"Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint" - Maria Prieler-Woldan - E-Book

"Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint" E-Book

Maria Prieler-Woldan

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Beschreibung

In Spital am Pyhrn (Oberösterreich) war von 1943 bis 1945 in einem aufgelassenen Gasthof ein sogenanntes "fremdvölkisches" Kinderheim eingerichtet, betrieben von der "Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt" (NSV). Dort waren 106 Säuglinge polnischer, ukrainischer und russischer Zwangsarbeiterinnen untergebracht, die man diesen kurz nach der Entbindung weggenommen hatte, um die Arbeitskraft der Mutter maximal auszubeuten. Die Kinder wurden – entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie – als minderwertig betrachtet und daher mangelhaft ernährt, gepflegt und geliebt. Viele starben durch vorsätzliche Vernachlässigung nach ein paar Wochen oder Monaten, 47 Todesfälle sind archivarisch belegt, als Todesursachen scheinen, neben Unterernährung, Magen- und Darminfekte, Hautausschläge und Geschwüre sowie sogenannte "Lebensschwäche" auf. Die überlebenden Kinder wurden nach 1945 in "children's homes" gesammelt und als "Waisen" in ihre vermutlichen Heimatländer repatriiert. Zumeist adoptiert, suchten sie später, oft erfolglos, nach ihren leiblichen Eltern und Spuren ihrer Herkunft. Die Autorin zeichnet in Erinnerungen, Dokumenten und amtlichem Schriftverkehr Entstehung und Betrieb des Heims in Spital am Pyhrn nach und kontrastiert die offiziell behauptete Verbesserung der dortigen Zustände mit den fortlaufenden Todesfällen der Säuglinge.

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Maria Prieler-Woldan

„Vielleicht hätte ich eine Familie.Vielleicht hat jemand um mich geweint.“

Das „fremdvölkische“ Kinderheim in Spital am Pyhrn 1943–1945

Gewidmet Susanne Lammer

© 2022 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-6294-2

Buchinnengestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation, Innsbruck/Scheffau – www.himmel.co.at

Satz: Studienverlag/Maria Strobl

Umschlag: Studienverlag/Karin Berner

Umschlagfoto: Gerhard Prieler

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhaltsverzeichnis

Dank

Vorwort (Susanne Lammer)

1.   Einführung

2.   Spital am Pyhrn – Dorf im Gebirge: Bevölkerung, Geschichte und politische Entwicklung

Spital am Pyhrn – Hospiz am Alpenübergang

Sensenschmieden, Hammerherren und der Lindenhof

Fremdenverkehr

Landwirtschaft: Bauern und Bäuerinnen, KleinhäuslerInnen, DienstbotInnen

Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit

Der Aufstieg des Nationalsozialismus

Spital am Pyhrn nach dem „Anschluss“

2a   Ferdinand Schürrer – Franz Langoth

3.   Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) als Trägerin „fremdvölkischer Kinderheime“ und verwandte Organisationen

Die NSV – der „soziale Arm“ der NSDAP

Die NSV in Oberdonau

Das Hilfswerk „Mutter und Kind“

Der „NS-Bund Deutscher Schwestern“

Der Verein „Lebensborn“

3a   Sr. Imelda Marinelli – von Posen nach Spital am Pyhrn und Pichl bei Wels

4.   Leben als slawische Zwangsarbeiterin in der Ostmark: Schwangerschaft – Abtreibung – Kindeswegnahme

Zwangsarbeiterinnen – ein wenig erforschtes Thema

Fortgerissen werden von zuhause

Nackt „desinfiziert“ werden – „Rauf auf die Pritschen und Beine auseinander!“

Hungern und frieren müssen – der eigene Körper als einziges Tauschobjekt

Schwanger werden und gebären

Ein Brief aus der Provinz …

Entbindungen in der Linzer Frauenklinik und anderswo

Das Kind hergeben müssen

Abtreiben müssen

Als „geisteskrank“ ermordet werden

5.   Das „fremdvölkische“ Kinderheim in Spital am Pyhrn – Personal und BewohnerInnen

Lagerräume – Mütterheim – „fremdvölkisches“ Kinderheim

Bürokratie und Chaos nebeneinander

Hoher Besuch aus Berlin und ein Entweder – Oder

Erinnerungen an das „fremdvölkische“ Kinderheim

Halbherzige Verbesserungen – bleibende Mangelwirtschaft

Das Jahr 1944 – Das Sterben geht weiter

Mütter und ihre Kinder zusammen im „fremdvölkischen“ Kinderheim

Schicksale von Müttern und ihren verstorbenen Kindern

Auflosung des „fremdvölkischen“ Kinderheimes in Spital am Pyhrn und Kriegsende

Mütter (Eltern) und ihre überlebenden Kinder

Heimkehr!? Missachtete Frauen und Mütter – verlorene Kinder

6.   Ohne Wurzeln: Wunder des Überlebens und bleibende Lasten. Interviews mit 1943/1944 in Österreich geborenen Nachkommen von Zwangsarbeiterinnen

Vorbemerkung

Individuelles und kollektives Gedächtnis – ein wechselseitiges Verhältnis

Frau Krystyna K.: „Ich fühle heute noch, dass ich gerne etwas Anderes sein und werden hätte wollen. Das geht mir heute noch nahe.“

Herr Franciszek W.: „Als Waisenkind wurde ich nun zum zweiten Mal in ein Waisenhaus gesteckt …“

Herr Jerzy W.: „Ich habe meine leibliche Mutter gesehen. Das erste Mal hab’ ich sie gesehen. In einem Traum!“

Frau Katharina B.: „Vielleicht hatte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint.“

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln: Wunder des Überlebens und bleibende Lasten

7.   Schlussbetrachtung und offene Fragen

Literaturverzeichnis

Anhang

Impulsfragen für Interviews

Zeittafel

Verstorbene Kinder des „fremdvölkischen“ Kinderheims Spital am Pyhrn nach Todesdatum

Zwangsarbeiterinnen nach Datum ihres Arbeitsbeginns

Zwangsarbeiterinnen fremdvölkisches Kinderheim Spital am Pyhrn zu Besuch oder Sonstiges

Kontaktadressen

Dank

Dieses Buch gäbe es nicht ohne Susanne Lammer. Sie hat die „fremdvölkischen“ Kinder in Spital am Pyhrn aus dem Vergessen geholt und hält die Erinnerung an sie wach. Susanne Lammer hat mein Interesse für dieses Thema geweckt und mich die letzten Jahre fachlich und freundschaftlich unterstützt: mit eigenen Recherchen, mit der Entwicklung und Aktualisierung der Datenbank, im gemeinsamen Prozess der Fragen und Antworten, mit manch einem gerade nicht auffindbaren Dokument … Danke, Susanne.

