Das Proletariat - Peter Decker - E-Book

Das Proletariat E-Book

Peter Decker

0,0

Beschreibung

"Proletariat" – war da nicht mal was? Irgendwas mit einer "revolutionären Klasse" von "Brüdern", die "zur Sonne, zur Freiheit" unterwegs sind, "des Menschen Recht" erkämpfen und dergleichen mehr? Doch, da war mal was. Nicht bloß Lohnarbeiter hat es gegeben, die den Arbeitgebern die Arbeit machen – die gibt es nach wie vor –, sondern unter diesen Leuten verbreitet ein Bewusstsein von ihrer gemeinsamen materiellen Lage und ein Bedürfnis, diese Lage gründlich zu ändern. Intellektuelle hat es gegeben, die, statt im Dienst der öffentlichen Ordnung und ihrer sittlichen Verklärung die Karriere zu machen, zu der sie eigentlich prädestiniert waren, der herrschenden Symbiose von Ausbeutung, Gewalt, Zynismus und Dummheit den Kampf angesagt und in kommunistischen Parteien mit unzufriedenen Proletariern gemeinsame Sache gemacht haben. Eine aufrührerische Arbeiter-Bewegung ist daraus entstanden, die sich gegen das System der Lohnarbeit zur Wehr setzen und die Macht erringen wollte, um die Herrschaft des Eigentums durch eine vernünftig geplante gesellschaftliche Arbeitsteilung zu ersetzen. Noch bis zur letzten Dekade des 20. Jahrhunderts hat ein ganzer Staatenblock für sich in Anspruch genommen, genau diese Revolution zu betreiben oder sogar schon weitgehend geschafft zu haben; die Selbstbehauptungsmacht dieses Bündnisses hielt den Standpunkt in Kraft, auf die Lohnarbeiter käme es ganz besonders an, weil denen "die Zukunft" gehöre, eine Zukunft ohne Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Auch in den meisten "marktwirtschaftlichen" Demokratien des Westens hat dieser Standpunkt sich als mehr oder weniger lautstark vorgetragene Minderheitenmeinung lange gehalten, fast genau so lange wie der "reale Sozialismus" im Osten. Sogar in der Bundesrepublik Deutschland, in der schon der Gebrauch des Wortes "Arbeiterklasse" die Aufmerksamkeit des Staatsschutzes erregte, fand noch in den Jahren nach '68 ein öffentlich wahrgenommener Versuch statt, so etwas wie einen "revolutionären Klassenstandpunkt" wiederzubeleben; etliche Vereine hauptsächlich aus einer Studentenschaft, die durch den nationalen Betrieb angeödet war und sich über die faschistischen Erblasten sowie über die imperialistischen "Verstrickungen" ihrer mühsam demokratisierten Heimat empörte, haben sich dafür stark gemacht. Die angesprochenen Arbeiter deutscher Nation ließen sich dadurch allerdings nicht in die gewünschte "Bewegung" versetzen. Mittlerweile ist es vollends still geworden ums Proletariat. Niemand traut ihm noch etwas zu: Die bürgerliche Staatsmacht findet beim besten verfassungsschützerischen Willen keinen Anlass zur Sorge ums lohnabhängige Fußvolk. Kein "Mittelständler" fürchtet sich mehr vor einer aufständischen Arbeiterschaft. Der sozialkundliche Sachverstand der Nation vermag so etwas wie eine Arbeiterklasse noch nicht einmal mehr wahrzunehmen und triumphiert mit der Diagnose "Ende der Arbeitsgesellschaft" endgültig über jedes "marxistische Gesellschaftsbild". Und Das Proletariat – widerspricht nicht einmal. Es scheint sich selber für eine optische Täuschung zu halten, oder sogar bloß für die böswillige Erfindung unzufriedener Marxisten. Ob es damit recht hat - oder nur endlich richtig liegt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 485

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Decker Konrad Hecker

  Das Proletariat

Politisch emanzipiert – Sozial diszipliniert – Global ausgenutzt – Nationalistisch verdorben –

Die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende

© GegenStandpunkt Verlag

© GegenStandpunkt Verlag 2017

Gegenstandpunkt Verlagsgesellschaft mbH Kirchenstr. 88, 81675 München

Tel. (089) 2721604 Fax (089) 2721605

E-Mail: [email protected] Internet: www.gegenstandpunkt.com

Alle Rechte vorbehalten

Druckausgabe ISBN 978-3-929211-05-4

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
0. Die Arbeiterklasse – endlich vollendet
a) Kein Proletariat, nirgends!
b) Aber wer tut eigentlich statt dessen die Arbeit und macht die Unternehmer reich?
1. „Manchester-Kapitalismus“: Das Elend der Lohnarbeit im Original
a) Die Staatsgewalt setzt das Recht des Eigentums in Kraft und verfügt damit Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise
(1) Das Elend der Lohnarbeit: Eine Stiftung des bürgerlichen Rechts...
(2) ... und ein Produkt des kapitalistischen Fortschritts
b) Das Kapital ruiniert seine Quelle
c) Die politische Elite macht sich Sorgen – die Staatsgewalt sorgt für Ordnung
2. Das Überleben des Proletariats: Eine Geschichte von Klassenkämpfen gegen und um die Staatsgewalt
a) Die Arbeiterklasse kämpft notgedrungen – um Recht und Gerechtigkeit
b) „Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk“: Die Logik des gewerkschaftlichen Kampfes
(1) Das Proletariat erstreitet den falschen Schein eines gerechten Tauschgeschäfts ,Arbeit gegen Lohn‘
(2) Lohn pro Zeit bzw. Leistung: Die Formen der Lohnzahlung garantieren den Unternehmern ihren Nutzen, den Proletariern Gerechtigkeit
(3) Die notwendige Perspektive des gewerkschaftlichen Kampfes: Das organisierte Proletariat drängt sich seinem Gegner als Sozialpartner auf
(4) Anmerkung zum Werdegang der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland: Anführer des Proletariats entwickeln Verantwortung für die ,nationale Arbeit‘
c) Allgemeines Wahlrecht und parlamentarischer Streit um die Definition des Gemeinwohls: 
Die Logik des politischen Kampfes
(1) Notwendiger Widerstand und ein gar nicht notwendiger Fehler: Die Arbeiterbewegung setzt auf Demokratie
(2) Die Antwort des Systems: Die Staatsgewalt ge-bietet Beteiligung am parlamentarisch-pluralistischen Streit um ihren sozialpolitischen Aufgabenkatalog
(3) Der eine große Erfolg: Die Arbeiterklasse erkämpft sich Artenschutz
(4) Der andere große Erfolg: Die Parteien des proletarischen Umsturzes entwickeln ,Regierungsfähigkeit‘ – unter Wahrung ihres ,revolutionären Klassenstandpunkts‘
(5) „Reform oder Revolution“: Die Arbeiterbewegung spaltet sich an einer verkehrt gestellten Alternative
(6) Der Sonderweg der Bolschewiki: Radikale Arbeiterfreunde verschaffen dem Proletariat sein Recht
Exkurs: Zum faschistischen Kult der „nationalen Arbeit“
3. Der Lohn, die Arbeit, das Proletariat: Sozial verstaatlicht
a) Der Sozialstaat reguliert das Vertragsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit per Arbeitsmarkt und Tarifautonomie
(1) Der freie Arbeitsmarkt: Wie und warum der Staat für den Willen zur Arbeit Partei ergreift
(2) Die Tarifautonomie: Wie der Staat den Lohn reguliert
b) Der Sozialstaat reglementiert den kapitalistischen Verschleiß der Arbeitskraft
(1) Die Arbeitszeitordnung: Was von der Lebenszeit bleibt
(2) Der Arbeitsschutz: Was beim Einbau des subjektiven Faktors in den Produktionsprozess zu beachten ist
c) Der Sozialstaat verstaatlicht den Lohn und finanziert damit Bedingungen für die Subsistenz und die Reproduktion einer nationalen Arbeiterklasse
(1) Brutto und Netto: Wie der Staat den nationalen Lohn sozialisiert
(2) Familie und Bildungswesen: Was der Staat für den Nachwuchs an nationalem Arbeitskräftepotential tut
(3) Linderung der Wohnungsnot: Was sich der Staat die Koexistenz von proletarischer Armut und Grundeigentum kosten lässt
(4) Das Gesundheitswesen: Wie der Staat den massenhaften Verschleiß von Arbeitskraft therapiert
(5) Sozialversicherung gegen Arbeitslosigkeit: Wie der Staat überflüssige Arbeitskraft aufbewahrt
(6) Die Altersrente: Quittung für ein ausgefülltes Arbeitsleben
(7) Das Kriterium der „Lohnnebenkosten“ – oder: Warum Sozialkassen grundsätzlich „leer“ sind
(8) Die Tugend der Solidarität und ihre Grenzen: Wie der Staat seine Arbeiterklasse als Ensemble von Interessensgegensätzen durchkonstruiert
d) Der Sozialstaat legt seiner Gesellschaft den unausbleiblichen Pauperismus zur Last
4. Der moderne Arbeitnehmer und seine Besitzstände
a) Besitzstand Nr. 1: Ein Lebensstandard wie noch nie
(1) Vom „Wohlstand für alle“
(2) Von den Konsumentenbedürfnissen
(3) Vom Sparen und Schuldenmachen
b) Besitzstand Nr. 2: Ein umfassend geregeltes Einkommen und eine Standesvertretung, die die Regelung garantiert
(1) Vom Sinn und Zweck der Vielfalt bei den Entgelt-Tarifen
(2) Vom Grund und Ertrag periodischer Tarifrunden
(3) Vom Kampf einer Standesvertretung um Anerkennung
c) Besitzstand Nr. 3: Eine nationale Heimat
(1) Von der sittlichen Bedeutung staatlicher Zwangsabgaben: Der alltägliche ,Dienst fürs Vaterland‘
(2) Vom Dienst des Vaterlands an seinem ehrbaren Arbeitnehmerstand: Klassengesellschaft als Volksheimat
d) Besitzstand Nr. 4: Das demokratische Menschenrecht auf konstruktives Mitwirken
(1) Vom Sinn des freien Wählens
(2) Beruf und Berufung einer freien Öffentlichkeit
e) Der moderne Arbeitnehmer: Besitzstand der demokratischen Staatsmacht und ihrer Marktwirtschaft
5. Die vollendete Arbeiterklasse: Perfektes Instrument im weltumspannenden Konkurrenzkampf der Kapitalisten und Nationen
a) Der vollkommene Prolet: Was Staat und Kapital am modernen Arbeitnehmer haben
(1) Verelendung auf Ansage
(2) Der letzte soziale Imperativ: „Beschäftigung!“
(3) Der definitive proletarische Klassenstandpunkt: Anpassungsbereitschaft
b) Vom „Systemvergleich“ zur „Globalisierung“: Wofür Staat und Kapital ihr perfektes Proletariat brauchen und benutzen
(1) Die erste historische Bewährungsprobe des modernen Arbeitnehmers: Der Sieg über den ,realen Sozialismus‘
(2) Das neue Einsatzfeld für perfekte „Mitarbeiter“: Der Konkurrenzkampf der Konzerne und Nationen um rentable Arbeitsplätze
(3) Ein neuer Titel für den neuen Dauerauftrag ans moderne Proletariat: „Globalisierung“
c) „Deregulierung“: Politiker und Unternehmer „revolutionieren“ die Arbeitswelt
(1) Von der Ausnahme zur neuen Regel: Der Lohn muss kein Subsistenzmittel sein
(2) Das „starre“ Tariflohngefüge wird aufgelöst
(3) Die Arbeitszeiten werden „flexibilisiert“
(4) Ein kleiner Jahrhundert-Fortschritt: Deutsche Autofirma entdeckt eine neue Lohnform
(5) Die Gewerkschafts-„Bewegung“ vor der „Herausforderung“, ein Problem zu lösen, dessen Teil sie – noch – ist
d) Die „Krise des Sozialstaats“: Haushaltspolitiker verbilligen die Arbeiterklasse
(1) Das Volk ist zu teuer!
(2) Die Unkosten der proletarischen Armut werden gesenkt!
(3) Die Arbeiterklasse wird reproduziert – mit Ausländerrecht, Familienpolitik und Polizeigewalt
e) „New Labor“: Europas Sozialdemokratie schafft die Arbeiterklasse ab
6. Der „subjektive Faktor“: Vom freiheitlichen Selbstbewusstsein des modernen Proletariers
a) Und die Proletarier selbst?
(1) Proletarischer „Realismus“
(2) Proletarische Identitäten
(3) Die proletarische Moral
b) Methodische Nachbemerkung zum „notwendig falschen Bewusstsein“ des Proletariats
(1) Wenn „das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt“ ...
(2) ... dann macht „das Bewusstsein“ lauter Fehler!

