Das Schattenhaus - Mascha Vassena - E-Book
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Mascha Vassena

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Beschreibung

Ein verschlafenes Bergdorf im Tessin: Anna ist nach Vignano gekommen, um die alte Villa zu verkaufen, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. Doch bei ihrer Ankunft stellt sie überrascht fest, dass in dem Haus eine ältere Dame lebt, die den Dachboden bewohnt. Wer ist sie? Und warum verlässt sie nie ihr Zimmer? Langsam begreift Anna, dass ihre Mutter ein düsteres Geheimnis mit ins Grab nahm. Und dass die Schatten der Vergangenheit noch immer über der verfallenen Villa schweben ...

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Seitenzahl: 431

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

3. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96492-0

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Umschlagabbildung: Sam Strickler (Haus), kavram (Garten/Auffahrt)/beide Shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Prolog

Sie sitzt auf dem Hocker, während es draußen hell wird, und betrachtet das Blut, das sich mit all der Farbe mischt. Kobaltblau, Kadmiumgelb, Goldocker quellen aus den Tuben, die während des kurzen Kampfes zerplatzt sind. Die Farben haben sich über die Dielen verteilt, und darüber liegt das geronnene Blut wie eine Schicht Krakelierlack.

Blinzelnd, als wäre sie gerade aufgewacht, erhebt sie sich, nimmt eine der frischen Leinwände vom Regal, kauert sich nieder und presst die grundierte Seite in das Gemisch. Sie drückt mit der flachen Hand auf die Rückseite, dann zieht sie die Leinwand wieder ab und stellt sie auf eine der Staffeleien. Was sie auf dem Bild sieht, gefällt ihr. Ein Farbwirbel, dessen Geschichte nur sie kennt.

Vorsichtig geht sie um das Durcheinander am Boden herum und öffnet das mittlere der drei großen Fenster. Sie taucht ihren Kopf in die kühle Morgenluft wie in kaltes Wasser und fühlt sich geläutert. Es ist so friedlich still, sogar die Vögel in der ausladenden Krone des Kampferbaums ruhen noch, und am Horizont hinter den Hügeln beginnt es gerade erst zu dämmern.

Eine lang ersehnte Ruhe breitet sich in ihr aus. Alle Kämpfe sind nun vorüber. Sie dreht sich um und betrachtet das Bild, das ihr Geliebter von ihr gemalt hat. So hat er sie unsterblich gemacht. Langsam schweift ihr Blick zu ihm, ein letztes Mal, damit sie ihn in Erinnerung behalten kann, wie er war. Seine Augen sind ein wenig geöffnet, und man könnte glauben, er döse vor sich hin, wäre da nicht das blutverklebte Haar an seiner Schläfe. Doch das macht ihr nichts aus. Sie lächelt zärtlich.

Es schmerzt sie, dass er nicht bei ihr bleiben konnte – doch das, was ihn ausgemacht hat, liegt in dem, was er geschaffen hat. Endlich wird er für immer ihr gehören.

Kapitel 1

2013

Fünfzehn Jahre lang war Anna nicht mehr auf der Insel gewesen, und sie hatte geglaubt, sie würde nie zurückkehren. Doch jetzt stand sie an der Reling der Fähre und sah hinüber zu dem flachen Stück Land, das sich nach und nach aus dem Wasser hob. Krampfte sich ihr Magen so zusammen, weil das Schiff schlingernd gegen die Wellen ankämpfte? Auf dem Wasser bildeten sich weiße Schaumkronen. Außer ihr war niemand an Deck. Sie blickte zum Himmel, wo Möwen an unsichtbaren Seilen in der Luft zu hängen schienen, die Schnäbel gelb vor den grauen Wolken. Ihre Schreie mischten sich mit dem Rauschen der Bugwelle und dem Stampfen der Maschinen.

Es war nicht der Seegang, der ihr auf den Magen schlug, sondern die Furcht vor dem, was sie nach dem Anlegen erwartete. Das Haus ihrer Mutter, das Mädchen darin, das sie seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Friederike – den Namen hatte Annas Mutter für sie ausgesucht, als würde das Kind dadurch den anderen gleich. Ein gewöhnlicher Name, der verbergen sollte, wer das Mädchen wirklich war. Wäre es nach Anna gegangen, würde sie heute Giulia heißen, aber ihre Mutter hatte, als sie den Namen eintragen ließ, diesen Wunsch einfach ignoriert. Wie immer hatte sie entschieden, was das Beste war.

Die Insel war inzwischen ganz nah, und Anna konnte die Anlegestelle und die Apartmenthäuser am Strand erkennen, die aussahen wie riesige Zuckerwürfel. Ein Angestellter der Fährgesellschaft stapfte im gelben Friesennerz über Deck. In seinem rechten Ohr glänzte der Ohrring mit eingeprägten Initialen, an dem man in früheren Zeiten die ertrunkenen Fischer identifiziert hatte, falls das Meer sie wieder hergegeben hatte.

Das Maschinengeräusch veränderte sich, die Fähre drosselte ihre Fahrt. Der Anleger war nur noch wenige Meter entfernt, die Wartenden, die zum Festland hinüberwollten, bekamen Gesichter. Der Rumpf der Fähre schabte an der Kaimauer, während der Mann im Friesennerz die Taue um die Poller warf und mit seinem Kollegen, der wie sein Zwilling aussah, die Bugklappe herunterließ. Um Anna herum ließen die Passagiere, die mit dem Auto übergesetzt hatten, die Motoren an, die anderen Reisenden strömten an Deck, zogen sich Kapuzen über oder spannten Regenschirme auf. Anna schulterte ihren Armeerucksack und betrat als Erste den Steg. Als der Mann mit dem Ohrring sie grüßte, zuckte sie zusammen. Kannte er sie? Sie zwang sich, ruhig zu bleiben – wahrscheinlich wollte er nur freundlich sein.

Ihre Schritte schepperten auf dem Metall, unter ihr hob und senkte sich das Wasser und klatschte an die Kaimauer, dann war sie an Land. Es war merkwürdig vertraut, nach so vielen Jahren wieder am Anleger zu stehen, wo das übliche Durcheinander herrschte: Busse mit getönten Fenstern boten Rundfahrten an, Reisegruppen standen um ihre Koffer herum, und Möwen glitten in der Hoffnung auf ein Stück Krabbenbrötchen dicht über die Köpfe hinweg.

Den Weg von hier zum Haus ihrer Mutter hätte Anna immer noch blind gefunden. Sie würde zu Fuß gehen, ein letzter Aufschub, bevor sie Rike gegenübertreten musste. Ihr Rucksack war leicht. Sie hatte nur das Nötigste gepackt, nachdem sie den Anruf bekommen hatte.

Barbara, ihre Vorgesetzte, hatte sie zwingen wollen, erst ihre Schicht zu beenden, weil sie so schnell keinen Ersatz für die Rezeption auftreiben könne.

»Meine Mutter ist gerade gestorben!«, hatte Anna ihr ins Gesicht geschrien und war einfach gegangen. Später hatte Barbara ihr eine SMS geschickt, sie müsse nicht wiederkommen. Anna hatte nicht geantwortet.

Stattdessen war sie, nachdem sie wahllos ein paar Klamotten und sonstige Dinge in den Rucksack gestopft hatte, zum Altonaer Bahnhof gelaufen, um den nächsten Zug nach Bremen zu nehmen.

