Das Sternenmal - Sandra Busch - E-Book

Das Sternenmal E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Lediglich ein bisschen Handel wollte Azary in der Stadt-im-Gras treiben, da wird sein Blick von dunklen Augen gefangen. Anstatt mit Münzen kehrt er mit einem Sklaven in sein Dorf zurück. Doch auch andere interessieren sich für den Waldländer, denn Jarrego ist Träger des Sternenmals, ein Symbol für Glück und Herrschaft. Und plötzlich bildet sich das Mal auch auf Azarys Haut. Ca. 83.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.

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Lediglich ein bisschen Handel wollte Azary in der Stadt-im-Gras treiben, da wird sein Blick von dunklen Augen gefangen. Anstatt mit Münzen kehrt er mit einem Sklaven in sein Dorf zurück. Doch auch andere interessieren sich für den Waldländer, denn Jarrego ist Träger des Sternenmals, ein Symbol für Glück und Herrschaft. Und plötzlich bildet sich das Mal auch auf Azarys Haut.

 

Ca. 83.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.

 

 

 

 

 

 

Vorwort

Wir haben es schon wieder getan. Warum? Weil uns das Schreiben irren Spaß bereitet, wir uns wie Zwillinge fühlen und uns ein gemeinsames Werk zumindest im Geiste, wenn schon nicht örtlich zusammenrücken lässt.

Sandra Gernt habe ich erstmalig kennengelernt, als meine Blood-Trilogie beim Dead Soft Verlag angenommen worden ist. Sie hatte die mühevolle Aufgabe, mein Skript zu lektorieren. Seitdem ist sie meine beste Freundin. Eine, der ich mein Herz ausschütten und mit der ich lachen kann.

Dank Facebook hüpfte noch jemand in unser Boot. Eine ganz besondere Person, die sich nicht scheute, eines der Ruder zu ergreifen und sich mit in die Riemen zu legen. Die allerdings manchmal auch zur Peitsche greift und uns beiden Sandras auf die Plätze kommandiert, wenn wir aus der Reihe tanzen. Brigitte Melchers ist ein unfassbares Schätzchen, eine wundervolle Person, die ich ebenfalls nicht mehr missen möchte. Unerschrocken geht sie auf die Jagd nach dem verlorenen Dativ und muntert uns mit ihren Kommentaren immer wieder auf.

Es macht mich stolz und froh und glücklich, mit euch zusammen ein weiteres Buch geschrieben zu haben.

Sandra Busch

 

Noch ein Vorwort

 

Sanna: Ich hab dich wie irre lieb. Leider wohnst du viel zu weit weg …

Und Brigitte wohnt noch viel weiter weg. Es ist eine Ehre und Bereicherung, euch kennen zu dürfen, aber diese räumliche Trennung tut wirklich weh.

Um den Schmerz zu kompensieren, müssen wir gemeinschaftliche Bücher schreiben. Denn das ist die Art, wie Verrück…, äh, Autoren, mit Kummer umgehen. Ich hoffe, ihr Leser werdet diese Geschichte ebenso genießen wie wir es getan haben; es wäre eine große Freude.

 

Sandra Gernt

Inhalt

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Klirren riss ihn aus dem Schlaf. Gleich darauf tanzten heiße Flammen durch die Rundhütte aus Reisig und Moos. Schlaftrunken versuchte Jarrego zu begreifen, wieso er panische Schreie hörte. Im nächsten Moment wurde er von seinem Vater unsanft auf die Füße gerissen.

„Ein Überfall! Hinaus!“

Jetzt erst begann sein Verstand zu begreifen. Der eisige Schrecken schnürte ihm die Kehle zu. Ein grober Stoß in seinen Rücken setzte ihn endlich in Bewegung. Seine nackten Füße schnitten sich an den Scherben eines Brandgeschosses, das in die Hütte geworfen worden war. Mit ängstlich klopfendem Herzen drehte er sich zu seinen Eltern um, die dicht hinter ihm durch die immer höher schlagenden Flammen zum Ausgang drängten. Die Augen seiner Mutter erschienen ihm riesig und steigerten seine eigene Furcht.

„Hinaus! Rasch!“, forderte sein Vater, der sich ein großes Messer gegriffen hatte. Als ob er damit jemanden töten könnte! Waldclans töteten keine Lebewesen, denn sie alle waren Dornas Kinder. Jarrego schlüpfte durch die niedrige, ebenfalls runde Tür. Vor ihm tauchte ein Schatten auf, dem er instinktiv auswich, indem er sich zur Seite warf. Etwas sauste die Luft zerschneidend an ihm vorbei.

„Lauf!“, kreischte seine Mutter und er rannte voller Panik los. Ein Schrei und ein Gurgeln deuteten darauf hin, dass sein Vater dem tödlichen Schatten nicht hatte entkommen können. Tränen schossen Jarrego in die Augen. Er jagte an brennenden Hütten vorbei, sprang über die Leichen derer, mit denen er Stunden vorher noch gescherzt und ein gemeinsames Essen genossen hatte, und schlug Haken um Waffen schwingende Schreckensgestalten. Um ihn herum tobte ein Inferno aus schrillen Schreien, raues Gelächter und prasselnden Flammen. Plötzlich versperrte ihm ein Angreifer den Weg. Abrupt blieb Jarrego stehen und starrte auf den Fremden. Blut tropfte von seiner Axt, ein Eisenhelm bedeckte seinen Kopf und dichter Bart das Gesicht. Dennoch konnte Jarrego das überhebliche Grinsen des Grasländers deutlich erkennen. Zottige Felle bedeckten den Körper des Fremden.

„Ergib dich, Bursche!“ Drohend wurde eine Axt gehoben. Flammen spiegelten sich in der gefährlichen Klinge. Statt einer Antwort zog Jarrego einen Speer aus einer Leiche – Tulfan! Es war der alte Tulfan! – und fuhr gerade rechtzeitig herum. Der Fremde stürmte mit erhobener Waffe auf ihn zu. Es gab einen Ruck, der Jarregos Arm bis zur Schulter erschütterte, die Axt grub sich mit der Schneide zwischen seine Füße in den Boden. Voller Entsetzen blickte er auf den Mann, der sich auf der Spitze seines Speeres in Todeszuckungen wand.

Bei Dorna!

Er hatte getötet! Dabei hatte er lediglich versuchen wollen, dem Angreifer die Axt aus der Hand zu schlagen. Übelkeit stieg in ihm auf. Keuchend ließ Jarrego den Schaft los, drehte dem Sterbenden den Rücken und setzte seine Flucht zwischen den lichterloh brennenden Hütten fort. Wenn es ihm gelang, im Wald unterzutauchen … Der dichte Rauch verbarg ihn und er schaffte es tatsächlich durch das blutige Gemetzel bis zu den letzten Behausungen. Doch ehe er zwischen den Bäumen in die Schatten der Nacht schlüpfen konnte, prallte er gegen eine Art Netz, das mit einem leisen Sirren orangefarben aufleuchtete. Jarrego schrie auf, als er einen heftigen Schlag erhielt, der seinen gesamten Körper lähmte. Hilflos stürzte er zu Boden, wo er das Bewusstsein verlor.

