Die Kraft der Demokratie - Roger de Weck - E-Book

Die Kraft der Demokratie E-Book

Roger de Weck

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Beschreibung

Seit Corona und dem Trump-Fiasko wirken die zerstrittenen Reaktionäre wie lauter Verlierer und Versager, so auch die AfD. Jetzt ist die Stunde der Fortschrittsoptimisten: Nutzen die Grünen und alle Schrittmacher einer ökosozialen Demokratie ihre Chance?

Roger de Wecks preisgekröntes Buch schafft Zuversicht – und Übersicht: Es zerlegt die Argumente der autoritären Populisten in ihrem Kulturkampf wider die offene Gesellschaft. Im deutschen Wahljahr skizziert es, wie eine liberale Demokratie des Ausgleichs von Natur und Mensch, Arm und Reich, Frau und Mann, Schwarz und Weiß aussehen könnte: gestaltungskräftig, auf der Höhe des digital-ökologischen 21. Jahrhunderts. Denn die Natur, sagt de Weck, muss zur Teilnehmerin an der Demokratie werden.

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Seitenzahl: 515

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Titel

Roger de Weck

Die Kraft der Demokratie

Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre

Erweiterte und aktualisierte Ausgabe

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2020

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Erstausgabe, 2022.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-76484-8

www.suhrkamp.de

Widmung

Meinen Enkelkindern

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage der Taschenbuchausgabe: Die Zäsur

Einleitung: Wir sind die, auf die wir warten

I.  Im Bann der Reaktionäre, im Sog der Machtwirtschaft

Das Autoritäre war nie weg und ist zurück

Wenn die Gegenwart Vergangenheit ist: Konservative in der Sinnkrise

Der »bürgerliche« Schulterschluss

»Weniger Demokratie bringt mehr Freiheit«

Von der Marktwirtschaft zur Machtwirtschaft

Demokratie – die nützliche Idiotin?

Deregulierung nährt den Populismus, Populismus dereguliert die Demokratie

Unsichtbare Hand des Markts, harte Hand der Marktradikalen

Der schwere Stand des Mittelstands

Bietet Demokratie keine echten Alternativen, sucht man Alternativen zur Demokratie

Die Verwirtschaftlichung des Denkens

»Die Antwort ist die Autorität der Demokratie, nicht die autoritäre Demokratie«

Die Schweiz: Avantgarde des Populismus

Auf der Suche nach dem verlorenen Bürgertum

Autoritäres liegt in der Luft

Schule der Demokratie

Liberale wider die liberale Demokratie

Demokratie und Sozialdemokratie

Identitätspolitik

Die Postliberalen – und die vier Teilsiege der Reaktionäre

II.  Aus dem Arsenal der Reaktionäre

Politische Korrektheit – eine Nebensache rückt in den Mittelpunkt

»Meinungskorridore« und »Mainstream«

Empfindlich und unerbittlich: Die Kulturkämpfer

Die antikorrekte Empörungskultur

Andere Zeiten, anderes Deutsch

Ist politische Korrektheit unpolitisch?

Die hochpolitische Unkorrektheit

Weltethos, Weltinnenpolitik? Nein, die Nation über alles

Die geistig-amoralische Wende

An allem schuld: Der »Moraladel«

Das deregulierte Ich-Ich-Ich – das nationale Wir-Wir-Wir

Das große reaktionäre Verdrehen

Vordenker der Neuen Rechten

Rechts ist männlich

Vaterländisch-viriles Raunen

Sollen Rückschrittliche die Zukunftsdebatte prägen – und den öffentlichen Raum?

Die Nation preisen, den Staat betrügen

Alles ist »Wahn«, »Hysterie«, »Paranoia«, »Furor« und »Terror«

»Kraft durch Hass«: Wenn Rapper Kollegah Alexander Gauland hilft

»Fast jede Generation erlebt einen solchen Rückschlag«

III.  Die Demokraten unterschätzen die Demokratie

Seele und Saat der Demokratie

Jede Demokratie ist anders

I

: Westeuropa

Jede Demokratie ist anders

II

: Mittel- und Osteuropa

Das Kommen und Gehen der Ideologien

Nie im Lot – Freiheit, Gleichheit, Nachhaltigkeit

Ökodiktatur: Mehr Diktatur als öko

Der unedle Weg zum edlen Kompromiss

Niedergang? Die Demokratie ist im Übergang

Demokratie als Entdeckungsverfahren

Die hybride Aufklärung

Langsamkeit oder Lähmung?

Demokratie kann nicht alle Erwartungen einlösen

IV.  Zwölf Vorschläge für die Demokratie

Konstruktion und Komposition

Damit Gestrige nicht die Zukunft kapern

1. Ein mächtiger Rat der Umweltweisen

2. Veto und Initiativrecht des Umweltministers

3. Aufschiebendes Veto eines »Rats für Generationengerechtigkeit«

4. Die zweite Kammer – oder die dritte

5. Stimmrecht als Stimme der Jugendlichen

6. Ein Europäischer Gerichtshof für die Rechte der Natur

7. Eine neuartige Institution: Die Fußabdruckbank

8. Die demokratiefreundliche internationale Organisation: Die

OECD

9. Ein Bundestransparenzhof

10. Eine Europäische Digitalplattform-Behörde

11. Direkte Demokratie

12. Gute Demokratie braucht guten Journalismus

Handeln schafft Hoffnung

V.  Das Gesetz des Handelns

Schockwellen und Zeitenwende

Die Neonationalisten: Aggressiver Tonfall, defensives Taktieren

Die Neue Rechte: Stagnation, Regression, Desillusion

Noch radikaler oder etwas bourgeoiser? Beides zerreibt die Reaktionäre

Biden und Baerbock – die neue Unerschrockenheit

Die alte Schwäche des Markts, die neuen Stärken des Staats

Die Evolution der Grünen und die kleine schwarze Kulturrevolution

Frauen modernisieren die Mitte

Der organisierte Kapitalismus

Die

Financial Times

als Avantgarde

Das große grüne Ineinander

Wie grün grünt die

EU

?

Eine kleine republikanische Krisenlehre

1. Freiheit besteht aus Pflichten

2. In schleichenden Krisen so handeln wie in offenen Krisen

3. Unfähigkeit ist autoritär

4. Demokratischer Antihumanismus ist ein Widerspruch in sich

5. Mehr Freiraum der Regierung erfordert mehr Transparenz

6. Die Bundesrepublik ist republikanisch

7. Nur der mündige Bürger weiß um seine Schwächen

»Positive politische Gefühle«

Europäisches Nachwort

Anmerkungen

Einleitung: Wir sind die, auf die wir warten

I

. Im Bann der Reaktionäre, im Sog der Machtwirtschaft

II

. Aus dem Arsenal der Reaktionäre

III

. Die Demokraten unterschätzen die Demokratie

IV

. Zwölf Vorschläge für die Demokratie

V

. Das Gesetz des Handelns

Europäisches Nachwort

Dank

Informationen zum Buch

Vorwort zur zweiten Auflage der Taschenbuchausgabe: Die Zäsur

Erst Corona, dann der Ukraine-Krieg – diese zwei sehr ungleichen Katastrophen werden als ein Wendepunkt in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen.

Der russische Angriff auf ihren ukrainischen Nachbarn hat die polnischen und ungarischen »Autoritärdemokraten« auf die Europäische Union zurückverwiesen. Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán erfahren den Außendruck der EU und den Innendruck einer erstarkenden Opposition. In der Bundesrepublik entzweit und schwächt sich zusehends die AfD. Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, Inbegriff des Kippens vom Konservativen ins Reaktionäre, musste gehen. Boris Johnson wankt. Der italienische Scharfmacher Matteo Salvini verlor das Gesicht und sein politisches Profil, als seine antieuropäische Lega dem überzeugten Europäer Mario Draghi zum Amt des Ministerpräsidenten verhalf. Und egal ob Marine Le Pen oder Éric Zemmour, auch in Frankreich geraten rechtsextreme Bewunderer von Wladimir Putin ins Abseits.

Leise sind die einst vorlauten Populisten geworden, sie hadern. Viele sind frustriert, weil Protestparteien nichts Schlimmeres widerfahren kann, als in die Defensive zu geraten. Der Erfolg hatte sie lang verwöhnt, ja süchtig gemacht, nun sind sie auf Entzug. Möglicherweise werden sie deshalb bald umso verzweifelter um sich schlagen, bedrohlich bleiben sie also. Aber erstmals seit zwei Jahrzehnten fällt es den Demagogen schwer, für ihre Themen zu trommeln.

Im Gegenzug entfalten sich Kräfte des Augenmaßes, auch in der Bundesrepublik. Die politische Mitte prägen jetzt die Grünen. Und ein Teil der traditionellen wirtschaftshörigen Mitte hat sich, ein bisschen, emanzipiert. Weil infolge der Corona-Krise und der weltpolitischen Bedrängnis der Staat die Schlüsselrolle spielt, haben liberalkonservative und sozialliberale Politiker den Primat der Politik wiederentdeckt. Sie möchten diesen Primat über die Wirtschaft behaupten: nicht zuletzt, um die Digitalriesen zu bändigen und die Unternehmenswelt ökologisch auszurichten.

Allerdings erfordert eine griffige Umweltpolitik – die das Wohnen, Fahren und Einkaufen weiter verteuert – eine griffige Sozialpolitik, das heißt eine Umverteilung zugunsten der Lohnempfänger. Seien es Joe Biden und Kamala Harris in Washington, sei es die EU-Kommission in Brüssel, sei es die Ampel-Regierung in Berlin: Können sie die Ungleichheit in der Gesellschaft wirkungsvoll angehen? 1937 sagte der US-Präsident Franklin D. Roosevelt, dessen New Deal die heutige Politik inspiriert: »Der Prüfstein wird sein, dass wir nicht etwa zum Überfluss derer beitragen, die viel besitzen; sondern dass wir genug Mittel bereitstellen für die, die zu wenig haben.«

Das epochale Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich, Frau und Mann, Schwarz und Weiß, Natur und Mensch besteht fort. Aber namentlich die Corona-Zeit hat das Leben stark und manche Einstellungen leicht verändert. Viele Menschen denken weiter, manchmal neu, oft etwas anders:

Die Gefahr, die vom krassen sozialen Gefälle ausgeht, wird breit diskutiert. Selbst der Internationale Währungsfonds fordert jetzt Umverteilung, die stärkere Besteuerung des Kapitals und die Mehrbelastung hoher Einkommen, um »den von Covid-19 beschleunigten Teufelskreis der Ungleichheit« zu durchbrechen.