Meine Mutter ist tot, hatte sie die ganze Reise über gedacht, ohne es wirklich zu begreifen. Der einzige Mensch, der, abgesehen von Rike, mit ihr verwandt war, lebte nicht mehr. Anna war, als würde sie von einer Brücke stürzen, die unvermittelt in der Luft endete. Und während sie in der wattigen Atmosphäre des ICE saß und draußen das flache Land vorüberzog, sah sie ihre Mutter vor sich. Eine Frau, die alles getan hatte, um nicht aufzufallen, und die doch in dem kleinen Inselort immer fremd geblieben war, anders schon durch ihren starken italienischen Akzent, den sie nie abgelegt hatte und für den Anna sich als Mädchen oft geschämt hatte. Zu Hause hatten sie nur Italienisch miteinander gesprochen. Doch am besten war ihre Mutter darin gewesen zu schweigen. Auf Fragen, die Anna ihr über ihre Vergangenheit gestellt hatte. »Dein Vater ist tot« und »Ich wollte weg aus dem Tessin« war alles gewesen, was sie aus ihr herausbekommen hatte, und als sie sich irgendwann mit diesen vagen Antworten nicht mehr hatte zufriedengeben wollen, hatte ihre Mutter zum einzigen Mal die Beherrschung verloren. »Porco Dio, was geht dich mein Leben an? Ich habe dir deines geschenkt, genügt das nicht? Du hast eine Mutter, einen Vater brauchst du nicht, hast du verstanden?« Danach hatte Anna aufgehört, Fragen zu stellen, und versucht, sich damit abzufinden, dass sie keine Antworten bekommen würde. Mit der Zeit war ihr das gut gelungen, und jetzt ballte sich in ihrem Magen eine diffuse Furcht zusammen, ganz so, als stände sie vor einer Tür, hinter der etwas wartete, das sie nicht sehen wollte.

Anna schreckte auf, als der Imbisswagen scheppernd durch den Mittelgang rollte. Sie kaufte einen Becher Kaffee, von dem sie wusste, dass er grauenhaft schmecken, sie aber immerhin wärmen würde. Die Klimaanlage im Zug war zu kalt eingestellt, und sie fühlte sich wie erstarrt. Der kurze Kontakt zu der Frau, die den Imbisswagen schob, hatte genügt, um sie aus ihren Grübeleien in die Wirklichkeit zurückzuholen. Es gab so vieles, was sie jetzt organisieren musste. Wo sollte sie anfangen? Sie musste eine Beerdigung ausrichten, wahrscheinlich mit dem Priester sprechen, auch mit Frau Harms, der Vermieterin ihrer Mutter, die Rike vorübergehend bei sich aufgenommen hatte. Sie würde zur Bank gehen und sich um die Auflösung der Konten kümmern müssen. Vor allem aber war die Frage zu klären, was mit Rike geschehen sollte. Sie musste eine Entscheidung treffen. So, wie ihre Mutter damals über sie entschieden hatte.

»Porca miseria, du hast dir das selbst zuzuschreiben, jetzt trägst du auch die Folgen«, hatte sie bestimmt. »Eine Abtreibung kommt nicht infrage, ich lasse nicht zu, dass meine Tochter zur Mörderin wird. Du kriegst das Kind.«

Anna hatte aufbegehrt, zum ersten Mal, aber ihre Mutter war stur geblieben. Simona, die Harte. Nie hatte sie die Zügel aus der Hand gegeben. Wer Rikes Vater war, hatte Anna ihr nicht gesagt. Aus Rache dafür, dass sie ein Kind bekommen musste, das sie nicht wollte, das sie aufgegeben hatte, um sich ihre Freiheit zu erkaufen, und das jetzt auf sie wartete, in einem kleinen weißen Haus, eine Viertelstunde Fußweg entfernt.

In der kühlen Luft unter dem tiefen, endlosen Himmel hatte sie Angst davor, ihrer Tochter gegenüberzutreten. Wie würde es sein, nachdem sie sich so lange Zeit nicht gesehen hatten? War Rike überhaupt bewusst, dass sie zukünftig bei ihr leben würde?

Einen Moment lang dachte Anna daran, wieder an Bord der Fähre zu gehen und einfach umzukehren. Doch das war natürlich nicht möglich. Sie warf noch einen Blick zurück auf die grauen Wellen, die an die Kaimauer klatschten, dann schulterte sie ihren Rucksack und ließ den Hafen hinter sich.

Der Wind zerrte an ihrem Haar, und die Luft war satt von Tanggeruch und Salz. Touristen kamen ihr entgegen, ihre farbigen Windjacken bauschten sich wie Ballons. Wäre sie nicht so nervös gewesen, hätte sie den Spaziergang genossen, aber jeder Schritt brachte sie dem Wiedersehen mit Rike näher. Sie wollte nichts von alldem wissen, was ihr in den kommenden Tagen bevorstand: die Beerdigung, die Beileidsbekundungen der Nachbarn. Sie war nie gut darin gewesen, das Richtige zu tun, eigentlich waren die letzten fünfzehn Jahre eine Abfolge falscher Entscheidungen gewesen, und es kam ihr unwahrscheinlich vor, dass sich das ausgerechnet jetzt ändern würde.

Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie den Park am Rosengarten durchquert hatte und auf der anderen Seite in die Stadt kam. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert. Wie sehr war es ihr damals auf die Nerven gegangen, dass die Straßen und Häuser stets wirkten wie gerade frisch gestrichen. Auch jetzt kamen die Fassaden ihr verlogen vor.

Als rechter Hand der Rotklinkerbau der Grundschule mit seinem hohen Giebel erschien, schnürte sich ihr unvermittelt der Hals zu, und sie ging schnell weiter. Jetzt befand sie sich auf ihrem alten Schulweg. Nur noch hundert Meter, dann war sie zu Hause. Sie zögerte kurz, ihre Beine fühlten sich schwer an. Ein nervöses Flattern breitete sich in ihrer Magengrube aus. Über sich selbst verärgert, gab sie sich einen Ruck, bog in die Frisiastraße ein und sah auf ihre Füße, bis sie vor dem schmalen weiß verputzten Haus stand.

Das Tor quietschte, als Anna es aufdrückte. Im winzigen Vorgarten lehnten zwei weiße Klappstühle neben einem Bistrotisch an der Hauswand. Anna nahm die Stufe zur Eingangstür, neben der ein Mobile aus blauen Holzfischen vom Vordach herabhing. Ob Rike es gebastelt hatte? Sie atmete tief ein und drückte die Klingel. Es erschien ihr ganz unmöglich, dass ihre Mutter nicht die Tür öffnen würde. Im Inneren des Hauses erklang der vertraute Glockenton. Anna stellte ihren Rucksack ab und klingelte noch einmal, aber nichts rührte sich. Vielleicht hatte Frau Harms Rike mit zu sich genommen.

Anna kramte in ihrem Rucksack, bis sie den Hausschlüssel zwischen den Fingern spürte. Es kam ihr seltsam vor, dass sie ihn noch immer besaß nach all den Jahren, in denen sie ihn nicht benutzt hatte. Er hing an einem angegrauten Miniaturstoffturnschuh, den ihr Kerstin, ihre beste Freundin, zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Was wohl aus ihr geworden war? Nachdem Anna die Insel verlassen hatte, hatte sie nie wieder Kontakt zu ihr gesucht. Kerstin war Teil einer Vergangenheit, die sie vergessen wollte.

Anna schloss die Tür auf und betrat die kühle Diele. In der Luft lag ein Hauch von Basilikum. Simona hatte ihre salsa al pomodoro stets mit frischem Basilikum gemacht. Dieses Aroma, das sie empfangen hatte, wenn sie nach der Schule heimgekommen war, hatte Anna nie vergessen. Es war unvorstellbar, dass Simona nie wieder in der Küche stehen und fusilli mit Tomatensoße kochen würde.

Sie stellte den Rucksack in der Diele ab und ging in die Küche. Das Basilikum stand am Fenster, das Licht fiel durch die Blätter und brachte sie zum Leuchten. Über dem Gläserbord tickte die altmodische Kuckucksuhr, die ihre Mutter einmal auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Als kleines Mädchen hatte Anna es geliebt, wenn zur vollen Stunde der Vogel aus seiner Klappe geschossen kam, doch irgendwann war die Uhr kaputtgegangen und nie repariert worden. Anna setzte sich an den Küchentisch und stützte den Kopf in die Handflächen. Ihr war nach Weinen zumute, aber es kamen keine Tränen. Vielleicht war es zu frisch, vielleicht war zu viel passiert, um trauern zu können.

Als sie Schritte auf der Treppe hörte, fuhr sie unwillkürlich zusammen. Sie stieß den Stuhl so heftig zurück, dass er auf den Boden krachte. Einen Herzschlag lang glaubte sie, das alles wäre nur ein Irrtum und Simona würde gleich hereinkommen. Aber das war natürlich Unsinn.