 

 

Um ihn herum herrschte unterdrücktes Weinen. Gefesselt, frierend und mit schmerzenden Muskeln kauerte Jarrego zwischen den anderen Jugendlichen seines Dorfes und versuchte zu begreifen, wieso das Schicksal auf ihn spuckte. Oder warum er in das Fangnetz der Sklavenjäger geraten musste. Wie ein Spinnennetz war es kaum erkennbar, erst wenn man hineingeriet, wurde das Opfer wirksam ausgeschaltet. Er hätte daran denken müssen …

„Die haben gewusst, dass unsere Schutzmechanismen mit Hokedos Tod zusammengebrochen sind“, flüsterte Ditoyo. „Der Zeitpunkt des Überfalls war sorgfältig gewählt.“

Jarrego warf ihm einen kurzen Blick zu. Die Oberlippe seines Freundes war aufgeplatzt und er zerrte sinnlos an seinen Fesseln.

„Hätte Hokedo doch rechtzeitig einen Nachfolger gesucht. Dann wäre das hier nicht geschehen.“

Es war unfair, einem Toten die Schuld an ihrer Lage zuzuschieben. Und es war sinnlos Ditoyo darauf hinzuweisen. Hokedo war stolz darauf gewesen, dass er als Einziger die kleinen, uralten, aber effektiven Maschinen bedienen konnte, die ihr Dorf vor eben solchen Angriffen schützen sollten. Bestimmt hatte der Mann gedacht, dass ihm noch alle Zeit der Welt blieb, um einen Nachfolger zu benennen – bevor ihn der Jaguar gefressen hatte. Jarrego ignorierte das weitere Gerede seines Freundes und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Angreifer. Diese hatten die Asche seiner Heimstatt nach wertvollen Überresten durchsucht, Verletzte abgeschlachtet und die Leichen zu einem großen, viel zu großen Haufen zusammengetragen. Auch seine Eltern lagen dort, wie Abfall einfach abgeladen. Man wollte sie verbrennen, was eine absolute Katastrophe war. Wie sollte Dorna in diesem Fall ihre Seelen retten?

Keine zehn Meter von Jarrego entfernt war ein Streit zwischen drei Männern entbrannt. Er konnte kein Wort von dem verstehen, was sie sich gegenseitig an den Kopf warfen, aber er schaute auf, als der Disput zu eskalieren drohte. Schließlich wirbelte einer der drei mit einem wütenden Laut herum und musterte die Reihe der Gefangenen. Sein Blick blieb ausgerechnet an ihm hängen. Hastig senkte er den Kopf und wünschte sich mit aller Macht, unsichtbar zu sein. Im nächsten Augenblick wurde er an den Handfesseln in die Höhe gerissen. Mit einem weiteren Knurren in Richtung der streitlustigen Jäger wurde er gleich darauf hinter dem Fremden hergezerrt. Er sah sich mit wild klopfendem Herzen zu seinen Freunden um. Wollte ihn dieser hässliche Kerl von seinen Schicksalsgefährten trennen?

„Jarrego?“ Ditoyo rief ihm erschrocken hinterher. „Jarrego, geh nicht!“

Als ob er eine Wahl hätte.

„Ditoyo!“

Ein wuchtiger Hieb in sein Gesicht brachte ihn zum Taumeln. Schon im nächsten Moment wurde er weiter gezerrt, einem ungewissen Schicksal entgegen.

 

 

Azary hatte seine Felle, Grasmatten und Knochenschmuck verkauft. Nun schlenderte er über den Markt und überlegte, was er sich von dem großartigen Gewinn kaufen sollte. Zweihundertfünfzig Taler aus diesem Beutel gehörten ihm. Ein unerhörter Reichtum, den er sich durch ganz besondere Häute einer sehr flinken Saurierart aushandeln konnte. Er hatte bereits kleine Geschenke für seine Familie erworben. Sein Vater erhielt neue Speerspitzen, seine Mutter ein blaugrünes Schultertuch aus märchenweicher Alpaca-Wolle und seine kleine Schwester bekam einen langgehegten Wunsch erfüllt: eine Halskette aus schneckenförmigen Muscheln, die perlmuttfarben schimmerten. Zufrieden mit seinen bisherigen Einkäufen drückte er den schweren Beutel mit seinem Verdienst gegen die Brust. Was sollte er sich gönnen? Einen dieser sagenhaft scharfen Krummdolche der Flussmenschen? Einen herrlich geschwungenen Bogen aus poliertem Eibenholz der nördlichen Grasländer? Oder … dunkle verzweifelte Augen? Azary blieb stehen. Zu seiner Linken wurden Sklaven feilgeboten. Sklaven waren ihm nicht fremd, sein Stamm hielt selbst welche. Aber dieser hier … Sein Besitzer hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn für den Verkauf herzurichten. Dunkelbraunes, verfilztes Haar löste sich aus vier dicken geflochtenen Zöpfen, die dem Sklaven bis zur Mitte des Rückens reichten. Erschöpfung hatte sich tief in sein Gesicht gegraben. Die Schmutzstreifen auf seiner Haut konnten die zahlreichen Blutergüsse und Striemen nicht verbergen. Offenbar hatte sein Besitzer, ein stämmiger, hässlicher Kerl, öfter seine Wut an ihm ausgelassen. Nackt stand der Sklave in einem der dafür vorgesehenen Käfige, die Hände mit einem groben Strick vor seinem Leib zusammengebunden.

Das muss ein Angehöriger der Waldclans sein, überlegte Azary, so dunkel wie seine Haut ist. Außerdem war seine Gestalt kleiner als die eines Grasländers. Seine Finger kneteten den Beutel mit den Münzen. Gefangene aus den Waldclans wurden häufig als Arbeitskräfte an Händler verkauft. Ihr Geschick in der Herstellung von Webereien, Korbflechtereien oder in der Schnitzkunst war legendär.

„Ich will mehr sehen!“, sagte eine Stimme aus der Menge, die die Käfige umstanden. Der hässliche Kerl öffnete den Verschlag, trat hinein und presste seine Ware gegen das Gitter. Der Sklave verzog schmerzhaft das Gesicht, als die Eisenstäbe gegen seine Wange drückten. Er regte sich aber nicht, als Hände seine Bein- und Armmuskulatur prüften, ihn zwangen, seine Zähne zu zeigen und schließlich sogar sein Geschlecht untersuchten.

„Besondere Fähigkeiten?“, wurde der Sklave gefragt. Er gab keine Antwort. Sein Besitzer ließ ihn wieder los.

„Er spricht nur die Sprache seines Clans“, erklärte er.

„Wie soll er dann meine Befehle verstehen?“ Der Interessent wandte sich kopfschüttelnd ab.

„Du bist nichts als eine Plage.“ Der Sklave erhielt einen gemeinen Hieb gegen den Hinterkopf und prallte mit der Stirn wuchtig gegen die Gitterstangen. Azary konnte sehen, wie er aufsteigende Tränen fortblinzelte. Wie mochte man sich fühlen, wenn man derartig präsentiert, befingert und geschlagen wurde, und das alles nackt im kalten Wind? Auf einmal merkte er, dass er direkt vor dem Käfig stand. Der hässliche Kerl schaute ihn fragend an.

„Ich will ihn haben“, hörte sich Azary sagen.

In Hadorns Namen!

War er verrückt geworden? Was wollte er mit einem Sklaven?

„Wie viel?“, fragte er dennoch.

„Dreihundert.“ Der Kerl war nicht nur unansehnlich, er stank auch noch zum Himmel. Und dreihundert war ein unverschämt hoher Preis für einen abgemagerten, müden und geprügelten Jungen, der nicht einmal die Sprache der Stämme beherrschte. Zudem hatte Azary nur zweihundertfünfzig und er brauchte einige Münzen, um Proviant für den Heimweg zu erwerben.