Für ihre umfangreichen Vorarbeiten zum Thema der „fremdvölkischen“ Kinderheime danke ich besonders der Zeithistorikerin Gabriella Hauch. Sie hat mir eine Fülle von Material zur Verfügung gestellt. Dies gilt auch für den Journalisten Martin Kranzl-Greinecker, der über die „Kinder von Etzelsdorf “ geforscht und seit zwanzig Jahren die Kontakte mit den Überlebenden gepflegt hat. Für vielfache Übersetzungen aus dem Polnischen ins Deutsche und umgekehrt, vor allem auch bei meinen Interviews, danke ich herzlich Erika Innertsberger.

Mein Dank gilt auch den Mitgliedern der Projektgruppe „fremdvölkische Kinderheime in Oberdonau“, begleitet durch Markus Rachbauer vom Lern- und Gedenkort Hartheim.

Unverzichtbar für diese Forschung war die Arbeit in Archiven, in Präsenz oder im Schriftverkehr mit den dort tätigen fachkundigen Menschen, die ich in meinem Text mehrfach persönlich anführe. Unterstützung und Auskünfte bekam ich u. a. von folgenden Einrichtungen bzw. Personen:

Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Stadtarchiv Linz (StA Linz), Archiv der Diözese Linz (ADL), Stadtarchiv Steyr, Gemeinde Spital am Pyhrn und weitere Gemeindeämter; von den ArchivarInnen des Österreichischen Alpenvereins und der Apothekerkammer.

Bei der Schlussfassung meiner Arbeit hat mich Hemma Fuchs als Erstleserin mit zusätzlichem Material, kritischen Fragen und sprachlicher Genauigkeit unterstützt; beim Literaturverzeichnis und Layout meine Tochter Veronika Prieler. Beiden ein herzlicher Dank.

Für die Förderung des Forschungsprojekts danke ich dem Zukunftsfonds der Republik Österreich, für die Veröffentlichung danke ich Markus Hatzer, Franz Kurz und Julia-Katharina Neier vom Studienverlag.

Maria Prieler-Woldan, im Winter 2022

Vorwort

„Zum Gedenken an die Säuglinge und Kleinkinder ausländischer Zwangsarbeiterinnen, die in den Jahren 1943–1945 im nationalsozialistischen ‚Fremdvölkischen Säuglingsheim‘ in Spital am Pyhrn durch Vernachlässigung ums Leben kamen. Das Land Oberösterreich 2013“

„Zum Gedenken an die polnischen Säuglinge, die ihren Müttern, den Zwangsarbeiterinnen, weggenommen wurden und im Jahr 1943 in Spital am Pyhrn starben. Der Rat zur Bewahrung des Gedenkens an Kampf und Martyrium. Warschau 2012“

Zwei Gedenktafeln wurden am 10. Mai 2014 am Friedhof St. Leonhard in Spital am Pyhrn enthüllt.

Die Fragen, die sich mir damals aufdrängten, haben mich nicht mehr losgelassen.

Denn wer gedenkt der Säuglinge in der Fremde?

Wer erinnert sich an deren Mütter, die hier bei uns Zwangsarbeit verrichten mussten und denen es verwehrt wurde, sich um ihre Kinder zu sorgen?

So organisiere ich seit Mai 2015 einmal jährlich eine Gedenkfeier in Spital am Pyhrn, damit nicht vergessen wird, was sich in unserer unmittelbaren Umgebung ereignete.

Im Geschichteunterricht habe ich nie von solchen „fremdvölkischen Kinderheimen“ gehört, obwohl es allein im Gau Oberdonau mehrere davon gab, im gesamten Deutschen Reich schätzt man ihre Zahl auf bis zu 400.

Das Schicksal dieser Säuglinge und ihrer Mütter ist ein bisher noch immer nicht umfassend behandelter Bereich in der Geschichtsforschung. Ich sammelte alles, was ich dazu finden konnte, und merkte, dass ich zu wenig Zeitressourcen zur Aufarbeitung hatte.

Im Sommer 2018 fragte ich Maria Prieler-Woldan, die gerade mit viel Einfühlungsvermögen ein Buch zur Lebensgeschichte der Maria Etzer und ihrem angeblich „verbotenen Umgang“ mit Zwangsarbeitern abgeschlossen hatte, ob sie sich „meines“ Themas annehmen und ein Buch zum „fremdvölkischen Kinderheim“ in Spital am Pyhrn verfassen könnte.

Vier Jahre später, nach ungezählten Besprechungen, gemeinsamen Mittagessen, einer Fülle von Fragen und vielen verworfenen, aber auch weitergesponnenen Hypothesen liegt nun dieses Buch zum „fremdvölkischen Kinderheim“ in Spital am Pyhrn vor.

Ich danke Maria Prieler-Woldan für ihre akribische Recherche-Arbeit, die unermüdliche Spurensuche und die spannenden Fragestellungen.

Ich wünsche mir, dass die Lektüre dieses Buches bei allen Leserinnen und Lesern die katastrophalen Folgen aufzeigt, wenn das Leben von Menschen unterschiedlicher Völker als unterschiedlich wertvoll klassifiziert wird.

„Jedes Kind hat Recht auf Namen und Familie.“ Diese Forderung aus der UNO-Kinderrechtskonvention steht jeweils auf der Schleife des Kranzes anlässlich der jährlichen Gedenkfeier.

Jedes Kind – damals und heute.

Und auch jede Mutter und jeder Vater haben Recht auf ihr Kind und auf Familie.

Möge diese Überzeugung immer mehr lebbar sein – in allen Teilen unserer Welt!