»Hallo?«, kam eine zaghafte Stimme von der Treppe. »Frau Harms?«

Anna schluckte und trat in die Diele. Der Holzboden knarrte. Ein Gesicht erschien über dem Treppengeländer, eingefasst von wildem, schwarzem Haar. Zwischen den Strähnen blickten zwei schwarz umrandete Augen hervor, und ein pinkfarben leuchtender Mund öffnete sich erstaunt.

»Wer sind Sie denn? Suchen Sie Frau Harms? Die ist einkaufen.« Die Stimme des Mädchens klang bereits desinteressiert, und es legte den Kopf schräg, um sich die Stöpsel des Kopfhörers wieder in die Ohren zu stecken.

Anna wollte etwas sagen, aber es kam nur ein eigenartiges Geräusch heraus, eine Mischung aus verlegenem Lachen und unsicherem Räuspern.

»Hallo«, setzte sie schließlich an. »Ich bin’s – Anna.«

Rike näherte sich zögernd dem Treppenabsatz. Sie trug schwarz-blau geringelte Strumpfhosen unter einem Minirock mit Schottenkaro. Wie groß sie war. Viel erwachsener, als Anna erwartet hatte.

»Ach so. Frau Harms hat erzählt, dass du kommst, aber ich dachte, erst morgen oder so.« Rike schürzte die Lippen, als wunderte sie sich, was Anna hier zu suchen hatte.

»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte Anna. »Jemand muss sich doch um dich kümmern.«

»Das hast du bisher auch nicht gemacht.« Rike ließ sich gegen die Wand fallen und verschränkte die Arme. »Also brauchst du jetzt auch nicht mehr damit anzufangen.«

Für einen Moment war Anna sprachlos, dann musste sie sich eingestehen, dass Rike aus ihrer Sicht recht hatte. Sie wusste ja nicht, wie weh es tat, eine Fremde für sein eigenes Kind zu sein, es nur einmal im Jahr zu sehen, sich ansonsten mit Postkarten zu Weihnachten und zum Geburtstag zu behelfen, nicht zu wissen, wohin mit der Liebe und dem Schmerz. Doch Simona hatte immer behauptet, es sei besser, das Mädchen nicht zu verwirren, das seine Großmutter »Mami« nannte und es vermied, Anna überhaupt anzusprechen. Und als Rike acht Jahre alt gewesen war, hatten die Postkarten und auch die jährlichen Besuche in Hamburg plötzlich aufgehört. Ihre Mutter hatte Anna empfohlen, das Kind nicht durcheinanderzubringen und es in Ruhe zu lassen. Anfangs hatte Anna es kaum ertragen, das Wenige, was sie von ihrer Tochter mitbekam, auch noch zu verlieren, doch daran war sie schließlich selbst schuld. Im Lauf der Zeit arrangierte sie sich mit der Situation und begann, ihr eigenes Leben zu leben. Sie lernte, den Schmerz in seine Höhle zurückzuscheuchen, wenn er sich hervorwagte. Sie weinte nicht mehr, weil sie wusste, dass der Damm, den sie so mühevoll errichtet hatte, beim geringsten Anzeichen von Schwäche brechen würde. Und nun, als sie ihrem Kind gegenüberstand, das mit trotzigem Blick vom Treppenabsatz auf sie herunterblickte, merkte sie, dass es lange dauern würde, den Schutzwall wieder abzutragen, Stein für Stein.

»Aber jetzt bin ich nun mal hier«, erklärte sie sachlich, »und ich gehe nicht wieder weg, ob dir das passt oder nicht.«

»Ach, ist doch alles Scheiße«, entgegnete Rike zornig, bevor sie sich von der Wand abstieß und nach oben verschwand. Kurz darauf wurde eine Tür so heftig ins Schloss geworfen, dass Anna meinte, eine Druckwelle zu spüren. Einen Augenblick lang verharrte sie am Fuß der Treppe und starrte auf die Stelle, wo Rike gestanden hatte. Schließlich drehte sie sich um und ging zurück in die Küche.

Aufgewühlt nahm sie die Teedose aus dem Schrank und holte die blau-weiße Kanne vom Bord. Doch ihre Hand zitterte, sodass der Henkel ihrem Griff entglitt und das Gefäß auf den Fliesen zerschellte. Anna hatte Tee aus dieser Kanne getrunken, seit sie denken konnte. Sie starrte die Scherben an, dann holte sie Handfeger und Kehrschaufel unter der Spüle hervor und begann, das zerbrochene Porzellan aufzukehren. Aber auf einmal hatte sie keine Kraft mehr in den Fingern. Sie ließ den Handfeger fallen, setzte sich an den Küchentisch und legte ihre Hände auf die Tischdecke aus buntem Wachstuch. Natürlich, dachte sie und ließ die Fingerkuppen über das Gewebe gleiten. Praktisch und leicht zu säubern. Simona, die Ordentliche.Es kam ihr vor, als vibrierte alles um sie herum, bis sie merkte, dass nicht nur ihre Finger, sondern ihr ganzer Körper zitterte. Sie war so erschöpft, dass sie am liebsten den Kopf auf den Tisch gelegt hätte, um zu schlafen.

Doch sie musste sich jetzt zusammenreißen und überlegen, wie es weitergehen sollte. Würde sie Rike mit nach Hamburg nehmen? Der Gedanke, plötzlich für ein Kind sorgen zu müssen, versetzte Anna in Panik. Niemand war weniger dazu geeignet als sie. Mit ihren einunddreißig Jahren hatte sie noch nicht einmal eine richtige Wohnung, sondern lebte in einem WG-Zimmer. Und nach Barbaras SMS war sie nun auch noch arbeitslos.

Ihre Augen brannten. Das Muster der Tischdecke verschwamm zu einem farbigen Brei, aber sie weinte nicht. Weinen brachte nichts, das hatte sie im Lauf der Jahre gelernt. Stattdessen richtete sie sich auf und atmete tief ein. Rike hatte nur noch sie, und sie hatte nur noch Rike. Sie würden lernen müssen, Mutter und Tochter zu sein.

Die Haustür wurde aufgestoßen, und jemand betrat die Diele. »Leiwe Gott, wat is dat für’n Tach«, tönte es durch das Erdgeschoss. Wenige Augenblicke später kam Frau Harms, in jeder Hand eine Einkaufstüte, schnaufend in die Küche.

Anna kannte die Vermieterin seit ihrer frühen Kindheit. Einen Moment lang sah Frau Harms sie mit schräg gelegtem Kopf an, dann stellte sie die Tüten auf die Arbeitsplatte und zog Anna in eine herzliche Umarmung.

»Meen Deern!«, rief sie, als wäre Anna immer noch sechzehn. Kurzerhand wechselte sie vom Platt ins Hochdeutsche. »Diese Touristen! Ich sage schon seit Ewigkeiten, dass man die auf der Insel nicht Auto fahren lassen sollte! Und dann noch betrunken am Steuer, nee!« Sie drückte Anna noch einmal so stark, dass der die Luft wegblieb. »Gut, dat du da bist, Deern, jemand muss sich ja um die Lütte kümmern. Kiek ma, ich hab euch was zu essen mitgebracht, dat Leben muss ja weitergehen.«

Anna wand sich ein wenig, um Frau Harms’ Umklammerung zu entkommen. Sie mochte es nicht, wenn man sie festhielt. Aber sie war froh, dass die stämmige Vermieterin keine Rührseligkeit verbreitete.