„Hundertfünfzig“, sagte er. Sie begannen zu feilschen. Sein Verhandlungsgegner schien kein Händler zu sein. Ihm fehlte das Geschick und die Geduld für ein gutes Geschäft. Azary klopfte sich innerlich auf die Schulter, als er den Zuschlag bei Zweihundert erhielt.

„Er isst kein Fleisch und keinen Fisch“, erklärte der nun ehemalige Besitzer, als er den Käfig erneut öffnete. „Die Waldclans töten keine Lebewesen. Aber sie sind geschickt und handwerklich sehr begabt.“

„Wo sind seine Kleider?“

Azary bekam ein Bündel in die Hand gedrückt. Keine Felle, sondern weiche Distelwolle und ein Gewebe aus ihm unbekannten Fasern.

„Nimm ihm die Fesseln im Käfig ab. Da kann er sich anziehen, ohne abzuhauen. Viel Vergnügen mit ihm.“

Ehe Azary ihn nach dem Namen seines Eigentums fragen konnte, verschwand der Mann sichtlich erleichtert, sich nun mit Münzen statt mit dem Jungen vergnügen zu können. Seufzend drehte sich Azary zu seinem Kauf um und ließ das Kleiderbündel vor die Füße des Sklaven fallen.

„Also schön, Kleiner. Ich bin Azary. AZARY!“ Er deutete auf sich.

„Dein Name ist wie?“ Fragend zeigte er jetzt auf sein Gegenüber. Der Sklave sah ihn an und schwieg.

Hervorragend!

Das ging ja wirklich gut los. Also eins nach dem anderen. Azary zog sein Messer und zertrennte die Handfesseln seines neuen Besitzes. Unter den Hanfstricken kamen blutig gescheuerte Handgelenke zum Vorschein.

„Heieiei!“ Skeptisch sah sich Azary die Wunden an. Da sollte er später ein neues Seil herumschlingen? So herzlos konnte er unmöglich sein. Azary seufzte. Nun würde er auch noch furchtbar aufpassen müssen, dass sich der Kleine nicht in einer unbeobachteten Sekunde aus dem Staub machte. Er deutete auf das Bündel und tat, als würde er in eine Hose steigen. Nahezu hastig griff sein Sklave nach der Kleidung und zog sich in Windeseile an. Azary nickte zufrieden, als dunkle Augen ihn unsicher anschauten.

„Komm“, sagte er und winkte dem Waldländer, ihn zu begleiten. Gehorsam setzte sich der Sklave in Bewegung und folgte ihm zu einem öffentlichen Brunnen.

„Hier kannst du dir die Wun…“ Azary verstummte, denn der Sklave stürzte sich wie ein Verdurstender auf das Wasser und trank gierig.

„Du kannst natürlich auch einen Schluck trinken“, murmelte Azary. Hatte sich der Vorbesitzer denn überhaupt nicht um die Bedürfnisse des Sklaven gekümmert? Inzwischen wusch sich sein Eigentum das Gesicht und kühlte seine sicherlich schmerzenden Handgelenke.

„Hunger hast du bestimmt auch.“

Ein fragender Blick in seine Richtung.

„Hunger.“ Azary rieb sich den Magen. Dieses Mal bekam er ein zaghaftes Nicken zur Antwort. Wenigstens die grobe Kommunikation funktionierte. Sie steuerten drei verschiedene Verkaufsstände an und er suchte ein buntes Sortiment an Verpflegung zusammen. Aus den mehr praktischen als köstlichen Vorräten wählte Azary einen Fladen aus Nussmehl und Honig hervor und drückte es seinem Sklaven in die Hand. Misstrauisch roch der daran, ehe er vorsichtig ein Stück probierte. Nur einen Moment später kaute er eifrig. Und nun? Eigentlich hatte Azary einen vergnüglichen Abend in der Stadt-im-Gras verbringen wollen. Dabei hatte ihm reichlich Gerstenbier vorgeschwebt und wer wusste, welch amouröser Zeitvertreib ihn zu späterer Stunde noch beglückt hätte. Mit einem Sklaven an seiner Seite, auf den er Acht geben musste, konnte er diese Vorstellung von Vergnügen jedoch ersatzlos streichen. Na schön! Dann eben ein schlichtes Lager vor den Toren der Grasstadt zwischen hohen Halmen, in denen der Nachtwind sang. Dort konnte ihm Grrorre helfen, den Sklaven zu bewachen.

 

 

Etwa fünf Kilometer waren sie über einen ausgetretenen, schmalen Pfad durch das drei Meter hoch wogende Gras gelaufen, bis sie zu der Stelle gelangten, an der Azary seinen Kameraden zurückgelassen hatte. Während sie marschierten, hatte er sich bemüht, den Namen seines Sklaven herauszufinden, doch der stellte sich auf stur. Er weigerte sich auch die Wörter zu wiederholen, die ihm Azary vorsagte: Himmel, Gras, Vogel. Inzwischen fragte er sich, ob er sich mit dem Kauf einen Gefallen getan hatte. Wie sollten sie miteinander umgehen, wenn sich der Bursche an seiner Seite weigerte, seine Sprache zu lernen?

Den ersten Laut, den der Sklave nach Stunden von sich gab, war ein erstickter Schreckensschrei, als sich ihnen ein riesiger Schädel aus den grünen Halmen entgegenschob und gleich darauf eine Säbelzahnkatze zwischen den Grasbüscheln hervorschlüpfte.

„Grrorre!“ Azary sprang vor und umarmte das dreihundert Kilo schwere Tier. Mit einem grollenden Schnurren rieb die Großkatze ihren Kopf an seiner Schulter, wobei sie Azary beinahe umwarf. Dann wandte sich das Raubtier an den starr dastehenden Sklaven und reckte witternd die Nase vor.

 

Jarrego hatte von diesen Bestien gehört. Und von den Menschen, die auf ihnen ritten. Man erzählte sich nichts Gutes von ihnen. Weißhäute mit strohgelbem Haar, die im Gras lebten, den Willen von Tieren zerbrachen, sie gefangen hielten, um sie jederzeit essen zu können. Die Grasländer mussten alles besitzen. Menschen, Tiere, Land. Sie liebten nichts, ihr Lebensziel war es, möglichst viele Dinge anzuhäufen. Nun war er also endgültig ebenfalls ein Ding geworden. Etwas, das man besaß, benutzte, gegen etwas anderes eintauschte. Wie sehr hatte er gehofft, dem Ganzen entfliehen zu können, sobald er einmal von seinem Peiniger fort war … Dieser Azary, falls das sein Name war, schien weniger übel zu sein als die andere Weißhaut. Er hatte Jarrego Wasser und Nahrung gegeben und schien ihn nicht festbinden zu wollen. Der Blick seiner grasgrünen Augen zeugte nicht von Grausamkeit und Kälte und er hatte ihn noch kein einziges Mal geschlagen. Vielleicht, weil er ihn als Futter für diese Riesenkatze gekauft hatte? Die Schultern des Tieres mussten ihm bis auf Bauchhöhe reichen und die Säbelzähne waren viel länger als seine Hand. Es hielt den kurzen Stummelschwanz steif, als es sich ihm näherte, was Jarrego als Warnzeichen auffasste. Tiefes Grollen versprach ihm einen raschen, gnädigen Tod. Er schluckte seine Angst. Es wäre gut, von allen Qualen und Ängsten erlöst zu werden und zu seiner toten Sippe heimzukehren. Gewiss warteten sie zu Dornas Füßen bereits auf ihn …

„Grrorre!“ Azarys Stimme war wie ein scharfer Hieb. Er brachte das hellfleckige Tier dazu, den Kopf zu senken und sich von Jarrego abzuwenden. Ja, es war eindeutig. Der Grasländer besaß die Seele der Säbelzahnkatze. Und bald würde er auch Jarregos Seele stehlen. Dann konnte er nicht zu seiner Familie gehen, nicht einmal, wenn er starb!