Susanne Lammer, im Winter 2022

Eine Stimme ist in Rama gehört worden, Weinen und großes Klagen. Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen. Denn sie lebten nicht mehr. Jeremia 31, 15

„Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint.“ Katharina B., Überlebende

1. Einführung

Im September 2018 stand ich, begleitet von Susanne Lammer, zum ersten Mal in Spital am Pyhrn (Oberösterreich) auf dem Friedhof der Kirche St. Leonhard vor den beiden Gedenktafeln in polnischer und deutscher Sprache, welche an die 1943 bis 1945 dort begrabenen Säuglinge slawischer Zwangsarbeiterinnen erinnern. Es war windig und kalt, und ich fror auch innerlich und weinte, als ich dort in die Metallschale mit den eingravierten Vornamen je eine Glasmurmel legte:

Stefan – Ludwig – Stanislaus – Teresa – Maria Katharina – Metschislaw – …

Seither haben mich diese und viele andere Vor- und Nachnamen, die ich auf Karteikarten und Listen, in Gemeindestuben und Archiven suchte und fand, intensiv beschäftigt und immer wieder bewegt: Namen verstorbener und – zumindest bis Kriegsende – überlebender Säuglinge und Kleinkinder. Nach heutigem Wissensstand wurden 106 Kinder, fast ausnahmslos als Säuglinge, zwischen Ende März 1943 und Mitte Jänner 1945 in Spital am Pyhrn im „fremdvölkischen“1 Kinderheim untergebracht. Von 47 ist deren Tod dokumentiert, weitere sechs sind vermutlich ebenfalls umgekommen. Auch die Todesursachen finden sich in den Akten: z. B. Magen- und Darminfekte, Hautausschläge und Geschwüre, sogenannte „Lebensschwäche“.

Im Auftrag des nationalsozialistischen Regimes und im Sinne maximaler Ausbeutung der Arbeitskraft von Zwangsarbeiterinnen wurden die Säuglinge ihren polnischen, ukrainischen oder russischen Müttern möglichst bald nach der Geburt abgenommen und in dieses Heim gebracht. Sie wurden dort mangelhaft ernährt, gepflegt und geliebt und starben häufig schon nach ein paar Monaten. Von den Leichnamen der Säuglinge ist nichts mehr erhalten, aber ihre Namen – und alles, was man sonst dazu noch wissen kann – müssen bleiben. Das ist ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit.

Das „fremdvölkische“ Kinderheim in Spital am Pyhrn ist, zeitlich gesehen, vermutlich das erste im gesamten Deutschen Reich. Im Gau Oberdonau der Ostmark, mit dem Adolf Hitler biografisch verbunden war, sollte begonnen werden. „Hier könnten wir die Dinge einmal gleich in der Praxis durchführen und Erfahrungen sammeln“, so schrieb Reichsführer SS Heinrich Himmler an Gauleiter August Eigruber.2 Im „Modell Oberdonau“3 wurde die rassistische Geburten- und Bevölkerungspolitik gegenüber slawischen Zwangsarbeiterinnen auch für das „Altreich“ vorweggenommen und erprobt, was u. a. auch der Schriftwechsel zwischen Linz und Berlin ab 1942 belegt.

Insgesamt gab es auf dem Territorium des Deutschen Reiches bis zu 200.000 Kinder slawischer Zwangsarbeiterinnen und bis zu 400 solcher Heime, beschönigend auch „Ausländerkinderpflegestätten“ genannt. In Deutschland waren sie an Standorten der Großindustrie häufig mit Entbindungsbaracken für die slawischen Zwangsarbeiterinnen kombiniert. Tausende Säuglinge und Kleinkinder im Alter von wenigen Monaten bis zu etwa zwei bis drei Jahren verstarben und wurden, oft namenlos, begraben. Manche AutorInnen sprechen daher nicht von Kinderheimen – als Einrichtungen professionell geplanter und praktizierter Fürsorge –, sondern von Lagerunterkünften, die zunehmend auch in Baracken eingerichtet wurden.

Nur in Ausnahmefällen wurden Verantwortliche für Ausländerkinderpflegestätten in Kriegsverbrecherprozessen angeklagt, aus vorsätzlicher Vernachlässigung den Tod einer größeren Zahl slawischer Kinder herbeigeführt zu haben.4 „Bereits 1955 hatte Lord Russel of Liverpool als einer der Hauptrechtsberater des Nürnberger Tribunals einen Überblick über die Ausländerkinder-Pflegestätten gegeben, […] ohne nennenswerte Resonanz beim deutschen Leser.“5

Jahrzehntelang war das Wissen um diese jüngsten Opfer des Nationalsozialismus, die verstorbenen und die überlebenden, verschüttet und verdrängt. Das galt für Österreich und die beiden deutschen Staaten BRD und DDR, aber auch für Polen, die Ukraine und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Im deutschsprachigen Raum begann die Rezeptionsgeschichte der „fremdvölkischen“ Säuglings- oder Kinderheime mit drei polnischen AutorInnen in ihrem Werk „Kinder im Krieg – Krieg gegen Kinder“, das 1981 in Warschau und im selben Jahr noch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde.6 Mit zeitlichem Abstand folgten dann lokale und überregionale Recherchen und Publikationen, von denen ich einige vor 2000 erschienene hier nenne. Diese keineswegs vollständige Aufzählung ergibt ein Bild über das erst langsam erwachende Forschungsinteresse, das oft auch in örtliche Gedenkinitiativen mündete bzw. von dort ausging. Denn zumeist handelte es sich um Initiativen von Privatpersonen.

So veröffentlichte als Erste im Jahr 1987 Bernhild Vögel ihre Untersuchung zum „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“ in Braunschweig mit 360 in drei Heimen verstorbenen Säuglingen und Kleinkindern. Ihrer Initiative ist auch die Online-Plattform „Krieg gegen Kinder“ ab 20007 zu verdanken. Ebenfalls im Jahr 1987 erschien von Hans Holdhaider ein Beitrag über „Die Kinderbaracke von Indersdorf “ im Landkreis Dachau; Raimond Reiter publizierte 1993 in Hannover seine Dissertation „Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg“, Gisela Schwarze veröffentlichte 1997 anhand von Recherchen über das westfälische Entbindungslager Waltrop ihr Buch über „Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg“. In den etwa 300 bis 400 „fremdvölkischen“ Heimen sind mehrere Tausend slawische Kinder zu Tode gekommen; es gibt Hochrechnungen von bis zu 50.000 Kindern.8

In Österreich, das sich bis Mitte der 1980er Jahre noch als Opfer des Nationalsozialismus verstand, kam die historische Forschung zu den „fremdvölkischen“ Kinderheimen erst in den Jahren um 2000 in Gang, und zwar im Rahmen der HistorikerInnenkommission9 zur Entschädigung von Zwangsarbeitskräften. Abseits der Geschichtswissenschaft und der in die Gedenkarbeit involvierten Menschen sind diese Heime auch einer interessierten Öffentlichkeit immer noch kaum bekannt.