»Ich bring das schon in Ordnung, setz dich mal wieder.« Frau Harms fegte die restlichen Porzellansplitter zusammen und wischte sich die Hände am Küchenhandtuch ab. »Ich mach uns mal een Happen«, verkündete sie. »Hat ja keen Sinn, wenn wer auch starven. Wo is’ denn die Lütte?«

»Oben. Sie war nicht gerade begeistert, mich zu sehen.«

Frau Harms winkte ab. »Das gibt sich. Geh man hoch und sag ihr Bescheid, dass es was zu essen gibt.«

Die Treppenstufen knarzten wie eh und je, an den Wänden hingen noch immer die Tierpuzzles, die Anna als Kind so gerne gemacht und dann auf Karton geklebt hatte. Im Flur des ersten Stocks, der nur durch ein winziges Fenster an der Giebelseite Licht erhielt, blieb sie kurz stehen und strich über die abgegriffene Holzkugel auf dem Pfosten des Treppengeländers. Hier oben gab es nur zwei Schlafräume, das Bad und ein Kabuff mit einem Schreibtisch. Anna hatte bisher nie darüber nachgedacht, dass Rike in ihrem ehemaligen Kinderzimmer wohnen musste. Als sie jetzt vor der geschlossenen Tür stand, hatte sie ganz genau vor Augen, wie es früher ausgesehen hatte, mit den Mandalabildern an der Dachschräge, und sie roch beinahe die nach Ylang-Ylang-Blüten duftenden Räucherstäbchen, die sie damals ständig angezündet hatte, während sie und Kerstin Tarotkarten gelegt hatten. Die Erinnerung ließ sie kurz lächeln. Dann klopfte sie, und als Rike nicht antwortete, öffnete sie vorsichtig die Tür. Rike hatte sich auf dem Bett zusammengerollt und hielt einen weißen Plüschhasen umklammert. Kajal und Wimperntusche waren über ihren Wangen verlaufen, und Anna schämte sich, weil sie so wenig Verständnis für Rike gezeigt hatte. Das Mädchen hatte den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren, es brauchte Zeit zum Trauern.

Als Rike Anna bemerkte, verschloss sich ihre Miene sofort. Sie warf das Plüschtier in eine Ecke und zog die Kopfhörer aus den Ohren.

»Was ist?«

»Kommst du runter? Frau Harms macht etwas zu essen«, sagte Anna so vorsichtig wie möglich. Sie hatte das Gefühl, Rike würde sich beim ersten falschen Wort zurückziehen wie eine Schnecke, deren Fühler man mit dem Finger antippte.

Rike zog die Nase hoch. »Ich hab keinen Hunger.«

»In Ordnung, ich lass dich in Ruhe«, erwiderte Anna leise. Sie wollte gerade nach der Türklinke greifen und das Zimmer wieder verlassen, da überlegte sie es sich anders. Sie blieb stehen und atmete tief ein. »Weißt du, es tut mir leid, dass ich in den letzten Jahren nicht da war, aber jetzt bin ich es. Ich verlange gar nicht, dass wir auf heile Welt machen, aber wir müssen das irgendwie hinkriegen mit uns beiden. Wollen wir es wenigstens versuchen?« Sie sah in Rikes verschmiertes Harlekingesicht.

Ihre Tochter biss sich auf die Lippen und nickte beinahe unmerklich.

Kapitel 2

Wie seltsam es war, wieder hier zu sein. Selbst nach so langer Zeit hatte sich fast nichts im Haus verändert, und Anna hatte das unbehagliche Gefühl, in die Vergangenheit gereist zu sein. Sie dachte normalerweise nie an ihre Kindheit, aber hier lauerten Erinnerungen in allen Ecken, und es war schwierig, sie zu übersehen. Unwillkürlich wurde ihr wieder bewusst, wie sie sich damals oft gefühlt hatte, eingehüllt von der beklemmenden Gegenwart ihrer Mutter, die noch immer jeden Raum erfüllte.

Anna wäre am liebsten sofort wieder nach Hamburg gefahren, doch morgen stand ihr noch die Beerdigung bevor, die Frau Harms zum Glück bereits organisiert hatte.

Am ersten Abend war Anna so antriebslos, dass sie aufs Kochen verzichtete und stattdessen Pizza, Cola und für sich eine Dose Bier bestellte. Damit ließ sich Rike sogar aus ihrem Zimmer locken. Sie aßen in dem kleinen, mit nautischem Nippes vollgestellten Wohnzimmer, weil Rike darauf beharrte, man könne Pizza nur auf dem Sofa essen. Es war seltsam, wie vertraut Anna jeder Quadratzentimeter dieses Zimmers war, obwohl sie es so lange nicht mehr betreten hatte. Das Sofa war noch immer viel zu weich, und der Couchtisch mit der Platte aus nachgebildeten Delfter Kacheln war noch derselbe.

Anna wusste nicht recht, wie sie mit Rike umgehen sollte. Sie wollte keine dummen Fragen über Schule oder Freunde stellen, deshalb schwieg sie und tat so, als nähme das Essen sie ganz in Anspruch. Rike vertilgte ihre Pizza mit erstaunlicher Geschwindigkeit, und auch Anna hatte auf einmal solchen Hunger, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen. Nachdem sie das letzte Stück Kruste mit dem Rest Bier hinuntergespült hatte, fielen ihr beinahe die Augen zu. Ganz unterschiedliche Gedanken gingen ihr durch den Kopf: dass sie vielleicht in dem Café nach Arbeit fragen konnte, wo sie letztes Jahr als Bedienung gearbeitet hatte; dass Rike noch nicht wusste, dass sie nach Hamburg ziehen würde; dass zur Beerdigung wahrscheinlich viele Leute kommen würden und dass sie nicht einmal Zeit gehabt hatte, einen Kranz zu bestellen.

Keiner dieser Gedanken ließ sich festhalten, und Anna nahm sie unbeteiligt wahr, als hätten sie gar nichts mit ihr zu tun. Sie fiel mit offenen Augen in eine Art Halbschlaf und schreckte hoch, als sie auf einmal Rikes Stimme hörte.

»Was?« Anna blinzelte heftig und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Rike saß am anderen Ende des Sofas und sah sie mit großen dunklen Augen an. Erst jetzt fiel Anna auf, wie sehr sie denen ihrer Großmutter glichen.

»Ich hab gefragt, warum du damals weggegangen bist.« Rike zog die Füße an und legte die Arme um die Knie. »Hast du dich mit Oma gestritten?«

Damals, nach Rikes Geburt – Anna fühlte immer einen Stich in der Brust, wenn sie an diese Zeit zurückdachte. Sie hatte gewusst, dass Rike irgendwann Fragen stellen würde – aber schon jetzt? Sie hatte sich keine Antwort zurechtgelegt. Was sollte sie sagen? Dass sie Rike für ihre Freiheit eingetauscht hatte?

»Ich wollte damals unbedingt weg von hier«, meinte sie stattdessen vage. »Weil die Oma mir vorschreiben wollte, wie ich leben sollte. Wir sind nicht besonders gut miteinander ausgekommen.«

Rikes Gesicht war anzusehen, dass die Antwort sie nicht zufriedenstellte.

»Und wie war das genau?«

Anna seufzte. Sie fühlte sich ausgelaugt und wollte eigentlich nur noch ins Bett gehen und sich die Decke über den Kopf ziehen, statt über die Vergangenheit zu sprechen. Darin herumzuwühlen und einzelne Ereignisse hervorzuziehen wie lange nicht getragene Kleider war Anna so unangenehm, dass sie beinahe einen körperlichen Widerwillen dagegen verspürte. Sie hatte so viel Kraft darauf verwendet zu vergessen, aber sie wusste auch, dass sie Rikes Fragen nicht ausweichen konnte. Nicht allen.