Während der Corona-Krise hat sich die herrschende Minderheit der Männer – wie stets in der Not – auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Schlüsselrolle der Frauen besonnen. Die Gleichstellung macht deswegen keinen Sprung nach vorn, wohl aber tut sie nächste Schritte.

Mitten in der Pandemie entfaltete sich in Amerika und alsbald in Europa die mächtige antirassistische Bewegung Black Lives Matter. Sie verändert die Grundstimmung.

Corona hat die Umweltfrage nicht verdrängt, sondern weiter vergegenwärtigt.

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg griff das historische Geschehen in unser aller Leben ein. Die Mehrzahl will zurück zur Normalität, aber zu einer zukunftsfähigen Normalität – wo ehedem Krisen zur Norm geworden waren. Das schärft das Bewusstsein der Krisenzeitgenossen, nun müsse korrigiert werden, was seit Jahren bloß kritisiert wurde.

Gerade in der Trump-Zeit haben die Verfechter der liberalen Demokratie dazugelernt – zum Beispiel, dass es sich rächt, fällige Renovierungsarbeiten an dieser Demokratie zu vernachlässigen. Sind Institutionen rückständig wie das aus dem 18. Jahrhundert stammende US-Wahlverfahren, lässt sich spielend der Zweifel an den Ergebnissen säen, bis hin zum Sturm auf das Kapitol.

Und auch das ist inzwischen eine Erfahrungstatsache: Eine Überdosis Liberalismus ist Gift für die Demokratie wie für den Kapitalismus, für die politische und wirtschaftliche Stabilität. Der »Ultraliberalismus« maximiert ökonomische Risiken, die Geldwelt bleibt hoch anfällig. Und er maximiert die Ungleichheit, was Protestparteien beflügelt und die Gesellschaft spaltet. Die USA bieten dafür das abschreckende Extrembeispiel. Auch in den Außenbeziehungen kann es nicht länger einzig um »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« gehen, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videobotschaft im Deutschen Bundestag anmahnte; Handel hat keineswegs den erwünschten Wandel gebracht, weder in Russland noch in China.

In Europa ist Polarisierung out, ein Großteil der Bevölkerungen hat Sehnsucht nach Balance. Der Wunsch nach Differenziertheit statt Aggressivität wächst, nach Humanismus anstelle des Zynismus, auch nach einem neuen Zusammenspiel der Gegensätze wie in Deutschland Rot-Grün-Gelb. Jedenfalls ziehen die Zauberformeln des Marktliberalismus und die Sprüche des Populismus je länger, desto weniger – der allgemeine Rechtsrutsch ist vorbei, die vielgeschmähte Willkommenskultur lebt auf. Krisengeplagte Menschen erhoffen konkrete Verbesserungen. Die Einsicht in eine Kernaufgabe der Demokratien kehrt zurück, nämlich vielfältige Interessen auszugleichen, auf dass die Gesellschaft friedlich und die Natur möglichst wohlbehalten bleibt. In der EU steht nicht mehr der Markt im Mittelpunkt, sondern der ökologisch-digitale Umbau der Wirtschaft, den Milliardenprogramme ankurbeln. Und sowohl die Erfahrung des »Trumpismus« als auch die antidemokratische Militanz des revanchistischen Russland und des hochmütigen China beflügeln den Gedanken der europäischen Souveränität.

Der dreifache Trump-Corona-Ukraine-Schock hat eine Zäsur zwischen der Ära der Maßlosigkeit und einer Periode des größeren Augenmaßes gesetzt. »Echte Avantgarde ist nichts anderes als der mutige Rückschritt zur Vernunft«, meinte Karl Kraus. Europa ist Avantgarde, wenn es zum friedlichen Kontinent der ökosozialen Demokratien gedeiht. Das könnte im besten Fall das neue Narrativ der EU werden.

Der Kampf der Ukrainer und Ukrainerinnen, die Zivilcourage vieler Demokratinnen und Demokraten in Russland und Weißrussland – das Aufbäumen im Osten unterstreicht auch im Westen den Wert einer Staatsform, zu der es nur autoritäre Alternativen gibt. Wobei auch bei uns gilt: Freiheit ohne Emanzipation wäre ein Widerspruch in sich. Dem Autoritären, den Oligarchien und der Menschenverachtung ist überall zu wehren. Und ökologisches Gleichgewicht bleibt eine Voraussetzung des Weltfriedens.

Umso dringlicher, die Institutionen der Demokratie – die Frieden stiften, indem sie Interessen austarieren – auf die Höhe des ökologisch-digitalen 21. Jahrhunderts zu bringen. Dabei lässt sich der Primat der Politik sichern und der Kapitalismus ein Stück weit ordnen, statt dass wir uns unterordnen. Diesen Optimismus und Voluntarismus dokumentiert Teil V: Das Gesetz des Handelns.

Zürich, März 2022

Einleitung: Wir sind die, auf die wir warten

Was ist eine Elite – eine, die hohe Ansprüche erfüllt und den Namen verdient? Sie müsste Vorbild sein, verantwortungsvoll handeln, die Interessen des Gemeinwesens über die eigenen stellen. Der Weitblick darf nicht fehlen, das Denken in übergeordneten Zusammenhängen. Zu viel verlangt? Elite ist nicht Establishment.

Im Gegensatz zur Elite wollen Etablierte weniger die Zukunft mitgestalten als vielmehr die Gegenwart verlängern: den Status quo verewigen, dem sie Macht, Geld, Geltung, Privilegien verdanken. Und dann gibt es noch die sogenannten Promis, reich, schön, oder beides, und manchmal begabt. Prominente (besagt das lateinische Wort) »ragen hervor«, jedoch nicht immer notwendig durch Talent oder Leistung, sondern weil der unersättliche Medienbetrieb sie für verwertbar hält – die einen mehr, die anderen weniger. Es gibt ja auch B-Promis und C-Promis. New York hat sogar D-Promis: d-list celebrities. Donald Trump stand anfangs auf der D-Liste.

Trump gehörte weder zur Bildungselite wie der Harvard-Absolvent Barack Obama noch zum politischen Establishment wie der langjährige Senator Joe Biden, aber er setzte alles daran, im Promi-Alphabet nach vorn zu rücken. Er suchte den New Yorker Medienwirbel, genoss ihn und fand im Fernsehen eine Bühne, die ihn landesweit berühmt machte: die Castingshow The Apprentice (Der Lehrling). Donald Trump, Boss und Showmaster, drillte junge Talente, die sich bei ihm um eine Stelle bewarben. Gern demütigte er die Kandidaten, Widerspruch zwecklos. Einmal maßregelte er eine allzu aufrichtige Anwärterin. Die rechtfertigte sich, sie sei halt ein ehrlicher Mensch. »Wie dumm ist das«, befand Trump.1 Sein sonores »You're fired« beschloss die Show – Sie sind entlassen: Einer der Bewerber schied aus. Während seiner Jahre im Weißen Haus feuerte er unablässig Minister und Mitarbeiter.

So wie Trump mit Menschen umgeht, so verfährt der amerikanische Ultrakapitalismus mit all den Überzähligen und Unterqualifizierten … – die dann Trump anhimmeln, nach wie vor. Ausgegrenzte mögen den Ausgrenzer. Die Reaktion vieler Verlierer ist die Ergebenheit an einen Reaktionär, der einzig die Gewinner respektiert und auch deshalb seine Niederlage leugnete.

Was steckt dahinter? Ausgerechnet seinen despotischen Charakterzügen verdankte Trump die hohe Einschaltquote im Fernsehen und das höchste Amt der USA. Nach seiner Abwahl tritt er noch autoritärer auf, gerade weil er an Autorität verloren hat.

Die liberale Demokratie wurde namentlich zu dem Zweck geschaffen, für die Stärke des Rechts zu sorgen, wider das Recht des Stärkeren. Doch mittlerweile sehnen sich viele nach dem »starken Mann«. Sie huldigen ihm, solange er anmaßend und aggressiv auftritt. Das »Volk« bewundert ihn – und das Volk bilden diejenigen, die ihn bewundern. Die anderen gehören nicht dazu. Sie sind lauter »Volksfeinde«.

Die Alternative für Deutschland (AfD) stempelt Gegner zu »Volksverrätern«. Die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) ortet »Verrat an der eigenen Bevölkerung«. Für die Schweizerische Volkspartei (SVP) übt die Elite »Verrat am Volkswillen«. Als der französische Staatspräsident den Aachener Freundschaftsvertrag mit der Bundesrepublik paraphierte, habe Emmanuel Macron »den Straftatbestand des Verrats« erfüllt, sagte Marine Le Pen, die Chefin des Rassemblement National.2

Verräter – das V-Wort ist Programm, es richtet sich gegen die Liberalität. Und »liberal«, dieses Adjektiv ist eindeutiger, als gespottet wird. Es steht für alles, was zur Freiheit aller beiträgt:

eine Demokratie, in der die Menschen in gleicher Freiheit und freier Gleichheit leben;

faire Wahlen und Abstimmungen;

die Menschenrechte, den Rechtsstaat;

das Aufteilen der Staatsmacht zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, dem Parlament, der Regierung und der unabhängigen Justiz, um Übermacht zu verhindern;

den Kampf von Gesetzgebern und Kartellbehörden gegen wirtschaftliche Übermacht;

die Freiheit zu forschen und die Erkenntnisse in die Debatte einzubringen;

die Freiheit des Worts, der Meinung, der Medien und der Künste, um diese erkenntnisorientierte Debatte zu ermöglichen;

die Freiheit, aus der Debatte politische Schlüsse zu ziehen und selbst Politik zu machen oder sich vertreten zu lassen: durch Parteien und Organisationen, die ebenfalls in freier Gleichheit und gleicher Freiheit wirken.