© 2017 GegenStandpunkt Verlag

Vorwort

„Proletariat“ – war da nicht mal was? Irgendwas mit einer „revolutionären Klasse“ von „Brüdern“, die „zur Sonne, zur Freiheit“ unterwegs sind, „des Menschen Recht“ erkämpfen und dergleichen mehr?

Doch, da war mal was. Nicht bloß Lohnarbeiter hat es gegeben, die den Arbeitgebern die Arbeit machen – die gibt es nach wie vor –, sondern unter diesen Leuten verbreitet ein Bewusstsein von ihrer gemeinsamen materiellen Lage und ein Bedürfnis, diese Lage gründlich zu ändern. Intellektuelle hat es gegeben, die, statt im Dienst der öffentlichen Ordnung und ihrer sittlichen Verklärung die Karriere zu machen, zu der sie eigentlich prädestiniert waren, der herrschenden Symbiose von Ausbeutung, Gewalt, Zynismus und Dummheit den Kampf angesagt und in kommunistischen Parteien mit unzufriedenen Proletariern gemeinsame Sache gemacht haben. Eine aufrührerische Arbeiter-Bewegung ist daraus entstanden, die sich gegen das System der Lohnarbeit zur Wehr setzen und die Macht erringen wollte, um die Herrschaft des Eigentums durch eine vernünftig geplante gesellschaftliche Arbeitsteilung zu ersetzen. Noch bis zur letzten Dekade des 20. Jahrhunderts hat ein ganzer Staatenblock für sich in Anspruch genommen, genau diese Revolution zu betreiben oder sogar schon weitgehend geschafft zu haben; die Selbstbehauptungsmacht dieses Bündnisses hielt den Standpunkt in Kraft, auf die Lohnarbeiter käme es ganz besonders an, weil denen „die Zukunft“ gehöre, eine Zukunft ohne Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Auch in den meisten „marktwirtschaftlichen“ Demokratien des Westens hat dieser Standpunkt sich als mehr oder weniger lautstark vorgetragene Minderheitenmeinung lange gehalten, fast genau so lange wie der „reale Sozialismus“ im Osten.

Sogar in der Bundesrepublik Deutschland, in der schon der Gebrauch des Wortes „Arbeiterklasse“ die Aufmerksamkeit des Staatsschutzes erregte, fand noch in den Jahren nach ’68 ein öffentlich wahrgenommener Versuch statt, so etwas wie einen „revolutionären Klassenstandpunkt“ wiederzubeleben; etliche Vereine hauptsächlich aus einer Studentenschaft, die durch den nationalen Betrieb angeödet war und sich über die faschistischen Erblasten sowie über die imperialistischen „Verstrickungen“ ihrer mühsam demokratisierten Heimat empörte, haben sich dafür stark gemacht. Die angesprochenen Arbeiter deutscher Nation ließen sich dadurch allerdings nicht in die gewünschte „Bewegung“ versetzen. Und die meisten Aktivisten von einst verwirklichen ihren hochherzigen Entschluss, als „Vorhut der Arbeiterbewegung“ „dem Volke zu dienen“, nicht ohne innere Konsequenz heute in der Weise, dass sie im Dienst der und an der Nation, mit der Autorität eines staatlichen Postens oder einer demokratisch erworbenen Befugnis, das geschätzte Volk wirklich und wirksam bevormunden – sie hatten eben doch bloß ihre demokratieidealistischen Hoffnungen auf eine bessere Welt auf ein Proletariat gesetzt, das sie sich im Sinne eines zur „emanzipatorischen“ Gesellschaftsphilosophie verfabelten Marxismus fortschrittsfreundlich zurechtinterpretierten. Von dieser Interpretation sind sie unter dem Druck staatlicher Repression und einer geschlossen feindlichen öffentlichen Meinung auch wieder abgerückt, haben zusammen mit ihren linken Phrasen, um die es wirklich nicht schade ist, auch jedes Bedürfnis nach radikaler Kritik aufgegeben, haben statt der Mängel ihrer abweichenden Meinungen ihre Abweichung selber korrigiert und zum Standpunkt des gesellschaftlichen Klimaschutzes (zurück-)gefunden.

Mittlerweile ist es vollends still geworden ums Proletariat. Niemand traut ihm noch etwas zu: Die bürgerliche Staatsmacht findet beim besten verfassungsschützerischen Willen keinen Anlass zur Sorge ums lohnabhängige Fußvolk. Kein „Mittelständler“ fürchtet sich mehr vor einer aufständischen Arbeiterschaft. Der sozialkundliche Sachverstand der Nation vermag so etwas wie eine Arbeiterklasse noch nicht einmal mehr wahrzunehmen und triumphiert mit der Diagnose „Ende der Arbeitsgesellschaft“ endgültig über jedes „marxistische Gesellschaftsbild“. Und das Proletariat – widerspricht nicht einmal. Es scheint sich selber für eine optische Täuschung zu halten, oder sogar bloß für die böswillige Erfindung unzufriedener Marxisten. Ob es damit recht hat – oder nur endlich richtig liegt?

© 2017 GegenStandpunkt Verlag

0. Die Arbeiterklasse – endlich vollendet

a)  Kein Proletariat, nirgends!

Proletarier kennt der gebildete Zeitgenosse eigentlich nur noch aus dem Industriemuseum. Im tiefen 19. Jahrhundert, als noch nicht die globalisierte Marktwirtschaft, sondern der nach seinem ersten angelsächsischen Standort so genannte Manchester-Kapitalismus regierte, gab es wohl so etwas: einen niederen Stand armseliger Lohnarbeiter, rechtlos und ohne alle soziale Absicherung, von reichen Fabrikherren ausgebeutet – bisweilen aber auch durchaus gut behandelt –, in feuchten Löchern und finsteren Mietskasernen untergebracht, schlecht ernährt und von Seuchen heimgesucht, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von kaum 15 Jahren in die Welt gesetzt und schon im Kindesalter ausgenutzt, unausgebildet und verroht, teils maschinenstürmend unterwegs, teils für kommunistische Phantastereien empfänglich... Sozialgesetze und behutsame Wahlrechtsreformen haben dann das schlimmste Elend eingedämmt und die – wie keineswegs bloß ein deutscher Führer klar erkannte – „ihrem Vaterland entfremdeten“ Massen allmählich an den Staat herangeführt. Dennoch hat noch im ersten Drittel, wenn nicht sogar in der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so etwas wie eine Arbeiterklasse existiert: eine durch das gemeinsame Schicksal der Lohnarbeit in großen Fabriken geprägte Gesellschaftsschicht, noch immer ziemlich arm und von Verelendung durch Arbeitslosigkeit bedroht, in einer eigenen Subkultur zu Hause, gewerkschaftlich organisiert, sozialistisch orientiert – manchmal allerdings auch faschistisch gesinnt –, gelegentlich zu Klassenkämpfen gegen Unternehmerwillkür und staatliche Ungerechtigkeiten aufgelegt...

Doch das ist vorbei. Jahrzehnte des Aufschwungs und des Fortschritts haben dafür gesorgt, dass die klassischen kapitalistischen Nationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein völlig anderes Bild bieten – oder jedenfalls ein völlig anderes Bild von ihrer Gesellschaft haben. Von einem Proletariat in dem Sinn, von Leuten, die sich als Proletarier begreifen oder gar mit Stolz als solche bekennen würden, ist weit und breit nichts zu entdecken, von Klassenkämpfen ganz zu schweigen. An die Stelle einer kollektiv ausgebeuteten Industriearbeiterschaft sind in der modernen Erwerbsgesellschaft – oder jedenfalls in ihrem Selbstbild – lauter freie Einzelindividuen getreten, die zeitsouverän und flexibel mit zeitweiligen Hauptberufen, Nebenjobs und Phasen der Arbeitslosigkeit herumwirtschaften, bis sie in eine selbstbestimmte Rente gehen. Von einem gemeinsamen Interessengegensatz gegen die Eigentümerklasse will niemand mehr etwas wissen; das Kapital wird nicht als Gegner, geschweige denn als ausbeuterische Macht gesehen, sondern als Quelle, und zwar als einzige, vielfältiger Erwerbschancen begrüßt. Elend ist nur dort zu Hause, wo es an Kapital fehlt; das wird mit dem Schicksal einheimischer Arbeitsloser bewiesen, das lässt sich an den Krisen der berühmten „emerging markets“ demonstrieren, und erst recht darf Europas Osten als Beleg für diese Erkenntnis herhalten: Von ihren Regierungen Jahrzehnte lang nach anderen „Plänen“ bewirtschaftet, ist die Bevölkerung dieser Region von ihrer neuen herrschenden Elite marktwirtschaftlicher Reformer für schlichtweg unfähig erklärt worden, ohne die „Einfuhr“ von Kapital auch nur zu überleben. Die Gewerkschaften, einstmals Organisatoren einer tatkräftigen Klassensolidarität und Gegenmacht gegen die Übermacht des großen Geldes, haben weltweit eingesehen, dass ein Lohnabhängiger nichts so nötig hat wie einen geschäftstüchtigen Arbeitgeber und letztlich auch nichts anderes braucht; sie sterben ab, sofern ihnen nicht die Umstellung auf eine Art Dienstleistungsunternehmen für ihre Mitglieder gelingt. Die überkommenen Arbeiterparteien haben der Idee einer sozialistischen Alternative schon längst abgeschworen und können mittlerweile auch keinerlei Notwendigkeit mehr entdecken, von Staats wegen zugunsten der Arbeitnehmerschaft korrigierend in den Gang der Marktwirtschaft einzugreifen – außer in dem Sinn, dass sie alles aus dem Weg räumen, was „der Wirtschaft“ die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten erschweren könnte. Letzte Restbestände eines gewerkschaftlich-arbeiterparteilichen „Milieus“, in denen eine Karikatur einstiger Klassensolidarität deren historisches Ende noch ein wenig überdauert hat, werden, weil hoffnungslos unmodern, liquidiert; so etwas braucht es nicht einmal mehr für den ehrenwerten demokratischen Zweck, die niederen Stände als freie mündige Wähler auf ihren Staat zu verpflichten. Die sind längst an die Selbstverständlichkeit gewöhnt, dass es für die Teilhabe an der Politik nur auf ein Kriterium ankommt, nämlich: als Inländer dazuzugehören; hinter dieser nationalen Identität verschwinden alle sonstigen Unterscheidungen und Einstufungen nach der Erwerbsquelle womöglich oder gar nach der Klassenlage, die es sowieso nicht mehr gibt. Welcher Fangemeinschaft oder subkulturellen Identität man und frau außerdem angehört, bleibt der privaten Willkür überlassen, die schon gleich keine Klassenschranken mehr kennt.