Für Oberösterreich, genauer Oberdonau, hat als Erste die Zeithistorikerin Gabriella Hauch mit ihrem Team über „Ostarbeiterinnen. Vergessene Frauen und ihre Kinder“10 geforscht, darunter auch über das „fremdvölkische“ Kinderheim in Spital am Pyhrn. Der Titel ihres 2001 in einem Sammelband publizierten Aufsatzes ist programmatisch: Es geht nicht nur um die bislang vergessenen Kinder, sondern auch um die vergessenen Mütter, also um Schwangerschaften und Geburten, Zwangsabtreibungen und die Wegnahme ihrer Kinder. Der Journalist Martin Kranzl-Greinecker veröffentlichte 2005 eine Dokumentation über „Die Kinder von Etzelsdorf. Notizen über das ‚Fremdvölkische Kinderheim‘ im Schloss Etzelsdorf, Pichl bei Wels (1944–1946)“. Er hatte zuvor schon Überlebende beider Heime (Spital und Pichl) ausfindig gemacht und unterstützte sie in der Folge über viele Jahre bei der „Spurensuche“ nach ihrer Herkunft.

Beide Werke und die weitreichenden Vorarbeiten dazu wurden Ausgangsbasis für meine eigene Forschung, die längst fällige Monografie zum ersten „fremdvölkischen“ Kinderheim in Spital am Pyhrn. Darin konnte ich manches vertiefen, ergänzen, zuweilen auch korrigieren. Gleichzeitig war es eine späte, vielleicht letzte Gelegenheit, noch Nachkommen von Zwangsarbeiterinnen als ZeitzeugInnen zu erleben und ihnen zuzuhören.

„Vielleicht hätte ich eine Familie“, sagte Jahrzehnte später eine Überlebende, die mittlerweile selbst verstorben ist. „Vielleicht hat jemand um mich geweint.“ Nicht nur die archetypisch gezeichnete jüdische Rahel – siehe Bibelzitat im Vorspann – hatte in den Jahren des Nationalsozialismus um ihre Kinder zu weinen. Das galt auch für Boleslawa und Stefania, für Lidia und Ennia, für Malschka und Paraskawia, die ihre Säuglinge ans „fremdvölkische“ Kinderheim abgeben mussten, oft in den sicheren Tod, oder die, bedingt durch Chaos und Verwechslungen, ihr Kind nach 1945 nicht wiederfanden. Nicht vergessen werden sollen auch diejenigen Zwangsarbeiterinnen, die im Heim als Arbeitskräfte eingesetzt waren und, zumeist selbst hungrig, das Sterben der Säuglinge hilflos mitansehen mussten.

Eine Nennung von Zwangsarbeiterinnen und ihren Kindern mit vollem Namen ist ein wesentliches Anliegen meiner Forschung und der Gedenkarbeit und richtet sich gegen das Vergessen und Verdrängen der Nazi-Gräuel. Verwechslungen und mehrfache oder falsche Schreibweisen lassen dabei manchmal keine eindeutige Identifizierung zu. Dennoch steht die Namensnennung auch im Dienst von Menschen, welche bis heute auf der Suche nach ihren leiblichen Müttern, Vätern oder Geschwistern sind.

Gleichzeitig gibt es berechtigte Interessen von ZeitzeugInnen und Angehörigen der Opfer, dass ihre Daten geschützt werden. Das eine gilt es gegen das andere abzuwägen, und die Entscheidung im jeweiligen Fall ist mir nicht leichtgefallen.

Ein Resultat der zahlreichen Archivrecherchen, inhaltlich und technisch unterstützt von Susanne Lammer, ist eine Datenbank mit allen verfügbaren Informationen zu den Kindern des „fremdvölkischen“ Säuglingsheims in Spital am Pyhrn und ihren Müttern bzw. Eltern. Eine Liste der verstorbenen Kinder wird in dieser Forschungsarbeit veröffentlicht. Die Datenbank zu den – zumindest bis 1945 – überlebenden Kindern wird vom Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim verwaltet, sodass die Ergebnisse für weitere Nachforschungen, auch von Angehörigen, zur Verfügung stehen (Kontaktadresse im Anhang).

Neben den Namen der Opfer gibt es auch die Namen der Täter und Täterinnen bzw. der Mitläufer und Mitläuferinnen. Auch hier gibt es Nachkommen. Sie tragen keine persönliche Schuld für die Einstellungen und Entscheidungen ihrer Eltern und Schwiegereltern, Groß- und Urgroßeltern, wenn diese das herrschende Unrechtssystem des Nationalsozialismus aktiv gefördert, davon profitiert oder vielleicht auch nur durch fehlende Zivilcourage daran Anteil gehabt haben. Am Erbe des Nationalsozialismus kommen aber Familien, Gemeinden und unsere ganze Gesellschaft letztlich nicht vorbei.

Als nachgeborene Forscherin bin ich keine Richterin und froh, nicht selbst unter der Nazidiktatur in Gewissensentscheidungen gekommen zu sein. Dennoch gilt es, gerade auch in der Forschung, genau hinzusehen. Es geht dabei „einerseits um die Frage der ‚Wahrheit‘ der historischen Verhältnisse selbst, […] andererseits um die ‚Wahrhaftigkeit‘ einer Erzählung dieser Geschichte“11, auch unter Einbeziehung der letzten Überlebenden.

Meine Arbeit versucht das in sechs Kapiteln, wobei ich zusätzlich auch Augenmerk auf einzelne relevante Personen lege (Kapitel 2a und 3a).

Das folgende Kapitel 2 verortet das „fremdvölkische“ Kinderheim in seinem räumlichen und zeitlichen Umfeld des „Dorfes im Gebirge“ Spital am Pyhrn, darunter auch, als Ort des Geschehens, im früheren Hammerherrenhaus und dem darin untergebrachten ehemaligen Gasthof Lindenhof.

Dessen Eigentümer Ferdinand Schürrer, der in das Unternehmen eingeheiratet hatte, wird in Kapitel 2a zu SS-Oberführer Franz Langoth in Verbindung gesetzt, welcher später für die „fremdvölkischen“ Kinderheime in Oberösterreich (bzw. Oberdonau) verantwortlich war. Dass sich die beiden gleichaltrigen Herren allem Anschein nach schon Jahre zuvor kennengelernt hatten, verweist auf ideologische und später auch geschäftliche Verbindungen.