Das ist liberal und macht die liberale Demokratie aus, die nur »bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen« (Grundgesetz) etwa die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit vorübergehend einschränkt. »Verräter« jedoch verdienen gar keine Freiheit. Wer mit dem V-Wort um sich wirft, wendet sich gegen die Freiheit aller. Und will eine unfreie Demokratie. Das ist ein Widerspruch in sich. Denn Freiheit ist der Sinn und Zweck des pragmatischen Ideals, das wir Demokratie nennen. Eine unfreie Demokratie ist keine. Illiberale Demokratien sind undemokratisch, also halbe oder ganze Diktaturen – und Diktaturen sind hart, auch die halben.

Alle Autoritären berufen sich auf das Volk. Doch in ihrer Machtwelt ist etwas Wesentliches nicht vorgesehen: die Bürgergesellschaft, der demokratische Diskurs, ein offenes öffentliches Leben. Die Res publica, die öffentliche Sache, ist ihre Privatsache. Hauptsache, sie herrschen. Das Zelebrieren der Macht ist der Kern ihrer Politik wie ihrer Propaganda. Und die wirkt: Allmählich kommt bei vielen Zeitgenossen die Vorstellung gar nicht mehr auf, dass es zum Recht des Stärkeren eine Alternative gäbe.

Unablässig arbeiten antiliberale Politiker daran, die Institutionen der liberalen Demokratie schlechtzumachen. In ihrer Propaganda bilden Parlament, Justiz und Medien das Reich des Bösen: des Elitären. Sie sind »volksfern«, weil sie den »volksnahen« Anführer schwächen, seine Macht begrenzen, sein Gebaren beaufsichtigen. Doch ist die liberale Demokratie dazu da, Allmacht zu verhindern. Sie verteilt nicht nur die Staatsmacht auf die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt, wobei in Extremlagen die Regierung rasch handeln muss und das Parlament ihr eine Zeitlang freiere Hand lässt. Die liberale Demokratie ermöglicht es zudem der Opposition, den Interessengruppen und Nichtregierungsorganisationen, den internationalen Organisationen und den Medien, sich Gehör zu verschaffen, Einfluss zu nehmen. Die illiberale Demokratie will all dies verhindern oder erschweren.

Liberale Demokratie teilt die Staatsmacht in viele Machtstücke. Niemand bekommt ein zu großes Stück, keiner hat mehrere Stücke. Die gestückelte Macht wird in verschiedenen demokratischen Institutionen eingebettet, so kann sie niemand zusammenfügen und aus einer Hand ausüben. Diese Staatsform ist bestrebt, jede Hegemonie abzuwenden. Das ist nicht die ganze liberale Demokratie, aber es ist ihr Leitgedanke. Eine diametral andere »Leitkultur« hat die illiberale Demokratie: Macht soll sich ungehindert entfalten, das Machtstück kann nicht groß genug sein.

Einst riefen Autoritäre nach der Diktatur. Das tun sie nicht mehr oder, wenn schon, verklausuliert. »Die Rechtlosigkeit hat sich Seidenhandschuhe angezogen«, sagte Friedrich Dürrenmatt 1990. Drei Wochen vor seinem Tod hielt er eine Lobrede auf den Schriftsteller, Dissidenten und Staatspräsidenten Václav Havel. Und meinte, die Herrscher in der »spättotalitären« Tschechoslowakei hätten so gründlich manipuliert, dass sie nicht länger morden und foltern lassen mussten.3 Wie immer bei Dürrenmatt war der Rückblick zugleich ein Ausblick. Heute wissen Herrschsüchtige, dass eine förmliche Diktatur unnötig ist, wo sich jede sogenannte »Demokratie« autoritär führen lässt. Siehe in Singapur die obrigkeitliche Demokratie, auf den Philippinen die polizeiliche, in Brasilien die militarisierte, in Russland die gelenkte, in der Türkei die repressive, in Ungarn und Polen die illiberale Demokratie. Und vierzehn Monate lang sahen wir in Italien eine Hetzer-Demokratie à la Matteo Salvini.

Schon im Jahr 1923 schrieb Carl Schmitt, der Jurist und spätere Staatsdenker der Nazis: »Eine Demokratie kann militaristisch oder pazifistisch sein, absolutistisch oder liberal, zentralistisch oder dezentralisierend, fortschrittlich oder reaktionär, und alles wieder zu verschiedenen Zeiten verschieden, ohne aufzuhören, eine Demokratie zu sein.«4 Zu lesen in dem Band Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, dessen zweite Auflage er mit einer »Vorbemerkung über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie« versah. Carl Schmitt ist heute die Lichtgestalt reaktionärer Publizisten.

Die illiberale Demokratie ist die Demokratie der Antidemokraten – und eine neue Art, Diktaturen zu legitimieren. In der demokratischen Hülle steckt die Fülle des Autoritären. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán führt das mit verschlagener Brutalität vor. Das Idol der Reaktionäre in Europa beschwört die »christlich-abendländische« Vergangenheit – »und in diesem Sinn ist der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler«. Orbán vollzieht den »Systemwechsel« zur neuen »Staatsform, die am besten fähig ist, eine Nation erfolgreich zu machen«, so die wichtigste Rede seiner bisherigen Amtszeit im Juli 2014.5 Liberale Demokratie baue »auf dem Gedanken auf, dass wir alles tun dürfen, was die Freiheit des anderen nicht einschränkt«. Er hingegen mache die Freiheit »nicht zum zentralen Element der Staatsorganisation«. Ungarn müsse sich »von den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien lossagen«. Denn die siegreichen »Stars« im Wettlauf um die beste Staatsform seien »Singapur, China, Indien, Russland, die Türkei«. Orbán fuhr fort: Das Volk erwarte von ihm, »die neue Organisationsform des ungarischen Staats […] zu schmieden«. Und in dieser Arbeit gebe er, bei aller »Berücksichtigung« der Menschenrechte und der Individuen, etwas anderem den Vorrang: der Nation als »Gemeinschaft, die organisiert, gestärkt, ja sogar aufgebaut werden muss«. Im Juli 2019 zog der Ministerpräsident eine erste Zwischenbilanz: Die Errichtung seiner Autoritärdemokratie werde weitere fünfzehn Jahre beanspruchen.6 Dann ist Orbán erst siebzig Jahre alt.

Unter den Gegnern der liberalen Demokratie finden sich Freunde der Diktatur und die neuen Autoritärdemokraten. Die Grenzen sind fließend, aber in allen Ländern relativieren, strapazieren, ignorieren sie die Menschenrechte. Alle teilen den Willen zur Willkür. Und fast alle sind Nationalisten. Medien nennen diese Kräfte »rechtsbürgerlich« oder »nationalkonservativ«. Das ist ungenau. Bürgerliche nämlich sind stolz auf die schönste, fragilste Errungenschaft bürgerlicher Revolutionen des 18. Jahrhunderts: die Menschenrechte. Konservative möchten das Bestehende bewahren, und das ist vorderhand die liberale Demokratie.

Ein brauchbarer Sammelbegriff ist »Neue Rechte«, so wie die Neue Linke im Jahr 1968 aufbegehrte und lang weiterwirkte. Die 68er gossen alte linke Denkmuster in neue Formen und sie entwickelten neue Denkmuster. Nun imitiert das im Westen die Neue Rechte, wobei ihr glänzende Intellektuelle fehlen. Auch sie setzt auf – allerdings humorfreie – Provokationen: Sie will nämlich die Gesellschaft verhärten, wo die Neue Linke lustvoll das Bürgerlich-Rigide gelockert hatte. Neurechte rufen ebenfalls eine Revolution aus, ihre »Konservative Revolution«. Sie wollen »Begriffe besetzen«. Und diese Kämpfer für die Rückkehr zur Willkür bilden genau wie die Neue Linke eine buntscheckige Schar. Dazu zählen Rechtspopulisten, Rechtsradikale, Rechtsextremisten (samt den Neonazis, Identitären oder »Reichsbürgern«) und Rechtsterroristen. Frankreich hat seine nicht neue Nouvelle Droite. In den USA ließen sich die Neokonservativen von evangelikalen Eiferern, der Tea-Party-Bewegung und schließlich dem »Trumpismus« rechts überholen.

Die gedanklich radikalsten Neurechten, wiewohl sie gediegen aufzutreten pflegen, sind die »Libertären«, die so tun, als seien sie konsequente Liberale. Sie träumen von der Gründung »staatsfreier Privatstädte«. Am liebsten möchten sie zugunsten des Markts den demokratischen Staat nahezu einreißen. Ohne den Rechtsstaat gilt dann die eigengesetzliche Führerschaft der Marktmächtigen: das Gesetz der wirtschaftlich Starken, die sozial Schwache ausmustern oder ausbeuten. Unterdrückung im Namen der Freiheit – das Muster ist allen Neurechten gemein.

Diese Kräfte sind unterschiedlich populistisch, unterschiedlich radikal, unterschiedlich extremistisch, unterschiedlich neu, unterschiedlich rechts, in sehr unterschiedlichem Ausmaß antiliberal, illiberal, marktfundamental und national. Sie haben sich in den verschiedenen Ländern ganz verschieden ausgeprägt. Aber wie Viktor Orbán neigen sie allesamt zu autoritären »Staatsformen« (die Libertären zur Marktdiktatur).

Und so erweisen sich die Neuen Rechten als Reaktionäre, das ist der zweite Sammelbegriff. Wer im Europa und im Amerika des 21. Jahrhunderts das Autoritäre wieder hervorholt, ist anachronistisch. Wenn Regierende nach Gutdünken schalten und walten, wenn Trump einwandfreie Wahlergebnisse nicht gelten ließ, ist es ein Rückschritt. Reaktionär waren die Gegner der jungen liberalen Demokratien, deren erste 1776 in Gestalt der Vereinigten Staaten entstand. Gestrig sind heutige Gegner der liberalen Demokratie, weil sie dem Westen kein anderes Zukunftsmodell bieten als das uralte Muster, das noch jedes Mal Stillstand, Willkür und Unbill heraufbeschwor: Ballung statt Teilung der Macht.

Freiheit sei die »Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür«, schrieb 1797 Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung.7 Wer hinter die klug erarbeiteten, hart erkämpften politischen Errungenschaften dieser Aufklärung zurückfällt, ist reaktionär. Und wird in diesem Buch so genannt, egal, ob er extremistisch, radikal oder »bloß« rechtspopulistisch ist.