Umfassender und vollständiger könnte der soziale Wandel kaum sein. Eine ganze „Gesellschaftsschicht“ hat Karriere gemacht: vom armseligen Fabrikarbeiter zum Internet-tauglichen Job-Sucher, vom rechtlosen Kollektiv zum mündigen Staatsbürger und Firmenmitarbeiter, vom Hungerleider zum umworbenen Konsumenten. 200 Jahre nach seinem ersten welthistorischen Auftritt ist das Proletariat einfach nicht wiederzuerkennen.

b)  Aber wer tut eigentlich statt dessen die Arbeit und macht die Unternehmer reich?

Irgendwie scheint es sich freilich bei den modernen Arbeitnehmern doch noch um den gleichen sozialen Menschenschlag zu handeln – ohne eine gewisse Identität wäre ja auch gar kein Wandel und Fortschritt zu konstatieren, sondern bloß von verschiedenen Dingen die Rede. Das politökonomische Berufsbild ist so ziemlich dasselbe geblieben: Wie seit 200 Jahren arbeitet die Masse der Leute unter dem Kommando von Eigentümern bzw. deren Funktionären und vermehrt gegen ein von denen durchkalkuliertes und für lohnend befundenes Entgelt deren Eigentum. Ihr Stellenwert im bürgerlichen Gemeinwesen hat sich deswegen gleichfalls nicht so übermäßig geändert: Die arrivierten „Mitarbeiter“ von heute haben verdammt viel von einer abhängigen Variablen an sich. Ihre Interessen sind jedenfalls nicht die gesellschaftlich maßgeblichen; Maß aller ökonomischen Dinge sind vielmehr die Erfolgsziffern der Geschäftswelt, die wiederum sehr viel zu tun haben mit möglichst wenig Lohn für möglichst viel Leistung. Die Auswirkungen dieses unumstößlichen politökonomischen Sachgesetzes erinnern erst recht an die „klassischen“ sozialen Ausstattungsmerkmale der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit – und sie werden in der freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeit auch überhaupt nicht verschwiegen, im Gegenteil. Nachrichten aus der Welt der Wirtschaft bestehen zu guten Teilen aus Berichten über Entlassungen, an denen die Betroffenen selbst schuld sind, weil sie zwar nicht viel, aber zu viel verdienen; aus Notizen über wachsende Mengen unbezahlter Überstunden; aus der Wiedergabe von Forderungen an den Gesetzgeber, Lohnsenkungen und Entlassungen zu erleichtern; aus Ermahnungen an die Tarifparteien, „maßvoll“ zu bleiben, was jeder sofort richtig als Warnung vor Lohnerhöhungen versteht. Viel mehr Raum nehmen natürlich Meldungen über den privaten Reichtum ein: seine gelungene Vermehrung, die Risiken und Chancen seiner weiteren Vermehrung, seine Abenteuer an der Börse usw. – wobei mit der allergrößten Selbstverständlichkeit nie von der Wohlfahrt der Leute die Rede ist, die ihn erarbeiten, sondern von der Größe der Geldmacht, die getrennt von denen, in Arbeitgeberhand, existiert und wächst. Die Ungemütlichkeiten eines modernen Arbeitnehmerlebens finden daneben zwar nicht viel Interesse, werden aber auch nicht verheimlicht. Unter verschiedensten Rubriken wird darüber informiert, wie der moderne Arbeitsalltag seine Leute verschleißt, und wie schlecht mit einem unterbis durchschnittlichen Einkommen auszukommen ist. Offizielle Armutsberichte, die den Regierenden einen einigermaßen sachgerechten Überblick über ihre Gesellschaft verschaffen sollen, definieren mit Sorgfalt, und ohne übertriebene Maßstäbe anzulegen, eine plausible Armutsgrenze und finden dann immer noch ein gutes Drittel der Bevölkerung, das darunter liegt; gerne mischt man sich in diesem Sinne übrigens auch in die sozialen Verhältnisse bei befreundeten konkurrierenden Nachbarn ein und berichtet z.B. aus dem „reichsten Land der Welt“, dass dort, in den USA, jedes vierte Kind auf Armenspeisung angewiesen ist. Karitative Organisationen werden allerdings auch im eigenen Land keineswegs überflüssig, sondern bilanzieren ein ums andere Mal zunehmende Bedürftigkeit bei ihrer Klientel. Ein Sittenbild der unauffälligen Verelendung, der mit guten Werken beizuspringen sei, wird dem großen Publikum allweihnachtlich präsentiert. Die zur festen Dauereinrichtung geratene Schuldnerberatung macht warnend darauf aufmerksam, wie leicht und in wie großer Zahl durchaus „normal“ verdienende Zeitgenossen auf den abschüssigen Weg in die „Schuldenfalle“ geraten, aus der sie dann für den Rest ihres Lebens kaum mehr herauskommen. Dass mit einer Entlassung nur allzu oft der Marsch in die Verelendung bis zur Obdachlosigkeit beginnt, ist sowieso allgemein bekannt; doch auch die Kategorie der „working poor“, denen ihr mit redlicher Arbeit verdientes Geld nicht einmal für einen minimalen Lebensunterhalt reicht, ist längst in den sozialpolitisch fortschrittlichsten Nationen heimisch. Und wer das Glück hat, den entsprechenden Alltag nicht selber im Slum-Gürtel eines städtischen Kapitalstandorts durchleben zu müssen, der findet sich in den „guten Stuben“ der dazugehörigen Innenstädte mit der Endstation des ganz normalen Elends konfrontiert, sofern das zuständige Ordnungsamt die Bettler nicht gründlich genug abgeräumt hat.

Versteckt und verheimlicht wird also nichts; an Material, um am modernen Arbeitnehmer etliche zählebige Ausstattungsmerkmale des Proletariats aufzufinden, das doch gleichzeitig seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen haben will, fehlt es nicht. Es ist nur erstens so, dass die einschlägige Berichterstattung über die Härten der modernen Arbeitswelt und über die zeitgenössische Armut vollständig ohne Auskunft über den Grund dieser „Phänomene“ auskommt. Der Leistungszwang, der in „lebensfähigen“ Betrieben heute herrscht, wird unter befürwortenden Titeln wie „Rationalisierung“, „Flexibilisierung“ oder „Innovation“ als selbstverständlicher, gar nicht weiter erklärungsbedürftiger Imperativ der modernen Zeitläufte abgehandelt. Und was in tiefschürfenden Analysen und Hintergrundberichten an Armutsursachen aufgeführt wird, das sind in aller Regel nichts weiter als Verlaufsformen der Verelendung – z.B. der berühmte „Teufelskreis“ aus Arbeitsund Obdachlosigkeit –, Symptome dieses „Prozesses“ – z.B. mangelnde Qualifikation der Betroffenen –, die Schwierigkeiten, aus einmal eingetretenem Elend wieder herauszukommen – z.B. fehlende „Motivation“ der Klienten – bzw. jemandem herauszuhelfen – fehlende Mittel in der Regel –; gerne lässt man auch gleich den „Status“ der Betroffenen für sich sprechen, so als wäre über die Ursachen damit schon alles gesagt – alleinerziehende Mütter etwa oder Kinder mit vielen Geschwistern brauchen sich über ihren Geldmangel gar nicht zu wundern. Die Schuld an der dauernd drohenden Arbeitslosigkeit teilen sich Wetter und Konjunktur, wohingegen für die schlechte Versorgung der Arbeitslosen nur einer verantwortlich ist, nämlich deren große Zahl. Und so weiter. Auf diese Art enthält schon die Kenntnisnahme von den prekären Umständen und materiellen Drangsalen einer zeitgenössischen Durchschnitts-Existenz ein Dementi: Um Notwendigkeiten des ökonomischen Systems, um Merkmale einer Klassenlage handelt es sich nicht. Wo trotzdem an so etwas gedacht wird, und der Verdacht drängt sich ja auf, da wird das Dementi explizit: Die Vielzahl der erfassten Lebenslagen schließt von vornherein aus, dass es sich dabei um Merkmale einer Klassenlage handeln könnte. „Zu einfach“, zu „monokausal“: So lautet das Urteil über ein Stichwort, aus dem dessen Kritiker in Wahrheit sehr genau den Vorwurf heraushören, dass das moderne Elend eine notwendige Errungenschaft des modernen Kapitalismus ist und nicht ein Sammelsurium von Zufällen. Moralische Vorwürfe sind da viel besser am Platz: Wer der Gesellschaft „Missstände“ ankreidet und auf „Versagen“ der zuständigen Instanzen – letztlich von „uns allen“ –„schließt“, der denkt zwar auch nicht gerade mehrdimensional, attestiert dem Gegenstand seiner kritischen Sorge aber die prinzipiell besten Absichten und liegt insofern schon mal grundsätzlich richtig. Wer so „kritisiert“, verlangt dann auch nie Unmögliches, sondern das einzig Vernünftige: dass alle sich bessern und vor allem die Verantwortlichen ihre Sache besser machen. Denn das ganze Elend müsste doch nicht sein. – Doch was, wenn „das alles“ doch sein muss, so wie das System des Gelderwerbs durch Lohnarbeit nun einmal funktioniert? Wenn es gar nicht so viel Böswilligkeit und so viele Pflichtversäumnisse gibt, jedenfalls im Verhältnis zur Gutwilligkeit und treuen Pflichterfüllung der übergroßen anständigen Mehrheit, dass die allgemein bekannten Drangsale eines durchschnittlichen Erwerbslebens mit so hoher Trefferwahrscheinlichkeit daraus folgen könnten? Wenn die lohnabhängige Masse in den Mustergesellschaften der westlichen Welt dauernd „sozial absturzgefährdet“ ist und eine starke Minderheit auf dem Verelendungs-Trip, nicht obwohl, sondern weil lauter wohlmeinende Funktionäre Arbeitswelt und Gemeinwohl professionell am Laufen halten?

