Das Selbstverständliche tun - Maria Prieler-Woldan - E-Book

Das Selbstverständliche tun E-Book

Maria Prieler-Woldan

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Beschreibung

Die 53-jährige Witwe, Bergbäuerin, Mutter und Pflegemutter Maria Etzer wird 1943 bei der Gestapo denunziert. Sie sei männersüchtig, vernachlässige ihre Wirtschaft und unterhalte ein intimes Verhältnis zu drei Kriegsgefangenen. Maria Etzer wird wegen "verbotenen Umgangs" mit Kriegsgefangenen zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Wer hat sie denunziert? Ein Nachbar oder gar jemand aus der Familie? Nach ihrer Entlassung 1945 konnte sie jahrelang nicht in ihren Heimatort zurückkehren. Die katholische Bergbäuerin und Hitlergegnerin bemühte sich nach Kriegsende erfolglos um eine Opferfürsorgerente: Der bei ihr eingesetzte Kriegsgefangene sei ein fleißiger und williger Arbeiter gewesen, und so habe sie ihn auch behandelt. Die "Schande" blieb jedoch an ihr haften, bis heute – wie auch an anderen Frauen aus dem Salzburgerland, die gleichen Vorwürfen ausgesetzt waren. Aus Erinnerungen der Enkelgeneration und Akten von Zuchthaus und Opferfürsorge wird das Schicksal Maria Etzers nachgezeichnet. Das Buch entwirft dabei ein neues Konzept von weiblichem Widerstand als "Lebenssorge" und rückt eine bislang kaum untersuchte Opfergruppe des Nationalsozialismus, die noch auf Rehabilitierung wartet, in den Fokus.

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„Die Vergangenheit ist nicht tot, sie stirbt nie. Es ist also möglich, die Vergangenheit zurückzuholen. … Aber man muss, wenn man sie wirklich zurückgewinnen will, eine Art Korridor durchlaufen, der jeden Augenblick länger wird. Und unten, ganz am Ende, an dem fernen, im hellen Sonnenlicht liegenden Punkt, dort, wo die schwarzen Wände des Korridors fast zusammenlaufen, dort steht das Leben, so lebendig und pochenden Herzens wie damals, als es sich das erste Mal ereignet hatte. Also ewig? Gewiss. Und nichtsdestoweniger immer ferner, immer mehr sich entziehend, immer weniger geneigt, sich noch einmal besitzen zu lassen.“1

Giorgio Bassani (1916–2000)

 

__________

1   https://derstandard.at/2000032265192/Giorgio-Bassani-Eine-unwiederbringlich-verlorene-Zeit (vom 8.März 2016)

Maria Prieler-Woldan

Das Selbstverständliche tun

Die Salzburger Bäuerin Maria Etzer und ihr verbotener Einsatz für Fremde im Nationalsozialismus

Mit einem Nachwort von Brigitte Menne

StudienVerlag

InnsbruckWienBozen

 

 

© 2018 by Studienverlag Ges.m.b. H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5901-0

Satz und Umschlag: Studienverlag/Karin Berner

Umschlagabbildung: Foto: Maria Etzer (links), ca. 1910, Quelle: Familie Oblasser, Taxenbach; künstlerische Bearbeitung: Brigitte Menne

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Dank

Einführung

1.    Eine einfache Frau aus dem Innergebirg – Maria Etzer: Herkunft und Familie

1.1   Lebensort und Herkunft

1.2   Heirat und Nachkommen

1.3   Faszination Nationalsozialismus

2.    Wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen der bäuerlichen Bevölkerung im Pinzgau und Pongau in der Zwischenkriegszeit und der Aufstieg des Nationalsozialismus

2.1   Die Zwischenkriegszeit: Armut der Bevölkerung auf dem Land

2.2   Das angespannte politische Klima im Pongau und im Pinzgau und der Aufstieg der Nationalsozialisten

2.3   Der „Anschluss“ 1938 im Spiegel der Chroniken von Goldegg

2.4   Die Bauernvertretung wird „umgefärbt“

2.5   „Grüß Gott“ oder „Heil Hitler“ – Kirche und Nationalsozialismus im ländlichen Raum

2.6   Erzeugungsschlacht und Ablieferungsschlacht

2.7   Der Lehenhof auf dem Buchberg nach Grundbucheintragungen

3.    „Fremdarbeiter“ auf Salzburgs Bergbauernhöfen

3.1   „Fremdvölkische“ Arbeitskräfte, ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene – eine Einführung

3.2   ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangene in den Salzburger Gebirgsgauen – das Stalag XVIII C Markt Pongau

3.3   FremdarbeiterInnen auf dem Bauernhof – Erinnerungen aus Maria Etzers Verwandtschaft und das Zeugnis eines französischen Kriegsgefangenen

3.4   Arbeit, Wohnen und Lebensalltag der FremdarbeiterInnen

4.    Der „verbotene Umgang“ als Delikt der Wehrkraftzersetzung; Denunziation – mögliche Personen und mögliche Motive

4.1   „Verbotener Umgang“ – Merkblätter und Pflichtunterweisungen

4.2   „Wehrkraftzersetzung“, das „gesunde Volksempfinden“ und drei verschiedene Feindbilder

4.3   Ein „Franzosenliebchen“

4.4   Denunziation – mögliche Personen und mögliche Motive

5.    In den Fängen der NS-Justiz

5.1   Anzeige und Verhaftung von Maria Etzer

5.2   Verhöre und das Gerichtsverfahren

5.3   Sondergerichtsurteile im Reichsgau Salzburg – wenige Daten und viele offene Fragen

5.4   Transport ins Zuchthaus Aichach und Aufnahmeverfahren

5.5   Die Aufnahmeakten

5.6   Briefe, Besuche und rechtliche Schritte

5.7   Zahnersatz, Hausstrafen und Briefsperre

5.8   „Ich bin nur zum Unglück geboren“ – besonders traurige Weihnachten

5.9   Haftzeit in Ingolstadt

5.10 Rückkehr nach Aichach

6.    Beschädigte Rückkehr – die Mühlen der Bürokratie

6.1   Das Ende in Aichach

6.2   Der Heimweg

6.3   Heimkehr der Franzosen – und einer Ukrainerin?

6.4   Zurück in der Heimat – und doch nicht daheim

6.5   Familienbild in Tracht (und Eintracht?)

6.6   Das Bemühen um Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus – das Opferfürsorgegesetz

6.7   Maria Etzers Opferfürsorgeansuchen – ein langer Weg durch die Mühlen der Bürokratie

6.8   Entnazifizierung!? – Über Maria Etzers Nachbarn Georg N. und ihren Schwiegersohn Josef A.

6.9   Mangelnde geistige Entnazifizierung und weitere Schritte im Opferfürsorgeverfahren

6.10 Frühere Nationalsozialisten wieder im Dienst und ein Opferfürsorgeansuchen „zu den Akten“

6.11 Maria Etzers letzte Lebensjahre und ihr Tod

7.    Späte Gerechtigkeit? Was bleibt von Maria Etzer?

7.1   Andere Opferfürsorgeansuchen nach Verfolgung wegen verbotenen Umgangs

7.2   Kinder aus „verbotenen“ Beziehungen

7.3   Späte Gerechtigkeit:Was ist Widerstand, „weiblicher“ Widerstand?

7.4   Versuche einer Einzelperson, anständig zu bleiben – Widerstand in Haltung und Handlungen bei Maria Etzer

7.5   Widerstand: „im Anfang eine moralische Geste“

7.6   Widerstand neu denken:Der Versuch eines Konzepts von Widerstand als Lebenssorge

7.7   Späte Gerechtigkeit:Rehabilitierung und ein Platz im kollektiven Gedächtnis

Nachwort der Enkelin Brigitte Menne

Quellen

Literatur

 

 

Maria Prieler-Woldan

Das Selbstverständliche tun

Dank

Dieses Buch gäbe es nicht ohne die hartnäckigen Nachforschungen von Brigitte Menne über ihre Großmutter Maria Etzer. Die in Archiven aufgefundenen Dokumente, aber auch weitere und tiefer gehende Recherchen zu diesem Schicksal hat sie mir anvertraut und mich in meinem eigenen Forschungsprozess nach Kräften begleitet. Vielen Dank.

Mein herzlicher Dank gilt auch den GesprächspartnerInnen aus Maria Etzers Verwandtschaft und früherer Nachbarschaft. Sie haben mit ihren Erinnerungen dazu beigetragen, ein vielfarbiges Bild der Bergbäuerin und ihrer Lebensverhältnisse zu zeichnen und den Kriminalfall aufzuklären.

Mit ihrer reichen Sachkenntnis über die historischen und sozialen Verhältnisse im Salzburger Innergebirg haben mich Alois Nußbaumer, Michael Mooslechner und Christina Nöbauer unterstützt, Letztere auch mit vielen Anregungen als Erstleserin.