Der Reaktionär, er reagiert. Er verkörpert die andauernde Reaktion auf die epochale Aktion, die in der Geistesgeschichte Aufklärung heißt. Und die bis heute in schönster »Geistesgegenwart« zweifelt, fragt, forscht, debattiert, lernt, entdeckt und entwickelt, also Aktion bleibt. So etwas können nur eigenständige Menschen leisten, möglichst mündige Bürgerinnen und Bürger eines möglichst selbstbestimmten Gemeinwesens, das sich von niemandem lenken lässt. Ohne es für die absolute Wahrheit zu halten, nehmen sie das Wissen der Wissenschaften ernst: zum Beispiel die Erkenntnisse der Umweltwissenschaften.

Die Aufklärung ist nicht Zustand, sondern Suche, an ihrem Anfang steht der Zweifel. Die liberale Demokratie, Kind der Aufklärung, muss denn auch deshalb jeder Übermacht wehren, weil Machtmenschen – seien sie nationalistische Anführer, seien sie transnationale Wirtschaftsführer – in der Regel zu wenig zweifeln. Demgegenüber sollte die liberale eine lernende Demokratie sein: sich infrage stellen, selbstkritisch ihre Schwächen sehen und ausbessern, sich fortentwickeln, bei Bedarf neue Felder der Politik demokratisieren, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Nur so lässt sich das demokratische Prinzip durch alle Umbrüche von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik behaupten.

Offenkundig aber überwiegt die Macht der Gewohnheit: Seit Langem unterlassen es die Demokraten, die Institutionen und Verfahren der liberalen Demokratie zu modernisieren. Wiewohl sie rivalisieren, sind der neoliberale und der diktatorische Kapitalismus made in China fortan unzertrennlich. Das bleibt nicht ohne Folgen: Der Welt der Konzerne wird die demokratische Logik noch fremder. Im Bann der Megamacht von Global Players, die wenig Selbstzweifel hegen und die Politik als ihre Dienstleisterin betrachten, erwuchs aus der liberalen die neoliberale Demokratie. Bis zur Corona-Krise galt nämlich: Ökonomie lenkt Demokratie. Verkehrte Welt, wenn die Wirtschaft den Staat reguliert. So war's ganz und gar nicht vorgesehen.

Aber die Demokratie hatte sich angedient, statt sich zu erneuern. Sie war stehen geblieben. Das war ein Geschenk an die Illiberalen: Kaltblütig nutzten sie die Schwäche der nicht mehr ganz so liberalen Demokratie. Doch trotz ihrer offenkundigen Überforderung und Handlungsschwäche blieb die Debatte über unerlässliche Demokratiereformen aus. Nur Wirtschaftsreformen standen zur Diskussion.

Wirtschaftshörig – und leicht fatalistisch – hatte die neoliberale Demokratie dem Kapitalismus freie Hand gelassen, worauf dieser immer wieder außer Rand und Band geriet: In den Worten des Wirtschaftsethikers Peter Ulrich fehlte sowohl der »Rand«, der Sinn für die Grenzen von Marktmacht und Gewinnmaximierung, als auch das »Band« zur Bürgergesellschaft: das elementare Gefühl dieser globalen Spieler für ihre Verantwortung gegenüber der Demokratie.8

Freilich darf die Tugendkritik an maßlosen Wirtschaftsführern (abgesehen davon, dass der Mittelstand maßvoll blieb) nicht von der relevanteren und konstruktiveren Systemkritik ablenken: Nur eine renovierte, erstarkte Demokratie kann den Primat der Politik durchsetzen. Doch einer Diskussion über Umbauten des politischen Systems sind die planlosen konservativen, liberalen und linken Parteien lang ausgewichen, obwohl es um ihre Existenz geht. Die meisten Politikerinnen und Politiker wollten es nicht wahrhaben: Ultrakapitalismus schwächt die liberale Demokratie. Die Mutter aller Deregulierungen, die Freiheit des Kapitalverkehrs, war ein kolossaler Machtgewinn für die Wirtschaft, ein gewaltiger Machtverlust für die nationalen Demokratien und die wenig ausgereifte europäische Demokratie. Seitdem zieht das Kapital einfach woandershin, wenn Parlament und Regierung nicht spuren.

Die liberale Demokratie ist oft dermaßen erpressbar, dass sie das vollends internalisiert und sie den Stolz verliert. Dann frönt sie in vorauseilendem Gehorsam dem Standort- und Steuerwettbewerb, also dem liebedienerischen Buhlen um die Gunst der Unternehmen. Wie viel kleiner sind da der Gefühlsraum und der finanzielle Spielraum, um all jene Menschen einzubinden, die der global-digitale Ultrakapitalismus aufs Abstellgleis geschoben hat. Oder die gekränkt sehen, dass ihre Kenntnisse nach und nach irrelevant werden, ihre analoge Arbeit zweitrangig, ihre Region noch peripherer wird. Und sollten sie infolge der Corona-Krise gänzlich deklassiert werden, dann nagt erst recht wieder das Ressentiment, von der Demokratie ausrangiert zu werden, zumal wenn die Hilfe und Aufmerksamkeit der Politik nachlassen. Wer sich als Restposten vorkommt, sucht Anerkennung bei Reaktionären, die Identität stiften. Dabei bestärken neurechte Gruppen den »entwerteten Mann« (Walter Hollstein) darin, ein Macho zu bleiben.9 Und sie spenden das Gemeinschafts- und Wohlgefühl, ein Macho unter Machos zu sein. Reaktionäre Parteien haben mehr Wähler als Wählerinnen – und mehr Dörfler als Städter.

AfD & Co. lenken den soziokulturellen und wirtschaftlichen Unmut geflissentlich auf die demokratischen Politikerinnen und Politiker: nie auf das Wirtschaftssystem, das die drastische Ungleichheit erzeugt. Neurechte stützen den Ultrakapitalismus, der viel Geld von unten nach oben umverteilt, indem sie die Bürger »drinnen« gegen die Migranten »draußen« aufbringen. Donald Trump buhlte um die »kleinen Leute« und wetterte gegen die Elite und das Establishment – aber vier Fünftel der Steuersenkungen zu Beginn seiner Amtszeit gingen an die Reichen.

Alle Reaktionäre locken und verprellen die Verlierer. Werden diese Hintergangenen nach und nach zu einer erneuerten liberalen Demokratie zurückfinden? Diese muss willens sein und befähigt werden, ihre Aufgabe zu erfüllen: der Wirtschaft vernünftige, faire Rahmenbedingungen zu setzen.

Trotzdem ist keine breite Diskussion über unerlässliche Reformen der liberalen Demokratie aufgekommen. Sporadisch werden Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der direkten Demokratie erörtert. Gut so. Aber auch in der direktdemokratischen Schweiz ist das Kernproblem ungelöst: das Machtgefälle zwischen Ökonomie und Demokratie.

Der erste Teil dieses Buchs erörtert die Gründe für den gleichzeitigen Aufmarsch des Ultrakapitalismus und der Neuen Rechten. Gefährlicher als die Lautstärke der Reaktionäre ist die Schwäche von Konservativen, Liberalen und Linken, nicht immer standfest und ganz ohne Vorstellung einer zukunftstauglichen Demokratie. Viele machen sich bereitwillig die reaktionäre Kritik am Aufgeklärten zu eigen.

Der zweite Teil schildert Grundmuster, Methoden und Vorgehen der Reaktionäre. In der Pandemie wussten sie weder ein noch aus, aber in ihrem Kulturkampf (wider die liberale Demokratie) und ihrem Kampf der Kulturen (wider den Islam und die Migranten) lassen sie nicht locker. Und der Klamauk der Populisten überspielt ihre Unfähigkeit: Die Neue Rechte der Neinsager ist eine Neue Rechte der Versager, sobald sie regiert und zur Sachpolitik gezwungen ist, zumal in Krisenzeiten. Auch verkämpft sie sich gegen unaufhaltsame gesellschaftliche Entwicklungen: Zum Beispiel und zum Glück verliert sie alle ihre Rückzugsgefechte gegen die Parität der Geschlechter. Und die Wahlerfolge der Reaktionäre bleiben in halb Europa unter ihren Erwartungen.

Der dritte Teil zeigt die Kraft der Demokratie auf, und der vierte Teil umreißt die Arbeit an ihrer Modernisierung. Diktatoren sorgen sich Tag und Nacht um ihr Überleben. Was tun die Demokraten? Warum entwickeln sie kaum Strategien, um das Bestehen und Gedeihen der Demokratie zu sichern? In vielen Ländern bleibt sie resilient. Sie weist die Reaktionäre in die Schranken, oft laufen sie auf. Jedoch reicht das nicht. Die Aufgabe liegt darin, die Demokratie zukunfts- und aktionsfähig zu machen, sie zu modernisieren, Zutrauen zu wecken – damit die Demokratie ihre volle Kraft entfaltet. Nur so werden aufgeklärte Kräfte die Zukunftsdebatte und die politische Agenda prägen. Der zuversichtliche fünfte Teil zeigt auf, warum das jetzt sehr wohl gelingen kann.

Grüne, Sozialliberale und Linke, gemeinsam mit vielen Liberal-Konservativen und der aufstrebenden Generation Greta: Diese Demokraten brauchen mehr denn je, was sie verbindet und ausmacht, nämlich Perspektiven des Fortschritts. Wer handelt, ist optimistisch. Sonst würde er nicht handeln.

Wer aber wird handeln und die liberale Demokratie erneuern? Weder die Autoritären, die diese Demokratie als elitär schmähen, noch das Establishment, das weiterhin sehr bequem lebt in der unbequemer werdenden Gegenwart. Und schon gar nicht der Big-Business-Big-Data-Verbund, der fischblütig mit jedem politischen System dealt. Wer sonst? Die Bürgergesellschaft.

Wir sind die, auf die wir warten.

I.