Mit all den offenherzigen Auskünften über die Lage der arbeitenden Klassen im 21. Jahrhundert verhält es sich zweitens so, dass daraus nach dem einhelligen Urteil aller anständigen Menschen noch lange nicht das Recht folgt, ehrbare Mitmenschen mit abfälligen Ausdrücken wie „Prolet“ – der „-arier“ dahinter macht die Sache auch nicht besser – zu belegen und ihnen damit eine soziale Minderwertigkeit zu bescheinigen. Da hilft es gar nichts, dass die Bezeichnung gar nicht die sittlichen Qualitäten von irgendwem, sondern den materiell minderwertigen Status kennzeichnen soll, den das System der Lohnarbeit seinen „abhängig Beschäftigten“ aufzwingt: Gerade weil jeder die Kritik am sozialen Status der großen Masse der Gesellschaft heraushört, wird die Kritik daran im Namen derjenigen, die darauf festgelegt sind, als Verstoß gegen die korrekten Sitten zurückgewiesen. Tatsächlich sind es gerade die empörten Repräsentanten und Freunde der lohnarbeitenden Menschheit, die sich damit die Frechheit herausnehmen, den Leuten ihre proletarische Existenz als ihre eigene freie Wahl und geradezu als ihr sittliches Persönlichkeitsmerkmal zuzuschreiben – um dann darauf zu bestehen, dass den guten Leutchen ihre Dienstbarkeit und Armseligkeit auf keinen Fall mit beleidigenden Fremdworten um die Ohren gehauen werden darf. Die Mannesresp. Frauenehre der nützlichen Idioten des Kapitalismus verbietet Ausdrücke, die diese Funktion schlecht machen; die anständig arbeitende Privatperson adelt den Dienst, den sie am Erfolg ihres Arbeitgebers versieht: So will es die bürgerliche Sittlichkeit. Und so ist der „Prolet/arier“ schon vor dem „Nigger“ und der Alleinherrschaft der männlichen Substantivendung[1] einer politisch korrekten Säuberung des öffentlichen Sprechverhaltens zum Opfer gefallen. – Nur: Was ist, wenn im Endeffekt doch mehr das Wort als die Sache aus der Welt geschafft worden ist? Wenn sich die politökonomischen Bedingungen, von denen die Existenz lohnabhängiger Arbeitnehmer bestimmt wird, viel weniger veredelt haben als die dafür verwendeten Ausdrücke? Wenn der mindere materielle Wert eines Lohnarbeiter-Lebens durch das Verbot abwertender Bezeichnungen gar nicht gestiegen ist?

Dass die Allgemeinheit in der heutigen „Informationsgesellschaft“ über die Verwendungsweise menschlicher Arbeitskraft im modernen Unternehmen und über materiellen Mangel und die Verelendungsgefahren bei den Betroffenen durchaus informiert ist, hat schließlich drittens deswegen nichts weiter, und schon gar nichts Systemkritisches zu bedeuten, weil sich alle „Schattenseiten“ ganz gut mit den zahllosen historischen Errungenschaften verrechnen lassen, auf die inzwischen kein Zeitgenosse mehr verzichten mag: Lohnarbeiter fahren heutzutage mit Autos zur Arbeit, bedienen dort Maschinen, von denen das 19. Jahrhundert sich noch nichts hat träumen lassen, bekommen ihr Entgelt aufs Girokonto überwiesen, sind sozial- und lebensversichert, genießen politische Rechte, die einstmals den Besitzenden vorbehalten waren, und legen weit mehr Nationalals Klassenbewusstsein an den Tag. Der Wandel ist wirklich nicht zu übersehen. – Doch was ist, wenn dieser enorme Fortschritt in den Modalitäten der Lohnarbeit die ökonomischen Zwecke, denen die lohnabhängige Menschheit dienstverpflichtet ist, gar nicht verändert hat? Wenn er im Gegenteil bloß die Effektivität und Intensität ihrer Indienstnahme steigert? Wenn alle epochemachenden Verbesserungen in der Lage der arbeitenden Klasse doch gar nicht den Kapitalismus an die Lebensbedürfnisse seiner Insassen angepasst haben, sondern umgekehrt das Leben der Lohnabhängigen bis in deren Bedürfnisnatur hinein an die Bedarfslage „der Wirtschaft“ und an die Ansprüche der Staatsgewalt, die darüber Regie führt? Wenn die Jahrhundert-Karriere des Menschenschlags, der früher einmal „Proletariat“ hieß, bis heute nicht dessen Wohlstand bezweckt und auch nicht bewirkt, sondern seine Funktionalisierung für die politische Ökonomie des Kapitals auf die Spitze getrieben hat? Was, wenn das für alle aufgeklärten Beobachter des sozialen Geschehens längst feststehende Ende der proletarischen Klasse nichts anderes dokumentiert als deren Vollendung: die totaleSubsumtion der Klasse unter ihren kapitalistischen Lebenszweck?

Eins ist klar: Aus der Anschauung voller Kaufhäuser und schlechter Wohngegenden, sauberer Fabriken und ausufernder Volkskrankheiten, demokratischer Wahlkämpfe und gewerkschaftlicher Umzüge ergibt sich die Antwort auf die Fragen, die wir ans Happy End des Proletariats zu stellen hätten, nicht. Ohne ein paar Urteile und Schlüsse geht es nicht ab, wenn man herausfinden will, wie es um den modernen Arbeitnehmer, seine Verwandtschaft mit der längst unmodern gewordenen Arbeiterklasse und die Notwendigkeit einer gewissen Umwälzung der politökonomischen Verhältnisse eigentlich steht.

[1] Um das vorab klarzustellen: Wir glauben nicht, dass den Frauen im Kapitalismus ausgerechnet das „/sie“ hinter jedem männlichen Personalpronomen und das „/in“ hinter jeder Endung auf „-er“ zu ihrem Glück fehlt, und sparen uns deswegen diese sprachliche Albernheit.

© 2017 GegenStandpunkt Verlag

1. „Manchester-Kapitalismus“: Das Elend der Lohnarbeit im Original

Die große Karriere des modernen Proletariats beginnt unter Bedingungen und Umständen, die heute als die wilde Anfangszeit der einzig wahren und menschengemäßen Produktionsweise gelten. An den Verhältnissen im Manchester des frühen 19. Jahrhunderts möchte der sozialkundliche Sachverstand Anschauungsunterricht vor allem darüber erteilen, wie der Kapitalismus heute nicht mehr ist; das soll man sich auch ruhig gut einprägen. Man sollte darüber aber auch nicht ganz vergessen: In den besonders drastischen Formen jener vergangenen Epoche ist nicht irgendeine, heute ausgestorbene Produktionsweise in Schwung gekommen, sondern genau die, die sich seither mit ihren „Entwicklungsphasen“ immer von neuem selbst überboten hat und zu Beginn des 3. Jahrtausends die ganze Welt beherrscht – nicht gerade zum Glück aller ihrer Einwohner. Die leben und arbeiten nach Maßgabe einer politischen Ökonomie, deren Prinzipien damals in Kraft gesetzt worden sind und seither nicht bloß unverändert gelten, sondern auch den Grund dafür enthalten, dass es bei der rohen Form, in der sie durchgesetzt worden sind, unmöglich bleiben konnte.

a) Die Staatsgewalt setzt das Recht des Eigentums in Kraft und verfügt damit Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise

Das System des Gelderwerbs durch Lohnarbeit – die einen verdienen viel Geld mit der Arbeit, die sie verrichten lassen, die andern wenig mit der, die sie tun – fängt historisch mit einem Haufen Elend an; und das hat auch logischseine Richtigkeit. Damit unternehmungsfreudige „Mittelständler“ und Konzernmanager sich überhaupt als Arbeitgeber betätigen und „Arbeitsplätze schaffen“ können, an denen dann die „erwerbstätige“ Masse ihr Geld verdient, muss sich nämlich der größere Teil der Gesellschaft erst einmal in einer ziemlich prekären Lage befinden: In ihrer großen Mehrzahl haben die Leute nichts, womit sie sich aus eigener Kraft, kraft eigener oder gemeinschaftlicher Arbeit, ein Auskommen verschaffen könnten. Dabei ist nicht der pure Mangel entscheidend, sondern dessen gesellschaftliche Machart: Mittellos sind die vielen Leute nicht deswegen, weil es an entsprechend ausnutzbaren natürlichen Voraussetzungen fehlen würde oder an den nötigen Hilfsmitteln und technischen Gerätschaften zur produktiven Ausnutzung der Natur. Alles Erforderliche für die Produktion ausreichender Mengen von Gebrauchsgütern aller Art, Produktionsmittel eingeschlossen, ist verfügbar – bloß nicht für sie. Die Masse derer, die darauf angewiesen sind, ist davon ausgeschlossen, und zwar durch eine gesellschaftliche Errungenschaft: durch die allgemein geltende rechtsstaatliche Regel, dass alle Güter, auch und vor allem sämtliche materiellen Voraussetzungen und technischen Instrumente für die Güterproduktion, der exklusiven Verfügungsmacht einzelner unterliegen. Diese Regel gilt so allgemein, dass gar nicht erst bestimmte Einzelpersonen namhaft gemacht werden müssen, die über den gesellschaftlichen Reichtum zu bestimmen haben: Die Dinge selbst sind Eigentum – gerade so, als wäre es ihre Eigenschaft, dem allgemeinen Bedarf und einer planmäßigen Benutzung durch alle, die sie brauchen, entzogen und nur einem besonderen privaten Willen verfügbar zu sein. Die organisierte öffentliche Gewalt der Gesellschaft, die Staatsmacht, setzt dieses eigentümliche Willensverhältnis in Kraft, verschafft ihm mit der Autorität ihrer überlegenen Gewaltmittel allgemeine Anerkennung und regelt die unausbleiblichen Kollisionen zwischen denen, die Eigentum haben, sowie vor allem zwischen denen und den Eigentumslosen. Die müssen nämlich ihre hoffnungslos prekäre Lage hinnehmen und das Beste daraus machen: schauen, dass sie sich für die Vermögenden in der Gesellschaft nützlich machen und sich dadurch das Überlebensnotwendige an-eignen.