Sie sah auf ihre Knie, überlegte kurz und wandte sich dann wieder ihrer Tochter zu. »Deine Großmutter wollte mich immer vor allem beschützen, deshalb durfte ich nie das machen, was für andere Kinder ganz selbstverständlich war. Alleine mit dem Fahrrad zu einer Freundin fahren zum Beispiel. Bei einer Klassenkameradin zu Hause zu Mittag essen oder übernachten. Am liebsten hätte sie mich immer um sich gehabt. Sogar mit vierzehn hat sie mich noch jeden Tag zur Schule gebracht und abgeholt. Irgendwann hab ich es einfach nicht mehr ausgehalten.«

Rike kaute an ihrem Daumennagel herum. »Das hat sie bei mir auch versucht. Ich hab aber trotzdem gemacht, was ich wollte. Einmal hat sie mir verboten, auf eine Geburtstagsparty zu gehen, und mich in mein Zimmer eingesperrt, da bin ich einfach aus dem Fenster geklettert und über Lehmanns Garage auf die Straße runter.« Sie grinste kurz. »Das hätte ich jetzt besser nicht erzählen sollen, oder?«

»Schon okay«, winkte Anna ab. »Ich wünschte, ich hätte mich damals auch so etwas getraut! Aber ich hatte einfach zu viel Angst.« Sie schwieg einen Moment. »Das lag daran, dass deine Großmutter immer davon geredet hat, was mir alles Schreckliches passieren könnte.« Sie schüttelte leicht den Kopf, als sie daran dachte, dass sich Simonas Befürchtungen in jenem letzten Sommer auf der Insel bewahrheitet hatten. Sie schluckte. Unweigerlich würde Rike ihr jetzt die Frage stellen, vor der sie sich am meisten fürchtete. Sie knibbelte nervös an einem losen Stück Haut an ihrem Daumennagel herum und riss es dabei ein Stückchen weiter ab; der Schmerz beruhigte sie ein bisschen. Einige Sekunden vergingen. Doch Rike schwieg, als wüsste sie, dass sie auf diese eine Frage keine Antwort bekommen würde. Sie wickelte nachdenklich eine Haarsträhne um den Zeigefinger, kaute an ihrer Unterlippe und nahm erst nach einer Weile das Gespräch wieder auf.

»Warst du froh, dass du weggehen konntest?«

Anna nickte.

»Aber du hättest mich doch mitnehmen können.« Rikes Stimme klang halb anklagend, halb fragend.

»Ach, Rike, ich war viel zu jung, um mich um ein Baby zu kümmern – nur ein Jahr älter als du jetzt bist. Deshalb dachte ich, du bist bei deiner Oma besser aufgehoben, und so war es auch. Ich hab ja nicht mal eine Ausbildung und jobbe seit fünfzehn Jahren in Hotels und Bars – wie hätte ich da für dich sorgen sollen?« Ihre Worte klangen in ihren eigenen Ohren wie eine fadenscheinige Rechtfertigung dafür, dass sie ihr Kind im Stich gelassen hatte.

Rike ließ die Haarsträhne los und starrte auf ihre Knie. Dann nickte sie langsam. »Versteh ich schon irgendwie. Weißt du, dass ich, bis ich acht war, geglaubt habe, Oma wäre meine Mutter?« Sie lachte auf. »Ich hab gedacht, dass du meine ältere Schwester bist!«

»Das hab ich nicht gewusst.« Anna seufzte. »War es schlimm, als du die Wahrheit erfahren hast?«

Rike zuckte mit den Schultern. »Es war dann halt so. Oma hat es mir irgendwann erzählt. Ich hab nur nicht verstanden, warum du mich nie besucht hast.«

Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte nie daran gedacht, dass Rike sie vermissen könnte, obwohl sie sie kaum kannte.

»Ich dachte, das bringt dich nur durcheinander«, erklärte sie nach einer Weile leise. »Und ich hatte das Gefühl, ich hätte kein Recht mehr auf dich, weil ich dich ja weggegeben hatte. Ich habe aber oft an dich gedacht.«

Lügnerin. Zumindest am Anfang war ein Teil von ihr erleichtert gewesen, dass sie Rike nicht sehen musste. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre neugeborene Tochter angeblickt und nichts gefühlt hatte. Erst Jahre später hatte sie erfahren, dass viele junge Mütter nicht sofort überströmende Liebe für ihr Baby empfanden, aber da war es für eine Wiedergutmachung zu spät gewesen.

Sie sah Rike an, diesen einzigartigen Menschen, den sie auf die Welt gebracht hatte. Würde es möglich sein, das, was sie versäumt hatten, nachzuholen? Wollte sie das überhaupt? Anna war zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen.

»Was meinst du, warum Oma so krakenmäßig drauf war?«, fragte Rike unvermittelt.

Anna musste lachen. »Krakenmäßig« war das passende Wort. Sie sah vor sich eine Krake mit dem Gesicht ihrer Mutter, die sie mit unzähligen Fangarmen umschlang und sich an ihr festsaugte.

»Ich glaube, dass sie selbst unglaublich viel Angst hatte.«

»Aber wovor denn?« Neugierig neigte Rike den Kopf zur Seite.

»Ich weiß es nicht.« Anna zuckte mit den Schultern. »Sie hat nie über die Vergangenheit geredet, also über das Leben, das sie geführt hatte, bevor sie hierherzog. Ich glaube, sie wollte etwas vergessen.«

»Und hast du sie nie ausgequetscht?«

»Doch, aber ich habe schnell aufgegeben. Sie wurde immer sehr schroff. Und du? Hast du sie mal danach gefragt?«

»Einmal, aber da ist sie völlig ausgerastet und hat mich angeschrien, dass mich das nichts angeht und so weiter. Aber sonst sind wir eigentlich ganz gut ausgekommen. Klar, sie hat immer versucht, streng zu sein, und das mit der Geburtstagsparty war auch ziemlich fies von ihr. Aber ich wusste schon, dass sie es nur gut meint. Als ich noch kleiner war, ist sie oft mit mir zum Strand gegangen, um Muscheln zu sammeln. Und ich hab immer mit ihrSoaps geguckt – total doofe Sendungen, aber irgendwie war es ganz schön, zusammen vor der Glotze zu sitzen und Tee zu trinken.«

»Ich bin froh, dass du besser mit ihr klargekommen bist als ich. Bist du böse auf mich, weil ich dich bei ihr gelassen habe?«

Rike zupfte erneut an der Haarsträhne herum, die ihr ins Gesicht hing. »Schon«, murmelte sie. »Manchmal. Aber ich hab meistens gar nicht dran gedacht, dass es dich gibt.« Sie sah Anna trotzig an und verschränkte die Arme. »Also hat’s mir eigentlich nichts ausgemacht.«

»Ach, Rike, Scheiße, ich hätte wahrscheinlich so vieles anders machen sollen.« Anna unterdrückte den Impuls, über Rikes Schulter zu streichen.

Rike verdrehte die Augen. »Fang jetzt bloß nicht an, die Übermutter zu geben. Es ist okay, hab ich doch gesagt.«

Anna nickte und sah ihr in die Augen. »Na gut, wie du möchtest. Ich glaube, wir gehen jetzt besser schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag.«

Rike stand auf und streckte sich wie eine Katze. »Du kannst zuerst ins Bad. Ich hör sowieso noch Musik.«

»Mach nicht zu lange, okay?«

»Mal sehen. Bis morgen.«

»Schlaf gut.« Mein Kind, hätte sie noch gerne hinzugefügt, aber sie hatte das Gefühl, es stand ihr nicht zu.

Kapitel 3

Anna war überrascht, wie viele Menschen zur Beerdigung kamen. Die meisten Gesichter kannte sie nicht oder nicht mehr, und beinahe kam sie sich vor wie ein Eindringling, eine Fremde, die kein Recht hatte, anwesend zu sein. Einige Leute nickten ihr zu, als sie nach der kurzen Messe in der Friedhofskapelle um das Grab herumstanden. Während Pfarrer Bachmayr die Trauerrede hielt, zupfte eine Brise an seinem schütteren Haar und wehte es in die Höhe, sodass es einem Strahlenkranz glich. Anna kannte ihn schon, seit sie denken konnte, und sie war froh, dass er für ihre Mutter die Abschiedsworte sprach, auch wenn das Begräbnisritual ihr selbst wie eine Abfolge bedeutungsloser Gesten erschien. Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihre Mutter wirklich in dem Sarg aus hellem Fichtenholz lag. Sie hatte Rike den Anblick ihrer toten Großmutter ersparen wollen und sich deshalb gegen einen offenen Sarg entschieden. Nun aber war sie nicht mehr sicher. Möglicherweise wäre es für Rike ein schönerer Abschied gewesen, wenn sie ihre Großmutter ein letztes Mal hätte sehen können. Sollten Mütter nicht wissen, was für ihre Kinder das Beste war? Oder war es normal, ständig das Gefühl zu haben, alles falsch zu machen?