 Im Bann der Reaktionäre, im Sog der Machtwirtschaft

Im Dezember 2018 sprach Greta Thunberg auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen im polnischen Katowice. Die damals fünfzehnjährige Initiatorin der Umweltbewegung Fridays for Future wandte sich an die Politiker: »2078 werde ich meinen 75. Geburtstag feiern. Falls ich Kinder habe, werden sie vielleicht den Tag mit mir verbringen. Vielleicht werden sie mich nach Ihnen fragen. Vielleicht werden sie fragen, warum Sie nichts unternommen haben, obwohl noch Zeit dazu war. Sie sagen, dass Sie Ihre Kinder mehr als alles andere lieben, aber gleichzeitig stehlen Sie ihnen ihre Zukunft.«1

Das ist die eine Welt.

Alexander Gauland lebt in einer anderen: »Ich glaube nicht, dass man irgendetwas sinnvoll bewirken kann mit einer Klimapolitik«, und noch weniger, dass Fridays for Future »etwas Sinnvolles beitragen kann«. Überhaupt, was soll die »entartete Angstmache« der Grünen? Der Ehren- und Fraktionsvorsitzende der Alternative für Deutschland wischt in seinen Reden und Interviews die Ökologie vom Tisch, denn: »Entschuldigung, ökologisch hat nichts mit der nationalen Identität zu tun«.2

In der reaktionären Welt fehlt die Umwelt. Keine neurechte Partei befasst sich ernsthaft mit Umweltpolitik. Weil es gestern keine gab, ist heute keine nötig. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro ist ein Kaputtmacher des Amazonas. Für ihn zählt nur die Ökonomie – weg mit der Ökologie, sie ist »Marxismus«.

Europäische Reaktionäre üben da mehr Vorsicht, weil auch ein Teil ihrer Wählerschaft ergrünt. Opportunistisch hat Marine Le Pen das Programm ihres Rassemblement National mit einer Prise »National-Ökologie« abgeschmeckt. Ökominimalismus ist aber auch bei ihr angesagt. Die FPÖ widmet dem Umweltschutz nur drei Zeilen ihres aktuellen Parteiprogramms.3 In einem 43 Seiten starken Positionspapier zerzauste die SVP jede erdenkliche Maßnahme des Umwelt- oder Klimaschutzes – und machte selbst keinen Vorschlag.4 Alexander Gauland beteuert: »Die Grünen sind für uns der Hauptgegner. Sie sind die Partei, die am weitesten von uns entfernt ist. Die Grünen werden dieses Land zerstören, wenn sie ans Regieren kommen.«5

»Blut und Boden«, das Blut soll rein bleiben, aber der Boden darf verseucht werden. Ökologie ist das Nichtthema der Reaktionäre. Die Klimafrage löst sich deshalb nicht in Luft auf, also machen sie das Nichtthema zum Antithema. Mit der Geldhilfe umweltschädlicher Konzerne finanzieren sie lauter Denkfabriken, Institute, Vereine, Komitees, Tagungen und Berichte, die sich dem einzigen Thema widmen: Das Thema ist keines, jedenfalls kein großes, auch wenn der Amazonas brennt. Einst drohte dem Gelehrten Galileo Galilei das kirchliche Anathema, der Bannfluch damaliger Reaktionäre – er war nämlich so frech zu behaupten, die Erde kreise um die Sonne. Das rechte Weltbild verkürzt sich heute auf die Migranten, den Islam, die Nation. Der Raubbau an den Lebensgrundlagen? Hysterie. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse? Fragwürdig. Lösungen? Unnötig. Fridays for Future? Eine klimareligiöse Erweckungsbewegung. Die Neue Rechte negiert Probleme, für die sie kein Patentrezept hat. Das Verneinen von Komplexität ist ein Grundmuster der Reaktionäre. Ihr autoritäres »Man muss nur hart durchgreifen« zerschellt an der Umweltfrage, also stellt sich diese nicht, nicht wirklich, schon gar nicht dringlich.

Das Autoritäre war nie weg und ist zurück

Bis zur Erfindung der liberalen Demokratie war das Autoritäre eine Konstante der Weltgeschichte – bei den meisten Urvölkern und erst recht in Hochkulturen. Die demokratischen Ansätze in griechischen Stadtstaaten und in der Römischen Republik waren Ausnahmen von der Regel, dass die Welt Alleinherrscher brauchte. Die Demokratie hat diese archaische Kraft nicht überwunden, bloß gedrosselt und eingedämmt. Doch jetzt werden die Deiche gegen den Autoritarismus allenthalben unterspült. In Ungarn brechen sie, in Polen sind sie aufgeweicht, in Großbritannien wurden sie strapaziert, in den USA und Italien sind sie derzeit in Reparatur. In Österreich sickert das Autoritäre ein, in der Schweiz schlägt es hohe Wellen, aber die direkte Demokratie hat hohe Staumauern errichtet. In der Bundesrepublik wie in manch anderen Demokratien halten die Dämme bislang ganz gut – Russland und die Türkei haben sie längst eingerissen. Wie robust oder verwundbar die Demokratie auch immer ist, das Autoritäre will sich Bahn brechen.

In den Augen der Neurechten ist diese liberale Demokratie ohnehin eine bloße Episode. Das Archaische, das in die Tiefen der Vorzeit reicht, halten sie für robuster als den Firnis der Zivilisation. Der Westdeutsche Björn Höcke ist Co-Vorsitzender der Thüringer AfD und Mitgründer der Parteiströmung »Der Flügel«, die sich auflöste, als der Verfassungsschutz sie als rechtsextremistisch einstufte. Er verherrlicht altgermanisch die stammesähnliche »Volksgemeinschaft«, in die sich die Deutschen zu fügen hätten und aus der alles Fremde »abzuschieben« sei. Stämme haben Stammesführer, Nationen Anführer, und die Grausamkeit war ihnen seit je ein bewährtes Machtmittel.

So prägt Archaisches auch das 21. Jahrhundert. Wehe den Wehrlosen, wenn Reaktionäre den tribalen Siegerkult betreiben – so wenn Donald Trump (wie der Historiker Timothy Snyder sagte) »den Stammesschrei Build that Wall!« ausstieß: Baut diese Mexiko-Mauer, um unser Territorium zu markieren.6 Rupert Murdoch und seine Propaganda-Meute bei Fox News befallen die liberale Demokratie von Westen her, während aus Osten russische Internettrolle ausreiten. Wladimir Putin müht sich, mit grimmigem Antlitz den Zaren zu mimen, dem die Macht ein patrimoniales Eigentum ist. Auch vor der sakralen Unfehlbarkeit des Sultans Recep Tayyip Erdoğan hat die Demokratie das Knie zu beugen. Lega-Imperator Matteo Salvini kannte kein Erbarmen mit Mittelmeerflüchtlingen, als zeitweiliger Innenminister wandte er lieber sein altertümliches Recht des Stärkeren an.

Manchmal ist es auch nur Verstaubtes, das aufscheint. An den beiden Enden der k.-u.-k.-Achse Wien–Budapest neigt man zum Monarchischen. Die größte Postille in der westlichen Reichshälfte nennt sich Kronen Zeitung. Lang umschmeichelte diese Kurtisane die ganz und gar nicht Freiheitliche Partei Österreichs, von der sie in Ibiza aber dreist betrogen wurde. So wechselte die blessierte Hofdame schnurstracks zu dem plötzlich innig geliebten jungen Landesherrn Sebastian der Wendige. In der ungarischen Reichshälfte wiederum kennt der Wille zur Macht des Potentaten Viktor der Grobe keine Grenzen. Orbán nennt sein Gottesgnadentum »christliche Demokratie« – er unterzeichnete die neue Verfassung an einem Ostermontag, die »Osterverfassung«.

Ein nationales »Glaubensbekenntnis« leitet nun diese Verfassung ein. Sie schwächt das Verfassungsgericht und sorgt für regierungstreue Richter. Das Wahlrecht privilegiert Orbáns Fidesz-Partei. Die Medien, die Universitäten, die Forschung, die Museen und Theater sind unter Kontrolle. Die unbequemen Geisteswissenschaften ernten nur Hohn. Seit je misstraut das »christliche Abendland« dem subversiven Gedanken der Freiheit, den die Epoche der Aufklärung in die Welt und in viele Köpfe pflanzte. Freiheit des Individuums, der Bürgerin, des Bürgers, der Wissenschaft, der Kunst und Kultur, des Worts, der Meinung und der Presse ist »nicht zentral«, wie Orbán in seiner Grundsatzrede vom 26. Juli 2014 festhielt.7

Der Ungar demontiert die Demokratie, er demoliert den Rechtsstaat. Trotzdem waren konservative Politiker in Deutschland und Österreich, Spanien oder Frankreich lange »nicht bereit, Orbán als Demokraten infrage zu stellen«, so CSU-Veteran Horst Seehofer.8 Das war nichts Neues. In der Geschichte fiel es den Demokraten häufig schwer, sich von Antidemokraten abzugrenzen. Konservative und Liberale haben sich in stürmischen Zeiten leichthin der »Ruhe und Ordnung« von Diktatoren ergeben, am schlimmsten als sie mit dem Ermächtigungsgesetz Hitler freie Hand gaben. Oder sie schufen selbst eine Diktatur wie 1933 der österreichische Christlichsoziale Engelbert Dollfuß. Im selben Jahr ging die an sich erzdemokratische Schweizer FDP eine kurzzeitige Wahlallianz mit der halb faschistischen, halb nationalsozialistischen Frontenbewegung ein. Bürgerliche Politiker demonstrierten in Zürich Seit' an Seit' mit Schlägertrupps, die Neue Zürcher Zeitung lobte diesen »Weiheakt der vaterländischen Aktion«.9

Autoritäre Anwandlungen hatten schon viele Demokraten. Die Bundeskanzler Konrad Adenauer und Willy Brandt ließen unbescholtene Marxisten mit Berufsverbot belegen. In der Nachkriegszeit waren die westdeutsche FDP und erst recht die FPÖ durchaus auch Sammelbecken von Alt-Nazis. Die grüne Bewegung hatte einzelne bräunliche Urheber, heute flirtet eine Handvoll Naturschützer mit einer Ökodiktatur. Und selbstverständlich hat jede Denkschule einen anderen Begriff des Autoritären. Für den Meisterdenker der 1968er-Studentenbewegung, den Philosophen Herbert Marcuse, übte die liberale Demokratie »repressive Toleranz« aus, weil sie die Macht der Mächtigen mehre.10 Für reaktionäre Polterer ist das Parlament schon dann »diktatorisch«, wenn es zum Segen der Umwelt – oder auch bloß der Nichtraucher – Gebote und Verbote erlässt.