Schmerz, Trauer, Hunger, namenloses Entsetzen vor dem, was ihn erwartete ließ Jarrego wimmernd in die Knie gehen. Er war einer vom Clan, niemand durfte ihn besitzen!

Worte überschütteten ihn wie kaltes Wasser, prasselten auf seine schutzlosen Ohren. Jarrego presste die Hände dagegen, um sie fernzuhalten. Womöglich würden sie es sein, die seine Seele stahlen!

Grüne Augen glühten über ihn. Starke Hände packten seine Arme. Strohgelbe Zöpfe peitschten seinen wunden Körper. Er war allein. Ausgeliefert an diesen Dieb, der ihn besitzen wollte. Schlimmer noch, er selbst war ein Mörder. Hatte es verdient, von allem getrennt zu sein, was er kannte …

Jarrego begann zu schreien, bis seine letzten Kräfte schwanden und es endlich dunkel um ihn wurde.

 

 

Azary blinzelte verwirrt und tauschte einen Blick mit Grrorre. Sein pelziger Gefährte ließ sich auf den Bauch fallen, überkreuzte die Vorderpfoten und legte den schweren Kopf darauf. Dabei musterte er leise grummelnd den Bewusstlosen.

War der Sklave etwa nicht bei Verstand? Sollte das der Grund sein, warum der Händler ihn so schnell loswerden wollte? Azary stöhnte, als er daran dachte, was seine Mutter wohl sagen würde, wenn er mit einem geistlosen Sklaven nach Hause kam. Seine Familie besaß bereits zwei Sklaven, Jonka und Nandur. Beide waren sehr fleißig, Jonka sogar hübsch anzuschauen. Jonka war ebenfalls eine Grasländerin, die weit aus dem Norden kam. Nandur dagegen war als Flussmensch geboren. Sein Gesicht war mit lauter wellenartigen Tätowierungen verziert. Dasselbe Muster zierte auch seine Arme, Brust und Rücken. Außerdem hatte er Sommersprossen und Haare in der Farbe von Eichhörnchenfell. Im Gegensatz zu seinem Neuerwerb konnte er jedoch sprechen.

„Hnga hnga.“ Grrorres Ohr zuckte und dann gähnte er, wobei er eine Menge spitzer Zähne zeigte.

„Mutter wird nicht erfreut sein“, murmelte Azary ahnungsvoll. Sein Vater würde lediglich die Schulter zucken und den Sklaven ignorieren, denn alles, was den Haushalt betraf, entschieden bei den Grasländern die Frauen. Vielleicht konnte er sie überzeugen, dass er einen guten Kauf getan hatte. Der Stumme konnte Grasmatten und Körbe flechten, die sich als zusätzliche Tauschwaren eignen würden. Wenn sie eines im Überfluss hatten, dann war es Gras.

„Auf, Grrorre. Wir müssen endlich los. Der Weg ist noch weit. Ich habe also noch ein paar Tage Zeit, um mir Gedanken über diesen Burschen zu machen. Hoffentlich zeigt er noch, dass er zweihundert Taler wert war.“ Azary packte den Bewusstlosen unter den Achseln und zerrte ihn auf Grrorres Rücken, wo er ihn mit einem Strick festband, damit er nicht herunterrutschte. Danach schulterte er sich das schwere Bündel und marschierte los. Mit federnden Schritten folgte ihm die Säbelzahnkatze mit ihrer Last.

 

 

 

 

 

Nach etwa drei Stunden schien der Waldländer zu sich zu kommen. Azary, der neben Grrorre ging, bemerkte, wie sich die Lider hoben und sich wenige Sekunden später das Gesicht entsetzt verzog, als sein Sklave feststellte, wer ihn da trug. Er begann zu zappeln, versuchte abzuspringen …

„Bist du dämlich? Bleib ruhig, bevor Grrorre dir zeigt, was er von deinem Gestrampel hält!“

Die Säbelzahnkatze hatte knurrend angehalten. Da der Sklave ihn nicht verstand, zerrte er weiter an dem Strick, der ihn festhielt. Azary kappte ihn kurzerhand mit seinem Messer und schon plumpste sein seltsames Eigentum auf den Boden. Rücklings schob er sich hastig von Grrorre fort, bis er offenbar Azarys wenig begeisterten Blick bemerkte und sich heftig keuchend anspannte. Er zitterte wie Gras in einem Sturm. Dachte er etwa an Flucht? Azary zog seine Brauen zusammen. Das wäre wirklich dumm. Eine Flucht war völlig aussichtslos, denn zum einen würde ihn Grrorre schnell einholen und zum anderen hatte er keinen Ort, an den er gehen konnte. Sein Dorf war sicherlich zerstört und die Wälder lagen nach Azarys Kenntnis mindestens eine Zwei-Monats-Reise zu Fuß und per Boot von hier entfernt.

Wie ging man mit einem Sklaven um, der kein Wort von dem verstand, was man ihm sagte? Azary hatte keine Ahnung und das frustrierte ihn. Sein Kauf war vorschnell und unüberlegt gewesen. Der Kleine da war hysterisch, verwahrlost und konnte nicht sprechen. Die zweihundert Taler waren rausgeworfenes Geld. Seine Stammesmitglieder würden lachen, wenn sie sahen, wofür er seine Pelze eingetauscht hatte.

„Verdammt! Wäre ich dir bloß nicht begegnet.“ Sein Schrei ließ den Sklaven zusammenzucken. In seinem Gesicht arbeitete es fieberhaft, bestimmt überlegte er, wie er seinem Zorn begegnen sollte.

Du musst dich abregen. Er kann nichts dafür, versuchte sich Azary zu beruhigen. Seine Familie ließ Wut nie an ihren Sklaven aus. Das konnte der hier noch nicht wissen. Auf einmal richtete sich der Waldländer auf und streifte sich die Kleider ab.

„Was tust du da?“

Eine Antwort erhielt er natürlich nicht im herkömmlichen Sinn. Aber die folgende Geste war deutlich genug. Sein Sklave ging vor ihm auf Händen und Knien nieder und reckte ihm weiterhin zitternd sein Hinterteil entgegen.

„Bei Hadorns unermesslicher Güte!“ Azary schnappte nach Luft. Schlagartig erinnerte er sich an die vielen anderen Dinge, die man über die Waldleute erzählte. Etwa, dass sie sich still auf den Rücken legen und sterben konnten, sobald ihr Wille vollständig gebrochen war. Einfach so, im einen Moment waren sie körperlich gesund, im nächsten mausetot. Oder dass sie Fleisch nicht bloß verweigerten, sondern tatsächlich schwer krank wurden, wenn man versuchte es ihnen aufzuzwingen. Eine Legende besagte, dass man von nahezu jedem körperlichen Gebrechen geheilt werden konnte, wenn man regelmäßig mit einem männlichen Waldländer schlief. Wie hatte er das vergessen können? Warum sonst hatte man den Kleinen wohl nackt in den Käfig gestellt und seine Geschlechtsteile befingert? Sklaven dieses Volkes kaufte man nicht wegen ihrer Muskelkraft … Der Nachteil war, dass eine solche Praxis ihren Willen brach und sie deshalb ziemlich rasch starben. Es gab sogar ein Gesetz, das es verbot, Waldländer als Lustsklaven zu benutzen. Der einzige Grund wohl, warum Azary ihn derart günstig von diesem schmierigen Kerl erworben hatte. Ein hohes Wimmern erinnerte ihn daran, dass der zu Tode verängstigte Sklave weiterhin darauf wartete, grausam missbraucht zu werden.