Meine Tochter Veronika Prieler hat mir durch ihr Mitdenken und ihre Korrekturarbeit geholfen, Brigitte Mechtler hat mich immer wieder in Salzburg beherbergt.

Von vielen weiteren Personen bekam ich Unterstützung bzw. Auskünfte, u.a. aus folgenden Einrichtungen:

Salzburger Landesarchiv, Archiv der Erzdiözese Salzburg, Oberösterreichisches Landesarchiv, Geschichtswerkstatt St. Johann im Pongau, Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Gemeindeämter Goldegg, Mühlbach am Hochkönig, St. Veit, Bezirkspolizeikommando St. Johann im Pongau und Bundespolizeidirektion Salzburg, Service historique de la défense, Caen (Frankreich), Internationaler Suchdienst Bad Arolsen.

Für die Förderung dieses Forschungsprojekts danke ich dem Zukunftsfonds der Republik Österreich, für die Veröffentlichung gilt mein Dank Johanna Fusseis und Markus Hatzer vom Studienverlag.

Maria Prieler-Woldan, Februar 2018

Einführung

Im Dorf wurde es nur unter vorgehaltener Hand besprochen: Diese oder jene Frau hatte sich mit einem Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangenen eingelassen, Genaueres wusste man nicht, aber irgendjemand trug das Gerücht zum Ortsgruppenleiter, und schnell war die Gestapo da und führte die Frau weg, und sie landete wegen „verbotenen Umgangs“ im Zuchthaus oder im KZ. Manche dieser Frauen sind von dort nicht wiedergekehrt, andere kamen zurück, körperlich und seelisch gezeichnet, und waren in ihrem Dorf verfemt. Wer wollte schon eine Zucht-häuslerin in der Familie haben? Die „Schande“, die das NS-Regime über eine solche Frau gebracht hatte, blieb sozusagen an ihr kleben, oft ein Leben lang, denn auch nach 1945 schämten sich die meisten zu erzählen, was ihnen angetan worden war, und die wenigen, die sich um eine staatliche Opferrente bemühten, gingen leer aus.

Zahlen über diese Frauen gibt es bis heute nicht. Etwa 3500 Frauen waren wegen „Verkehrs mit Fremdvölkischen“ allein im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert, und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wegen Verstößen gegen das Umgangsverbot kam es 1940 im Deutschen Reich zu 4345 Verurteilungen, im ersten Halbjahr 1943 gab es 5763 Verurteilungen.2 Neben den KZs füllten sich ab 1940 die Zuchthäuser und Gefängnisse mit solchen „unbotmäßigen“ Frauen, denn der „verbotene Umgang“ wurde ein Massendelikt im Deutschen Reich. Oft war eine sexuelle Beziehung gar nicht bewiesen, es reichte bereits „eine Hilfestellung oder ein kollegialer Umgang für eine Verurteilung, wie das Zustecken von Brot oder Zigaretten, das Versenden von Post für Kriegsgefangene, das offene Grüßen auf der Straße oder das Mitnehmen auf einem Pferdewagen“.3 Es genügte also, nur das Selbstverständliche zu tun: Schon einfache Akte der Mitmenschlichkeit gegenüber Fremden galten als kriminelles Verhalten.

Ins Deutsche Reich wurden während des Zweiten Weltkriegs etwa sieben Millionen Ausländerinnen und Ausländer, darunter 1,9 Millionen Kriegsgefangene, verbracht, um sie hier ökonomisch auszubeuten. „Die Präsenz der ‚Fremdvölkischen‘, die in diesem Umfang historisch ein Novum war, wurde indes von den Nationalsozialisten zu einer ‚volkstumspolitischen‘ Gefahr, zu einer ‚Belastungsprobe‘ des deutschen Volkes stilisiert.“4 Die NS-Führung suchte daher alsbald nach Möglichkeiten, freundschaftliche bzw. auch sexuelle Beziehungen zwischen Einheimischen (vorwiegend Frauen, die Männer waren zumeist an der Front) und Ausländern zu verhindern. Unter den Bedingungen der Diktatur wurde das Private und Intime staatlichen Interessen untergeordnet und wurden rassistische Gesetze mit Brutalität durchgesetzt. „Der Anspruch auf die staatliche Durchdringung des Privaten war aber auch an die Köpfe und Herzen der einzelnen gerichtet.“5 Dies im doppelten Sinn: sich selbst als „ehrbare“ Frau zu verhalten und das „deutsche Blut“ zu schützen sowie all jene auszuliefern, die sich nicht systemkonform verhielten. Denunziationen in der Familie, unter besten Freunden und Nachbarn waren an der Tagesordnung, auch als „Denunziationsketten“: Eine Person fragte eine andere um Unterstützung oder ließ auch eine dritte, in der NS-Hierarchie höher stehende, die Anzeige erstatten.6

War die „Täterin“ ertappt, griff das Regime, besonders bei Kontakten mit slawischen Männern, zu drastischen Maßnahmen.

Solche Frauen und Mädchen wurden nach Anordnungen Hitlers und Himmlers öffentlich angeprangert und durchs Dorf getrieben, es wurden ihnen von Uniformierten die Haare geschoren, Schandtafeln umgehängt und penibel alles auch noch fotografiert. Die wegen „Wehrkraftzersetzung“, einem politischen Delikt, inhaftierten Frauen wurden im KZ Ravensbrück in der ersten Zeit noch alle drei Monate wieder geschoren und hatten auch unter der Verachtung von Mithäftlingen zu leiden: „Unter dem Druck des Lagerlebens haben sehr viele scharfe Trennungslinien gezogen zwischen der eigenen Gruppe und den verachtungswürdigen und deshalb auszuschließenden Anderen. Um die eigentlich ‚Politischen‘ auch sprachlich von den wegen Verkehrs inhaftierten Frauen zu trennen, wurden letztere in Ravensbrück auch als ‚Bettpolitische‘ bezeichnet und diffamiert.“7

Selbst Jahre nach Kriegsende bestand die Ächtung der betroffenen Frauen weiter, auch in offiziellen Dokumenten. Unrechtsbewusstsein und Mitgefühl fehlten vollkommen, vor allem bei Gefangenenhauspersonal und Amtsärzten, welche schon unter den Nationalsozialisten in ihren Funktionen tätig waren und nun amtliche Bestätigungen und ärztliche Beurteilungen für Opferfürsorgeanträge zu erbringen hatten.

Weitgehend blind für die Opfergruppe der wegen „verbotenen Umgangs“ verurteilten Frauen waren aber nicht nur staatliche Behörden, sondern lange Zeit auch die Wissenschaft.

Was die Forschung zum Nationalsozialismus in Österreich betrifft, taucht das Thema der Frauen mit „Geschlechtsverkehrsverbrechen“ erstmals am fünften Österreichischen Zeitgeschichtetag 2001 in Klagenfurt ausdrücklich auf. Gabriella Hauch, Professorin für Zeitgeschichte in Linz und später in Wien, recherchierte im Anschluss daran für Oberösterreich („Oberdonau“) und stellte in einem Artikel 2006 dazu fest: „Der ‚Verbotene Geschlechtsverkehr‘ wird in der österreichischen NS-Forschung bzw. der die Ostmark thematisierenden kaum eigenständig behandelt, sondern unter den Fragestellungen von Denunziation, Alltag, Dissidenz oder im Rahmen von Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit diskutiert.“8 In der bundesdeutschen NS-Forschung liegen einzelne rechtshistorische und lokale Studien zu diesem Themenbereich vor. Dennoch bleibt noch viel zu tun: So haben die Haft-bedingungen dieser Gruppe von Frauen „in der öffentlichen Erinnerung an die Konzentrationslager jahrzehntelang so gut wie keine Erwähnung gefunden“.9

Die Motive für das Eingehen verbotener (Liebes-)Beziehungen unter größtem Risiko bleiben unklar, sind nach Hauch eine „forschungspraktische Leerstelle“, denn der Themenkomplex der weiblichen Sexualität und des Sich-Einlassens mit dem männlichen Feind, teils auch geprägt von den Faktoren Gewalt, Nötigung oder Berechnung, ist in der gesellschaftlichen Erinnerung immer noch stigmatisiert und tabuisiert.10 Außerdem sind die meisten Frauen, die dazu noch befragt werden hätten könnten, mittlerweile schon verstorben.

Eine von ihnen steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Es ist Maria Etzer (1890–1960), Bergbäuerin im österreichischen Bundesland bzw. „Reichsgau“ Salzburg, die wegen „verbotenen Umgangs“ 1943 denunziert, angeklagt und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Exemplarisch an ihrem Schicksal und im Vergleich mit ähnlichen Fällen wird die Kriminalisierung der betroffenen Frauen durch die NS-Justiz, aber auch deren mangelnde Rehabilitierung in der Zweiten Republik aufgezeigt.