Wenn die Gegenwart Vergangenheit ist: Konservative in der Sinnkrise

Die Kirche nennt ihre im Erwachsenenalter getauften Schäfchen Neophyten. Oft sind diese neuen Gläubigen Eiferer: intolerant wie die Neokonservativen, die jetzt weltweit auftrumpfen, und streng dogmatisch wie die Neoliberalen, die nach wie vor den Ton angeben. Das Präfix »neo« ist hier zum Fingerzeig geworden, dass eine demokratische in eine sehr direktive bis autoritäre Grundhaltung umschlagen kann. Archaisches lässt sich sehr wohl in moderne Formen gießen.

Die politische Familie der Liberalen ist ein buntes Allerlei: Sozialliberale wollen soziale Not lindern, weil sie Unfreiheit bedeutet; Wirtschaftsliberale fordern jederzeit noch mehr Freiheit vom Staat; Liberalkonservative hängen an der bürgerlichen Freiheit. Die stets uneinigen Liberalen debattieren und streiten – während für neoliberale Doktrinäre der Markt das letzte Wort hat, fast unfehlbar wie der Papst. »Die Partei, die Partei, die hat immer recht!«, schmetterte das kommunistische Lied, und so militant wie die Parteihörigkeit ist die Marktergebenheit. Gläubige Neoliberale verkörpern das Gegenteil liberaler Bourgeoisie; über Letztere schrieb ihr feinsinniger Philosoph Odo Marquard, die liberale Bürgerwelt bevorzuge »das Mittlere gegenüber dem Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber der großen Infragestellung […], die Ironie gegenüber dem Radikalismus«, vermerkte er liebevoll.11

Und die Konservativen? Nie hatten sie »ein so geschlossenes Gedankengebäude wie die Konzepte der beiden großen historischen Gegenspieler Sozialismus und Liberalismus«, schreibt der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Sein Buch Worauf wir uns verlassen wollen plädiert »für eine neue Idee des Konservativen«.12 Kretschmann sucht nach einem zeitgemäßen Begriff des Konservativismus, den er »als ein höchst wandelbares Kind des Wandels« sieht. Die jetzige Aufgabe sei weniger »erhalten, was ist«, als vielmehr »erhalten, was uns erhält«: ein menschenfreundliches Klima; natürliche Ressourcen, die sich regenerieren; die Luft zum Atmen; biologische Vielfalt. Der grüne Konservativismus eröffnet der – allerdings kleinen und bedrohten – Gattung der optimistischen Bewahrer neue Aussichten.

Die Frage ist nur, ob ein solcher Konservativismus die buchstäblichen, sehr traditionellen Konservativen anspricht, die jetzt oft ins Neokonservative gleiten und ins Reaktionäre kippen. Sie fühlen sich als Zurückgelassene des digital-globalen Umbruchs, und peu à peu dann auch als entbehrliche Bürgerinnen und Bürger. Das geht weit über den episodischen Protest von Wutbürgern hinaus. Quer durch die Mittelschicht rufen Neokonservative nach der »Konservativen Revolution«. Einst war das der Schlachtruf der Diktaturfreunde in der Weimarer Republik. Jetzt widerhallt er in der ganzen westlichen Welt. Autoritäre sprechen damit jenen Teil der Konservativen an, der zutiefst erschrocken ist.

Es ist schlicht eine Überforderung, in der Großen Transformation konservativ zu sein. Wenig lässt sich konservieren, und wenn, dann sind es eher liebgewordene Gegenstände als althergebrachte Verhältnisse und Werte. Gleichsam kompensatorisch geben sich manche Zeitgenossen der Leidenschaft hin, alte Häuser minutiös zu renovieren, Oldtimer in Schwung zu halten, Dirndl und Janker, Loden und Lederhose zu tragen. Doch im Umschwung sämtlicher Lebensbereiche steigt die Wahrscheinlichkeit, dass überrollte Konservative gar nicht wertkonservativ bleiben können, sondern der ewigen reaktionären Versuchung erliegen.

Das sehr ideologische Zauberwort »Disruption« impliziert, dass plötzlich alles Neue legitim ist und dass sich das Vorhandene rechtfertigen muss. Dies widerspricht der Weltanschauung der Konservativen und ihres Philosophen Hermann Lübbe, der zunächst »von der Vernünftigkeit des Bestehenden« ausgeht und umgekehrt vom Neuen verlangt, sich nach und nach zu beweisen. Doch woran Struktur- und Wertkonservative festhalten möchten, verschwindet ohne Aufschub. Es fehlen die Muße und der Raum für eine fontanesche konservative Gelassenheit. Und die Verlustangst schmerzt manchmal noch mehr als der Verlustschmerz.

Daraus erwachsen »Querdenker« und Wutbürger? Genau besehen, sind viele eher mürrisch denn wütend, mehr sauer als aufgebracht. Der Zürcher Philosoph Georg Kohler wittert nicht nur der Pandemie wegen kollektives Missvergnügen: »Was künftig gilt, ist so unvorhersehbar wie die Ergebnisse der nächsten Disruption. Demgegenüber lehrt die wiederholte Erfahrung der vergangenen siebzig Jahre eben doch, dass die ganz großen Krisen ausgeblieben sind. Die Welt des Westens ist unübersichtlich, aber bürgerkriegsfern und einigermaßen sozialstaatsstabilisiert. Zum Gegebenen-im-Fluss, so scheint es, existiert kein glaubwürdiger Gegenentwurf«, schrieb Kohler 2018 in dem Essay »Warum es heute so schwierig ist, konservativ zu sein«.13 Gut versicherte, aber stark verunsicherte Bürgerinnen und Bürger befällt »das Gefühl einer eigentümlich stumpfen, zugleich vielstimmigen Alternativlosigkeit. Eine Gemengelage von Groll und Gleichgültigkeit, Nervosität und manchmal hysterischer Zuversicht, von Betriebsamkeit und Pessimismus, die den verbindlichen Basiskonsens der freiheitlich-demokratischen Staatenwelt nicht einfach aufbricht, aber ständig erzittern lässt«. Ist es jene »merkwürdige Verstocktheit«, die Siegfried Kracauer in der Weimarer Republik ausmachte?

Vielleicht darf der Konservative nur in ruhigen Perioden konservativ sein. Nach revolutionären und kriegerischen Jahrzehnten seufzte 1825 in einem Brief der alte Goethe über das »Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt«.14 In schnellen Epochen, wenn die Gegenwart schon Vergangenheit ist, lockt die Rückschrittlichkeit. Darin liegen die Sinnkrise der Konservativen und der tiefere Grund, warum gutbürgerliche Parteien in halb Europa vom Kurs abgekommen sind. Sie driften ins neurechte Fahrwasser, ziemlich orientierungs- und bald auch seelenlos. Panisch versuchen sie, dem reaktionär gesinnten Teil ihrer Wählerinnen und Wähler zu gefallen:

Unter dem Demagogen Boris Johnson sind die britischen Konservativen noch weiter nach rechts gerückt.

In Frankreich trieben die liberalkonservativen Républicains so sehr Richtung Rassemblement National, dass der Unterschied minim wurde und die Partei in der Bedeutungslosigkeit versank.

Mühelos verbündete und verbrüderte sich die spanische Christdemokratie – die nach wie vor viele Nostalgiker der Franco-Diktatur in ihren Reihen hat – mit ihrer rechtsradikalen Abspaltung, der Vox-Partei.

In der Eidgenossenschaft paktiert die traditionsreiche Establishment-Partei FDP mit der reaktionären Schweizerischen Volkspartei, sobald es um tiefere Steuern geht. Und es geht immer um tiefere Steuern.

In Wien bildeten die Christdemokraten und die »Autoritärfreiheitlichen« ein seltsames Paar, sie übten sich in rivalisierender Konvergenz. 2019 musste der neokonservative Bundeskanzler Kurz mit seinen FPÖ-Partnern brechen und mit den Grünen koalieren: Nach der »Ibiza-Affäre« half kein anderes Mittel mehr.

In seinen beiden Wahlkämpfen als Kanzlerkandidat verfolgte Kurz die Strategie, die Reaktionäre eins zu eins zu kopieren. Seine Berater hatten dies in ihrem Papier »Strategische Grundanlage und Positionierung« vom 21. Juli 2016 empfohlen, das dem unerschrockenen Publizisten Robert Misik und der Wiener Wochenzeitung Falter zugespielt wurde.15 Das Dokument analysierte die »Grundstimmung« in Austria: Unsicherheit, Abstiegsangst, Unmut über Flüchtlinge, »System-Verdrossenheit«, Ärger über »die da oben«. Das Fazit der Berater von Kurz: »Einzige Möglichkeit in dieser Situation politisch erfolgreich zu sein, ist eine Position einzunehmen, die diese Stimmung bedient; ›Anders sein – Anti-Establishment‹ […] – ›gegen das System‹«. Wandel durch Annäherung! Diese Empfehlung befolgte Sebastian Kurz, der seither die Themen der FPÖ bewirtschaftet und in der österreichischen Seele verankert – bis hin zur vielsagenden Absurdität, dass Kurz und der FPÖ-Hardliner Herbert Kickl im Wahlkampf 2019 zwischendurch auf denselben Werbespruch kamen: »Einer, der unsere Sprache spricht.«16 Das Kurz-System verkörpert das etablierte System, das systematisch so tut, als bekämpfe es das System. Die neuen Dialektiker sind rechts.

