hat in der digitalen Welt Schule gemacht. Es ist das Grundmuster sozialer Medien, von den X-Posts mit ihren 280 Zeichen in der Gratisversion bis zu den Kurzvideos »Reels« auf Instagram. Schrumpft der Platz, expandiert das Plakative. Das lädt den Journalismus ein, grell zu werden. Die Angelsachsen sprechen von der Yellow Press, seit am Ende des 19. Jahrhunderts die zwei verfeindeten Verleger Joseph Pulitzer (New York World) und William Randolph Hearst (New York Evening Journal