„Nein. Nein! Lass das!“, murmelte er schwach und kniete sich neben dem Jungen nieder. Behutsam fasste er ihn an den Schultern, wobei ihm die vielen Striemen und Wunden am gesamten ausgezehrten Körper unangenehm deutlich auffielen. „Nun komm, hoch mit dir.“

Der Kleine hob zittrig den Kopf, mit einem Ausdruck vollständigen Erstaunens im Blick.

„So etwas werde ich nie, nie, NIEMALS von dir verlangen, hörst du? Nie!“ Er drückte ihm seine Kleidung in die Hände und ignorierte die Zeichen verständnisloser Angst. „Zieh dich an, Junge. Brauchst du Hilfe?“ Azary zwang sich zu einem freundlichen, sanften Ton. Als er bei dem reich verzierten Überwurf aus diesem phantastisch glatten Stoff ankam, hielt er inne. „Kannst du solche Stoffe weben?“, fragte er, tippte auf das Kleidungsstück und ahmte die Bewegung des Webens nach, bevor er auf seinen Besitz zeigte. Das wiederholte er, bis sich Erkenntnis in dem dunklen Gesicht ausbreitete und der Kleine zögerlich nickte.

Großartig!

Damit würde er seine Mutter überzeugen, diesen Sklaven nicht sofort weiterzuverkaufen. Oder ihn zum Sterben in die Grassteppe zu jagen. Für wirklich hochwertige Stoffe würde Kamara fast alles tun und sie ließen sich teurer handeln als Pelze und Grasmatten.

 

 

Jarrego sah die Erleichterung in Azarys Gesicht. Was war mit dieser Weißhaut bloß los? Erst wurde sie wütend, dann reagierte sie völlig entsetzt, als Jarrego sich ihm unterwerfen wollte, wie die andere Weißhaut es ihn gelehrt hatte, und jetzt schien sie beinahe ängstlich darauf bedacht, ihn zu beruhigen. Als wäre er ein verletztes Kleinkind oder Tier.

Besitz. Ich bin sein Besitz. Das bedeutet Verantwortung.

Beim Clan gehörte grundsätzlich jedem alles. Es gab kein Ich und kein Mein. Immer nur Wir und Unser. Darum war es für sie unbegreiflich gewesen, als Hokedo das Geheimnis der Maschinen nicht teilen wollte. Niemand hatte versucht ihn zu zwingen, es dem gesamten Clan beizubringen, ein solches Handeln wäre falsch gewesen. Sie hatten gewartet, wann Hokedo es von selbst erkannte. Wann er wenigstens einen auswählte, dem er dieses für den Clan überlebenswichtige Wissen lehrte. Das war nicht geschehen und der Clan war vernichtet worden. Dornas Strafe an ihre irrigen Kinder? Jarrego wusste es nicht. Die Göttin hatte ihn sicherlich längst verstoßen. Er war ein Mörder. Er hatte die Strafe nicht angenommen, die für alle gedacht gewesen war. Wenn er nun nicht länger Dornas Kind sein konnte, was war er dann?

Besitz. Ich bin Azarys Besitz.

Der Grasländer sprach weiter auf ihn ein, freundlich und ruhig. Er half Jarrego, den Überwurf anzuziehen und schlang frische, saubere Tücher um die zerschundenen Handgelenke. Jarrego ließ ihn still gewähren, dachte darüber nach, wie er die Weißhaut … wie er seinen Besitzer besänftigen konnte. Das Schicksal hatte entschieden. Jarregos Pflicht lag nun darin, sich dieses Schicksals als würdig zu erweisen.

Er kniete sich vor ihm nieder, wie die andere Weißhaut es verlangt hatte, so, wie Clanleute um Dornas Segen flehten. Jarrego hob eine Hand, berührte seinen Besitzer am Knie. „Azary“, flüsterte er. Danach wies er auf sich selbst und wisperte mit gesenktem Kopf: „Jarrego.“

 

 

Gerührt strich Azary dem Jungen über den Kopf. Er war also doch nicht geistig zurückgeblieben und auch nicht taub, stumm oder beides. Die Sklavenjäger hatten ihm Grauenhaftes angetan, nur darum hatte er derart verstört reagiert. Absolut verständlich war das. Wie gut, dass der Kleine ihm ein wenig Vertrauen zeigte. Er würde einen prächtigen Sklaven abgeben, zweifellos!

„Arr-Ee-Gorr.“ Er versuchte, den fremdartigen Namen seines Besitzes auszusprechen.

Der schüttelte den Kopf und sprach langsam und überdeutlich: „Tscharrr-e-cho.“

Na, da hatte er sich ja etwas vorgenommen. Azary probierte sich erfolglos weiter an dem Namen, bis sein Sklave ihm beinahe verzweifelt ein „Jarr“, anbot.

„Jarr.“ Das bekam er hin.

Der Kleine nickte. „Azary.“ Dann wiederholte er die Worte, die er ihm vorhin vorgesprochen hatte: „Himmel, Gras, Vogel.“

„Na, bitte! Du kannst es ja.“ Azary strahlte.

„Komm, Hunger, Missgeburt, Pisser, Drecksack.“

Azary blieb der Mund offen stehen. Dann begann er lauthals zu lachen. Verständnislos blickte ihn sein Sklave an. Er schien keine Ahnung zu haben, was er da offenbar von seinem Sklavenjäger aufgeschnappt hatte.

„Drecksack?“, fragte er unsicher.

Azary schüttelte weiterhin lachend den Kopf. „Mit diesem Repertoire solltest du dich ein wenig zurückhalten.“

Jarr zuckte mit den Schultern und deutete auf Grrorre.

„Säbelzahn“, sagte Azary. „Sein Name ist Grrorre.“

„Säbelzahn. Grrorre. Himmel, Gras, Vogel. Azary.“ Nun zeigte der Kleine auf seinen Mund und machte Schluckbewegungen.

„Hast du Durst? Willst du etwas trinken?“

Eine hilflose Geste zeigte an, dass Jarr nicht verstand. Azary holte die Wasserflasche hervor. „Durstig?“

„Durstig.“

Er hob das Behältnis an. „Flasche.“

„Flasche.“

Azary öffnete den Verschluss und kippte ein wenig Wasser aus. „Wasser.“

Brav plapperte Jarr ihm auch dieses Wort nach.

„Durstig? Wasser?“

Jarr nickte.

Azary nickte ebenfalls. „Ja.“

„Ja?“

„Genau.“ Er reichte seinem Sklaven die Flasche.

„Durstig“, murmelte der und trank erst einen Schluck und dann vorsichtig einen zweiten, nachdem ihn Azary dazu aufforderte. Damit war er sich nun sicher, dass es Jarr zumindest klar war, dass man Wasser im Grasland nicht leichtfertig verschwendete. Doch Azary wusste, dass sie nicht mehr weit von einem Bach entfernt waren. Dort wollte er die Nacht verbringen. Also brauchten sie mit dem Wasser nicht sparsam sein. Nachdem Jarr seinen Durst gestillt hatte, bekam er die Flasche zurück und verstaute sie in seinem Gepäck.

„Wir gehen weiter“, sagte er überdeutlich, zeigte erst auf sich und dann auf seinen Sklaven, bevor er mit den Fingern laufen andeutete.