Die vorliegende Forschung speist sich aus schriftlichen und mündlichen Quellen – beides nicht leicht zugänglich und lückenhaft.

Was die schriftlichen Quellen betrifft, sind Maria Etzers Sondergerichtsurteil und ihr Opferfürsorgeakt erhalten (Salzburger Landesarchiv), weiters ihr Zuchthausakt (Bayrisches Staatsarchiv). Leider gibt es weder verlässliche Zahlen, wie viele Frauen wegen verbotener Kontakte zu Fremdarbeitern im Reichsgau Salzburg verfolgt wurden, noch wie viele von ihnen ab 1946 beim Land Salzburg um Opferfürsorge angesucht bzw. eine eventuelle Leistung erhalten haben. Der Vergleich von Etzers Akten mit ähnlich gelagerten Fällen stützt sich daher zumeist auf Zufallsfunde im Archiv bzw. in der Sekundärliteratur.

Dort sind aus Datenschutzgründen die Familiennamen immer abgekürzt, was eine gezielte Suche nach konkreten Personen und die Abstimmung mit vorhandenem Archivmaterial erschwert.

Die Anonymisierung, die man als (berechtigten) Opferschutz für die in der NS-Zeit mit Schande gebrandmarkten Frauen und ihre Familien versteht, ist jedoch eine zweischneidige Sache: Sie hält diejenigen Menschen, vor allem Frauen, im Dunkel, die zu Unrecht verurteilt wurden, und setzt damit in gewisser Weise deren Diffamierung fort. Indem manche dieser Frauen im Folgenden mit vollem Namen genannt werden, werden jene wenigen sichtbar, welche über ihre Verfolgung wegen „verbotenen Umgangs“ gesprochen haben. Sie wurden zu Opfern gemacht, sind aber nicht mehr nur Opfer geblieben.

Diesen Schwierigkeiten zum Trotz konnte ich durch beharrliche Suche, durch die Unterstützung fachkundiger Personen, aber auch durch die Gunst des Zufalls eine Fülle von schriftlichem Material finden und auswerten, das Maria Etzer in die Umstände ihrer Zeit einbettet und sie zugleich als Einzelfall auch hervortreten lässt.

Letzteres verdanke ich vor allem mündlichen Zeugnissen: von Menschen aus der damaligen Nachbarschaft, aus dem Ort Goldegg, aber besonders aus Maria Etzers Verwandtschaft. Deren vier Töchter sind inzwischen verstorben. Die Erinnerungen der Generation der Enkel und Enkelinnen sind kostbar auch deshalb, weil einige dieser Personen, mittlerweile im Alter von knapp 70 bis etwa 85 Jahren, Maria Etzer noch persönlich gekannt haben. Ihre manchmal divergierenden wichtigen Informationen und farbigen Details wären ein paar Jahre später für immer verloren gewesen – eine Interviewpartnerin ist vor Drucklegung dieses Buches bereits verstorben.

Die Erinnerung an die Geschehnisse vor mehr als 70 Jahren ist auch heute noch heikel und ein Politikum. Das zeigte sich schon bei den Gesprächsanfragen. Als Enkelin Brigitte Menne11 nach dem Schicksal ihrer Großmutter gesucht und das Urteil und die Zuchthausakten in der Hand hatte, als einige Zeit vergangen war, bis sich in meiner Person eine weiterforschende Autorin gefunden hatte, nahm sie Kontakt zu ihren Cousins und Cousinen auf, um mit ihnen Erinnerungen zu heben und die Geschichte ihrer Großmutter zu teilen, auch die dunklen Aspekte.

Plötzlich stand die Großmutter im Licht, und auf andere in der Familie fiel ein Schatten, ein schwarzer Punkt, wie es jemand aus der Enkelgeneration nannte.

Es tauchten viele Fragen auf. Hat wirklich jemand aus der Familie denunziert, wie es in einem ein paar Jahre zuvor erschienenen Buch12, freilich anonymisiert, zu lesen war? Oder war es jemand aus der Nachbarschaft? Darf man überhaupt so etwas über Maria Etzers Töchter oder andere Menschen aus dem Dorf behaupten, die, weil verstorben, sich nicht mehr wehren können – und damit deren Ruf schädigen? Und haben vielleicht sogar diejenigen einen „schwarzen Punkt“, welche die Vergangenheit nicht („endlich“) ruhen lassen können oder wollen?

Grundlegende Fragen, die entsprechende Emotionen hochkommen ließen, aber auch viel Nachdenklichkeit: „Wenn der Vorwurf (der Denunziation, M.P.W.) wirklich stimmen sollte, was hat meine Mutter dazu getrieben? Unter welchen Bedingungen kam alles zustande, wurde sie dazu gedrängt, genötigt, sie hatte damals ja schon viele Kinder … in der damaligen Zeit war ja alles möglich.“

Es bewährte sich – nach anfänglichen Telefonaten, die sich als schwierig erwiesen – folgende Vorgangsweise: Enkelin B. M., begleitet von mir als ihrer Freundin mit Interesse am Schicksal ihrer Großmutter, suchte ihre Cousins und Cousinen zuhause auf. Wir reisten an deren Wohnorte und läuteten einfach an. Es gab dort und da anfängliche Skepsis, aber wir wurden nirgends abgewiesen. Mehrmals ergaben sich später noch Ergänzungen am Telefon oder weitere Besuche.

Das spontane Arrangement mit Unsicherheit auf beiden Seiten schuf so einen gewissen Ausgleich: Als Forscherin musste ich mich auf das entstehende Gespräch erst einlassen, bevor ich mich nach einer Aufwärmphase mit eigenen Fragen einbringen konnte. Es ging darum, den „Umstand der sozialen Kluft zwischen den Beteiligten, das Gefälle im Hinblick auf Status und Prestige“13 möglichst gering zu halten.

Im Anschluss an die Gespräche sammelten wir die Ergebnisse aus unser beider Sicht. Mit einer der GesprächspartnerInnen korrespondierte ich auch später noch.

Die Vornamen der schon verstorbenen Etzer-Töchter werden im Text genannt, die Namen der EnkelInnen anonymisiert. Ebenso verfahre ich mit ins Geschehen verwobenen Menschen aus Maria Etzers Nachbarschaft. Personen des öffentlichen Lebens in Goldegg nenne ich – wie die dortige Gemeindechronik – mit vollem Namen.

Als ein Stück „Österreichisches Gedächtnis“ (Ziegler/Kannonier-Finster) geht es in der vorliegenden Forschungsarbeit „einerseits um die Frage der ‚Wahrheit‘ der historischen Verhältnisse selbst, … andererseits um die ‚Wahrhaftigkeit‘ einer Erzählung dieser Geschichte …“14, solange sie überhaupt noch Menschen aus „zweiter Hand“ (vor allem Maria Etzers Enkel und Enkelinnen) erzählen können. Hier taucht bei manchen ein Stück Verleugnung der Faszination auf, welche die Ideologie des Nationalsozialismus damals ausgelöst hatte, in Teilen immer noch auslöst, ein „Opfermythos“, der (zwar gebrochen)15 auch im kollektiven „österreichischen Gedächtnis“ noch fortlebt.

Zwischen beiden Perspektiven – der Geschichte als offizieller Geschichtsschreibung und den Geschichten als subjektiv gefärbten Erzählungen – oszilliert diese Arbeit hin und her, versucht einen Kriminalfall zu erhellen und fragt damit zugleich anhand des Schicksals einer Einzelperson und ihrer Familie „nach den integrativen Kräften der NS-Herrschaft, die die Beteiligten zu Kooperation und Duldung bewegt hatten“16, sowie nach der Kraft „widerständiger Praxis“17, die Maria Etzer in schwierigsten persönlichen und politischen Umständen auszeichnete.

Der Sicht einer Enkelin schließe ich mich an, als sie meinte, man könne vermutlich auch zum Schluss der Recherche nicht endgültig herausfinden „wie es wirklich gewesen ist“. Dennoch findet sie es „gut, wenn so ein unsagbares Unrecht, wie es meiner Großmutter widerfahren ist, aufgearbeitet und bewusst gemacht wird, dass Liebschaften kein Verbrechen sein können“.