Der »bürgerliche« Schulterschluss

Den Schulterschluss zwischen Konservativen und Reaktionären nennt man »bürgerlich«: Das ist die Tünche, um die Fassade schönzufärben. »Bürgerlich« vom Scheitel bis zur Sohle, verfolgt der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland den Kurs, »die CDU innerlich so zu verändern, dass wir langfristig mit ihr Verantwortung übernehmen können«. Das betreibt seine Partei »durch Einwirken auf die Basis«: auf die Wählerinnen und Wähler der Union. Und »mitten in die CDU hinein«, indem ihre Politiker weichgeklopft werden. Es wirkt. Einige ostdeutsche Christdemokraten sind bereits wachsweich, sie suchten ihr Heil oder Unheil in »ergebnisoffenen Gesprächen« mit der AfD – was die CDU-Spitze bislang verbietet.17

Ein Verhältnis der gleichzeitigen Kooperation und Konkurrenz nennt man auf Neu- und Wirtschaftsenglisch coopetition. Die Reaktionäre gehen aus »Koopetitionen« mit Konservativen und Liberalen meistens als Gewinner hervor. »Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei«, frontal hatte das der Extremist und Brandenburger AfD-Vorsitzende Andreas Kalbitz angekündigt, der später aus der Partei ausgeschlossen wurde, aber einflussreich bleibt.18 Politiker der Mitte übernehmen gern die Legende, die ein Teil der Medien fast unbesehen verbreitet: Das Emporkommen der Neurechten sei darauf zurückzuführen, dass etablierte Parteien die Zuwanderung ignoriert, wenn nicht bagatellisiert hätten. Über die Jahre und Jahrzehnte hat sich aber gezeigt: Am besten gedeihen die reaktionären Kräfte in den Ländern, in denen sich bürgerliche Parteien – ohne Verzug, ohne Bedenken – in die Umlaufbahn der Fremdenfeinde begeben haben, am deutlichsten in der Schweiz, in Österreich und Italien. Die Nachahmer verliehen dem neurechten Original noch mehr Relief, die Kopisten halfen den Extremisten; die Vorurteile gegen Migranten und Muslime wurden schicklich.

»Keine Toleranz für die Intoleranten!« Gilt dieser Appell an die Wehrhaftigkeit mehr den islamistischen als den reaktionären Fundamentalisten? Immerzu wabert der Gedanke, sie »einzubinden«, um sie zu bändigen. Das erweist sich jedes Mal als Illusion, denn für Neurechte bleibt der Gegner selbst als Partner ein Feind. Wo neurechte Parteien an der Regierung beteiligt wurden, hat dieser Erfolg sie mehr enthemmt als entzaubert. Diese Machtbesessenen verstehen es als untrügliches Zeichen der Schwäche, wenn eine »Altpartei« mit ihnen koalieren muss oder sich auf sie einlässt. In den USA waren die Republikaner die Partei der Konservativen von altem Schrot und Korn: die Grand Old Party. Erst reichte sie den Rassisten aus den südlichen Bundesstaaten den kleinen Finger, bald nahmen die Neokonservativen die ganze Hand, die Tea-Party-Bewegung den Arm, und fortan waren die Gemäßigten einarmig. Am Schluss blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich Donald Trump zu ergeben, selbst über seine Abwahl hinaus.

Im Spiegel forderte der frühere Bundespräsident Joachim Gauck von der CDU eine »erweiterte Toleranz in Richtung rechts«.19 Vor dem »Zerbröckeln der Demokratie«, wenn sie sich auf die Autoritären einlässt, warnen dagegen die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch Wie Demokratien sterben.20 Unentschieden bis zerrissen ist in Deutschland das konservative Lager. Viele flüchten sich in den Gemeinplatz, man müsse auf die AfD-Wähler zugehen, nicht aber auf die AfD-Politiker. Doch wohin führt letztlich dieses »Zugehen« auf eine hemmungslose Basis? Sie wählte erst Rechtspopulisten, dann Rechtsradikale, Rechtsextremisten und Quasi-Nazis. Jeder konservative Volksversteher spielt den Volksverführern zu, wenn er sich nach den Verführten richtet. Und wo genau beginnt die schleichende Korruption von CDU-Exponenten, die »ganz pragmatisch gesprächsbereit« sind gegenüber den »vielen Vernünftigen« in der ostdeutschen AfD? Nicht nur in der Bundesrepublik, in ganz Europa gibt es plötzlich die neue Spezies der besonnenen Reaktionäre, »die in ihrer Partei Schlimmeres verhindern«. Es verhält sich genau umgekehrt: Diese »maßvollen« Rechtspopulisten verbünden sich mit maßlosen Rechtsextremisten, und gerade der Mix erhöht die Wahlchancen reaktionärer Parteien. Solche Rollenteilung, um in aller Breite zu mobilisieren, bremst nicht etwa den Radikalismus, sondern stärkt ihn – erst recht, wenn demokratische Parteien darauf hereinfallen, was sie in zynischer Naivität immer wieder tun.

»Es gilt zu erkennen, dass die Populisten eher für eine laute Minderheit als für die schweigende Mehrheit sprechen. Erst der Opportunismus des Mainstreams von Mitte-rechts verhilft ihnen zu wahrem Einfluss, ob nun durch offizielle Koalitionen oder stillschweigendes Kopieren, was beides die politische Kultur dauerhaft verändert«, so das Fazit einer Berliner Rede von Jan-Werner Müller, dem Autor des dichten kleinen Buchs Was ist Populismus?.21

»Weniger Demokratie bringt mehr Freiheit«

Wer im Gemeinwesen die verschiedensten Interessen friedlich (will heißen bei allgemeiner mittlerer Unzufriedenheit) austarieren möchte, der hat nur die eine Versuchsanordnung: die liberale Demokratie. Sie muss laufend weiterentwickelt und jetzt renoviert werden, um auch weiterhin zweckdienlich zu sein. Aber der Grundgedanke bleibt: Ihre sämtlichen Einrichtungen dienen dem Zweck, unnötige schwere Konflikte in der Gesellschaft zu vermeiden oder zu vermindern. Das ist das große Potenzial der liberalen Demokratie.

Nicht nur in Krisen, jederzeit ruft jede politische Ordnung Frust hervor. Aber der ist alles in allem kleiner, wenn an die Stelle der Menschenverachtung die Menschenwürde tritt, wenn Minderheiten einbezogen statt ausgegrenzt werden und ein Rechtsstaat vor Willkür schützt. Darf die Staatsmacht weder die Meinungen noch die Medien zensieren, steigt auf jeden Fall die Wahrscheinlichkeit, dass grobe Missstände behoben werden, wiewohl in der Regel zu langsam. Müssen Forscherinnen, Künstler und Intellektuelle keine staatlichen Übergriffe fürchten, dann haben wissenschaftliche Einsichten, kulturelle Einblicke und vernunftgeleitete Debatten eine etwas höhere Chance, sich der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Bei allem Verdienst und Versagen, Wertvollem und Wildwuchs, Glanz und Elend der Aufklärung – das ist ihr politisches Erbe, glasklar definiert, aktuell wie eh und je.

Wer dieses friedensstiftende Erbe ausschlägt, also die Konflikte in der Gesellschaft zuspitzt, der muss früher oder später repressiv werden. Die Franzosen sprechen von den jusqu'au-boutistes: jenen Radikalinskis, die »bis ans Ende gehen« – und das Ende ist bitter. Diese Menschen brauchen, lieben und wollen den Konflikt. Kompromisse dulden sie nicht, sie sehen nur »faule Kompromisse«. Und derlei Autoritäre wirken stets »in Volkes Namen«, »im Auftrag der Nation«, im abendländischen »Überlebenskampf« – derzeit auch im langen Schatten des Überwachungsstaats mit seinem Zwilling, dem Überwachungskapitalismus. Dabei geben sie sich als gute Demokraten aus, ihr Feindbild ist ja »bloß« die liberale Demokratie: die einzige, die Vorkehrungen gegen das Autoritäre trifft und den Opfern staatlicher Willkür die Möglichkeit eröffnet, sich zu wehren.

Reaktionäre lassen das nicht gelten. Bewusst stiften sie Verwirrung, stellen sie die Dinge auf den Kopf. »Je weniger liberal die Demokratie, desto demokratischer ist sie«, sagt in Paris der weltweit einflussreiche Intellektuelle der Nouvelle Droite, Alain de Benoist, ein Bewunderer von Viktor Orbán.22 Auf den ungarischen Regierungschef solle man hören, empfiehlt de Benoist, denn nur die illiberale Demokratie nehme das Volk ernst: »Sobald es begreift, dass die vorgeblichen Volksvertreter gar nichts mehr vertreten und dass derlei Repräsentation einer Entwendung der Volkssouveränität durch das souveräne Parlament gleichkommt, dann versucht das Volk, selbst über die eigenen Belange zu entscheiden. Und da schlägt die Stunde der illiberalen Demokratie«, freut sich de Benoist. Seine Essays erscheinen auch in den USA, sie finden Anklang bei amerikanischen Libertären wie dem Paypal-Mitgründer Peter Thiel.

Als Donald Trump Anfang 2017 das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten antrat, sprach er zur überschaubaren Menge vor dem Kapitol: »Heute übergeben wir die Macht nicht bloß von einer Regierung an die nächste, oder von einer Partei an die andere. – Nein, wir verlagern die Macht weg von Washington, D. ‌C. und geben sie zurück an euch, das amerikanische Volk. […] Der 20. Januar 2017 wird in Erinnerung bleiben als der Tag, an dem das Volk wieder zum Gebieter über diese Nation wurde.«23

Trump war das Volk: Es war eine Kampfansage an die fünf Instanzen, die seine Macht einschränkten – Parlament, Justiz, Zentralbank, Medien und internationale Organisationen. Donald Trump arbeitete an einer illiberalen Demokratie. Mit Notrecht umging er den Kongress. Er verleumdete Richter und Staatsanwälte. Laufend versuchte er, hohe Beamte und Belastungszeugen einzuschüchtern. Er belehrte und bedrängte die unabhängige Notenbank Federal Reserve. Er wertete Qualitätsmedien als »Fake News« ab. Er zermürbte internationale Instanzen wie die Welthandelsorganisation (WTO). Und berief sich auf das amerikanische Volk: auf sich selbst.