In Kapitel 3 widme ich mich dem Umfeld der für das „fremdvölkische“ Kinderheim zuständigen Organisationen: Träger war die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), der in Deutschland Erich Hilgenfeldt, in der Ostmark und Oberdonau Franz Langoth vorstand. Für die verwandten, aber auch konkurrierenden NS-Organisationen NSV und „Lebensborn“ war Reichsführer SS Heinrich Himmler gesamtverantwortlich.

In ideologischem Zusammenhang damit steht auch der „NS-Bund der Deutschen Schwestern“. In Kapitel 3a betrachte ich den Lebensweg der Säuglingsschwester Imelda Marinelli von Linz nach Polen und von dort in die Kinderheime von Spital am Pyhrn und Schloss Etzelsdorf.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Thema der Zwangsarbeit von slawischen Frauen in der Ostmark, vorwiegend nach schriftlich dokumentierten Erinnerungen der Betroffenen. Beginnend mit den Umständen von Deportation und „Desinfizierung“ waren gerade Frauen besonderen Belastungen und Risiken ausgesetzt. Deren Schwangerschaften führten häufig zu Zwangsabtreibungen bzw. zur Wegnahme ihrer neugeborenen Kinder.

Kapitel 5 ist ganz den Kindern, Müttern und Betreuungspersonen des Heimes in Spital am Pyhrn, des Lindenhofs, gewidmet, wo Bürokratie und Chaos nebeneinander herrschten. Das Leben, die Mangelversorgung und das fortgesetzte Sterben der Säuglinge wurden bald auch Thema von Kontrollbesuchen und von mehrfacher Korrespondenz zwischen Linz und Berlin. Konkrete Schicksale von Müttern und deren verstorbenen oder überlebenden Kindern runden das Kapitel ab.

Aus der Sicht von 1943 und 1944 geborenen Nachkommen von Zwangsarbeiterinnen und damit letzten ZeitzeugInnen wird schließlich in Kapitel 6 durch lebensgeschichtliche Interviews deutlich, was es heißt, ohne Wurzeln zu sein und jahrzehntelang nach Spuren der eigenen Herkunft zu suchen. Dem Wunder des Überlebens stehen bleibende Lasten gegenüber.

In einer Schlussbetrachtung führe ich die Ergebnisse meiner Forschung zusammen und verweise auf weitere offene Fragen.

Gedenktafel deutsch, Friedhof St. Leonhard, Spital am Pyhrn, Foto: Jack Haijes

Murmeln in Schale mit Namen verstorbener Kinder, Foto: Jack Haijes

_______________

1   „Fremdvölkisch“ ist ein Begriff der NS-Ideologie, die ein abgestuftes System „höherwertigen“ und „minderwertigen“ Lebens kennzeichnet. Ganz oben standen die „Arier“, am unteren Ende finden sich die jüdische Bevölkerung, Roma und Sinti sowie die Slawen: Sie alle betrachtete man als Gefahr für den „Deutschen Volkskörper“. Gleichzeitig war das Deutsche Reich auf Zwangsarbeitskräfte in großer Zahl, vor allem aus dem Osten, angewiesen: auf Polen und Polinnen sowie die als „Ostarbeiter“ bezeichneten Männer und Frauen aus der Ukraine und den Ethnien der damaligen Sowjetunion. Näheres dazu in Kapitel 4.

2   Bundesarchiv (BA) Berlin, NS 19-3596, Himmler an Eigruber, 9.10.1942.

3   So die Zeithistorikerin Gabriella Hauch, vgl. Hauch 2001a, 1290.

4   Im Volkswagenwerk in Rühen kamen 1944/45 rund 300 Zwangsarbeiterkinder ums Leben. Der leitende VW-Betriebsarzt Hans Körbel wurde 1946 von einem britischen Militärgericht wegen vorsätzlicher Vernachlässigung (willfull neglect) von Fürsorgepflichten zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Todesstrafe betraf auch Schwester Elle Schmidt. In der Salzburger Volkszeitung vom 1.7.1946 wurde darüber berichtet. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_K%C3%B6rbel bzw. https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=svz&datum=19460701&seite=2&zoom=33. Zur Verteidigungsstrategie ein Beispiel in Vögel 2005, 6. Einer der im März 1946 Angeklagten, Gestapo-Kommissar Fritz Flint, sprach in seiner Vernehmung von einer Epidemie in der Milch als Todesursache. In der Nacht vor der Fortsetzung der Verhandlung verstarb der 40-jährige Angeklagte „überraschend“.

5   Dube-Wnęk 2011, 27. Vgl. Lord Russel of Liverpool: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Naziverbrechen. Frankfurt am Main 1955.

6   Roman Hrabar/Zofia Tokarz/Jacek E. Wilczur; alle im Folgenden genannten Werke siehe Literaturliste.

7   www.krieggegenkinder.org, erstellt 2000 bis 2004 von Bernhild und Florian Vögel, aktualisiert bis 2012 (Stand 14.3.2022).

8   Allein in Niedersachsen wurden 58 „fremdvölkische“ Kinderheime betrieben, sie umfassten nach Raimond Reiters Angaben 3.000 bis 4.000 ausländische Kinder, von denen nach seiner Hochrechnung etwa 2.000 bis 3.000 als verstorben anzunehmen sind. Weitere Kinder starben vermutlich noch nach Kriegsende – vgl. www.rreiter.de (14.3.2022).

9   https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Historikerkommission (14.3.2022).

10   Im selben Jahr veröffentlichte sie, mit etwas anderem Schwerpunkt, den Aufsatz „Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder: Zum Geschlecht der Zwangsarbeit“, der auch die „Kinderkrippe“ im Lager 57 der HGW (Hermann-Göring-Werke) behandelt. Weitere Publikationen: siehe Literaturliste.

11   Ziegler/Kannonier-Finster 2016, 266.

2. Spital am Pyhrn – Dorf im Gebirge: Bevölkerung, Geschichte und politische Entwicklung

Spital am Pyhrn – Hospiz am Alpenübergang

Die Gemeinde Spital am Pyhrn, in der Ortschronik „Dorf im Gebirge“ genannt, ist ca. 90 Kilometer von der Landeshauptstadt Linz entfernt. Sie liegt, umgeben von Bergketten, im südlichen Oberösterreich am Ende des Garstnertales und zugleich am Fuß des Pyhrnpasses, der die Grenze zur Steiermark bildet. Die Verbindung zwischen den beiden Bundesländern ist heutzutage wetterunabhängig via Bahnbzw. Autobahntrasse durch den Bosrucktunnel gewährleistet.