Die vorliegende Arbeit enthält sieben Kapitel und zeichnet, auch im Vergleich mit anderen wegen „verbotenen Umgangs“ verfolgten Frauen, das Schicksal von Maria Etzer nach. Sie verbrachte ihr Leben (abgesehen von ihren Haftjahren) als Bergbäuerin im österreichischen Bundesland Salzburg, im sogenannten Innergebirg (Kapitel 1). In Kapitel 2 geht es um das Aufkommen des Nationalsozialismus in ihrer bäuerlich geprägten konservativ-katholischen Umgebung. Kapitel 3 schildert den Einsatz von FremdarbeiterInnen, Kapitel 4 Rechtslage und Praxis des „verbotenen Umgangs“ und die Denunziation. Als 50-jährige Witwe, noch Ziehmutter von drei Enkelkindern, wurde Maria Etzer 1943 angezeigt. Kapitel 5 beschreibt in Auswertung vor allem schriftlicher Dokumente Verhaftung, Gerichtsverhandlung, Transport und die Zuchthausjahre in Aichach, Oberbayern. Kapitel 6 beginnt mit ihrem Heimweg, schildert die langjährige Auseinandersetzung mit der Opferfürsorgebürokratie, die späte Rückkehr in ihren Heimatort Goldegg und ihren Tod. Im Abschlusskapitel 7 werden die Opferfürsorgeansuchen ähnlich betroffener Frauen ausgewertet, bestehende Konzepte von Widerstand aufgegriffen und – anhand von Maria Etzers Leben und widerständiger Praxis – ein neues Konzept skizziert, das Leben und Lieben rund um das Umgangsverbot zu fassen probiert. Mit der offenen Frage nach Rehabilitierung – also später Gerechtigkeit – schließt die Arbeit.

 

__________

2   Vgl. Diewald-Kerkmann 1995, 119; ein Teil dieser Urteile betraf jedoch auch Männer wegen verschiedenartiger Unterstützung von Kriegsgefangenen.

3   Gugglberger 2015, 153

4   Eschebach 2014, 2

5   Schneider 2010, 14

6   Vgl. Hornung 2010, 335

7   Eschebach 2014, 9

8   Hauch 2006, 246. Vorhandene Arbeiten dazu: z.B. Waldner 1997 über Sondergerichtsurteile in Tirol, Dzeladini 2015 über Sondergerichtsurteile in Wien

9   Eschebach 2014, 1

10   Vgl. Hauch 2006, 252

11   Im Weiteren abgekürzt als B. M. Frau Menne wollte nicht anonymisiert werden.

12   Nußbaumer 2011

13   Kannonier-Finster/Ziegler 2005, 57

14   Ziegler/Kannonier-Finster 2016, 266

15   Der Bruch kam rund um das Jahr 1986: Kurt Waldheim, ehemaliger UNO-Generalsekretär, kandidierte als österreichischer Bundespräsident. In seiner Autobiografie verschwieg er seine Tätigkeit bei der Deutschen Wehrmacht am Balkan 1942–1944, als hunderttausende Juden und Jüdinnen in Züge nach Auschwitz verladen wurden. Konfrontiert damit, betonte er, er habe nur seine Pflicht erfüllt, was die österreichische Öffentlichkeit polarisierte. Im Jahr 1986 wurde auch der eher liberale FPÖ-Obmann Norbert Steger gestürzt und Jörg Haider kam unter Beifall und einigen „Heil-Hitler-Rufen“ an die Macht – vgl. Wodak in Ziegler/Kannonier-Finster 2016, 13.

16   Ziegler/Kannonier-Finster 2016, 266

17   Darowska 2012

1. Eine einfache Frau aus dem Innergebirg – Maria Etzer: Herkunft und Familie

1.1 Lebensort und Herkunft

Goldegg im Pongau18, im sogenannten „Innergebirg“ des österreichischen Bundeslandes Salzburgs gelegen, ist heutzutage als Gemeinde des sanften Sommer- und Wintertourismus sowie als Tagungsort für die vom Kulturverein veranstalteten „Goldegger Dialoge“ bekannt, die im Schloss Goldegg stattfinden.

Im aktuellen ästhetisch bebilderten Fremdenverkehrsprospekt wirbt man mit Geschichten von unberührter Natur, bäuerlicher Lebensart und Brauchtum, Schützen und Trachtenfrauen, aber auch einem Golfplatz und einem Langlauf-Olympiasieger. Es gab andere Zeiten, da warb man für Goldegg als „arische Sommerfrische“.

In der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts kamen angesehene Kaufleute aus der Salzburger Altstadt ab Mitte Juni zur Sommerfrische zu ein paar großen Gastbetrieben an den Moorseen (Goldegger- und Böndlsee) und reisten zur Festspielzeit wieder ab, Ende Juli kamen dann die Wiener, so ein Wirtssohn in seinen Erinnerungen.19 Einzelne jüdische Gäste seien auch dabei gewesen. In der kalten Jahreszeit sei Goldegg damals im Winterschlaf gelegen.

„Kargheit und Kälte, geographisch wie emotional“20, habe die Kinder damals geprägt, so der Arbeitersohn und Schriftsteller O. P. Zier aus Lend, der Nachbargemeinde, die an einer Enge tief im Salzachtal liegt. Dort stürzt die Gasteiner Ache in Schluchten nieder und wurden seit Jahrhunderten Erze gewonnen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bot eine Aluminiumfabrik Beschäftigung, verpestete aber auch die Luft.

Ein Teil der Arbeiter waren gleichzeitig Bergbauern, so auch Maria Etzers Schwiegersohn Alois S., die vom sonnigen Buchberg, noch zu Goldegg (Pongau) gehörig, auf einem Fußweg dreihundert Höhenmeter hinunter nach Lend (Pinzgau) in die Fabrik gingen. Eine Straße gab es damals noch nicht. Auch die Schulkinder, darunter alle Töchter von Maria Etzer, besuchten dort die Volks- und Hauptschule, eine Dreiviertelstunde bergab. Margarethe, die Jüngste, trug auf dem Schulweg noch Milch in kleinen Kannen aus.21 Der Heimweg bergauf war noch länger.

Der Buchberg mit seinen Bauernhöfen an steilen Hängen hoch über Lend, viel näher an dieser Gemeinde als an Goldegg gelegen, ist der Ort, an dem Maria Etzer als Lehenbäuerin von 1911 bis zu ihrer Verhaftung 1943 mit ihrer großen Familie lebte und wirtschaftete.

Ein früher Reisender, ein Salzburger Domherr, beschrieb die Landwirtschaften im klimatisch begünstigten Gemeindegebiet von Goldegg 1798 so: „Kleine Hügel und Täler, untermengt mit zerstreut liegenden, meistens von Kirschbäumen umgebenen, gut gebauten Bauernhöfen“ in der Nähe schroffer Felsengebirge, die die Sonnenstrahlen reflektierten. Die Bauern charakterisierte er folgend: Sie „wiedersetzen [sic] sich gern neuen Verordnungen, sind zu Spott und Zank sehr geneigt und selten strenge Verehrer des 6. Gebots“.22 Sogar eine Abgabe namens „Aufruhrschilling“ hätten manche Höfe infolge von Bauernaufständen leisten müssen, so der frühe Reisende – einen wesentlich dramatischeren Blutzoll hatten 1944 Goldegger Deserteure23 und die sie unterstützende bäuerliche Bevölkerung von Goldegg-Weng zu entrichten. Das Gedächtnis daran ist bis heute in der Gemeinde Inhalt kontroverser Debatten.

Maria Etzer wurde als Maria Höller am 28.Juli 1890 in Taxenbach im Pinzgau geboren24 und römisch-katholisch getauft. Sie kam aus armen Verhältnissen, war ein lediges erstgeborenes Kind ihrer Mutter Regina Höller, geboren am 12.Februar 1866 in St. Johann im Pongau, Dienstmagd, und des ebenfalls ledigen Vaters Johannes Mittersteiner, geboren am 25.Dezember 1854 in Goldegg, von Beruf Zimmermeister in St. Johann.