»Simona Fontana war eine sehr verschlossene Frau, die es im Leben nicht leicht hatte«, begann der Pfarrer. »Sie musste ihre Heimat, das Tessin, verlassen, um in einem fremden Land ganz neu anzufangen, alleine mit ihrer kleinen Tochter.« Hier sah er Anna direkt an und nickte ihr leicht zu. »Doch Simona gab nie auf. Sie hat als Kellnerin immer hart gearbeitet und wurde von Gästen und Kolleginnen gleichermaßen geschätzt. Es war nicht einfach, sie besser kennenzulernen, denn sie sprach nicht gerne über sich selbst. Ich habe mich gefragt, ob wir uns mehr hätten bemühen müssen, sie in unsere Inselgemeinschaft aufzunehmen, doch ich glaube, sie wollte es nicht anders, und das müssen wir akzeptieren.«

Der Wind frischte auf und wehte seine Worte über die Gräber davon, sodass die Trauergäste ihn nur noch teilweise verstanden. Anna fragte sich, ob er mehr über ihre Mutter wusste als sie selbst. Simona war regelmäßig zur Beichte gegangen, vielleicht hatte sie ihm Dinge anvertraut, die sonst niemandem bekannt waren.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Frau Harms sie leicht anstieß und ihr bedeutete vorzutreten. Zögerlich löste sich Anna aus der Menge, nahm eine Schaufel voll Erde und ließ sie auf den Sargdeckel prasseln.

Nach der Zeremonie kamen mehrere Leute auf sie zu, um ihr zu kondolieren. Sie erkannte einige Nachbarn und die Kolleginnen ihrer Mutter aus dem Strandcafé. Anna schüttelte Hände, wobei sie sich wie eine Betrügerin vorkam, weil sie den Verlust, zu dem man ihr Beileid aussprach, nicht fühlte. Sie fragte sich, ob sie wirklich so gefühllos war oder ob die Trauer erst später einsetzen würde, wenn alle Formalitäten vorüber waren.

Als die Beerdigungsgäste sich allmählich zerstreuten, bat sie Frau Harms, kurz bei Rike zu bleiben, und ging zu Pfarrer Bachmayr hinüber, der neben dem Grab das Weihrauchfässchen und den Weihwasserwedel einpackte. Er wandte sich ihr mit einem freundlichen Lächeln zu und drückte ihr beide Hände. Anna bedankte sich für die Trauerrede.

»Kommen Sie doch auch einmal zu mir in den Gottesdienst oder in die Sprechstunde«, schlug er vor. »Manchmal hilft es zu reden.«

Anna zögerte. War Simona auch in seiner Sprechstunde gewesen? Sollte sie ihn fragen? Nein, sie hatte vor langer Zeit beschlossen, das, was sie über ihre Mutter nicht wusste, im Dunkel zu lassen und ihr eigenes Leben zu leben.

»Ich weiß gar nicht genau, wie lange ich hierbleibe«, entgegnete sie ausweichend. »Wahrscheinlich nehme ich Rike bald mit nach Hamburg.«

Der Priester nickte verständnisvoll. »Friederike wird Sie brauchen.«

Als sie zu Rike und Frau Harms zurückkehrte, die auf dem Hauptweg auf sie warteten, wurde sie von einer weiblichen Stimme angesprochen. »Anna?«

Sie blickte auf und sah eine Frau mit langem hellblondem Haar auf sich zukommen. In ihrem schwarzen Kostüm und den halbhohen Pumps war sie für eine Beerdigung wesentlich angemessener gekleidet als Anna selbst, die schwarze Jeans und eine dunkelblaue Tunika zu ihren Motorradstiefeln trug. Es war noch das Passendste, was sie in ihrem Rucksack gefunden hatte, und es war zu spät gewesen, etwas anderes zu kaufen.

Anna brauchte einen Moment, bis sie die Frau erkannte. Die graublauen Augen und die schmale Nase waren unverkennbar. Schon war Kerstin bei ihr und umarmte sie. Ihre Haare kitzelten Annas Wange, sodass sie unwillkürlich die Schultern hochzog und einen halben Schritt zurücktrat.

»Es tut mir so leid für dich und deine Tochter.« Kerstin hielt sie an den Unterarmen fest.

»Danke, dass du gekommen bist«, erwiderte Anna. »Ich wusste gar nicht, dass du noch hier lebst.«

Kerstin ließ sie los und strich sich die Haare zurück. »Wieder, seit vier Jahren. Nach dem Studium wollte ich eigentlich ein Jahr in die USA, aber dann …« Kerstin lächelte, drehte sich um und rief: »Sophia!« Ein kleines Mädchen, das ein paar Meter entfernt auf dem Weg kauerte und mit einem Stöckchen im Kies herumstocherte, blickte hoch und hüpfte auf sie zu. »Meine Tochter«, sagte Kerstin mit verhaltenem Stolz. »Sie wird bald vier.«

»Wie schön.« Anna versuchte, ihre Worte herzlich klingen zu lassen, war aber zu überrascht von der unvermuteten Begegnung. Sie und Kerstin waren einmal unzertrennlich gewesen, doch jetzt wartete sie vergeblich auf die von früher gewohnte Vertrautheit. Sie waren sich fremd geworden.

»Mama, wer ist die Frau?« Das Mädchen schmiegte sich an seine Mutter und sah zu Anna hoch, die nur verlegen lächeln konnte. Sie wusste nie, was sie zu Kindern sagen sollte.

»Also bist du verheiratet?«, fragte sie stattdessen Kerstin, die ein strahlendes Lächeln aufsetzte, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet.

»Du ahnst nicht, mit wem!«, rief sie. »Schatz, kommst du mal bitte?«

Etwas entfernt zwischen den Grabsteinen standen einige Männer zusammen und rauchten. Einer von ihnen löste sich von der Gruppe, schnippte seine Zigarette weg und kam auf sie zu. Tammo. Sein Haar war nicht mehr so lang und seine Wangen nicht mehr so schmal wie früher. Sie holte tief Luft und sah ihm entgegen. Hatte er Kerstin erzählt, was er wusste? Oder hatte er es für sich behalten, wie er ihr damals versprochen hatte?

»Hallo, Anna.« Er sah halb an ihr vorbei und trat unruhig auf der Stelle. Sein Blick schweifte kurz zu Rike, die immer noch mit Frau Harms auf dem Hauptweg wartete.

»Hallo.« Anna konnte sich nicht überwinden, seinen Namen auszusprechen. Sie starrte auf die Knopfleiste seines Hemds, während auch er Beileidsfloskeln von sich gab. Kerstin legte ihr eine Hand um die Hüfte, und Anna musste sich zwingen, sie nicht wegzustoßen. Auf einmal war alles, was sie zu vergessen versucht hatte, unerträglich präsent. Sie musste so schnell wie möglich weg von hier, nicht nur von diesem Friedhof, sondern von dieser Insel, auf der sie immer wieder der Vergangenheit begegnen würde.

»Anna, geht’s dir nicht gut? Mensch, ich blöde Kuh mache hier Small Talk. Sollen wir dich nach Hause bringen?«

»Danke, das ist nett. Aber ich fahre mit Rike und Frau Harms.« Ihre Antwort klang steif, als wären Kerstin und sie nur flüchtige Bekannte. Doch so war es ja mittlerweile auch. Sie hatten seit Jahren nichts mehr voneinander gehört. Und jetzt war Kerstin mit Tammo verheiratet.

»Tut mir leid, ich fühle mich wirklich nicht besonders«, presste Anna hervor, drehte sich um und lief, so rasch sie konnte, an den Gräberreihen vorbei zum Ausgang. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten.

»Wat is’ denn, Deern?«, hörte sie Frau Harms rufen, aber sie lief einfach weiter.

Außer Atem erreichte Anna das kleine Haus in der Frisiastraße, das ihr wie eine Rettungsboje erschien. Sie schlug die Haustür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihre Gedanken rasten, und vor ihren Augen flimmerte es. Schnell vergessen. So tun, als wäre nichts gewesen – das hatte bislang doch immer funktioniert.

