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Amerika, 1864: Aufgrund des Bürgerkriegs stranden immer mehr Heimatlose auf Birch-Island-Plantation, darunter sogar elternlose Kinder. Annie, die Hauslehrerin der Williams, nimmt sich der Kleinen an. Zudem versucht sie, manchmal unter Einsatz ihres Lebens, die Plantage am Laufen zu halten. Das Gelbfieber grassiert auf den umliegenden Plantagen, und dann treffen auch noch beunruhigende Nachrichten über Annies heimlichen Verlobten David Williams ein, der als Feldchirurg in der Armee dient ...
In Kansas ist Annies Schwester Sophia auf sich gestellt, da ihr Mann und die anderen Farmer in die Mühlen des Bürgerkriegs geraten sind. Aus der Not heraus schließen sich die Frauen der Region zusammen. Doch selbst in der Gemeinschaft des großen Farmhauses entstehen Spannungen, die das fragile Gleichgewicht bedrohen ...
»Die Sterne einer dunklen Nacht« ist der siebte Band der emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.
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Seitenzahl: 564
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Personenregister
3. – 7. Mai 1864
Eins
7. – 9. Mai 1864
Zwei
11. – 14. Mai 1864
Drei
14. – 22. Mai 1864
Vier
2. Juni 1864
Fünf
3. Juni – 9. August 1864
Sechs
9. August – 18. Oktober 1864
Sieben
19. – 20. Oktober 1864
Acht
20. – 24. Oktober 1864
Neun
5. November – 22. Dezember 1864
Zehn
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Amerika, 1864: Aufgrund des Bürgerkriegs stranden immer mehr Heimatlose auf Birch-Island-Plantation, darunter sogar elternlose Kinder. Annie, die Hauslehrerin der Williams, nimmt sich der Kleinen an. Zudem versucht sie, manchmal unter Einsatz ihres Lebens, die Plantage am Laufen zu halten. Das Gelbfieber grassiert auf den umliegenden Plantagen, und dann treffen auch noch beunruhigende Nachrichten über Annies heimlichen Verlobten David Williams ein, der als Feldchirurg in der Armee dient …
In Kansas ist Annies Schwester Sophia auf sich gestellt, da ihr Mann und die anderen Farmer in die Mühlen des Bürgerkriegs geraten sind. Aus der Not heraus schließen sich die Frauen der Region zusammen. Doch selbst in der Gemeinschaft des großen Farmhauses entstehen Spannungen, die das fragile Gleichgewicht bedrohen …
»Die Sterne einer dunklen Nacht« ist der siebte Band der emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.
NOA C. WALKER
DieSterne einerdunklen Nacht
Töchter der Freiheit
Albert und Nathan Jackson:
Annies Schüler von Peacock Plantation
Alice Williams:
Matriarchin der Familie, die Großmutter
Alexander White:
Arzt in Washington City, Freund der Tanners
Allegra, Crescenda und Symphonie Weddington:
Junge Frauen von der Nachbarplantage
Amber Willrose:
Frau des Schneiders
Benjamin:
Butler, höchster Haussklave
Beth Moore:
Wohnt am Stadtrand, stellt Pferde unter
Bobby (Robert) Williams:
Annies Schüler
Blue Osment:
Junger Soldat im Gefangenenlager
Edgar Blywether:
Erklärter Feind von Susanna Belle
Carma:
Sklavenjunge auf Birch Island
Clarissa Phelps:
Ehefrau von Matthew, lebt jetzt auf Birch Island
Joe Cobb:
Feldchirurg, Kollege von David
Croft:
Arzt im Lazarett in Atlanta
Crystal:
Annies »Mädchen«, Orleans Enkelin
Dayman:
Sklave auf Peacock Plantation
Dorothy Shire:
Farmerin in Kansas
George Fisher:
Sanitäter, früher Medizinstudent
Garry:
Sklave, Stallmeister und Pferdewirt
Hayden Fuller:
Tochter von Megan
Jameson Williams:
In Ungnade gefallener, jüngerer Bruder von Richard
Jennifer Drane:
Schwester von Marcus, Cousine von Annie, Sophia und Samuel
Jerome:
Sklave, Pferdewirt
Johnny Reb (Johannes Rebmann):
Kavallerist unter Jeb Stuart, Davids Freund
Jordan Jackson:
Bruder von Susanna Belle, Kavallerist der Konföderation
Julie Marino:
Mariannas Freundin, »Krankenschwester« in leitender Funktion
Lorena:
Befreite Sklavin, Haushälterin bei Susanna Belle in Washington City
Mae:
Köchin auf Birch Island
Marcus Tanner:
Annies Cousin, Susanna Belles Ehemann, Jennifers Bruder
Maria Fuller:
Farmerin und Rancherin in Kansas
Marianna Williams:
Davids Schwester, »Krankenschwester« in Lazaretten und Hospitälern der Konföderation
Marigold:
Sklavin, Kindermädchen von Rebecca Sues Sohn, deren Tochter: Luna