Die ledige Magd konnte ihre Tochter nicht behalten, so wuchs Maria auf einem anderen Hof auf. Das war damals in der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft im Salzburgerland nichts Ungewöhnliches. Zur arbeitsintensiven Viehhaltung wurden viele Dienstboten gebraucht. Die meisten von ihnen konnten sich mangels Besitz niemals verheiraten. Sogenannte „ausgestiftete“ Kinder wurden in anderen Familien gegen Kostgeld oder Arbeitsleistung untergebracht: „Sie wurden nicht uneigennützig aufgenommen, sondern mussten sich früh ihr eigenes Brot verdienen.“25 In Maria Etzers im Zuchthaus verfassten Lebenslauf vom 6.Mai 194326 heißt es dazu:

„Ich wurde bei einem Bauern in Taxenbach erzogen. Meine Ziehmutter hieß Theresia Hölzl. Die Erziehung war gut, jedoch Mutterliebe vermißte ich.“

Die Angaben im Lebenslauf erzählen nicht nur Biografisches, sondern spiegeln der Nazi-Ideologie gemäß auch peinliche Befragungen zu Gesundheit und Charakter der Vorfahren. Maria Etzer schreibt:

„Meine Mutter ist gestorben an einer Herzlähmung nach einer Kropfoperation. Sie war nie gerichtlich bestraft und war zu mir gut. Sie war mit einem anderen Mann verheiratet, nicht mit meinem Vater. Sie war eine fleißige Hausfrau und mußte ziem. lange allein für ihre Kinder sorgen, da ihr Mann früh gestorben ist. Ich habe meine Mutter erst im 13. Lebensjahr kennengelernt. Sie hat sieben Kinder geboren, wovon alle noch am Leben sind. Sie war einmal schwer krank, nie geisteskrank und keine Trinkerin.“

Nicht nur den Kropf „erbte“ Maria von ihrer Mutter. Das Schicksal der Regina Höller, die „ziemlich allein“ für ihre Kinder sorgen musste, weil ihr Mann früh verstarb, ereilte später auch Maria Etzer selbst.

„Ich besuchte eine dreiklassige Volksschule. Ich lernte kochen, dann heiratete ich, habe den Beruf nicht gewechselt.“

1.2 Heirat und Nachkommen

„In Dienst und Aufenthalt im Gasthof Eder in Schwarzach“, wie es für sie als knapp 21-jährige Braut heißt, hatte Maria vielleicht auch den am 15. Februar 1878 in St. Georgen im Pinzgau gebürtigen Johann Etzer, ihren späteren Ehemann, kennengelernt. Vor der Hochzeit am 16.Mai 1911 in der Wallfahrtskirche Maria Alm musste sie noch als volljährig erklärt werden (regulär damals erst mit 24 Jahren).

Links: Maria Etzer als ca. 20-jährige Trauzeugin. Quelle: Familie Oblasser, Taxenbach; rechts: Hochzeit mit Johann Etzer 1911. Quelle: Familienbesitz

Ihr Vater Johann Mittersteiner, der sich viele Jahre nicht um seine Tochter gekümmert hatte, war gegen diese Heirat und die Zukunft seiner Tochter als Bäuerin.

Der Vater habe ihr, so Maria Etzers spätere Ziehtochter und Enkelin E., einen Brief mit den Anfangsworten geschrieben: „Liebe ungehorsame Tochter!“, und, obwohl er als Meister des Zimmerhandwerks zu einigem Geld gekommen war, keine Kuh geschenkt. Stattdessen habe er sich, so Enkelin E., lustig gemacht über die Braut, die nach der vormittäglichen Hochzeit schon am Nachmittag in den Stall ihrer Keusche gehen müsse. Über ihren Vater berichtet Maria Etzer in ihrem Lebenslauf von 1943 Folgendes:

„Er war Zimmermann, hatte keinen Besitz, das damalige Barvermögen durch Inflation entwertet. Mein Vater war nie verheiratet, auch nie gerichtlich bestraft. Er war zu mir gut. Er war auch ein sehr fleißiger Arbeiter. Er war auch nie geisteskrank.“

Wie in Kapitel 2.7 näher erläutert, verlor der Vater 1925 durch Geldentwertung seine gesamten Ersparnisse. Maria Etzer musste, im selben Jahr 1925 Witwe geworden, ihren 71-jährigen Vater auf dem von ihm zuvor geringgeschätzten Hof aufnehmen und in Krisenzeiten neben einer großen Kinderschar mitversorgen, bis zu dessen Tod drei Jahre später. Dementsprechend schreibt sie zu ihren eigenen finanziellen Verhältnissen in ihrem Lebenslauf 1943:

Lebenslauf, verfasst im Zuchthaus Aichach 1943, Seite 1. Quelle: Staatsarchiv München

„Meine Vermögensverhältnisse waren stets sehr gering, habe in dieser Beziehung viel und Schweres mitgemacht.“

Das war auch bedingt durch die höchst schwierigen Rahmenbedingungen in der Weltwirtschaftskrise – viele andere Höfe wurden versteigert, ihrer war 1938 schuldenfrei.

Die selbst ledig geborene und als Ziehkind aufgewachsene Maria hatte als Einundzwanzigjährige die Chance ergriffen zu heiraten und damit eigene Kinder selbst großzuziehen. Auch ein Ziehkind war von Anfang an dabei. Ihr Mann, der 33-jährige Johann Etzer, aus einer bäuerlichen Familie in St. Georgen im Pinzgau gebürtig, hatte schon vier uneheliche Kinder gezeugt, zuerst die Schwestern Maria, genannt „Moidai“, geboren 1907, und Zäzilia, geboren 1908. Deren Mutter Viktoria S., eine Dienstmagd, heiratete er aber nicht. Mit anderen Frauen zeugte Johann Etzer noch einen Sohn und eine weitere Tochter. Diese Marie H., geboren ca. 1908, brachte Johann Etzer mit in die Ehe. Sie sollte später im Alter von 21 Jahren an Leukämie sterben und ihre eigene Tochter R. als Ziehkind bei Maria Etzer hinterlassen.

Johann Etzer kaufte als weichender Bauernsohn 1911 am Buchberg in Goldegg einen bescheidenen Hof, den Lehenhof. Vielleicht hatte auch seine Braut Ersparnisse aus Lohn und Trinkgeld als Köchin eingebracht, jedenfalls wurden beide zu gleichen Teilen im Grundbuch eingetragen.

Eine gewisse Zielstrebigkeit und strategische Ader ist dabei Maria Etzer sicherlich zuzuschreiben: Sie bringt Johann dazu, eine Ehe einzugehen, indem sie ihn der Mutter seiner ersten beiden Kinder, Viktoria S., „wegschnappt“ (wie diese sich beklagte). Maria Etzer wird Ehefrau statt ledige Mutter und wird ihre Kinder selbst aufziehen. Ein voreheliches Kind ihres Mannes nimmt sie auf, aber sie ist von Anfang an Besitzerin der Hälfte von Haus und Hof. Wie wichtig und existenzsichernd das wurde, zeigt sich in den folgenden Jahren. In ihrem Lebenslauf aus dem Zuchthaus steht:

„Der Mann hieß Johann Etzer, Bauer, ist an einer Kriegsverletzung 1925 gestorben, war unbescholten.“

Es findet sich hier die Formulierung: „der Mann“ – nicht etwa „mein Mann“. Nüchtern schreibt Maria Etzer 1943 über sich selbst und ihre Familie:

„War zweimal schwer krank, jedoch nie geisteskrank oder geschlechtskrank. Habe neun Kinder27 geboren, zwei davon waren tot“.

Am 7.Jänner 1912 wird Maria und Johann Etzer die erste Tochter Katharina geboren, am 27.August 1913 folgt Regina, am 1.Oktober 1914 dann Marianne (in den Kirchenbüchern Maria Anna). Das Datum war ein besonderes, weil gleichzeitig mit der Geburt des dritten Kindes der Vater Johann in den Ersten Weltkrieg einrücken musste, wie sich Enkelin E., Tochter von Marianne, aus Erzählungen der Großmutter erinnert.

Mit einem sechsjährigen Pflegekind und ihren leiblichen Kindern, einem zweijährigen, einem einjährigen und einem neugeborenen Mädchen sowie der ganzen Arbeit in der Landwirtschaft muss es für Maria Etzer zum Verzweifeln gewesen sein, dass ihr Mann nun in den Krieg ziehen musste, selbst wenn sie damals vielleicht einen Knecht hatten – der eventuell dann auch einrücken musste – oder eine Magd. Vom Krieg wird Maria Etzer also schon damals nichts gehalten haben. Die Männer sahen das anders:

„Mit Jubel und hoffender Siegesfreude folgten die braven Söhne Österreichs dem Ruf des Vaterlandes und eilten zu den Waffen.“

So schrieb in der Schulchronik der Goldegger Schulleiter Thomas Hutter, der selbst dann schon im Oktober 1914 fiel.28 Man glaubte noch an eine zeitlich und räumlich begrenzte militärische Auseinandersetzung innerhalb der Monarchie, und die Erzdiözese Salzburg gab im Advent 1914 eine Serie von „Kriegs- und Trostbriefen“ (!) heraus, u.a. an die „Gattin des Kriegers“, die „Mutter des Kriegers“, das „Kind des Kriegers“ und die „Hinterbliebenen des gefallenen Kriegers“29 gerichtet – schon die Wortwahl lässt hundert Jahre später, nach der Erfahrung zweier Weltkriege, erschaudern. Ob Johann Etzer durchgehend Kriegsdienst leisten musste, ist unbekannt, aber zu vermuten. Jedenfalls gibt es keine Geburt auf dem Lehenhof während des Ersten Weltkriegs, und Maria Etzer organisiert mit starkem Arm, vielleicht auch dort und da mit eiserner Hand, die Familie und die Landwirtschaft. Sie zahlt während dieser Zeit sogar Schulden zurück.