Als Rike und Frau Harms fünf Minuten später das Haus betraten, hatte Anna sich wieder in der Gewalt und saß ruhig in der Küche. Rike zog sich sofort in ihr Zimmer zurück. Anna hörte ihre Schritte auf der Treppe und überlegte, ob sie sie zurückrufen sollte. Saß man nicht nach Beerdigungen zusammen, trank Tee und erinnerte sich an den Verstorbenen? Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte sie auch lieber allein sein. Sie bedankte sich bei der verdatterten Frau Harms für all ihre Mühe und verabschiedete sie. Dann ging auch sie nach oben.

Da es kein Gästezimmer in dem kleinen Fischerhaus gab, schlief Anna in Simonas Zimmer, das mit schweren, dunklen Möbeln vollgestellt war, die einem die Luft zum Atmen nahmen. An der Wand über dem Bett hingen mehrere kleinformatige Heiligenbilder, billige Drucke in grellen Farben und Plastikrahmen. Die Heiligen starrten Anna bekümmert an. Sie nahm die Bilder ab und räumte sie in den Schrank, bevor sie sich hinlegte. Sie war unendlich müde, doch schlafen konnte sie nicht.

Tammo zu sehen war ein Schock gewesen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er noch immer hier sein würde. Damals hatte er große Pläne gehabt. Sein Traum war es gewesen, nach Amerika auszuwandern, am besten New York, um dort Anzeigenkampagnen für bekannte Marken zu entwickeln. Stattdessen entwarf er nun wahrscheinlich Flyer für die Sonderangebote von Kruses Backstube, während Kerstin das Eigenheim sauber hielt und seine Hemden bügelte. Und wahrscheinlich waren sie glücklich. Anna spürte einen Anflug von Neid, obwohl sie wusste, dass sie nicht so leben könnte. Sie war immer geflohen, sobald eine Beziehung ernst zu werden drohte. Immer wenn die Liebesbeweise eines Mannes ihr buchstäblich den Atem abschnürten und sie in seiner Gegenwart nur noch schwarze Punkte vor Augen sah, wusste sie, dass es Zeit war zu gehen.

Sie setzte sich auf und schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch die Vergangenheit loswerden. Sie wollte jetzt nicht nachdenken, aus Erfahrung wusste sie, dass sie sich sonst die Bettdecke über den Kopf ziehen und eine Woche lang nicht mehr darunter hervorkommen würde. Doch das konnte sie sich nun nicht mehr erlauben. Sie musste sich um Rike und um den Nachlass ihrer Mutter kümmern. Sie zwang sich aufzustehen. Am besten fing sie gleich damit an, Simonas Unterlagen durchzugehen.

Sie lief in Socken über den Flur und blieb kurz vor Rikes Tür stehen. Sollte sie klopfen und nachsehen, wie es ihr ging? Doch wahrscheinlich würde Rike sich nur gestört fühlen. Anna beschloss, sie in Ruhe zu lassen, und wandte sich stattdessen der fensterlosen Kammer zu, die sich neben Rikes Zimmer befand und die ihre Mutter immer hochtrabend als »Büro« bezeichnet hatte. Der winzige Raum wurde beinahe völlig von dem Mahagonischreibtisch ausgefüllt, den Frau Harms einst von ihrem verstorbenen Vater geerbt hatte. Als Kind hatte Anna sich heiß gewünscht, in den unzähligen Schubladen und Fächern dieses Ungetüms herumzustöbern, was jedoch streng verboten war. Noch immer verspürte sie einen Rest dieser Lust am Verbotenen, fühlte sich aber gleichzeitig nicht ganz wohl dabei, in den privaten Sachen ihrer Mutter herumzuschnüffeln. Ein wenig fürchtete sie sich davor, etwas herauszufinden, mit dem sie sich dann würde auseinandersetzen müssen. Aber früher oder später musste sie den Schreibtisch sowieso ausräumen und die Unterlagen sortieren. Sie setzte sich auf den orange gepolsterten Drehstuhl und zog die oberste Schublade auf. Papiere quollen ihr entgegen und segelten auf die Dielen. Anna seufzte und schob die alte Schreibmaschine zur Seite, damit sie Platz auf der Tischplatte hatte. Anschließend nahm sie einen Teil des Stapels aus der Schublade und machte sich daran, ihn durchzusehen. Vor ihren Augen tat sich ein heilloses Durcheinander aus Quittungen, Nebenkostenabrechnungen und amtlichen Schreiben auf, manches bereits angegilbt oder völlig verblasst. So ordentlich Annas Mutter ihren Haushalt geführt hatte, so unorganisiert war ihr Schriftverkehr gewesen. Die meisten Blätter stammten nicht einmal aus demselben Jahr. Auch Anna war nicht sehr ordentlich, wenn es um ihre Unterlagen ging, aber sie wusste zumindest ungefähr, wo sie welches Dokument finden konnte. Sich in diesem Wirrwarr noch auszukennen war schlicht unmöglich. Anna konnte eine leise Befriedigung darüber, dass sie eine Schwäche ihrer Mutter entdeckt hatte, nicht unterdrücken.

Etwa eine Stunde lang sah sie die Papiere durch. Das meiste war unwichtig, und sie ließ die Blätter zu Boden fallen, wo sie allmählich einen weißen Teppich bildeten. Simona schien jedes Stück Papier aufgehoben zu haben, es fanden sich sogar Einkaufszettel in ihrer ungelenken Handschrift. Doch unter all den Dokumenten entdeckte Anna nichts Privates. Sie durchsuchte systematisch von oben nach unten eine Schublade nach der anderen, bis sie bei der letzten angelangt war. Sie rüttelte an dem Metallgriff, aber es rührte sich nichts. Zuerst dachte sie, der Rand hätte sich verkantet, doch dann begriff sie, dass die Schublade abgeschlossen war.

Anna sah sich in der kleinen Kammer um. Wo mochte ihre Mutter den Schlüssel versteckt haben? Er konnte sich überall im Haus befinden, es war sinnlos, ihn zu suchen. Sie holte den Werkzeugkasten aus der Küche, kniete sich vor den Schreibtisch und nahm einen Schraubenzieher zur Hand. Einen Moment lang zögerte sie: Der Tisch gehörte Frau Harms. Wenn Anna ihn beschädigte, würde sie es der Vermieterin beichten müssen. Aber sie wollte diese Schublade unbedingt öffnen – ihre Mutter hätte sie sicher nicht abgeschlossen, wenn sich nichts Wichtiges darin befände. Eine Weile stocherte sie mit dem Schraubenzieher im Schloss herum, jedoch ohne Erfolg. Schließlich zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und suchte auf YouTube nach »Schloss knacken«. Es dauerte nicht lange, bis sie ein Video fand, in dem gezeigt wurde, wie man ein Türschloss öffnete. Vielleicht würde dieselbe Methode auch bei dem einfachen Schubladenschloss funktionieren.

Anna wühlte erneut im Werkzeugkasten, griff nach einem Inbusschlüssel und drehte ihn im Schloss. Nichts geschah. Sie begann zu schwitzen. Die Luft in dem engen Raum war stickig, aber sie gönnte sich keine Atempause. Verzweifelt rüttelte sie an ihrem improvisierten Dietrich. Sie hatte die Hoffnung schon aufgegeben, da klickte es plötzlich im Schloss. Geschafft! Aufgeregt legte Anna den Inbusschlüssel zur Seite und zog an der Schublade, die sich nun problemlos öffnen ließ. Darin lag ein Fotoalbum, in beigefarbenes Leinen gebunden. Es kostete einige Mühe, das sperrige Album aus der Schublade herauszuziehen, so verkeilt war es, doch schließlich lag es vor ihr auf dem Boden. Sie schlug es auf. Die Seiten waren leer. Anna hätte beinahe gelacht. Wie passend! Das Leben ihrer Muter: ein leeres Album. Sie blätterte weiter, aber auf dem schwarzen Karton gab es nicht einmal Spuren von Klebstoff.