(1) Das Elend der Lohnarbeit: Eine Stiftung des bürgerlichen Rechts...

Die Entstehungsgeschichte dieser epochemachenden Scheidung zwischen wenigen Inhabern einer exklusiven privaten Verfügungsmacht über alle nützlichen Dinge und einer dadurch mittellos gemachten großen Masse lässt sich, was den berüchtigten englischen Frühkapitalismus betrifft, beispielsweise in Friedrich Engels’ Opus über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ nachlesen: Da wurde eine ländliche Bevölkerung, die mit ihrer bornierten Heimarbeit nichts mehr verdiente und von ihrem Flecken Land auch nicht mehr leben konnte, durch den Sachzwang völliger Verelendung sowie mit Erpressung und Gewalt aus ihrer angestammten Heimat vertrieben und sammelte sich, von jeder Subsistenz abgeschnitten, als gesellschaftlicher „Abschaum“ und uneingeschränkt verfügbare Manövriermasse für jederlei industriellen Gebrauch in den entsprechend „aufblühenden“ Städten des Landes. Anderswo in Europa sorgten der „Niedergang“ der Zünfte, die Entlassung oder auch die Flucht der Gesellen aus der Zucht und Obhut ihrer Meister, auch die Verarmung der Meister selbst in verschiedenen Gewerbezweigen sowie ein Überschuss an Landbevölkerung für die ersten Generationen quasi vogelfreier Paupers, an denen industrielle Unternehmer, Eisenbahnbauer, Bergwerksbetreiber usw. sich bedienen konnten. Und wer in Europa keine Verwendung fand, der konnte sich im nordamerikanischen Reich der Freiheit in den Nachschub an arbeitsfähigem, arbeitswilligem, eigentumslosem Menschenmaterial einreihen – auch das ist mittlerweile in sozialgeschichtlichen Materialsammlungen und Darstellungen bestens dokumentiert. Auf der andren Seite wurde – in Machtkämpfen, von denen man im Geschichtsunterricht – zumindest alles Unwesentliche über Daten und Personen erfährt mit der politischen Emanzipation des Bürgertums die Scheidung der privatrechtlichen von der politischen Verfügungsgewalt vollendet: Der ausschließende Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum wurde als das Eigentumsrecht von Privatpersonen kodifiziert; die Kommandomacht über Menschen wurde in die unpersönliche Herrschaft des Gesetzes über lauter prinzipiell gleichberechtigte Staatsbürger übergeführt. Dabei konnte von einer wirklichen rechtlichen oder politischen Gleichstellung der neuen „unteren Klassen“ einstweilen noch keineswegs die Rede sein; in frühkapitalistischen Zeiten war für die öffentliche Gewalt Mittellosigkeit noch ziemlich gleichbedeutend mit Rechtlosigkeit. Und dass ein persönliches Verfügungsrecht einzelner über den produktiven und produzierten Reichtum der Gesellschaft durchaus private Kommandogewalt über Menschen einschließt, über Leute nämlich, die nichts zum Leben haben und deshalb darauf setzen müssen, in Dienst genommen zu werden – das war am Beginn des neuen Zeitalters der bürgerlichen Freiheit auch noch ziemlich brutal offenkundig: Wer angestellt wurde, war ohne Umschweife Knecht seines Herrn. Dennoch: Grundsätzlich war mit der Etablierung des privaten Eigentums die große zivilisatorische Wende zu einem neuen Produktionsverhältnis geschafft und die Entstehung der entsprechenden bürgerlich-proletarischen Klassenverhältnisse nicht mehr aufzuhalten.

Im Prinzip war nämlich auch das Mitglied des gesellschaftlichen „Abschaums“ frei: Der durchs Eigentum von allen Mitteln ausgeschlossene, subsistenzunfähige Pauper gehört niemand anderem mehr. Auch der mittellose Mensch gehört sich selbst, und zwar ganz ausdrücklich im Sinne des bürgerlichen Privateigentums: Über sich und sein Arbeitsvermögen besitzt er ein exklusives Verfügungsrecht; alles, was an seiner Person nützlich und nutzbar zu machen ist, ist als sein Eigentum definiert. Wenn er folglich in fremde Dienste tritt, um sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, dann handelt er – egal, wie seine Arbeit dann aussieht – als freier Eigentümer, der ein Tauschgeschäft zum eigenen Nutzen abschließt: Dienst gegen Geld, zeitweilige Überlassung des Verfügungsrechts über das eigene Arbeitsvermögen an einen andern gegen ein Quantum Verfügungsmacht über den käuflichen Reichtum der Gesellschaft. Was er aus diesem Tausch für sich herausholt, ist seine Sache bzw. eine Frage der Vereinbarung zwischen ihm und dem Benutzer und Nutznießer seines Arbeitsvermögens; vollends bleibt ihm überlassen, wie er mit dem Verdienten zurechtkommt. Und zumindest dieser Aspekt der bürgerlichen Freiheit des proletarischen Teils der Gesellschaft war schon früh im 19. Jahrhundert gut entwickelt: Die Dienstkräfte des Manchester-Kapitalismus konnten sich ihren Lohn selbständig einteilen und beispielsweise beschließen, ihr wohlerworbenes Stückchen Privatmacht über die kapitalistische Warenwelt vollständig zu versaufen.

Was die geleistete Arbeit betrifft, so handelte es sich dabei unter den neuen Bedingungen im Prinzip auch schon nicht mehr um persönliche Knechtschaft, also um die Bedienung eines bessergestellten Herrn mit Bedarfsartikeln und Bequemlichkeit oder um Gesindedienste in einem bäuerlichen oder Handwerksbetrieb. Was von einem kapitalistischen Eigentümer entlohnt und vom freien Proletarier für Lohn geleistet wird, das ist die Produktion von Waren für den Verkauf und somit von Reichtum im speziell bürgerlichen Sinn: die Schaffung neuen Eigentums, das allein im zu erlösenden Geld – und nicht in der Befriedigung konkreter materieller Bedürfnisse – sein Maß hat. Selbstredend gehört das neu produzierte Eigentum, der durch Arbeit geschöpfte, in einer Geldsumme erst wirklich „realisierte“ Wert, von Rechts wegen nicht dem, der die Arbeit geleistet, sondern dem, der sie gekauft hat: Der darf sich die Arbeitsleistung als die Seine, ihr Produkt als das Seinige zurechnen. Und genau das ist überhaupt das Interessante am bürgerlichen Eigentum: Seine negative Seite – die Exklusivität des privaten Verfügungsrechts, der Ausschluss aller fremden Verfügungsmacht – ist die Grundlage für seine positive Leistung, in den Händen seines Eigentümers durch fremde Arbeit zu wachsen. Die öffentliche Gewalt, die die prinzipielle Scheidung zwischen Gebrauchswert und Bedürfnis dekretiert, indem sie das Rechtsinstitut des exklusiven Verfügens dazwischen schiebt, verleiht dem privaten Verfügungsmonopol eben damit die Macht, sich seine eigene Quelle käuflich anzueignen, nämlich sich durch die Betätigung eines für Lohn gekauften Arbeitsvermögens zu vergrößern. Mit der Rechtsfigur eines allgemeinen, sämtliche Güter betreffenden ausschließenden Willens etabliert sie eine politökonomische Beziehung, ein Produktionsverhältnis – und als wollte sie darauf eigens aufmerksam machen, leistet sie sich in manchen Grundgesetzen und Verfassungstexten den zynischen Scherz und formuliert ihre gewaltsame Ermächtigung des privaten Eigentums als dessen Verpflichtung, „zum Wohl der Allgemeinheit“ produktiv benutzt zu werden. Tatsächlich ist das ja auch der Punkt: Das Eigentum ist dem bürgerlichen Gemeinwesen genau deswegen so heilig, weil es dem Reichtum die Verfügungsmacht über die Arbeit der Leute verleiht. Mit dieser paradoxen Umkehrung jeder vernünftigen Reihenfolge fängt die bürgerliche Normalität überhaupt an.

(2) ... und ein Produkt des kapitalistischen Fortschritts

Die Karriere des Proletariats beginnt also damit – und daran ändert sich auch nichts –, dass die Lohnarbeit das Eigentum zur Produktivkraft macht oder umgekehrt das Eigentum per Lohnarbeit sich selbst vermehrt. Alles Produzieren wird zu einer Frage der Kalkulation, mit Geldgrößen nämlich und nach dem schlichten Prinzip, dass in den Händen des Eigentümers, der gegen Lohn arbeiten lässt, am Ende mehr vorhanden sein muss als zuvor. Das hat weitreichende Folgen für die beiden Seiten, die das Wort ,Lohn-Arbeit‘ zusammenschließt.

–  Die Entlohnung fällt, der ökonomischen Logik der ganzen Veranstaltung zufolge, unter die Kategorie des notwendigen Aufwands. Sie ist in keiner Hinsicht Zweck der Angelegenheit, sondern ein Mittel, das zum Geschäftszweck in einem widersprüchlichen Verhältnis steht. Sie muss sein – schließlich wird damit ein nützlicher Dienst erkauft –, mindert aber den Ertrag, auf den es ankommt: den Geldüberschuss, um den das produktive Eigentum nach getaner Arbeit gewachsen sein soll. Als Kostenfaktor unterliegt sie daher vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus prinzipiell der Kritik: Was in diesem System „Wirtschaft“ heißt, ist grundsätzlich unverträglich mit einer üppigen Ausstattung derer, die die Arbeit tun. Nicht Geiz oder sonstige private Tugenden, die natürlich gern und leicht hinzutreten, sondern die Produktionsweise selbst gebietet es, die materiellen Interessen der Arbeiter zu beschränken und den Lohn so gering wie möglich zu halten; umgekehrt fällt das Gewinninteresse der Privateigentümer aufs glücklichste zusammen mit dem elementaren Sachgesetz des Systems und vice versa. Dafür, dass dieses schöne Gebot auch zuverlässig eingelöst wird, sorgen die ökonomischen Machtverhältnisse, die sich daraus ergeben: Für die freien mittellosen Arbeitskräfte steht beim Austausch von Kraft und Lebenszeit gegen Lohn das Überleben auf dem Spiel, entsprechend leicht sind sie zu erpressen; für die Eigentümer hängt von der Bezahlung der benötigten Arbeitsdienste die Höhe ihres Überschusses ab, entsprechend berechnend gehen sie zu Werk. Auf andere Gesichtspunkte als ihren Vorteil brauchen sie dabei keinerlei Rücksicht zu nehmen: Die gegen Lohn beschäftigten Leute gehören sich selbst, müssen also selber wissen, zu welchem Preis sie ihre Dienste verkaufen und wie sie mit dem Verdienten zurechtkommen. Für die Unternehmer ist die bürgerliche Freiheit ihrer Mitarbeiter insofern durchaus ein Gewinn.