Der erste Sohn Johann, geboren am 9.Februar 1919 und nach seinem Vater benannt, besiegelt als männlicher Nachkomme die Freude der Heimkehr. Der Vater wird aber nicht mehr der Alte gewesen sein. Traumatisierungen des Krieges und die lange Abwesenheit haben sicher die Beziehung zu seiner Frau, vor allem aber zu seinen Kindern, schwer belastet. Außerdem trug er eine körperliche Verletzung, vermutlich an der Lunge, davon. Im Jahr darauf brachte Maria Etzer am 4.Juni 1920 Sohn Hermann Peter zur Welt, der jedoch knapp einjährig am 6.April 1921 an einer Lungenentzündung verstarb. Schließlich folgte am 10.September 1922 Tochter Margarethe. Sie blieb die Jüngste, denn die Zwillinge Peter und Paul (geb. 1923) überlebten als Frühgeburten nicht.

Johann Etzer, Marias Ehemann, starb am 15. Juni 1925 mit 47 Jahren auf dem Lehenhof am Buchberg an den Folgen seiner Kriegsverletzung, laut Sterbebuch Goldegg an einem Lungenabszess. Margarethe war damals zweieinhalb Jahre, Johann sechs Jahre, Marianne knapp elf, Regina knapp zwölf und Katharina dreizehn Jahre alt. Man kann sich vorstellen, dass für die drei älteren Töchter spätestens dann die Kindheit zu Ende war und sie bereits während der Schulzeit auch als Arbeitskräfte vollen Einsatz leisten mussten: in der Landwirtschaft, bei der Versorgung der kleinen Geschwister Hans und Grete und des alten, kranken Großvaters, der 1925 ins Haus kam und dort seine letzten drei Lebensjahre verbrachte. (Ein paar Jahre später starb Pflegetochter Marie in Salzburg an ihrem Krebsleiden und hinterließ ihre eigene Tochter R., geboren 1929.)

Links: Maria Etzer als junge Betriebsführerin am Lehenhof ca. 1926/1927; rechts: Maria Etzer als Witwe mit ihren Kindern ca. 1926/1927 – v.l.n.r.: Johann, Regina, Katharina, Marianne; vorne: Margarethe. Quelle: Familienbesitz (beide Abb.)

Geheiratet hat die erst 35-jährige attraktive und tüchtige Witwe dann nicht mehr; ein Grund dafür war vielleicht, wie sie einmal sagte, sie wolle nicht „zweierlei“ Kinder.30 Vielleicht hatten ihr auch die, abgesehen von der Zeit des Ersten Weltkriegs, fast jährlichen Schwangerschaften zugesetzt oder auch der Tod von Hermann Peter, den Zwillingen und Pflegetochter Marie. Außerdem mussten in Zeiten der Wirtschaftskrise alle ernährt werden können. Ihre Einstellung zu Kindern – Maria Etzer hatte neben Enkelin R. später noch zwei Enkelkinder als Ziehkinder – spiegelt ein von ihr überlieferter Ausspruch: „Ein Kind mehr ist kein Unglück, ein Kind verlieren schon.“31

1.3 Faszination Nationalsozialismus

Was in den Jahren 1925 bis 1938 in Goldegg und darüber hinaus politisch geschah, stelle ich im nächsten Kapitel dar. Was, auch davon beeinflusst, zu dieser Zeit in der Familie vor sich ging, ist schwieriger zu beschreiben. Nur das Resultat ist klar: Alle fünf Kinder von Maria Etzer, die in dieser Zeit Jugendliche bzw. junge Erwachsene wurden, neigten – die meisten stark – dem Nationalsozialismus zu, während ihre Mutter strikt dagegen war.

Die Abkehr der Kinder vom eigenen christlich geprägten Weltbild muss für sie ein großer Schmerz gewesen sein. Wie aus Berichten ihrer Enkel und Enkelinnen zu entnehmen ist, versuchte sie, dem etwas entgegenzusetzen – erfolglos.

Gründe für die Verführbarkeit der Jugendlichen gab es viele, einer war sicher die verbreitete Armut. So erzählte Maria Etzers Jüngste, Margarethe, ihrer Tochter B. mehrmals von der „furchtbaren Not“ in der Vorkriegszeit.

Sie wurde als „kloane Mäiz“ (als kleines Mädchen), die sonst noch nicht zu vielem zu gebrauchen war, von ihrer Mutter öfters angehalten, unter der Küchenkredenz und den anderen Kasteln nach „davongelaufenen Münzen“ zu suchen. Sie erinnert sich, dass ihr die Mutter auch ein Tischmesser in die Hand drückte, um damit in den Spalten der Bodenbretter zu stochern, ob nicht doch irgendwo ein Münzgeld hineingefallen wäre.32

Die materielle Armut spielte also eine bedeutende Rolle für die Attraktivität des Nationalsozialismus – wobei es in der Enkelgeneration auch kritische Stimmen zu dieser Sichtweise gibt: „Arm waren viele, aber manche waren trotzdem keine Nazis. Es war schon auch eine Charaktersache.“

Der Salzburger Historiker Ernst Hanisch beschreibt tiefer liegende Gründe für die Faszination des Nationalsozialismus, speziell auch in der Person Adolf Hitlers:

„Ihm schien bis 1940 alles zu gelingen: die außenpolitischen Erfolge, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die Blitzkriege. Die Führerherrschaft beruhte auf der Begeisterung des Volkes, auf einer breiten Konsensbasis, die nicht allein aus der gewiss wirksamen Propaganda zu erklären ist, sondern wesentlich aus einer deformierten politischen Mentalität der Gesellschaft. Der verlorene Weltkrieg, die politische Zerrissenheit der Zwischenkriegszeit, das Trauma der Weltwirtschaftskrise feuerten die Sehnsucht nach der ‚Volksgemeinschaft‘, nach der verlorenen Größe des Reiches an. … Hinzu kam die Aufbaueuphorie mit einer sozialen Aufstiegsperspektive, der egalitäre ‚Volksstaat‘, in Österreich und in Salzburg speziell – eine ‚regressive Modernisierung‘.“33

Eine bedeutende Rolle spielten wohl, psychologisch gesehen, auch emotionale Mangelzustände bei den Etzer-Kindern durch die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs und die Abwesenheit wesentlicher Bezugspersonen: Vaterlosigkeit und Sprachlosigkeit, emotionale Kargheit und Kälte und eine große Zukunftsangst durch die jahrelange wirtschaftliche und existenzielle Unsicherheit, die auf der Familie lastete. Maria Etzer, selbst auch schon „mutterlos“ aufgewachsen, konnte gerade einmal das blanke „Durchkommen“ sichern.

Der Nationalsozialismus schien nun eine Perspektive, ja einen geradezu glanzvoll erscheinenden Ausweg aus der Misere, auch der eigenen Familie, zu bieten. Er versprach gute wirtschaftliche Aussichten, gemeinschaftliche Erlebnisse, die Zugehörigkeit zu einer viel größeren Familie, der „Volksgemeinschaft“, mit dem Führer als Vaterfigur. Junge Leute konnten dann auch leichter „hinaus in die Welt“.

Vor allem für junge Männer boten sicherlich auch die sportlich-militaristische Propaganda und das entsprechende Gemeinschaftsleben eine Identifikationsmöglichkeit. Das Versprechen, als armer Bauernbub auf der Siegerseite zu stehen statt auf der Verliererseite, muss Maria Etzers Sohn Johann Selbstbewusstsein gegeben haben. Sein gleichnamiger Vater hätte ihm diese Illusionen nehmen können, war aber nicht mehr am Leben.

Maria Etzers Enkelin H. weiß zu berichten, wer den jungen Hans angeworben hat, nämlich der Ehemann seiner Schwester Regina, Sepp A.: „Der A. hat das dem Hansei eingeflüstert. Und der A. war ein Obernazi, der war vier Jahre in Haft, schon bevor der Hitler an die Macht kam, und nach dem Krieg in Glasenbach.“34

Johann Etzer junior ca. 21-jährig als Wehrmachtssoldat. Quelle: Familienbesitz

Maria Etzers zweitgeborene Tochter Regina wurde auf andere Weise „angeworben“. Ihr Arbeitgeber bot Familienanschluss und muss sie gut behandelt haben, deshalb ließ sie sich von diesem auch „erziehen“ – eben zum Nationalsozialismus:

Nach den Erinnerungen ihrer Tochter W. kam Regina als 14-Jährige vom Lehenhof weg in den Dienst zu einem Arzt in Lend.35 Dort lernte sie kochen und Haushaltsführung und half auch in der Praxis mit. Arbeitslose kamen bettelnd vorbei und bekamen eine Suppe und eine kleine Münze – das muss Regina beeindruckt haben. Der Arzt brachte sie zum Bund deutscher Mädel (BdM), was Regina nach den Worten ihrer Tochter als die schönste Zeit ihres Lebens bezeichnete: gemeinsame Freizeit, Singen, Lager. Auch adelige Mädchen seien dort gewesen, alle seien gleich behandelt worden.36

Dr. Hofer ging mit seiner Frau, einer Deutschen, 1935 nach Nürnberg und verlegte auch die Praxis dorthin, Regina zog mit und kam in neue, städtische Kreise. Später in die Stadt Salzburg zurückgekehrt, lernte sie dort 1938 ihren Mann Sepp A., einen Saalfeldener, kennen, ein Nazi schon zu Zeiten der Illegalität, und heiratete ihn 1939.