Erst am Ende des Albums lagen einige Bilder zwischen der letzten Seite und dem Einband. Anna nahm sie heraus. Die Farben waren ins Rötliche verblasst, aber die Motive waren gut zu erkennen. Als Erstes nahm sie einen Schnappschuss in die Hand, der aus einem Fenster in einem höheren Stockwerk aufgenommen worden sein musste, denn der Blick ging über blühende Bäume, und in der Ferne sah man Dächer.

Auf dem nächsten Foto war ein halb geöffnetes Hoftor zu sehen. Ein Mann mit grauem Haar lehnte in dem steinernen Torbogen, eine Pfeife im Mund. Seine Gesichtszüge waren verschwommen. Annas Herz schlug auf einmal schneller. Wer war das? Sie legte das Bild ab und betrachtete das nächste. Diesmal handelte es sich um eine Nahaufnahme, das Gesicht einer jungen Frau füllte das gesamte Bild aus. Sie sah Annas Mutter sehr ähnlich, aber ihre Augen strahlten, und sie lachte übermütig mit weit offenem Mund. Simona hatte nie gelacht, allenfalls gelächelt, und selbst dann war der bittere Zug um ihren Mund nie ganz gewichen.

Was hatte dazu geführt, dass sich die junge Frau auf dem Foto in die ernste und verschlossene Frau verwandelt hatte, die Anna gekannt hatte?

Sie sah noch die restlichen sechs oder sieben Bilder durch, aber es waren nur Schnappschüsse von dörflichen Straßen und einer Kirche, die seltsam zeitlos wirkten. Sie fragte sich, wann die Aufnahmen wohl gemacht worden waren. Auf den Rückseiten war jeweils nur der Name des studio fotografico N. Pedroli, Chiasso gedruckt, aber kein Datum. Die Bilder erzählten nichts, lösten aber dennoch etwas in ihr aus, eine Unruhe, die sich unangenehm anfühlte und die sie am liebsten abgestreift hätte wie einen kratzigen Pullover.

Nachdenklich legte sie die Bilder wieder beiseite. Außer dem Album war nichts in der Schublade gewesen, doch Anna fuhr zur Sicherheit noch einmal mit den Fingerspitzen über den Boden. Zu ihrer Überraschung ertastete sie eine Mappe aus Karton, die beinahe genau dieselben Maße wie die Schublade besaß und deshalb beim ersten flüchtigen Hinsehen wie der Boden gewirkt hatte. An den Seiten blieben nur zwei Millimeter Platz, sodass Anna ein Lineal zu Hilfe nehmen musste, um die Mappe herauszuholen. Sie war aus grau-schwarz marmorierter Aktenpappe und so flach, dass Anna befürchtete, sie könnte leer sein. Aber als sie den Deckel aufklappte, lag darin ein Umschlag aus braunem Packpapier. Annas Herz machte einen Sprung und begann, so wild zu klopfen, dass es beinahe wehtat. Weshalb eigentlich? Und warum zitterten ihre Finger, als sie das Kuvert herausnahm? Es war schwer, und als sie es umdrehte, fiel ein einfacher, alter Schlüssel heraus, wie er zu einem Schuppen oder einer Kammer gehören mochte. Anna strich über das Metall und legte das Fundstück neben sich. Erst dann bemerkte sie, dass der Umschlag noch etwas enthielt. Vorsichtig zog sie es heraus. Zum Vorschein kam ein mehrseitiges Formular aus vergilbtem Papier, das mit der Schreibmaschine ausgefüllt worden war. Es war auf Italienisch verfasst, und Anna, die die Sprache zwar gut beherrschte, sie aber selten las, verstand erst nach mehrmaligem Hinsehen, was sie vor sich hatte. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie, aus dem in umständlicher Behördensprache verfassten Schriftstück die wichtigen Informationen herauszufiltern.

Nach einigen Minuten stand sie auf, ging über den Flur und klopfte an Rikes Zimmertür, diesmal energisch. Rike saß auf ihrem Bett und schrieb in ein Notizbuch, das sie aber sofort zuklappte, als Anna den Kopf ins Zimmer streckte.

»Was ist denn?« Rikes Stimme klang genervt.

»Ich habe etwas gefunden, worüber wir reden müssen.« Anna blieb an der Tür stehen und hielt das Dokument hoch. »Wenn ich das hier richtig verstehe, hatte deine Großmutter ein Haus in der Schweiz.«

Kapitel 4

Auf der elektrischen Kochplatte begann die sechseckige Kanne aus Aluminium zu gurgeln. Charlotte stemmte sich aus ihrem Lieblingssessel hoch, stützte sich schwer auf ihren Stock und hinkte in die Küchenecke. Heute schmerzte das steife Bein wieder einmal so stark, dass sie kaum gehen konnte. Wahrscheinlich würde es morgen regnen.

Das Mädchen lag auf der Chaiselongue und stöhnte leise, auch wenn es nicht mehr richtig bei Bewusstsein war. Doch vielleicht würde es dennoch hören, was Charlotte zu erzählen hatte, eine Geschichte, die nur noch sie kannte, weil die anderen tot waren. Obwohl Charlotte sich bemühte, die Hand ruhig zu halten, schwappte etwas Kaffee auf den Boden, als sie mit ruckelnden Schritten ins Wohnzimmer zurückkehrte. Sie ließ sich nieder und stellte die Tasse auf der breiten Armlehne ab, deren olivgrüner Samtbezug schon etliche dunkle Spritzer aufwies. Seufzend lehnte sie sich zurück. Wie mühsam doch jeder Tag war, eine Abfolge von Anstrengungen und Schmerzen, von denen die meisten Leute da draußen nicht einmal etwas ahnten. Wie so häufig fragte sie sich, weshalb ausgerechnet sie vom Schicksal so benachteiligt worden war. Wie anders wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie nicht zum Krüppel geworden wäre. Auch wenn jener Sommer viele Jahre her war, wusste sie noch genau, wie alles angefangen hatte, und manchmal, wenn sie so still dasaß wie jetzt, drängten die Bilder an die Oberfläche, und sie war wieder dort, jung und gesund und sechzehn Jahre alt.

1963

Die Frau in dem schwarzen Badeanzug glitt über das Wasser, umgeben von einer sprühenden Kaskade aus glitzernden Tropfen, die von den Brettern an ihren Füßen aufgewirbelt wurden. Als das Motorboot sie in einer großen Kurve immer weiter vom Ufer wegzog, war Charlotte maßlos enttäuscht, dass sich das Schauspiel von ihr entfernte. Sie schirmte mit einer Hand ihre Augen ab, konnte aber in der Ferne nur die leuchtend rote Badekappe der Sportlerin vor dem Hintergrund der Hügel am jenseitigen Ufer erkennen.

»Hast du so was schon mal gesehen? Das muss ich unbedingt ausprobieren!«, rief sie.

Reto, der neben ihr auf dem Steg lag und sich sonnte, lachte laut auf.

Charlotte wandte den Blick vom Wasser ab und funkelte ihn an. »Und das werde ich auch, du wirst schon sehen!«

»Das ist doch viel zu gefährlich«, erwiderte Reto in seinem weichen Berndeutsch, was Charlotte nur noch mehr aufbrachte. »Setz dich lieber zu mir.« Reto klopfte neben sich auf die Planken, unter denen das Wasser leise an die Pfosten klatschte.

»Ich denke gar nicht daran!« Charlotte hielt Ausschau nach dem roten Punkt, der nun tatsächlich wieder auf das diesseitige Ufer zukam. Sie begann, auf und ab zu springen und die Arme zu schwenken, um den Fahrer des Motorboots auf sich aufmerksam zu machen. Sie wollte auch so graziös über das Wasser gleiten. Dass man auf diesen Brettern nicht unterging, grenzte an Magie. Noch nie hatte sie etwas dermaßen Elegantes und zugleich Kraftvolles gesehen.

»Komm, sei nicht albern.« Reto rollte sich auf den Rücken. »Lass uns zu den anderen auf die Terrasse gehen und etwas trinken.«

Ende der Leseprobe