„Gehen weiter.“

Jarr folgte ihm, wobei er ängstlich Abstand zu Grrorre hielt. Schon bald trabte die Katze ihnen voraus und verschwand ab und zu in dem hohen Gras, nur um sich an den Kleinen anzuschleichen und dicht neben ihn auf den Pfad zurückzuspringen.

„Hah!“

Sein Sklave würde noch vor Schreck sterben.

„Grrorre“, tadelte Azary daher scharf. Das große Tier rieb den Schädel an seinem Bein und schnurrte sanft, bis er ihm das hell gefleckte Fell kraulte.

Zwei Stunden später, der Tag neigte sich allmählich dem Ende, wurde das Gras niedriger, bis es lediglich kniehoch war. Hier kamen sie schneller voran, wenn auch Jarr Anzeichen von Erschöpfung aufwies. Mehr als einmal stolperte er. Seine merkwürdige Fußbekleidung, eine Art Sandale aus Pflanzenriemen und einer hölzernen Sohle, war kaum für eine flotte Wanderung geeignet. Grasländer trugen eine Art ärmellosen Lederkittel, der in der Mitte mit einem Riemen zusammengehalten wurde. Beinlinge reichten bis zum Lendenschurz hinauf und steckten unten in weichen Stiefeln, die im Winter mit getrocknetem Gras oder Wolle ausgestopft wurden, um die Füße warm zu halten. Eine Wolldecke aus Ziegenhaar wurde um die Schulter drapiert. Unter ihr schliefen die Grasländer auch.

Aus den Augenwinkeln musterte Azary seinen Sklaven. Er war klein, schmal … Die dicken Zöpfe, die ihm weit über den Rücken hingen, wirkten viel zu schwer für seinen Körper. Das Gesicht war müde, der Mund murmelte unaufhörlich die neu gelernten Worte vor sich hin. Irgendwie konnte er den Anblick nicht vergessen, wie Jarr nackt vor ihm kniete. Hatte ihn der Sklavenhändler …? Sicher. Oft? Azary versuchte sich das Szenario vorzustellen. Der hässliche Kerl und sein furchtsamer Jarr. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und er hatte das dringende Bedürfnis, seinen Sklaven zu berühren, um sicherzugehen, dass es ihm halbwegs gut ging. Jarr schaute ihn verwundert an und deutete fragend auf seine Hand.

„Hand, Arm, Finger, Daumen. Das dort unten sind Beine und Füße, Zehen.“ Ein Damm schien gebrochen. Der Kleine forderte ihn mit den Augen auf, ihm weitere Wörter aufzusagen. Verkehrt war es nicht. Wenn er nach Hause kam, wäre es von Vorteil, wenn Jarr wenigstens seine Mutter angemessen begrüßen konnte.

 

Er musste lernen. Unbedingt. Wenn er in dieser Welt überleben wollte, musste er die Gebräuche und vor allem die Sprache der Grasländer können. Sein Besitzer zeigte sich sichtlich erfreut, dass er so wissbegierig war. Jarrego lernte schnell. Er hatte ein gutes Gedächtnis und brauchte die Wörter nur oft genug wiederholen. Daher ignorierte er Azarys Hand in seinem Nacken, die der dort mit leichtem Druck ruhen ließ. Nur ab und an strich der Daumen über seine Haut, was ein komisches Gefühl in ihm auslöste.

„Hnga!“ Das Grollen des Säbelzahns riss ihn aus seiner Konzentration. Sie hatten einen Bach von kaum drei Meter Breite erreicht. Azary redete erneut auf ihn ein, allerdings schien er nicht zu erwarten, dass er ihn verstand. Seine strohgelben Zöpfe streiften den Boden, als er das Bündel von seinen Schultern ins Gras gleiten ließ. Im Nu hatte er eine Matte ausgerollt und mehrere der Fladen daraufgelegt, die er in der Handelsstadt gekauft hatte. Daneben legte er einige rotbraune Streifen, die Jarrego als Trockenfleisch erkannte. Der Sklavenjäger hatte sich unterwegs ebenfalls davon ernährt. Und mehr als einmal versucht, ihm davon etwas zwischen die Zähne zu schieben. Er hoffte nur, dass Azary nicht auch probieren würde, ihn tote Tiere essen zu lassen. Vorsichtig entfernte er sich zwei Schritte von seinem Besitzer, der den Kopf hob und ihn fixierte. Langsam hockte sich Jarrego nieder und zupfte von einem Löwenzahn einige junge Blätter ab, die er sich in den Mund steckte. Hungrig begann er zu kauen. Am Bach wuchs Kohldistel, deren Blätter und Blüten essbar waren, Mädesüß mit wohlschmeckenden weißen Blüten und Wiesenknöterich, von dem er hastig die frischen Triebe pflückte.

„Jarr!“

Er zuckte zusammen und drehte sich zu Azary um. Der deutete auf seine Augen und dann auf ihn. Jarrego nickte. Er würde in Sichtweite bleiben. Ansonsten würde Azary ihm wahrscheinlich Grrorre auf den Hals hetzen. Jarrego zog sein Hemd aus und nutzte es, um die verschiedenen Kräuter darin zu sammeln. Ackerschachtelhalm, Bachbunge und Klee ergaben eine wunderbare Mischung. Dazu wanderten die Blüten von Gänseblümchen und Brunnenkresse. Mit seiner Ausbeute kehrte er zu Azary zurück.

„Kaninchen“, sagte der amüsiert. Mit den Händen deutete er lange Ohren an und ahmte ein Mümmeln nach.

Bitte! Sollte er ihn ruhig auslachen, bloß weil er kein Fleisch aß. Zaghaft bot ihm Jarrego von seinen Kräutern an. Azary nahm sich ohne zu zögern eine Handvoll, schob ihm dafür die Nuss-Fladen zu und stellte die Wasserflasche in ihre Mitte. Sie würden sich die Mahlzeit also teilen. Jarrego war zufrieden und senkte schnell den Blick. Er wollte nicht zusehen, wie Azary seine Zähne in das Trockenfleisch grub und auf einer Leiche herumkaute. Allein bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um.

Nach der Mahlzeit erhob sich Azary, zog seine Kleidung aus, legte sie sorgfältig zusammen und bedeutete Jarrego, es ihm gleichzutun.

Dorna, hilf!

Er hatte tatsächlich geglaubt, dass sein Besitzer anders wäre, dass er so etwas nicht vom ihm verlangen würde. Bilder überfielen ihn. Erinnerungen an den Schmerz, den Gestank der Weißhaut nach Schweiß und Aas. Dieses Gefühl, von Kopf bis Fuß wund und beschmutzt zu sein. Die Angst, der sehnsüchtige Wunsch, dass es endlich vorbeigehen möge …

Niedergeschmettert senkte er den Kopf und streifte ein Kleidungsstück nach dem anderen ab. Als er sich allerdings niederknien und darbieten wollte, fing Azary ihn ab.

„Nein“, sagte er laut und zog ihn am Arm mit sich, in den eisigen Bach hinein. Die Strömung zerrte an Jarregos Beinen und brachte wohltuende Taubheit mit sich. Die andere Weißhaut hatte ihm häufig mit einem Lederriemen auf die Waden geschlagen, nachdem sein Rücken zu stark mitgenommen war, und einmal sogar auf die Fußsohlen. Er wurde niedergedrückt, das Wasser war flach genug, dass man sitzen konnte. Die Kiesel im Bachbett bohrten sich in Jarregos Knie und Schienbeine, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Azary ließ sich neben ihm nieder, löste ihm die schweren Zöpfe, rubbelte behutsam über Jarregos Rücken. Waschen war eine Wohltat, die ihm viel zu lange vorenthalten worden war. Dabei gehörte es zu den Gepflogenheiten der Waldclans, sich regelmäßig rituell in einer von Dornas heiligen Quellen zu reinigen.