Je motivierter die jungen Leute waren, im Leben weiterzukommen, umso wahrscheinlicher wurden sie „infiziert“ von einer Weltanschauung, die den „Tüchtigen“ gerade das versprach. Das galt vor allem für Regina und Margarethe, während Marianne anscheinend weniger Ehrgeiz hatte, aber dennoch in die Großstadt München zog. Ihr ländliches Milieu gar nicht verlassen hat Katharina, die früh heiratete, mit sechzehn Jahren ihr erstes Kind bekam und von da an Mutter sein wollte – was aber vom Nationalsozialismus ebenfalls hofiert wurde.

Spätestens 1945 brachen für die vier überlebenden Töchter Maria Etzers und viele andere ihrer ZeitgenossInnen die hoh(l)en Ideale des Nationalsozialismus zusammen wie ein Kartenhaus. Die Trauerarbeit haben manche Etzer-Töchter nicht mehr und ein Teil von deren Nachkommen noch nicht oder nur ansatzweise geleistet.

18   Pinzgau, Pongau und Lungau sind mittelalterliche Flurbezeichnungen; neben dem Tennengau und Flachgau entsprechen sie politischen Bezirken des Bundeslandes Salzburg. Die ersten drei genannten haben Anteil an den Hohen bzw. Niederen Tauern und werden daher Innergebirg genannt. – vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Land_Salzburg (8.7.2017).

19   Gesinger 2014, 116

20   Frank Tichy: Vom Salzburger Klima, Beitrag über den Schriftsteller O. P. Zier. Salzburger Nachrichten, 28.Februar 1998, IX

21   Erinnerung von deren Tochter B. M.

22   Zitiert nach Gemeindechronik Goldegg 2008, 13f

23   Siehe www.goldeggerdeserteure.at

24   Alle Angaben aus den Matriken (Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher) der genannten Pfarren, Online-Recherche bzw. Archiv d. Erzdiözese Salzburg (AES)

25   Vgl. http://www.salzburg.com/wiki/index.php/Mehrgenerationenfamilie (28.7.2017)

26   Gefangenenakte Nr. 189/43 Maria Etzer, Zuchthaus Aichach

27   Den vorliegenden Unterlagen (Matriken) zufolge waren es acht Kinder, als ein neuntes kann Pflegetochter Marie gezählt werden.

28   Gemeindechronik Goldegg, 180

29   Mitterecker 2014, 275

30   Erinnerung Enkelin B. M., Tochter von Margarethe

31   Ebd.

32   Erinnerung B. M.

33   Hanisch im Vorwort zu Weidenholzer/Lichtblau 2012, 7f; Auslassung M. P. W.

34   Telefonat mit Enkelin H.; in Glasenbach war das Entnazifizierungslager.

35   Dr. Ferdinand Hofer – vgl. Gärtner o. J., 182

36   Das war vermutlich ab 1935 in Nürnberg.

2. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen der bäuerlichen Bevölkerung im Pinzgau und Pongau in der Zwischenkriegszeit und der Aufstieg des Nationalsozialismus

Es gibt eine Fülle geschichtswissenschaftlicher Arbeiten über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die schwierige wirtschaftliche und bewegte politische Lage in Österreich in der Zwischenkriegszeit und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Auch was das Bundesland Salzburg betrifft, gibt es spezifische Forschungen, auf die ich hier zurückgreife.37 Ich wähle daraus aus, was mir zum Verständnis der Lage von Maria Etzer und ihrem Umfeld relevant erscheint. Dabei beziehe ich mich vorwiegend auf die Situation in den Bergregionen des Pinzgau und Pongau bzw. auf die lokalen Verhältnisse in Goldegg, wie sie auch in den Chroniken der Gemeinde und der Gendarmerie festgehalten worden sind.

2.1 Die Zwischenkriegszeit:Armut der Bevölkerung auf dem Land

Maria Etzer hatte nach dem Tod ihres Mannes 1925 wohl große Sorgen. Sie übernahm die Betriebsführung der Landwirtschaft und hatte gleichzeitig fünf Kinder zu versorgen, die zwischen dreizehn und zwei Jahren alt waren. Marie H., ledige Tochter ihres verstorbenen Mannes, war mit ihren siebzehn Jahren wohl als Arbeitskraft auf dem Lehenbauernhof. 1921 war Sohn Hermann an Lungenentzündung verstorben, nicht einmal ein Jahr alt. Für einen Arzt hatten arme Bergbauernfamilien damals wohl kein Geld – vielleicht kam der in Lend ansässige Arzt zu dem nur zu Fuß erreichbaren Hof aber auch zu spät.

Neben Maria Etzers persönlicher war auch die allgemeine Lage erschütternd. Der Erste Weltkrieg war verloren, die Wirtschaft lag darnieder, die Geldentwertung war unaufhaltsam. So kostete in Goldegg ein Kilo Mehl im Jahr 1914 0,72 Kronen, 1920 10,80 Kronen, 1922 schon 450 und 1923 gar 7.500 Kronen.38 Schließlich wurde mit 1. Jänner 1925 die Schilling-Währung eingeführt (10.000 Kronen =1 Schilling), eventuell vorhandene Ersparnisse waren verloren.

In der Gemeinde Goldegg stellte der Oberlehrer 1925 den ersten Radioapparat in sein Wohnzimmer, 1928 wurde im Ort das erste Telefon eingeleitet – beides aus der Sicht der verarmten Bevölkerung ein großer Luxus. In der Schulchronik von 1932 findet sich der Eintrag:

„Die Arbeitslosigkeit Tausender führte auch hier viele arme Wandernde vorüber, die auch in der Oberlehrerwohnung fleißig zusprechen. Gott gab zum Glück eine reiche Ernte in einem wundervollen Sommer und Herbste, sodass es doch an Brot nicht fehlt. Die Armut zieht freiwillig überall ein, schön sachte, aber Frau Sorge wird häufig Gast, auch in Goldegg.“39

Diese schwulstigen Worte verdecken die Realität der sogenannten „Ausgesteuerten“, die keinerlei Unterstützung aus öffentlichen Mitteln hatten und auch in den ländlichen Regionen bettelnd von Haus zu Haus zogen. Schon 1927 regte die Salzburger Landesregierung an, in der Gemeinde St. Johann eine Herberge für wandernde Arbeitssuchende zu errichten, was in einer Sitzung jedoch abgelehnt wurde; es war vielmehr vom „Bettlerunwesen“ die Rede, und ein paar Jahre später versuchte man schon, dem Problem mit polizeilicher Gewalt zu begegnen, weil das örtliche Spital „täglich zur Mittagszeit von ca. 20 bis 30 fremden Personen besucht wird, die um ein Mittagessen bittlich werden. Durch eine scharfe Kontrolle könnte diesem Umstande abgeholfen werden“.40

Die Arbeitslosenzahl stieg u.a. auch durch Arbeitskräfte, die aus dem Agrarsektor abwanderten und aufgrund der allgemein schlechten Lage (Weltwirtschaftskrise) in Gewerbe und Industrie keine Anstellung fanden.