Einer steht für das Volk, alle anderen arbeiten gegen das Volk, lautete vom ersten Tag an die Botschaft des Propaganda-Präsidenten: Volksvertreter schaden dem Volkswohl, Richter sind volksfern, kritische Medien Volksfeinde. Das war autoritäre Agitation an der Staatsspitze. Trump suggerierte den Bürgerinnen und Bürgern, der starke Mann verleihe ihnen endlich eine Stimme. Anders gesagt, die illiberale Demokratie gebe den kleinen Leuten die Freiheit zurück, die ihnen die liberale Demokratie gestohlen habe. In dieser Logik ist Illiberalität nicht repressiv, sie erlöst: Weniger Demokratie bedeutet mehr Freiheit. Und der Abbau der Bürgerrechte stärkt die Bürger. Das ist der typische reaktionäre Umkehrkniff (siehe dazu Teil II). Der Trick verfängt. Demokratieabbauer kommen – in der Regel und bei allen Regelbrüchen – demokratisch an die Macht. Und klammern sich undemokratisch an die Macht.

Trump repräsentierte die illiberale Demokratie des illiberalen Ultrakapitalismus. Im Weißen Haus hatten das Reaktionäre und das Autoritäre zusammengefunden, der Nationalismus und der männliche Chauvinismus, die Herrschaft des Geldes und die Hegemonie des Boulevards. Wie wurde möglich, was zuvor undenkbar schien – und sich früher oder später wiederholen kann?

Von der Marktwirtschaft zur Machtwirtschaft

In seinem glänzenden, 1100 Seiten starken Buch Das Europa der Könige schildert der deutsche Historiker Leonhard Horowski die Machtspiele an Fürstenhöfen des 17. und 18. Jahrhunderts, durchaus auch, um »anhand nur scheinbar verjährter Beispiele über die Art nachzudenken, in der Macht ausgeübt wird, in der Eliten sich abgrenzen, sich rechtfertigen und vor lauter alternativloser Selbstgewissheit immer wieder scheitern, ohne deswegen notwendigerweise dumm oder gar böse zu sein«.24 Horowski folgert: »Wer sich einmal angesehen hat, wie lauter individuell vernünftige Menschen mit der größten Überzeugung Dinge tun, die uns nach bloß drei Jahrhunderten wie der reine Irrsinn vorkommen, der mag es sich danach auch zweimal überlegen, etwas nur deswegen für richtig zu halten, weil das im Hier und Heute alle anderen tun.«

Oft wird dieser pure Irrsinn schon viel früher offenkundig. Mit Überzeugung und Selbstgewissheit hat das liberale Establishment den weltweiten Vormarsch des Ultrakapitalismus betrieben, unbeirrt durch alle Krisen hindurch, konsequent seit den siebziger Jahren. Dieses Unterfangen ist gelungen. Trotzdem mündete es in ein doppeltes Fiasko: Sowohl die liberale Wirtschaft als auch die liberale Demokratie wurden weniger liberal. Die Marktwirtschaft verwandelte sich in eine Machtwirtschaft, im Sog der Geld- und Datengewalt von Wall Street und Silicon Valley, aber auch im Clinch zwischen den USA und ihrem erzkapitalistischen Gegenspieler China. Zudem rütteln zwei Spielarten des Autoritarismus am Fundament liberaler Demokratien: die Willkür der Reaktionäre; und die Geldherrschaft von Milliardären, sprich Plutokratie. Der Sieg der Neoliberalen hat den Liberalismus und die Liberalität bedrängt – eine fatale Erfolgsgeschichte.

Der Name stellt es klar, im Kapitalismus hatte das Kapital seit je Vorrang vor den anderen »Produktionsfaktoren«, wie die Ökonomen sagen: vor der Arbeit und der Umwelt. Es bedarf ja des Geldes, der menschlichen Anstrengung und der natürlichen Ressourcen, um ein verkäufliches Gut herzustellen. Die Kapitalgeber waren immer stärker als die Arbeitnehmer und Umweltschützer; Letztere traten erst in den sechziger Jahren überhaupt auf den Plan. Noch krasser ist das Ungleichgewicht aber im heutigen »Ultrakapitalismus«. Warum gerade diese Bezeichnung? Die Übermacht des Kapitals kennt fast keine Schranken mehr:

Der Produktionsfaktor Kapital hat sich mit einem neuen vierten Produktions- und Kontrollfaktor verknüpft – den Daten. Big Money und Big Data stehen im Bunde, das hat die Position des Kapitals ungemein gefestigt. Der Geld- und Datengewalt von Riesenkonzernen wissen die Demokratien vorderhand noch wenig entgegenzusetzen. Den digitalen Ultrakapitalismus prägt ein dreifaches Machtgefälle: zwischen den Unternehmen und den Verbrauchern, die laufend ihre Verhaltensmuster, ihre wunden Punkte und sonstige Daten zu ihrer Privatsphäre preisgeben; zwischen den Auftrag- bzw. Arbeitgebern und den prekär Beschäftigten, da sich die digitale Welt für lose Arbeitsverhältnisse und ausufernde Arbeitszeiten eignet; schließlich zwischen der raschen Ökonomie und der langsamen Demokratie, weil Gesetzgeber und Regulatoren der rasanten Entwicklung hinterherhinken.

Obendrein mehrte die radikalste aller Deregulierungen die Macht des Kapitals, nämlich der Abbau praktisch aller Kontrollen der weltweiten Kapitalflüsse. Kapital darf seit der neoliberalen Wende frei dorthin schnellen, wo es am wenigsten besteuert wird. Das hat die Nationen zu einem zerstörerischen Wettkampf um noch tiefere Steuersätze verleitet – bis zu dem Irrwitz, dass das Kapital und die Kapitaleinkünfte vielerorts gar nicht mehr besteuert werden. Das war ein Kahlschlag.

Für die Demokratien bedeutet es eine doppelte Einbuße: an Steuereinnahmen und an Handlungsspielraum. Das mobile Kapital spielt die Staaten gegeneinander aus. Also haben mehr und mehr Staaten letztlich kapituliert und im Zweifel ihr nationales Recht nach dem Stärkeren ausgerichtet, dem Kapital. Die von den Parlamenten verabschiedeten Steuergesetze schreiben dieses Recht des Stärkeren fest und legitimieren es – erst die Corona-Krise hat hier ein Umdenken eingeleitet (siehe dazu Teil V). »Die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse«, notierte trocken Karl Marx in Das Elend der Philosophie.25 Aus Angst davor, Investoren zu verschrecken und im internationalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte zurückzufallen, haben die Gesetzgeber dem Kapital immer günstigere Rahmenbedingungen offeriert, auf Kosten der Beschäftigten.

Entlastet nämlich der Staat das Kapital und die Unternehmen, muss er zwangsläufig die Arbeit und die Arbeitnehmer stärker belasten. Das tut er in Gestalt höherer Einkommens- und Verbrauchssteuern, Abgaben, Beiträge zur Sozial- und Krankenversicherung oder Gebühren für öffentliche Dienstleistungen. Sonst brechen die Einnahmen weg, und die öffentliche Hand vermag selbst elementare Aufgaben nur noch unzulänglich zu erfüllen, was immer öfter der Fall ist. Derzeit vernachlässigen die meisten Länder die Modernisierung und den Ausbau wichtiger Infrastrukturen, mangels Einkünften. Bald gilt dann dieser demokratische Staat als verschwenderischer, verschuldeter, obrigkeitlicher, räuberischer »Steuerstaat«, der die Bürgerinnen und Bürger ausbeutet. In der rechten Diktion arbeiten geplagte Deutsche bis zum »Steuerzahlergedenktag« (2020 fiel er auf den 9. Juli) »für den Staat«, als liege das Mitfinanzieren von Bundestag und Landtagen, Justiz und Polizei, Schulen, Universitäten und Krankenhäusern, Straßen und Müllabfuhr nicht auch in ihrem Interesse.

Demokratie – die nützliche Idiotin?

Zwei sehr verschiedene, sehr verwandte Kräfte schüren die Staatsverdrossenheit: Ultrakapitalisten und Rechtspopulisten sagen einhellig, der Staat koste viel und bringe wenig. Beide wirken unentwegt darauf hin, dass dem tatsächlich so wird. Und beide bläuen den Menschen ein, der Staat sei ein Feind, er bedrohe die Freiheit. Es ist der demokratische Rechtsstaat, den sie meinen. Im Grunde verunglimpfen sie die liberale Demokratie. Und die Spirale dreht sich: Der Ultrakapitalismus erzeugt eine Schicht von Verängstigten und Verlierern, die von der handlungsschwachen liberalen Demokratie enttäuscht werden. Und die Neue Rechte bestärkt diese Unzufriedenen, sich vom Staat – von Parlament, Regierung und Justiz – abzuwenden. Demokratie ist seither im Dauerstress.

Neoliberale fordern den schlanken Staat, Reaktionäre den Nachtwächterstaat, was auf dasselbe hinausläuft: Er soll privates Eigentum sichern, reichlich Geld ausgeben für Militär und Polizei, für Recht und Ordnung, sonst aber das Recht (in Gestalt von Regulierungen) abbauen und die Märkte wenig ordnen. Der Ultrakapitalismus wie der Populismus sehen im Gemeinwesen nicht die traditionsreiche Demokratie mündiger Bürgerinnen und Bürger, dieses Ideal ist ihnen fremd. Vielmehr degradieren sie den demokratischen Staat zum eilfertigen Dienstleister und den Bürger zum willigen Verbraucher.

Wie selbstverständlich erwartet das Kapital, dass jede Regierung die Unternehmen gleichsam als Kunden umwirbt, damit sie im Land bleiben. Und der Citoyen mutiert seinerseits zum motzenden Konsumenten von Staatsleistungen, die ihm stets zu teuer, nie gut genug sind, so das landläufige rechtspopulistische Wehklagen. Die Frage nach der Rolle des Staats verkürzt sich zur baren Kosten-Nutzen-Kalkulation. Der kostengünstige »Standort« für Firmen zählt mehr als das Gemeinwesen, das nicht aufwendig sein darf. Demokratie als Kostenfaktor: In Boulevardzeitungen sind die Diäten aller Abgeordneten aller Parlamente aller Staaten allezeit zu hoch. Frei nach dem geflügelten Wort des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy fragt der »Verbraucherbürger« nicht, was er für die Demokratie tun kann, sondern was die Demokratie ihm bringt. Und was sie ihn kostet.

Ein Rechtspopulist der ersten Stunde war der dänische »Steuerrebell« Mogens Glistrup, der 1971 die Steuerhinterziehung zur Tugend stilisierte, weil jedes Erheben von Abgaben unmoralisch sei.