Wunderbar, einfach wunderbar!

Er fühlte sich beinahe glücklich, als er seinen Kopf ins Wasser tauchte und den Dreck der vergangenen Monate aus seinem Haar gespült wurde. Hingebungsvoll schrubbte er mit sämtlichen Fingern zugleich über seine juckende Kopfhaut. Das tat gut! Wenn er jetzt noch Seifenkraut hätte … Als Ersatz suchte er sich einen größeren Stein, der angenehm in der Hand lag, und rieb damit über seinen Körper. Die Oberfläche des Steins war an einer Seite ein wenig rau, wo er vermutlich vor nicht allzu langer Zeit gebrochen war. So war es vollkommen richtig, er konnte damit den Schmutz abstreifen, den die Weißhaut auf ihm hinterlassen hatte. Er musste bloß stark genug und mit der notwendigen Kraft …

„JARR!“

Azary packte ihn unvermittelt und entriss ihm den Stein. Jarrego fuhr aus der Trance hoch, in die er versunken war, und starrte auf seine Schenkel. Er hatte sich beinahe blutig geschrubbt mit seinem sinnlosen Bemühen. Gleichgültig was er tat, er würde die Erinnerungen nicht von seinem Körper waschen können. Dafür steckte der Schmutz zu tief in ihm, in seiner Seele.

Sein neuer Besitzer wirkte entsetzt und traurig zugleich, doch er schien irgendwie zu verstehen, was in ihm vorging. Warum sonst sollte er auf solch sanfte Weise zu ihm sprechen und ihm über die Wange streicheln wie einem erschrockenen Kind?

 

Azary entfachte ein Feuer und platzierte seinen vor Kälte bibbernden Sklaven davor, eingehüllt in eine Decke. Er hoffte zumindest, dass es nur die Kälte war, die den Jungen zittern ließ. Was für grausame Menschen es gab, die sich nicht schämten, solche Dinge zu tun! An Unaussprechlichem Vergnügen fanden! Jarr wirkte verloren unter der schweren Decke, mit der Flut langer, filziger Strähnen, die sein schmales Gesicht umrahmten. Den Tee, den Azary ihm aufbrühte, nahm er dankend entgegen.

„Bleib du hier sitzen“, sagte Azary sanft, nahm Jarrs Kleidung und wusch sie am Ufer durch, zusammen mit seiner eigenen. Er hatte Ersatzsachen dabei, die er anzog, bei Jarr hoffte er, dass der unglaublich leichte Stoff bis morgen früh getrocknet sein würde.

Gerade als er fertig war und alles über niedrigem Geäst in der Nähe des Feuers ausgebreitet hatte, hörte er Grrorres warnendes Fauchen. Azary wirbelte herum, den Dolch im Anschlag.

„Ruhig, mein Freund, schön ruhig bleiben!“ Ein Mann trat aus dem Grasmeer hervor, die Hände erhoben. Die Tätowierungen auf seinem Gesicht kennzeichneten ihn genau wie seine rötlichen Haare als Flussmenschen. Unter ihnen gab es friedliche Fischer, risikofreudige Händler und grausame Krieger, die wie Heuschrecken über Dörfer herfielen und alles raubten, was ihnen gefiel. Die schwere Bewaffnung – eine Wurfaxt im Gürtel, einen Schild und ein Breitschwert auf dem Rücken – wies auf letzteres hin.

„Ich bin allein, junger Grasländer“, sagte er. „Ich will dir nicht schaden, andernfalls wärst du bereits tot.“

„Mein Säbelzahn hätte mich gerächt“, knurrte Azary, ohne den Dolch zu senken. Der Flussmann sagte nichts dazu, lächelte lediglich vielsagend – ja, das war wohl der einzige Grund, warum Azary noch lebte. Es war extrem schwierig, Säbelzahnkatzen umzubringen. Ihre Muskelstränge waren so dick, ihre Knochen derart schwer, dass kaum eine Waffe geeignet war, sie tödlich zu verletzen. Dazu waren sie schnell und intelligent. Gerade gezähmte Katzen waren höchst gefährliche Gegner, dabei loyal und treu bis in den Tod. Es war unmöglich, ein Jungtier zu stehlen und selbst wenn man eines fand, das seine Mutter verloren hatte, gelang es nie, diese Katzen aufzuziehen. Man musste einen erwachsenen Säbelzahn zum Gefährten gewinnen, was selten genug geschah. Seltener jedenfalls, als die Grasleute gegenüber anderen Völkern behaupteten … Azarys Verbindung mit Grrorre hatte ermöglicht, dass er die Handelsgeschäfte für die Sippe übernehmen durfte, trotz seiner Jugend. Er würde erst in diesem Sommer einundzwanzig werden, ihm wuchs noch nicht einmal anständiger Bart. Grrorre entspannte sich etwas. Anscheinend sprach der Mann die Wahrheit und er war allein gekommen.

„Was willst du?“, fragte Azary knapp. Er hatte Jarr im Blick, der sich verängstigt am Boden zusammenkauerte. Verübeln konnte er es ihm nicht, ihm machte der Kerl ebenfalls Angst.

„Es geht um deinen Neuerwerb dort, wie du dir vielleicht denken kannst. Meine Leute haben mich zu spät kontaktiert, sonst hätte ich ihn selbst gekauft.“

„Er ist ein Waldländer“, meinte Azary schulterzuckend. „Welchen Nutzen könnte er für einen Flussmann haben? Dieses Volk ist bekannt für seine Schiffsuntauglichkeit.“

„Lass das meine Sorge sein, mein lieber Freund … Und lass dir von mir eine große Sorge abnehmen. Da du von den Waldclans gehört hast, weißt du sicher, wie schwierig es ist, diese Menschen zu füttern?“

„Sicher – sie vertragen kein Fleisch und essen es auch nicht freiwillig. Na und?“

„Es geht darüber hinaus. Sie können keine Milch trinken, ohne sich in Krämpfen zu winden. Alkohol bringt sie um, selbst in kleineren Mengen. Und Brotfladen tun ihnen auch nicht gut. Von zu vielen ungemahlenen Getreidekörnern erleiden sie Durchfälle. Und Eier … nun, auch Eier funktionieren nicht wirklich. Selbst dann, wenn sie bereit wären, so etwas zu essen. Du hättest also nur die Möglichkeit, ihn mit Kräutern und Nüssen zu füttern. Sag selbst, glaubst du, dass ein Mann von solcher Kost überleben und dabei stark und gesund bleiben kann? Warum denkst du wohl, ist er bereits jetzt so dünn? Hätte sein Verkäufer sich nicht im Gegenteil bemühen müssen, ihn zu mästen, um einen besseren Preis zu erzielen?“

Stirnrunzelnd musterte Azary den Jungen, der schmal und ausgezehrt zu ihm aufblickte.

„Waldländer ernähren sich von Bohnen, Früchten, Pilzen, Moosen und diversen anderen Gewächsen, die alles enthalten, was ein Mensch zum Leben braucht. Dinge, die du in dieser Gegend bestenfalls zu horrenden Preisen erwerben könntest, in mangelhafter Qualität. Viele scheren sich nicht darum, dass ihre Sklaven selbst bei bester Pflege nach einigen wenigen Jahren krank werden und wegsterben. Du siehst hingegen wie ein anständiger Bursche aus. Wie jemand, der sich um seinen Besitz sorgt und auch bereit ist, ihn gehen zu lassen, falls es besser für ihn ist.“

„Wer garantiert mir, dass er es bei dir besser hätte?“, fragte Azary rau.