In der Landwirtschaft kam es bereits 1927 zu einem Preisverfall bei Vieh, Holz und Getreide, notwendige Investitionen blieben aus, speziell im Pongau traten auch Viehseuchen auf, die die Lebensgrundlage der Bergbauern gefährdeten. Viele von ihnen waren hoch verschuldet, allein im Jahr 1932 wurden im Land Salzburg etwa 800 landwirtschaftliche Betriebe zwangsversteigert, mehr als 6% aller Höfe des Bundeslandes.41 Als Reaktion auf die kritische Wirtschaftslage organisierten Bauern und Gewerbetreibende am 4.Oktober 1931 einen sogenannten Bauernaufmarsch in St. Johann, an dem 4000 Personen teilnahmen. Gut möglich, dass auch Maria Etzer als verantwortliche bäuerliche Betriebsführerin an dieser Massenkundgebung beteiligt war. Das Salzburger Volksblatt schrieb am folgenden Tag:

„4000 Bauern waren gekommen. Zu Fuß, einzeln und in Gruppen, auf klapprigem Fuhrwerk, zu Rad, auf Lastwagen, mit der Bahn. Wer weiß, wie schwer es schon ist, in einer Stadt einer Versammlung viertausend Teilnehmer zuzuführen, der kann ermessen, dass nur außergewöhnliche Beweggründe weit zerstreute Bauern zu einer derartigen Kundgebung vereinen können. Die gemeinsame Not und eine maßlose Verbitterung! Was die Redner als einzelne Beispiele an bäuerlicher Not vorbrachten, war erschütternd. Es wurde ziffernmäßig vorgerechnet, dass die Bergbauern zur Zeit nicht so viel erwirtschafteten, um den täglichen Bedarf zu decken. Wie soll da noch der Steuervorschreibung nachgekommen werden? Es braucht einen nicht wunder zu nehmen, wenn bei solchen Verhältnissen die Worte eines Redners, der die Steuerexekution als organisierten öffentlichen Diebstahl bezeichnete, stürmische Zustimmung fanden.“42

Welche erschütternden Beispiele wurden wohl in der Bauernversammlung dargelegt? Manches findet sich dazu in den Akten der Bezirksbauernkammer St. Johann. Da ist die Rede von einem gewissen Höller, der mit seiner dreizehnköpfigen Familie, darunter zehn Kinder, im Stallgebäude wohnt. Oder vom Besitzer des Danklgutes, der ein Gesuch um Beihilfe eingebracht hat, weil die Inwohner des baufälligen Gebäudes sich ihres Lebens nicht mehr sicher seien:

„Zum Beweis der Dürftigkeit möchten wir nur anführen, daß die Leute von Feber bis jetzt keinen Tropfen Milch hatten, nur Wassersuppe, da die einzige Kuh erst jetzt kälberte.“43

Zur Aussichtslosigkeit, dem Elend zu entkommen und aus eigener Kraft wieder bessere Verhältnisse zu schaffen, kam wohl auch oft Resignation und infolgedessen Vernachlässigung der Bewirtschaftung. In einem Bericht des Gendarmeriepostens St. Johann heißt es in einem konkreten Fall:

„Das fragliche Anwesen ist ein Berglehen, welches in einer Stunde Wegstrecke bei den denkbar schlechtesten Wegverhältnissen erreicht werden kann. Das Wohnhaus ist vollständig aus Holz erbaut und dem Einsturz nahe. Zwei Wohnräume sind bereits eingestürzt und unbewohnbar. Die rückwärtige Holzwand des Hauses ist gänzlich morsch und besteht Einsturzgefahr. Im Keller des Hauses ist bereits 1 Meter tief Wasser eingedrungen und kann in diesem Zustande nicht mehr benutzt werden. … Das Wirtschaftsgebäude ist erst im Jahr 1925 neu erbaut worden, doch ist das Dach bereits derart schadhaft, daß bei Regenwetter das Wasser auf die im Stalle stehenden Rinder fließt. Der Viehstall, in welchem sich gegenwärtig 3 Kühe, 2 Kalbinnen und 2 Kälber befinden, ist total verschmutzt und stehen die Rinder dortselbst einen Meter tief in Schmutz und Kot ohne genügend Streu bei kalten Witterungsverhältnissen.“44

Die Gendarmerie war naturgemäß auch beim Aufmarsch der Viertausend anwesend und vermerkt in der eigenen Chronik, dass dabei scharfe und bittere Worte gegen die Regierung bzw. das herrschende Parteiensystem gefallen sind. Und die Gendarmen greifen auch ein:

„Der Kommunist Kersch, welcher gleichfalls beim Treffen reden wollte, wurde nicht zum Reden zugelassen, in der Folge verhaftet, aus dem Lande Salzburg abgeschafft und mit dem bundeseigenen Motorrade sofort an die steiermärkische Grenze überstellt. Ausschreitungen irgendeiner anderen Art sind nicht vorgekommen.“45

Die Gendarmerie fürchtet Aufruhr und greift ein, obwohl die Kommunistische Partei zu diesem Zeitpunkt nicht verboten ist.46

Die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) hält ein paar Monate nach dem Bauernaufmarsch im Dezember 1931 in St. Johann eine Versammlung mit etwa 100 bis 110 Personen ab. Unter dem Titel „Wir greifen an“ gibt es hier erstmals eine offen antisemitische Hetze:

„Der große Klassenkampfgedanke ist ein … großer Schwindel, der wurde nur deshalb erfunden, damit wir einen Kampf vergessen sollten, den Rassenkampf. Das war die Erkenntnis Adolf Hitlers. … Der Nationalsozialismus ist das einzige Schwert, Adolf Hitler der einzige Mann, der dem internationalen Judentum mit Erfolg entgegentreten kann und wird. … wir erreichen unser Ziel durch den Todeskampf gegen alle, die gegen das deutsche Volk sind. Wir sind die Totengräber dieses Systems. … der Sieg wird über unsere Fahnen leuchten.“47

Makabere Worte, denen alsbald furchtbare Taten folgen sollten, nicht nur für BürgerInnen jüdischer Herkunft – denn „alle, die gegen das deutsche Volk sind“, wurden für den totalitären NS-Staat zu beliebig definierten Feindbildern.

2.2 Das angespannte politische Klima im Pongau und im Pinzgau und der Aufstieg der Nationalsozialisten

Wie kam es zum Aufstieg der Nationalsozialisten? In den Zeitraum des „Bauernaufmarsches“ fällt eine Radikalisierung der Landbevölkerung, die sich deutlich im Stimmverhalten als einschneidende politische Veränderung zeigt. Für die Landgemeinde St. Johann erzielen die Christlichsozialen, die im Verein mit der katholischen Kirche traditionell als politische Vertreter der Bauern gelten, bei der Landtagswahl 1932 das zweitschlechteste Ergebnis bei Wahlen seit 1919; die NSDAP jedoch vervierfacht ihren Anteil gegenüber den Nationalratswahlen.48 In der ländlich dominierten Gemeinde Goldegg erhalten die Nationalsozialisten 65 (von 550) Stimmen, in Weng 13 (von 273); dort bekommen die Kommunisten 20 Stimmen.49

„Die lang anhaltende Agrarkrise, die bereits vor der Weltwirtschaftskrise Mitte der 20er Jahre eingesetzt hatte und ihren deutlichsten Ausdruck in einem rapiden Preisverfall der landwirtschaftlichen Produkte fand, führte zu einer deutlichen Radikalisierung der bäuerlichen Bevölkerung. Das zeigte sich nicht nur im Aufschwung der Heimwehr oder im Entstehen einer ‚unabhängigen‘ Bauernbewegung außerhalb der etablierten Parteien, das zeigte sich vor allem im Zuzug, den die Nationalsozialisten von den jungen Bauernsöhnen erhielten. Während die Väter noch im ‚Landbund‘ tätig waren, gingen die Söhne (zumal diejenigen, die keine Aussicht hatten, den Hof zu erben) zu den Nationalsozialisten; mit der Zeit zogen sie dann die Väter nach.“50

Den Bauernsöhnen, die nicht Hoferben waren, machte dann zu Kriegsbeginn die NS-Propaganda ein spezielles „Angebot“: Im Zuge der Eroberungspolitik in den Osten sollten sie als sogenannte SS-Neubauern dort große Höfe bekommen, „ohne jeden eigenen Beitrag“. Der Preis war allerdings der Eintritt in die Waffen-SS.51

Maria Etzers Sohn Johann rückte 1939 freiwillig ein und bezahlte mit seinem jungen Leben: Als Gefreiter der Waffen-SS fiel er 1941 an der Lizafront in Russland, gerade einmal 22 Jahre alt.52

Die wirtschaftliche Lage war schlecht, Bargeld war kaum vorhanden, viele Höfe waren tief verschuldet, der Nationalsozialismus versprach Entschuldung und Aufbau und damit neue Perspektiven. Man knüpfte auch an Brauchtum und Gemeinschaftspflege an. Als eine zentrale Zielgruppe sprach die NS-Propaganda Jugendliche an, die NSDAP stellte sich als Partei der Jugend dar.53

Wie schon erwähnt erzielt die „Hitlerbewegung“ (NSDAP) bei den Landtagswahlen 1932 große Gewinne: Im gesamten Bundesland Salzburg sind es 20,81% der Stimmen, im Pongau 17,5% (ein Zuwachs von 14,3% im Vergleich zur Nationalratswahl 1930), im Pinzgau sogar 25,3% (Zuwachs 17%).54