–  Was die eingekaufte Arbeit betrifft, so gilt dafür, auch dies wieder in glücklicher Übereinstimmung von Unternehmerinteresse und Systemnotwendigkeit, nur ein Gebot: Es soll gearbeitet werden; gleichgültig was oder woran, wenn das Produkt nur Geld einbringt. Denn was die Arbeit ihrem ökonomischen Zweck und Gehalt nach produziert, ist in Geld zu realisierendes Eigentum; und davon kann es prinzipiell nicht genug geben. Arbeit pur ist verlangt; natürlich an nützlichen, was aber nichts anderes heißt als: lohnend verkäuflichen Gütern, also ohne ein durch die Gebrauchsgüter oder das Bedürfnis danach vorgegebenes Maß und Ende; so viel, so ergiebig und so lange, wie es nur geht. Lohnarbeit steht unter dem gebieterischen Imperativ, aus den – so billig wie möglich – bezahlten Kräften ein Maximum an produktiver Tätigkeit herauszuholen. Rücksicht auf Arbeitsvermögen und Lebenszeit der Beschäftigten kann dabei nicht genommen werden – und braucht es auch nicht, weil der Unternehmer es auch in dieser Hinsicht mit freien Lohnarbeitern zu tun hat, die Herr ihrer Zeit und ihrer Kräfte sind und selber wissen müssen, was sie sich im Interesse ihrer Entlohnung zumuten können. Die sind natürlich auch in dieser Hinsicht in einer schwachen Position; zu ihren Gunsten haben sie nicht viel mehr einzusetzen als – ausgerechnet – ihre Bereitschaft, die Vorgaben ihres Arbeitgebers zu erfüllen, womöglich überzuerfüllen und unermüdlich als dessen Geldquelle zu wirken; und damit erreichen sie allemal weniger für sich als für ihre Arbeitgeber, die sich gerne darüber aufklären lassen, welche Leistungsreserven in ihren Arbeitskräften noch drinstecken und mobilisiert werden können. Es ist eben nicht ganz einfach, sich gut oder wenigstens besser zu stellen, wenn das Mittel dafür einzig darin liegt, die eigene Arbeitsfähigkeit intensiv und extensiv immer mehr als Quelle fremden Eigentums ausbeuten zu lassen.

–  Aber dass das Leben leicht und einfach werden würde, das war ja auch nie versprochen, als den eigentumslosen Massen in Manchester und anderswo die Chance eröffnet wurde, sich selbst als Geschäftsmittel einzusetzen und mit Lohnarbeit zu überleben. Der große zivilisatorische Fortschritt, dem das moderne Proletariat seine politökonomische Geburt verdankt, besteht vielmehr in der denkbar gelungensten Kombination von Not und Freiheit: Durch die rechtsstaatliche Etablierung des bürgerlichen Privateigentums grundsätzlich von Arbeits- und Subsistenzmitteln abgeschnitten; selber niemandem gehörig, sondern, gleichfalls von Staats wegen, mit einem Verfügungsrecht über die eigene Arbeitskraft und Lebenszeit ausgestattet; mit ihrer Fähigkeit, wertschaffende Arbeit zu verrichten, Objekt der Begierde kapitalistischer Eigentümer nach schrankenloser Vermehrung des Ihrigen – so tritt die moderne Arbeiterklasse an. Ihre Lebenschance findet sie „auf dem Arbeitsmarkt“ – also darin, dass sie sich dem Interesse des Kapitals an fremder Arbeit als Geldquelle frei und notgedrungen zur Verfügung stellt. Und es hat nicht viel gefehlt – in Manchester jedenfalls sah es noch ganz danach aus –, dann hätte das Proletariat, kaum angetreten, seine Chance erst gar nicht überlebt.

b)  Das Kapital ruiniert seine Quelle

Die kapitalistischen Fabrikherren, die Inhaber, Sachwalter und Nutznießer – Marx nannte sie die „Charaktermasken“ – des produktiven Eigentums, haben sich von Beginn an aufs Geschäft mit der Lohnarbeit verstanden. Sie brauchten dafür ja nur auf ihr system- und standesgemäßes Interesse zu achten und auf die Geschäftsnotwendigkeiten zu reagieren, die sie als Konkurrenten sich wechselseitig aufzwangen: billig produzieren, um die produzierte Ware leichter als andere Produzenten und trotzdem mit Gewinn zu Geld zu machen. So ist es ihnen gelungen, die politökonomischen Prinzipien der neuen Produktionsweise gleich mustergültig herauszuarbeiten – bis heute brauchte daran nichts verändert zu werden.

–  Den Kaufpreis der Arbeit, den Lohn, haben sie mit aller gebotenen Einseitigkeit als Kostenfaktor kalkuliert und nur soviel gezahlt, wie nach Lage der Dinge unbedingt nötig war, um aus den eigentumslosen Massen den benötigten Stamm an einigermaßen fähigen und willigen Arbeitern zu rekrutieren. Der heute so beliebte zynische Scherz, den Kauf von Arbeitsdiensten als sozialen Dienst an den Beschäftigten zu interpretieren – weil die sonst gar nichts zum Leben haben –, mag unter den rohen Verhältnissen des frühen 19. Jahrhunderts noch nicht so geläufig gewesen sein[2]; aber dass die nicht umsonst so genannten Arbeitnehmer zu nehmen haben, was die kapitalistischen Arbeitgeber ihnen geben, das war von Beginn an klar und folglich auch, dass die Nutzenkalkulationen der freien Arbeitnehmer sich danach zu richten haben, was ihnen an Arbeit und Lohn geboten wird, wohingegen das Angebot von Arbeitsstellen und Entlohnung sich selbstverständlich nach den Nutzenkalkulationen richtet, die die gegeneinander konkurrierenden Arbeitgeber anstellen. Dass Rücksicht auf die Lebensbedürfnisse der benutzten Leute sich mit der Logik ihres Geschäfts und den Bedingungen ihres eigenen Konkurrenzerfolgs einfach nicht verträgt, das haben die industriellen Kapitalisten jedenfalls gleich gewusst, und danach haben sie gehandelt.

–  Ebenso wenig brauchten sie erst umständlich zu lernen, dass die gekauften Arbeitskräfte schlicht dadurch als Quelle ihres Geschäftserfolgs fungieren, dass sie produktiv tätig sind, und in dem Maß Gewinn abwerfen, wie sie sinnvoll „beschäftigt“ werden – dass es bei der Lohnarbeit also auf deren Dauer ankommt. In den Betrieben kapitalistischer Unternehmer wurde der Arbeitstag von seinen überkommenen naturwüchsigen Beschränkungen befreit und auf die Nacht ausgedehnt; was naturbedingte Not und Gütermangel in früheren Zeiten nicht zuwege gebracht hatten, das schaffte die Herrschaft des Eigentums über die gesellschaftliche Arbeit im Nu. Die Erfindung der Schichtarbeit half über die ärgerliche Tatsache physiologischer Schranken beim Tätigwerden der einzelnen Arbeitskraft hinweg. Zugleich wurde in die einzelne Arbeitsstunde immer mehr Arbeit hineingepackt; nicht punktuell und mit Gewalt wie in früheren Knechtschaftszeiten, sondern systematisch. Denn in der Marktwirtschaft hängt von der Leistung – Arbeit pro Zeit, wie in der Physik... – nicht bloß unmittelbar das Quantum an Wertschöpfung ab, um die es geht, sondern das alles entscheidende Verhältnis zwischen den Kosten der Produktion, speziell den Lohnkosten, und ihrem in Geld gemessenen Ertrag oder, am einzelnen Produkt ausgedrückt, das Verhältnis zwischen den Gestehungskosten der Ware und dem Verkaufspreis, der dafür zu erzielen ist. Dar-an entscheidet sich die Rentabilität des Geschäfts und damit die Konkurrenz-, also Überlebensfähigkeit des ganzen Unternehmens. Daher bleibt die Intensität der Arbeit so wenig wie ihre Dauer dem individuellen Leistungsvermögen der Angestellten überlassen: Von Beginn an haben die Kapitalisten diese wichtige Größe zu ihrer Sache gemacht und den Druck der Konkurrenz – sei es den, den sie verspürt, sei es den, den sie selber gemacht haben, was in der Regel sowieso zusammenfällt – mit dem Zwang zu beständiger Erhöhung des Arbeitstempos an ihre Belegschaften weitergegeben.

–  Entsprechendes gilt für die Produktivkraft der angewandten Lohnarbeit. An ihr entscheiden sich die Produktivität und damit die Konkurrenztüchtigkeit des angewandten Eigentums. Deswegen darf sie nicht vom individuellen Geschick der eingestellten Leute abhängen; der Output der Arbeitsstunde muss in der Hand des Unternehmens liegen. Die Sachzwänge der Marktwirtschaft gebieten eine Einrichtung von Maschinerie und Technik in der Weise, dass sie nicht als Hilfsmittel für ein möglichst ergiebiges und dabei bequemes Arbeiten fungieren, sondern als dingliche Herrschaftsmittel über den „Produktionsfaktor Arbeit“; nämlich so, dass sie aus diesem „Faktor“ möglichst viel verkäuflichen Ertrag herausholen. Und genau so wurden sie schon von den ersten Unternehmern eingesetzt, die in ihren Betrieben den Fortschritt zur marktwirtschaftlichen Warenproduktion machten – in Manchester und anderswo.

–  Schließlich verstand es sich bereits für die kapitalistischen Unternehmer der ersten Generation von selbst, dass die Lohnarbeit, wenn sie schon ihr hauseigenes Geschäfts- und Konkurrenzmittel ist, auch für die Konjunkturen ihrer Geschäfts- und Konkurrenztätigkeit geradezustehen hat. Wo steigende Produktivität des Eigentums den Bedarf an Arbeitsstunden verringert, oder wo umgekehrt Niederlagen in der Konkurrenz Geschäfte unrentabel machen und darüber der kapitalistische Appetit auf Arbeit schwindet, da werden nach den elementaren Regeln der marktwirtschaftlichen Vernunft bislang benutzte Leuteüberflüssig, also entlassen. Dass denen damit ihr Lebensunterhalt abhanden kommt, geht die konkurrierenden Arbeitgeber nichts an; mit konjunkturgemäßem „Heuern und Feuern“ hatten sie nie ein Problem.

Damit war schon alles beieinander – die Sachzwänge des Systems ebenso wie deren interessierte Exekutoren –, um aus den im Überfluss vorhandenen eigentumslosen und folglich nicht mehr subsistenzfähigen Massen die erste Elementarform eines nützlichen Proletariats im modernen marktwirtschaftlichen Sinn zu fabrizieren.