Über den Pyrhnpass auf 945 m Seehöhe führten schon in alter Zeit Verkehrswege, z. B. die Verbindung von Aquileia (heute Italien, Region Friaul/Julisch-Venetien) nach Ovilava12 (Wels). Zur Kreuzzugszeit entstanden im österreichischen Raum an Pässen, wie z. B. auch am Wechsel und Semmering, Pilgerhospize, daher der Ortsname Spital. Sie dienten nicht nur Reisenden und Kranken, sondern sollten auch den Passverkehr sichern und den politischen Einfluss weltlicher und geistlicher Herrschaften gewährleisten. Daher wurden die Hospize großzügig mit Grund- und Forstbesitz sowie mit Bezugsrechten von Salz, Fisch und Wein ausgestattet. Das Hospital am Pyhrn, welches zum Bischof von Bamberg gehörte, besaß u. a. Höfe und Weingärten in der Steiermark und in der Wachau.13

Unter dem ersten Spitalmeister, der einer Bruderschaft von Laien und Klerikern vorstand, wurde 1198 eine Kirche gebaut, in deren Nähe sich nach der Rodung bäuerliche Liegenschaften und Hofgewerbe ansiedelten. So gab es im frühen 14. Jahrhundert schon eine Hoftaverne und einen Hofschmied und entlang des Trattenbaches drei Mühlen. Zur Versorgung der Bruderschaft und des anwachsenden Wirtschaftsverkehrs über den Pass sind zu dieser Zeit auch schon ein Hofbäcker sowie die Gewerbe von Schneider, Kürschner, Fassbinder, Zimmermann und Bader nachzuweisen.14

1418 wurde in Spital ein Chorherren-Stift eingerichtet. Im Zuge der Gegenreformation entstand zwischen 1642 und 1736 eine prächtige Barockanlage von Stift und Kirche, die das Ortsbild bis heute prägt. Nach Aufhebung des Stiftes 1807 übernahmen kurzzeitig Mönche aus St. Blasien im Schwarzwald die verlassenen Gebäude, sie zogen aber schon nach zwei Jahren nach Kärnten (St. Paul im Lavanttal) weiter, nicht ohne besondere Schätze mitzunehmen, eine kostbare Monstranz und wertvolle Schriften.15 Als Ort für Schätze, die entwendet, verwahrt und abtransportiert wurden, bekamen das Stift und seine Kirche nochmals im Nationalsozialismus Bedeutung, worauf ich weiter unten näher eingehe.

Wie die nach dem Süden weiterreisenden Mönche den Pyhrnpass überquerten, ist nicht überliefert. Zur Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia wurde jedenfalls die Passstraße verbessert, und ab 1842 führte eine Postlinie von Wels nach Liezen. Die Postkutsche konnte die Steigung über den Pass jedoch nur ohne Passagiere bewältigen, weshalb diese dort aussteigen und ein Stück zu Fuß gehen mussten.16

Der Errichtung einer ersten Lokalbahn auf der oberösterreichischen Seite folgte ab 1901 der Bau der Pyhrnbahn mit mehreren Talübergängen, kleineren Tunneln und schließlich dem 4,8 km langen Bosrucktunnel. Diese Verbindung der westlichen Teile der Monarchie mit deren Haupthafen Triest hatte allerdings weniger die Bequemlichkeit der Reisenden als vielmehr wirtschaftliche Überlegungen als vorrangiges Ziel, wie es der Reichstagsabgeordnete Dr. Sylvester im Mai 1901 im Abgeordnetenhaus erläuterte:

„Längs der neuen Strecke befinden sich reiche Lager von Gips, Alabaster, schwarzem und rotem Marmor, wertvollem Sandstein, Weißkalk, Tonlager, Steinkohle, Zement […], weiter Torfmoore, Schwefelquellen, Salzquellen und ungemein reiche Holzbestände. Über den Pyhrn gehen laut Mautgebühr zirka 10.000 Stück Vieh jährlich. Die bedeutendste Industrie, die durch diese Strecke gefördert wird, ist die Sensenindustrie. Vier Jahrhunderte lassen sich die Sensenschmiedezünfte nachweisen. Von den in Österreich im Jahre 1898 erzeugten Sensen fallen auf das Windischgarstner Tal fast der zehnte Teil. Infolge der schlechten Bahnverbindungen und die dadurch erschwerte Konkurrenz mussten17 von 22 Sensenwerken bereits sechs Werkstätten geschlossen werden […].“18

Diese Entwicklung konnte allerdings auch die neue Bahnverbindung nicht aufhalten, wie sich zeigen sollte.

Sensenschmieden, Hammerherren und der Lindenhof

Eines dieser traditionsreichen Sensenwerke und seine Familiengeschichte werden hier näher beleuchtet, weil das später errichtete dazugehörige Herrenhaus, der heutige Lindenhof, im 20. Jahrhundert an eine NS-Organisation vermietet wurde, die das „fremdvölkische“ Kinderheim betrieb.

Am „Vordern Hasenberg zu Spital am Pirn“ wurde im Jahr 1555 vom „Dechant zu Spital“ ein Grundstück zur Errichtung einer Sensenschmiede verkauft. Das erbaute Werk hatte im Lauf der Zeit verschiedene Besitzer. Durch wirtschaftliche Tüchtigkeit und gezielte Heiratspolitik kamen zur Schmiede weitere Gebäude, eine Alm und Viehbestand hinzu, bis im Jahr 1756 Gottlieb Weinmeister vom Prietal bei Leonstein und seine Braut Maria Theresia Moser vom Sensenhammer zu Knittelfeld in der Steiermark den gesamten Besitz um 7784,05 Gulden käuflich erwarben.19

Die Weinmeister-Dynastie führte dann den Betrieb und gab den Besitz weiter bis ins 21. Jahrhundert. Gottlieb Weinmeister I., der 1803 starb, übergab schon ein beträchtliches Vermögen. Fünf Söhne wurden alle Sensenschmiedemeister, zwei Töchter heirateten Besitzer von Hammerwerken. Weinmeisters Witwe Maria Theresia übergab 1807 an den Sohn Gottlieb Weinmeister II., der sich zeitgleich mit Zäzilia Zeitlinger, Sensenmeistertochter aus Molln, verheiratete. Seine Frau, die ihm drei Kinder gebar, starb jung, worauf Gottlieb ihr 1813 eine Kapelle errichten ließ und 1815 neuerlich eine Hammerherrentochter heiratete, neun weitere Kinder folgten. Er erwarb eine Alpe, ein weiteres Sensenwerk in der Grünau und Schurfrechte an Steinkohlen. 1831 ließ er sein Wohnhaus neu aufbauen: „Es wurde eines der schönsten Herrenhäuser der Sensenschmieden im Bereich der Innung Kirchdorf-Micheldorf “20.