„Lass dich von meinem kriegerischen Äußeren nicht fehlleiten, junger Freund. Ich bin ein Mann der Waffen, ja, aber kein Pirat. Mein Gewerbe ist das Aufspüren von Verbrechern. Nun, ich verfolge jemanden, der sich in die Waldgebiete geflüchtet hat. Ein Terrain, auf dem ich hoffnungslos unterlegen bin. Dieser Sklave dort könnte mir behilflich sein, ihn aufzuspüren. Ich würde ihn während der Jagd nicht anrühren, denn ich halte nichts von dem Unfug, Waldlandmänner zu vergewaltigen. Anschließend bekäme er seine Freiheit zurück und könnte sich einem neuen Clan anschließen. Was denkst du, Azary von den Grasebenen?“

„Du kennst meinen Namen?“, platzte er überrascht heraus, was dem Kopfgeldjäger lediglich ein schmales Lächeln entlockte. Azary wurde es kalt. Dieser Mann war gefährlich. Extrem gefährlich. Er musste sie beobachtet und belauscht haben, ohne dass Grrorre ihn bemerkte hatte. Die Silberfäden in seinem Bart bezeugten, dass er diesen lebensgefährlichen Beruf wirklich beherrschte, denn die wenigsten wurden dabei alt. Andererseits war es vermutlich wahr: Er würde Jarr gut behandeln, ihn als nützliches Werkzeug gebrauchen und pflegen und ja, vielleicht würde er ihn sogar dorthin zurückbringen, wo der Junge hergekommen war. Er selbst wäre die immense Verantwortung für Jarr los und müsste sich keine Gedanken machen, wie er seine Mutter und dem Rest der Sippe diesen Fehlkauf erklären sollte. Oder wie er den Kleinen durch den Winter bringen sollte.

„Man sagte mir, dass du zweihundert Taler für ihn gezahlt hast. Ich biete dir sechshundert, mein Freund. Für dich wäre der Junge lediglich ein Schmuckstück. Für mich ist er eine wertvolle Waffe.“

Die raue Stimme des Fremden lullte Azary ein.

Sechshundert Münzen!

Bei Hadorns Weisheit, ein Vermögen!

Er wäre mit einem Schlag der angesehenste Mann der Sippe. Wen kümmerte es, dass die blauen Augen so kalt und tot wie ein Eissee auf ihn herabstarrten? Dass er nicht die geringste Nervosität vor Grrorres anhaltendem Grollen zeugte? Dass er Jarr zum Gehorsam prügeln würde, um eines der friedlichsten Geschöpfe dieser Welt zur Menschenjagd zu zwingen …

„Du hättest Probleme, dich mit ihm zu verständigen, er spricht nur seine eigene Sprache“, murmelte Azary und schalt sich selbst einen Narren. Da erhielt er das Angebot seines Lebens und suchte tatsächlich Gründe, es auszuschlagen!

„Nyomoka ysh allor!“

Bei diesen fremdartigen Lauten fuhr Jarr senkrecht in die Höhe und starrte den Fremden aus riesigen Augen an.

„Kekellorr arafh?“

„Tá nay!“

Der Flussländer lächelte in Azarys Richtung.

„Ich beherrsche nicht exakt den Dialekt, den dieser Junge spricht, aber ich denke, fürs Grobe würde es genügen. Die Sprachen der Clans sind eng miteinander verwandt.“

Das reicht. Sag ja, kassier deine Prämie und überlass ihm den Kleinen! Vergiss die traurigen dunklen Augen, du kannst ihn sowieso nicht retten, kannst ihn nicht einmal anständig ernähren. Er bedeutet Ärger, Mühsal und wenig Aussicht auf Gegenliebe. Was willst du mit einem Sklaven, der zerbrochen wurde wie ein Tongefäß? Du kannst ihm nicht einmal die Hand halten, ohne dass es ihm innerlich weh tut! Schick. Ihn. WEG!

Die Stimme der Vernunft war stark wie selten in ihm. Vor allem, als der Fremde einen Beutel zückte, der prall und gewaltig war. Sechshundert Taler besaßen ein entsprechendes Gewicht. Gier loderte in Azary hoch. So viel Geld! Genug, um seiner Sippe zu Wohlstand und Ansehen zu verhelfen. Und was alles für ihn dabei herausspringen würde!

Er räusperte sich. Wollte den Handel abschließen.

Aber dann berührte ihn eine zittrige Hand am Knie. Jarr blickte flehentlich zu ihm hoch. Panische Angst flammte in den dunklen Augen. Er wusste, dass er gerade verkauft werden sollte.

Das ist es, was man mit Sklaven macht, reiß dich zusammen!

„Einverstanden.“ Das war es, was er sagen wollte. Was er dringend sagen sollte, bei Hadorns heiligem Namen!

„Nein. Auf keinen Fall.“ Das waren die Worte, die tatsächlich über seine Lippen flossen. Sehr zu Azarys eigener Verwirrung. Die Miene des Kopfgeldjägers verfinsterte sich bedrohlich, was Grrorre dazu brachte, zwei Schritte näher heranzuschleichen. Das Nackenfell des Säbelzahns war steil aufgerichtet.

„Du … du lügst“, stammelte Azary nervös. „Dieses Angebot ist zu gut. Viel zu hoch. Wenn du mir das Doppelte geboten hättest – in Ordnung. Aber keiner bezahlt eine solche Summe für ein Werkzeug, egal wie nützlich, und schleppt die passende Geldmenge auch noch mit sich herum.“ Er redete Unsinn! Bei Hadorns endloser Güte, er musste den Verstand verloren haben!

Der Flussländer musterte ihn kühl. Dann verzog ein anerkennendes Lächeln seine Lippen.

„Ich habe dich unterschätzt, Junge. Du bist unerfahren, ein wahrer Krämer ohne kriegerisches Herz, aber dumm bist du offenkundig nicht. Ja, es stimmt, ich habe dich angelogen. Und es war so eine gelungene, glaubwürdige Lüge, nicht wahr?“

„Was willst du wirklich?“ Azary stellte sich näher an Jarr heran, eher aus Instinkt als dem Gefühl, ihn damit besser schützen zu können.

„Ich will den Jungen dort. Ausschließlich ihn, nicht irgendeinen anderen dieser Waldaffen.“ Der Fremde bellte einen Befehl in dieser seltsam melodischen Sprache, unter dem sich Jarr erst verängstigt duckte, dann umdrehte, die Decke sinken ließ und sein feuchtes Haar beiseite streifte.

„Sieh dir seinen Rücken an, Azary.“

„Er wurde grausam und über Monate hinweg verprügelt, was gibt es da groß zu sehen?“

„Sieh genau hin. Du wirst es erkennen, sobald du es einmal erblickt hast.“

Vollends verwirrt kniete Azary hinter seinem Sklaven nieder, ohne den Kopfgeldjäger aus den Augen zu lassen, und strich sanft über die misshandelte dunkle Haut. Striemen, Narben, Wunden in allen Stadien der Heilung. Gerade wollte er sagen, dass der Fremde sich geirrt haben musste, da sprang es ihn förmlich an. Und jetzt, da er es einmal bemerkt hatte, konnte er nicht verstehen, wieso es ihm nicht bereits zuvor aufgefallen war: Ein sternförmiges Mal, etwas dunkler als die umgebende Haut, direkt unter dem linken Schulterblatt.

---ENDE DER LESEPROBE---