–  In den kapitalistisch betriebenen Produktionsstätten wurden die aus ihrer früheren bornierten Arbeitsweise und kärglichen Subsistenz vertriebenen Paupers einer Arbeitsdisziplin neuer Art unterworfen. Sie hatten nicht mehr mit einer bestimmten und irgendwie sachlich begrenzten Aufgabe fertigzuwerden, sondern grundsätzlich und überhaupt zu arbeiten, sich extensiv und intensiv zu verausgaben. Auf handwerkliches Geschick und andere Fertigkeiten kam es viel weniger an als darauf, den vorgegebenen Arbeitstag durchzustehen und das verlangte Arbeitstempo einzuhalten. Neu war das speziell für Frauen und Kinder, die mit ihren physischen Schwächen und relativen Vorzügen in dieses System der erschöpfenden Ausnutzung von Arbeitskraft eingegliedert wurden. Viele hielten das nicht aus; doch wer nicht mehr konnte oder wollte, war in der Regel leicht zu ersetzen – der Nachschub an Paupers riss nicht ab, und an Fertigkeiten brauchte es in der Regel nicht mehr als das, was der Produktionsprozess selbst seinen Dienstkräften aufnötigte[3].

–  Das Leben außerhalb des Betriebs war gleichfalls neu definiert, nämlich als Reproduktion: als Wiederherstellung der Arbeitskraft für den Zweck ihrer erneuten Verausgabung, als ein Leben ausschließlich von der und für die Lohnarbeit[4]. Vom verdienten Lohn waren die mit diesem Zweck gesetzten Notwendigkeiten freilich gar nicht zu bestreiten. Davon ließ sich kaum mehr bezahlen als ein Dasein in überfüllten Wohnlöchern, immer nur einen Wochenlohn, einen Arbeitsunfall oder eine Krankheitswoche vom kompletten Elend entfernt. Die Abhängigkeit des Lebensunterhalts von den Launen der Natur und eines feudalen Herrn bzw. eines Zunftmeisters war ersetzt durch den mit dem Arbeitsentgelt gesetzten Zwang, sich von der Arbeit für die Arbeit zuerholen und dafür in Elendsverhältnissen einzurichten, denen diese Leistung mit der verdienten Summe gar nicht abzuringen war, die vielmehr die Last der Arbeit im Betrieb durch die Last eines fortwährenden außerbetrieblichen Überlebenskampfes ergänzten.

–  Nicht einmal diese erbärmliche Existenz war auch nur einigermaßen gesichert. Die Chance selber, sich, d.h. das eigene Arbeitsvermögen für einen Arbeitgeber zu Grunde zu richten und damit zu überleben, hängt in der Marktwirtschaft völlig von den Kalkulationen und Konkurrenzerfolgen der Geschäftsleute ab, die ihr Eigentum durch Lohnarbeit vermehren lassen; und diese Abhängigkeit war von Beginn an voll wirksam. Zu der sicheren Aussicht, früher oder später als Arbeitskraft erledigt zu sein und über kein brauchbares, also verkäufliches Arbeitsvermögen mehr zu verfügen, trat gleich das völlig unkalkulierbare Risiko hinzu, auch bei besten Kräften und bestem Willen keinen lohnzahlungswilligen Interessenten für die eigene Leistungskraft zu finden. Der Gang des kapitalistischen Geschäfts selber sorgt seither für die Reproduktion einer absoluten „Unterschicht“ von Bettlern, Verbrechern, Vagabunden, Prostituierten usw.: Ein durch seine Überflüssigkeit fürs Profitmachen definiertes Lumpenproletariat komplettiert die neue Lohnarbeiterklasse nach unten.

Die armen Leute von Manchester – und anderswo – wurden also darauf festgelegt, Lohnarbeiter oder – im schlimmeren Fall – gar nichts, nämlich unbrauchbar oder nicht benötigt, also schlicht überzählig zu sein. Sie wurden zur proletarischen Klasse formiert; und dieser weltgeschichtliche Schöpfungsakt lief geradlinig auf die Ruinierung dieser frischgebackenen kapitalistischen Species hinaus. Dabei konnten sich die Unternehmer in ihrem gesellschaftlich produktiven Zerstörungswerk stets auf tatkräftige Unterstützung durch die staatliche Gewalt verlassen, die ihr Eigentum schützte und auf der anderen Seite die „Freisetzung“ größerer Bevölkerungsteile von ihrer angestammten Subsistenzweise polizeilich absicherte. So kam die Elementarform des modernen Arbeitnehmers in die Welt: eine gesellschaftliche Menschenklasse, die mit ihrer Lohnarbeit einen ständigen Überlebenskampf zu führen hat und dabei auf verlorenem Posten steht.

c) Die politische Elite macht sich Sorgen – die Staatsgewalt sorgt für Ordnung

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind besorgte Stimmen laut geworden, die eine bessere Behandlung des proletarischen Menschenmaterials durch die kapitalistischen Fabrikherren anmahnten. Menschenfreunde und Gesellschaftsverbesserer wiesen warnend darauf hin, die Unternehmer wären im Begriff, die erste Springquelle des gesellschaftlichen Reichtums und auch ihres eigenen Erfolgs, das Arbeitsvermögen der niederen Klassen, durch den erschöpfenden Gebrauch, den sie davon machten, zu untergraben. Auch dem geschäftstüchtigen Weitblick einiger Kapitalisten fielen unliebsame Folgen der unbegrenzten Anwendung der Arbeitskraft zu Billiglöhnen auf. Sie diagnostizierten körperliche und „moralische Verkümmrung“, verursacht durch das völlige Fehlen jedes minimalen Unterrichts einschließlich jeglicher „Gymnastik“; sie machten geltend, die „künstlich produzierte intellektuelle Verödung“ unter den Arbeitskräften wäre ein Hindernis für ihre Unterwerfung unter die Fabrikdisziplin und eine Schranke für ihre sinnvolle Verwendung, z.B. für kompliziertere oder für Aufseherdienste[5]. In der exzessiven Verwahrlosung ihrer Leute fanden sie die Ursache für deren gelegentliche Insubordination und für erste organisierte Arbeitsverweigerungsaktionen. Sie stellten die Kalkulation an, inwieweit sich nicht etwas weniger Arbeit hier und etwas mehr Ausbildung dort geschäftsfördernd auswirken könnte, und propagierten die Notwendigkeit, dem schnellen physischen Verschleiß und dem permanenten Austausch ihrer Belegschaften durch eine pfleglichere Behandlung des Proletariats entgegenzuwirken.

Heute, im historischen Rückblick, werden solche Avantgardisten des „sozialen Gedankens“ als Philanthropen und leibhaftige Beweise für unternehmerisches Verantwortungsbewusstsein geschätzt. Zu ihrer Zeit haben sie sich mit ihren Ermahnungen weniger Freunde gemacht; jedenfalls nicht in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Da wurden sie, je nach dem, als „utopische Sozialisten“ verlacht oder als Verräter an der eigenen Zunft und Verfechter einer „kommunistischen Utopie“ verteufelt – rückblickend beurteilt: zu Unrecht; denn für sehr viel mehr als für die langfristige Benutzbarkeit der lohnarbeitenden Klasse haben sie sich in ihrer sorgenvollen Weitsicht nicht engagiert. Schon das ging für die aufstrebende Bourgeoisie aber zu weit; zwischen wohlmeinender Mängelrüge und umstürzlerischer Absage an die noch gar nicht umfassend und alternativlos durchgesetzte neue Wirtschaftsweise mochte die gesellschaftliche Elite nicht unterscheiden. Und außerdem ist es so, dass die professionellen Agenten und Nutznießer des kapitalistischen Eigentums in der Verelendung, die ihr Zugriff auf den „Faktor Arbeit“ bewirkt, bis heute keinen Handlungsbedarf für sich entdecken können – andernfalls käme es ja gar nicht erst zu „problematischen“ Auswirkungen der permanenten Kapitalvermehrung. Erstens und im Allgemeinen ist die bürgerliche Gesellschaft nämlich nicht umsonst so eingerichtet, dass ein jeder sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern hat; eben das macht schließlich das Wesen des Privaten aus; und da gehen die außerbetrieblichen Lebensumstände der Arbeitskräfte den Firmenchef im Prinzip genau so wenig etwas an wie umgekehrt die innerbetrieblichen Zustände jemand anderen als ihn. Zweitens und im Besonderen widerspricht es dem Sinn des kapitalistischen Geschäfts und daher jedem Geschäftssinn, als Kapitalist finanzielle Aufwendungen für die körperliche, moralische oder intellektuelle Aufmöbelung des Proletariats zu übernehmen, wenn dessen desolater Zustand sich gar nicht unmittelbar als eigenes Geschäftshindernis bemerkbar macht und umgekehrt eine Besserung gar nicht exklusiv dem eigenen Konkurrenzerfolg zugute kommt. Ein verantwortungsbewusster Unternehmer mag sich schon mal patriarchalisch wohlwollend zu seiner Belegschaft stellen, Siedlungen um seine Werkstätten herum errichten, eine Krankenanstalt spendieren und einen Betriebsverein für Leibesübungen finanzieren; mancher gefällt sich auch als Kunstmäzen; gerade das späte 19. Jahrhundert hat dafür glanzvolle Vorbilder zu liefern. Nur hat das nie etwas daran geändert, dass kein vernünftiger Arbeitgeber sich die allgemeine Besserstellung der Arbeitnehmerschaft zum Anliegen macht: Eher zieht er sein Kapital ab, als dass er freiwillig in die Arbeiterklasse „investiert“.[6]