Zur Blütezeit waren die Sensenwerke voll ausgelastet, der Wohlstand der sogenannten „Schwarzen Grafen“ zeigte sich in neu errichteten herrschaftlichen Häusern mit gehobener Wohnkultur, wertvollem Mobiliar, einer eigenen Tracht für die Unternehmer und deren Frauen. Gottlieb Weinmeister II. ließ sich um 1838 sogar auf einem Gemälde verewigen, das ihn im Kreis seiner biedermeierlich gekleideten großen Familie in seinem noblen Salon präsentiert21. Auch eine Schenkungsurkunde zur Übergabe des Besitzes an seine zwölf Kinder ist erhalten.

Sein Sohn Gottlieb Weinmeister III. (geboren 1808) heiratete seine Cousine vom Sensenhammer „an der Zinne“ und übernahm das väterliche Erbe 1845. Die Weinmeister-Brüder Franz in der Grünau und Gottlieb am Hasenberg hatten durch das Verfahren des schweißbaren Tiegelgussstahles die Sensen technisch verbessert, was auch dem Absatz nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz förderlich war: „Das Sensenwerk Vorderer Hasenberg beschäftigte 1851 28 Arbeiter und lag mit der Produktion von 40.000 Sensen und Sicheln an der Spitze der Sensenwerke des Tales. […] Die Konkurrenz brachte es mit sich, dass sich um 1856 zwei der Spitaler Werke, Hasenberg und Au, gegenüber den anderen beiden durchgesetzt hatten.“22

Was nach dieser wirtschaftlichen Blüte blieb, „war die gesellschaftliche Bedeutung der Hammerherren, die seit 1868 in der Genossenschaft zu Kirchdorf/ Micheldorf vereinigt waren. In Spital schienen sie in dieser Zeit überhaupt gleichsam einer großen Familie anzugehören.“23

Nach dem Tod Gottliebs im Jahr 1873 übergab seine Witwe Juliane 1881 an Sohn Franz (geboren 1846), der 1882 die Tochter eines Hausbesitzers und Müllnermeisters Cäzilia Kemetmüller (geboren 1855) heiratete.

Franz Weinmeister starb 1893 im Alter von nur 47 Jahren. Außerdem brannte 1895 das zur Firma gehörende Sägewerk ab, und überdies war die Blütezeit der Sensenerzeugung vorbei. Die Witwe Cäzilia Weinmeister konnte den Betrieb nicht weiterführen und musste Wald und Grundstücke verkaufen. Sie hatte jedoch eine Konzession für das Gastgewerbe übernommen24 und beherbergte Übernachtungsgäste, z. B. auch Studenten, die zum Wintersport kamen.

Die einzige Tochter, 1883 geboren und wie ihre Mutter Cäzilia genannt, verheiratete sich 1912 mit Ferdinand Schürrer (geboren 1870), einem ausgebildeten Apotheker, der schon als Student nach Spital zum Schifahren gekommen war und im Lindenhof Quartier genommen hatte. Aus Rücksicht auf die betagte Witwe und Mutter seiner Braut habe er nach der Heirat die Apotheke in Enns aufgegeben und sich in Spital niedergelassen, so wird in der Familie erzählt.25 Ferdinand Schürrer, der aus Waidhofen an der Ybbs stammte und aus Enns zuzog, führte dort jedoch keine Apotheke.26 Er war zum Zeitpunkt der Heirat schon 42 Jahre alt und hatte nach zwei erfolglosen Konzessionsgesuchen 1910 und 1911 offenbar 1912 die Gelegenheit ergriffen, in Spital am Pyhrn sesshaft zu werden.

Er muss ein vielseitiger, unternehmerisch veranlagter Mann gewesen sein und damit wohl gut in die Weinmeisterfamilie gepasst haben. Der schon über 70-jährigen Witwe Cäzilia und ihrer gleichnamigen Tochter, mit 29 Jahren auch nicht mehr ganz jung, muss eine solche Heirat ganz recht gewesen sein, auch als Perspektive für den Betrieb. Jahrzehnte später erinnerte sich die Tochter des Ehepaares:

„Meine Mutter hat das Sensenwerk noch erlebt. Das hat aufgehört 1894, so was. … Und dort haben dann verschiedene Firmen angefangen, eine Schachtelfabrik … eine Kettenfabrik … und eine jede ist eingegangen, hat sich nicht halten können.“27

Der gelernte Apotheker betrieb in Spital vorerst die Landwirtschaft weiter und führte mit einem Pferdefuhrwerk, später auch mit einem LKW, Materialtransporte vom und zum Bahnhof durch.28 Weil sich der Tourismus entwickelt hatte, baute er in den Zwanziger- und Dreißiger-Jahren des 20. Jahrhunderts um und aus. Er nützte ein riesiges Wirtschaftsgebäude,

„85 Meter lang, da waren Stallgebäude, Rossstall, Kuhstall, Schweinestall, Garagen, Arbeitsräume, Waschen, Werkstatt, und oben zur Hälfte waren Wohnungen.“29

Im ersten Stock gab es Mieter. Darüber baute Schürrer einen weiteren Stock, der ursprünglich als Getreidespeicher gedacht war und genutzt wurde, „ein riesiger Saal“, wie seine Tochter erzählte, den der Vater mit Bettgestellen untergliederte, mit Matratzen ausrüstete und an Studenten aus Wien zum Wintersport vermietete. Er baute auch das einstöckige Herrenhaus aus. Ab 1927 bestand dann der Gasthof Lindenhof, es waren insgesamt 15 Fremdenzimmer verfügbar. Im „Gaststättenführer Oberösterreich“ von 1930 waren für den Gasthof Lindenhof 18 Fremdenzimmer mit 41 Betten ausgewiesen; unter Anmerkungen sind auch Matratzenlager erwähnt.30

Ansichtskarte Gasthof Lindenhof, Privatbesitz C. L., Foto: Jack Haijes

Familie Schürrer ca. 1947/48. Vorne Mitte sitzend: Cäzilia Schürrer sen. mit Enkelin C. L., Ehemann Ferdinand Schürrer sen. Sitzend vorne: Mann unbekannt, stehend hinten: Tochter C. H. mit Ehemann, Privatbesitz C. L., Foto: Jack Haijes

Von Oktober 1938 bis Jänner 1945 waren durchgehend Teile des großen Anwesens über Miet- und Pachtverträge an die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) vergeben.