Statt dessen findet der bürgerliche Staat – und in seiner Eigenschaft als verantwortungsbewusster Patriot auch der industrielle Kapitalist – in der miserablen Lage seiner lohnarbeitenden Bevölkerung Anlass zur Sorge. Ihm kann es auf Dauer nicht gleichgültig sein, wenn ein ganzer Bevölkerungsteil verkommt, der letztlich doch dauerhaft und irgendwie systemnotwendig zum nationalen Menschenbestand dazugehört. Und um diese Erkenntnis kamen die politische Elite und Obrigkeit schon zu Manchester-Zeiten nicht herum: Es waren einfach zu viele und wurden außerdem immer mehr, die in den neuen Produktionsstätten aufgerieben wurden und außerhalb ihrer Arbeitsstellen keinen bürgerlich hinnehmbaren Mindeststandard auch nur in Sachen Wohnung, Kleidung, Ernährung, Hygiene und Gesundheit hinkriegten. Hohe Kindersterblichkeit, niedrige Lebenserwartung und physische Degeneration gefährdeten die Nachwuchsproduktion insgesamt und den Nachschub an militärisch verwendbarem Menschenmaterial im Besonderen. Darüber hinaus „stinkt“ das Proletariat, sieht ekelerregend aus in seiner Ärmlichkeit[7] und produziert Typhusoder Cholera-Epidemien, die keine Klassenschranken kennen und frech auch auf Angehörige der herrschenden Klasse übergreifen: Deren Gesundheits- und Reinlichkeitsbedürfnis fand sich durch die Lebensverhältnisse des Proletariats angegriffen. Von ihm und seiner Arbeit wollten sie leben, dadurch die Nation in eine führende Stellung bringen – und eben deswegen nicht von den dadurch provozierten, im Proletariat grassierenden Epidemien „molestiert“ werden. Hinzu kam die sittliche Verwahrlosung: Wo der Staat eine ganze gesellschaftliche Klasse, die er doch braucht und seine Wirtschaft auch, als rechtlosen Abschaum definiert und behandeln lässt, da erntet er notwendigerweise ein Kriminalitätsproblem[8] und nicht bloß das. Indem die Staatsmacht des Frühkapitalismus die funktionell unentbehrliche Klasse eigentumsloser Arbeiter von persönlicher Herrschaft freisetzte, von den Rechten eines freien und gleichen Staatsbürgers aber ausschloss, schuf sie sich, anstelle einer der Obrigkeit ergebenen Bürgerschaft, ein „Volk im Volke“, das über „andre Ideen und Vorstellungen, andre Sitten und Sittenprinzipien, andre Religion und Politik“ als die Bourgeoisie verfügte und auf dessen Loyalität einfach kein Verlass war. Zum Soldatenberuf etwa mussten die minderbemittelten Untertanen vielfach erst gepresst werden, was Folgen für die Moral der Truppe hatte; einigen Proleten mag sogar schon eingefallen sein, dass sie mit den Soldaten auf der feindlichen Seite mehr gemeinsam hatten als mit den Offizieren, deren Schießbefehlen sie unbedingt zu gehorchen hatten. Was die inneren Verhältnisse betrifft, so blieb es nicht bei „Verbrechen, der ersten, rohsten und unfruchtbarsten Form der Empörung“[9]; es kam zu ersten Versuchen, die Konkurrenz der Arbeiter untereinander aufzuheben und sich gegen die Ausbeutungstechniken der Unternehmer organisiert zur Wehr zu setzen; was unter den gegebenen Umständen einer sozialen Kriegserklärung gegen die Gesellschaft und ihren Staat insgesamt gleichkam.

Die Staatsgewalt bekam also Probleme – selbstverständlich nicht die ihrer proletarischen Untertanen mit Hunger, Seuchen, Milieu-üblicher Rohheit, dreckigen Behausungen usw., sondern solche der „Allgemeinheit“ mit ihrer vom wohlanständigen bürgerlichen Dasein ausgegrenzten Abteilung: Sie bekam politische Probleme mit der Brauchbarkeit und Lenkbarkeit ihrer proletarischen Klasse. Mit der Problemstellung war auch schon ihre erste, grundlegende Antwort vorgezeichnet: Vor allem andern ging es ihr als Garantiemacht des Rechts um die Durchsetzung von Ruhe und Ordnung im Gemeinwesen, also um die gewaltsame Ruhigstellung der unzufriedenen Unterklassen und die Unterdrückung des „abweichenden Verhaltens“, mit dem sie so unangenehm auffielen. Ihre Zusammenschlüsse wurden als „Attentat auf die Freiheit der Unternehmer“ verboten und zerschlagen;[10] Protest wurde kriminalisiert und unterbunden; der Polizeiapparat wurde dementsprechend ausgebaut. Aber auch dort, wo Teile der Arbeiterschaft infolge ihres Arbeitseinsatzes und des dafür gezahlten Hungerlohns schlicht unfähig waren, die von ihnen erwartete konstruktive Rolle als Staatsvolk zu spielen, nahm der Staat dies erst einmal als Ausdruck fehlenden guten Willens und ging mit Polizei, Gefängnis und Quarantäne dagegen vor. So wurde gegen Epidemien die Gesundheitspolizei eingesetzt; bedarfsweise wurden ganze Wohngebiete abgeriegelt. Betteln und Vagabundieren wurden zu kriminellen Delikten erklärt und mit der Einweisung in Arbeitshäuser – in England „Häuser des Schreckens“ genannt – geahndet. Zur Behebung des allgemeinen Mangels an „sittlicher Bildung“ wurde als wichtigstes Erziehungsmittel die „Peitsche, die brutale, nicht überzeugende, nur einschüchternde Gewalt“[11] eingesetzt. Was dann immer noch zum Überleben fehlen mochte, blieb der Mildtätigkeit auf kommunaler Ebene sowie dem zähen Lebenswillen der Betroffenen selbst überlassen, der ja bis heute dafür sorgt, dass ansehnliche Teile der Weltbevölkerung unter Bedingungen weiterexistieren, unter denen das eigentlich gar nicht geht...

Fürs erste hatte die Staatsgewalt damit das Ihre getan, um das Eigentum produktiv zu machen und eigentumslose Massen in Lohnarbeiter zu verwandeln. Mit ihrer streng polizeilichen Vorgehensweise leistete sie sich allerdings einen gewissen Widerspruch: Die „Unterschichtler“ wurden als freie Personen anerkannt, zugleich aber, weil bloß freie Persönlichkeiten und ohne Eigentum, als rechtloser Abschaum traktiert; eine ganze Gesellschaftsklasse, die dem Kapital als dessen menschliche Produktivkraft dienen und ein unendliches Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums in seiner neuen, nämlich privaten Form erarbeiten sollte, wurde gar nicht als unentbehrliche Ressource behandelt, sondern mit Gewalt dem puren Verschleiß, ihrer Vernichtung durch Lohnarbeit überantwortet. Dass sich beides nicht verträgt; dass vielmehr die Freiheit der Person genau so viel rechtliche und politische Anerkennung verdient wie die des Eigentums – und auch bekommen kann, ohne dass Recht und Eigentum darunter leiden müssen; und dass ein dauerhafter kapitalistischer Fortschritt nur zu haben ist, wenn den Überlebensnotwendigkeiten des Proletariats ähnlich viel praktische Anerkennung zuteil wird wie der sachzwanghaften Rücksichtslosigkeit des produktiven Eigentums – ohne dass deswegen Gleichmacherei zwischen den Klassen einreißen muss: Diese höhere Weisheit der gerade erst in Gang gebrachten Klassengesellschaft hat die moderne bürgerliche Obrigkeit erst lernen müssen. Und das war mühselig. Beigebracht haben es ihr jedenfalls nicht irgendwelche weitsichtigen wohlmeinenden Anhänger der neuen Produktionsweise; der notwendige Fortschritt von der uranfänglichen Durchsetzung des Kommandomonopols der Eigentümer über die gesellschaftliche Arbeit und der puren Unterwerfung der arbeitenden Armen hin zum herrschaftlichen Management der Klassengesellschaft in allen ihren Abteilungen ist überhaupt nicht durch bessere Einsicht zustande gekommen. Die Lohnarbeiterklasse selbst, angeleitet durch ihre „weitsichtigsten“ und wohlmeinendsten Repräsentanten, Anwälte und Anführer, hat sich dafür schlagen müssen. Mit ihrer Gegengewalt hat sie dafür gesorgt, dass die politische Gewalt des bürgerlichen Gemeinwesens sich zu ihrem Elend anders gestellt hat – und dass so aus der kapitalistischen Ausbeutung des Faktors Arbeit überhaupt eine in ihrer Rücksichtslosigkeit dennoch dauerhaft funktionsfähige Produktionsweise geworden ist. Ausgerechnet mit ihrem Widerstand gegen das Kapital hat die Arbeiterbewegung erkämpft, dass der bürgerliche Staat sich geändert und zum perfekten Klassenstaat entwickelt hat, der alle bürgerlichen und proletarischen Interessen sachgerecht betreut, damit sich am Kapitalismus nichts zu ändern braucht – Ironie der Geschichte!

[2] Auf die listige These von der allseitigen Nutzenmaximierung – den zynischen Kurzschluss von der Tatsache, dass Lohnarbeiter noch für den elendesten Lohn arbeiten, auf deren befriedigtes Interesse, weil sie es sonst schließlich nicht tun würden... – sind die Propagandisten der neuen Wirtschaftsweise damals schon verfallen, noch bevor die „Grenznutzentheorie“ eine komplette falsche Wissenschaft daraus verfertigt hat.

[3]„An die Stelle der künstlich erzeugten Unterschiede der Teilarbeiter“, nämlich ihres speziellen handwerklichen Geschicks, treten in der warenproduzierenden Fabrik „vorwiegend die natürlichen Unterschiede des Alters und des Geschlechts“ als Bestimmungsgrößen des Nutzens, den das kapitalistische Eigentum aus seinen Lohnarbeitern herauswirtschaftet: K. Marx, Das Kapital Bd. 1 (im Folgenden KI), S. 442.

[4] Der politökonomischen Notwendigkeit, sich mit Lohnarbeit nützlich zu machen, wurde mit staatlicher Nötigung konsequent nachgeholfen –

z.B. mit dem Verbot der zweckwidrigen Gewohnheit aus den Zeiten vor der Epoche des bürgerlichen Privateigentums, Holz, Beeren oder auch bloß Pferdemist aufzusammeln. Darüber ist die moderne Demokratie weit hinaus: Deren Sozialpolitiker denken darüber nach, wie das Verbot von Schwarzarbeit wirksamer zu gestalten ist.

[5] Vgl. KI, S. 421 sowie exemplarisch S. 508f: „Sobald sie zu alt für ihre kindische Arbeit werden, also wenigstens im 17. Jahr, entläßt man sie aus der Druckerei. Sie werden Rekruten des Verbrechens. Einige Versuche, ihnen anderswo Beschäftigung zu verschaffen, scheiterten an ihrer Unwissenheit, Roheit, körperlichen und geistigen Verkommenheit.“

[6]„Das Kapital ... wird in seiner praktischen Bewegung durch die Aussicht auf zukünftige Verfaulung der Menschheit ... so wenig und so viel bestimmt als durch den möglichen Fall der Erde in die Sonne. ... Après moi le déluge! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.“ (KI, S. 285).

[7] Aus dem „Manchester Guardian“ zitiert Engels folgenden Leserbrief, den ein Anhänger der Hamburger Schill-Partei zu Beginn des 3. Jahrtausends genau so gut geschrieben haben könnte: „Herr Redakteur! Seit einiger Zeit begegnet man auf den Hauptstraßen unserer Stadt einer Menge von Bettlern, die teils durch ihre zerlumpte Kleidung und ihr krankes Aussehen, teils durch ekelhafte, offene Wunden und Verstümmlungen das Mitleid der Vorübergehenden auf eine häufig sehr unverschämte und molestierende Weise rege zu machen versuchen. Ich sollte meinen, wenn man nicht nur seine Armensteuer bezahlt, sondern auch reichlich zu den wohltätigen Anstalten beiträgt, so hätte man doch genug getan, um das Recht zu haben, vor solchen unangenehmen und unverschämten Behelligungen sichergestellt zu werden; und wofür bezahlt man denn eine so hohe Steuer zum Unterhalt der städtischen Polizei, wenn diese einen nicht einmal soweit schützt, daß man ruhig in die Stadt oder heraus gehen kann?... Ihre ergebene Dienerin, eine Dame.“ (F.Engels, Die Lage..., in MEW 2, S.488)

[8] Wo der Mensch