In der 1990 erschienenen Ortschronik von Spital am Pyhrn findet sich ein – von mir schon weiter oben zitierter – Beitrag von Elfriede Schürrer.31 Unter dem Titel „Aus Geschichte und Kultur einer Spitaler Sensenschmiede“ berichtet sie von der wechselvollen Geschichte des Familienbetriebes. Von einer NS-Nutzung der Gebäude des Lindenhofes ist nicht die Rede; es wird nur erwähnt, dass die beiden Weltkriege und deren Folgen es den Nachkommen schwer gemacht hätten, den restlichen Besitz zu erhalten.32

Fremdenverkehr

Die Bewirtung und Beherbergung von Winter- und Sommergästen war für Bauern und Gewerbetreibende ein willkommenes Zubrot und hat in Spital eine lange Tradition.

Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es Berichte über Bergtouren und Feriengäste33. In den Verzeichnissen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins finden sich, aus den städtischen Zentren kommend, Rechtsanwälte, Ärzte, Professoren und Botaniker. Der Pyhrgas, der Bosruck und das Warscheneck wurden bestiegen, Almen aufgesucht und Blumen beschrieben. Unter den Fans des Bergsteigens war auch der Spitaler Sensenschmied Alois Rohrauer, der mit dem damaligen Jus-Studenten und späteren Bundeskanzler Karl Renner 1895 die „Naturfreunde“ gründete, um bei geringen Mitgliedsbeiträgen auch den Arbeitern den Bergsport zu ermöglichen.

Um die Wende zum 19. Jahrhundert wird in einem Büchlein auf Spital als beliebten Sommerfrischeort verwiesen, wo „städtisch geputzte Damen lustwandeln“34, während sich die Herren inzwischen auf Jagdpartien vergnügten. Einer von ihnen war der schlesische Graf Larisch, der ab 1895 jährlich mit großem Gefolge eintraf. Sogar die Hebamme war dabei, weiß eine späte Nachfahrin der Weinmeister-Dynastie, denn deren Urgroßmutter hatte die Familie des Grafen beherbergt.35 Nach dem Brand des Sägewerks 1895 und der Stilllegung des Sensenwerkes waren auch neue Einnahmequellen nötig geworden – wie z. B. der Fremdenverkehr.

Im Sommer 1909 zählte man in Spital schon 1256 Gäste.36 Als Begleiterscheinung der zum Teil adeligen Sommergäste und des großstädtischen Publikums kam in Spital auch vermehrt konservatives und deutschliberales Gedankengut auf. 1908 bzw. 1910 wurden der Turnverein und eine Ortsgruppe „Südmark“ des „deutschen Schulvereins“ gegründet. Patriotisch-katholische, aber auch großdeutsch gesinnte Hammerherren, Wirte, Großbauern und der Pfarrer bestimmten zu dieser Zeit die Geschicke des Ortes.37

Neben der Sommerfrische blühte auch der Wintertourismus auf, zusammen mit der Entwicklung des alpinen Schilaufes. Im Februar 1907 wurde in der Zeitschrift „Der Schnee“ des Alpen-Schi-Vereins ein Wintersportfest angekündigt, das neben Rodelrennen, Fackelzug und Feuerwerk auch einen Schi-Fernlauf und Schisprung ankündigte: „Zeitnehmung erfolgt mittels selbstregistrierenden Apparates (auf eine Zehntel-Sekunde genau).“38 Auch für das Après-Ski war gesorgt, im Saal des Gasthauses „Zur Post“ folgten Preisverleihung, Konzert und abendliches Tanzkränzchen. Das Linzer Volksblatt berichtet am 4. März 191039 vom ersten oberösterreichischen „Bobsleighrennen – Kampf um den Pyhrnpreis“. Start und Ziel seien durch eine „Telephonpatrouille“ verbunden. Als einer von zwei Herren bei der Zeitnehmung am Ziel wird Ferdinand Schürrer genannt. Der Bau der Pyhrnbahn erleichterte jedenfalls die Erreichbarkeit des Dorfes im Gebirge, sodass laut Zeitungsbericht Mannschaften aus „Graz, Leoben, Linz, Urfahr, Wels, Admont“ teilnehmen konnten.

Im Übrigen sollte Ferdinand Schürrer dem Alpenverein verbunden bleiben; er wurde von 1928 bis 1937 sogar Vorsitzender der Sektion Spital am Pyhrn.40 In der Wiener Sektion „Austria“ (zu der er vielleicht als Student der Pharmazie gehörte) hatte 1921 Eduard Pichl die Macht übernommen: „Sein erklärtes Ziel war die Vertreibung von Juden aus der Sektion und aus den Alpen“41. Schon zur Zeit der Illegalität der NSDAP (1933 bis zum „Anschluss“ im März 1938) warb er erfolgreich dafür, „dass Nazis aus ganz Österreich in die Austria eintraten, um bald eine Mehrheit für einen Arierparagraphen zu haben, der den ganzen Verein umfasste.“ Etwa 2000 jüdische Mitglieder und einige Nichtjuden „verließen den Verein, der einst als liberales Aushängeschild des modernen Alpinismus gegolten hatte.“42 Wie die Spitaler in dieser Frage eingestellt waren und welche sportlichen Aktivitäten sie setzten, lässt sich rückblickend nicht mehr feststellen: „Leider war die Sektion Spital nicht besonders mitteilsam, sodass sich nicht nur in unserem Archiv, sondern auch in den Mitteilungen des Alpenvereins nur wenig über ihre Tätigkeit finden lässt“43, schreibt der Historische Archivar des Alpenvereins auf meine Anfrage. Aus anderen Quellen wird deutlich, dass das Schifahren nicht nur dem Sport und der damit verbundenen Geselligkeit diente. Die nationalsozialistische SA organisierte während der Zeit der Illegalität politische Schulungslager, „wie etwa eines zwischen 2. und 10. März 1937 auf der Hofalm bei Spital am Pyhrn, das nach außen hin als harmlose Schipartie getarnt war und an dem auch prominente Linzer SA-Führer teilgenommen hatten.“44

Landwirtschaft – Bauern und Bäuerinnen, KleinhäuslerInnen, DienstbotInnen