Matthew Phelps:
Nachbar der Williams, Kavallerist der Konföderation
Greg Meadow:
ehemaliger Verwalter von Birch Island
Megan Tast:
Farmerin und Hebamme in Kansas
Michael Phelps:
Schüler von Annie, lebt jetzt auf Birch Island
Miles:
Chirurg der konföderierten Armee
Mose:
»Bursche« von Albert und Nathan
Newton Nells:
Ehemann von Victoria
O’Brien:
Arzt im Lazarett, Atlanta
Orlean:
»Granny«, früher Davids »Mammy«, Crystals Großmutter
Patricia Phelps:
Schülerin von Annie, lebt jetzt auf Birch Island
Paul Drane:
Jennifers Ehemann, Pinkerton Detektiv
Pinny:
Sklavin auf Peacock Plantation
Philadelphia Colbert:
Farmerin in Kansas
Randolph Tast:
Sohn von Megan, Bruder von Hayden
Raven:
Junger Sklave, Stallbursche und Kutscher
Rebecca Sue Williams:
Davids verwitwete Schwägerin, deren Sohn: Ken
Richard Williams:
Witwer, Plantageneigentümer und Offizier der konföderierten Armee
Rosalind Phelps:
Nachbarin von Red-Roses-Plantation, lebt nun auf Birch Island
Rose Giddings:
Cousine von Richards verstorbener Ehefrau
Ruthie:
Befreite Sklavin, Freundin von Marianna, deren Sohn: Mite
Sadie Ann:
Sklavin, »Mädchen« von Alice
Sammy:
Sklave, Vorarbeiter auf Birch Island
Samuel Braun:
Annies und Sophias älterer Bruder, Unionskavallerist, Spion
Sophia Alley:
Farmerin, Annies Schwester, deren Kinder: Joseph, Samuel jr., Annily, Daniel
Sounders:
Armeearzt der Konföderation
Straw:
Kindermädchen und Amme, deren Sohn: Hay
Susanna Belle Tanner:
geborene Jackson aus South Carolina, Ehefrau von Marcus
Silvie Stenmark:
Farmerin, Freundin von Sophia
Tamara »Tammy« Green:
Nachbarin von Susanna Belle
Valerie Giddings:
Roses Tochter
Victoria Nells:
Ältere Tochter der Williams, deren Kinder: Verina, Grace und William
~ Birch Island ~
Intensives Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Eine Windbö vertrieb den herben Geruch nach Wald und stehendem Gewässer. Annie Braun, die vor fünf Jahren als Hauslehrerin aus New York hierher in den Süden gezogen war, bewegte sachte den Schaukelstuhl. Dieser stand auf der unteren der beiden rundumverlaufenden Veranden des weißen Plantagenhauses.
Die weiße Farbe der Brüstung blätterte ab, inzwischen nagte der Zahn der Zeit auch an den bodentiefen lindgrünen Türläden, in schattigen Bereichen fiel sogar der weiße Putz von der Fassade des einstmals so gepflegten, herrschaftlichen Gebäudes. Dennoch gehörte Birch Island zu den wenigen Plantagen im Süden, die nach drei Jahren Krieg noch halbwegs funktionstüchtig waren.
Schwarze Locken, die sich aus ihrer nachlässig aufgesteckten Frisur gelöst hatten, kitzelten Annies Wangen. Die Strahlen der Maisonne liebkosten ihr Gesicht und lösten den Nebel über der Parkwiese und zwischen den Goldbirken auf, die die gekieste Allee säumten. Nur beim Teich, über den der weiße Pavillon wachte und der sich inmitten von Hügeln und den schlanken Ästen der Trauerweiden versteckte, hielten sich die Nebelschleier hartnäckig.
Annies Blick schweifte über die Felder, wo früher Baumwolle gewachsen war, und mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete sie das wunderbar gedeihende Grün diverser Gemüsesorten. Diese Ernte würde die Menschen im Haus und jene, die in den primitiven Hütten im Wald lebten, durch einen weiteren Herbst, Winter und das darauffolgende Frühjahr bringen. Und vielleicht würde sie sogar in Friedenszeiten verzehrt werden. Denn waren drei Jahre Krieg nicht genug? Nicht drei Jahre zu viel?
Erschöpft lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. In der vergangenen Nacht hatte sie einer glücklichen Victoria Nells, ihrer ehemaligen Schülerin, endlich den sehnlich erwarteten Sohn in die Arme gelegt.
Als sich über die Holzbohlen Schritte näherten, öffnete Annie die brennenden Augen wieder. Vor ihr stand ihre Freundin Crystal, eine Mitte zwanzigjährige Sklavin – obwohl sie inzwischen eine Freie war, was aber nur ein kleiner Personenkreis auf der Plantage wusste.
»Du siehst glücklich aus, Annie.« Wie immer, wenn sie unter sich waren, legte Crystal die von den Williams eingeforderte devote Haltung der Sklaven ab.
»Ich bin glücklich. Die Aussaat verlief reibungslos, Victoria hat endlich ihren lang ersehnten Sohn, und ich konnte ein halbes Jahr ohne irgendwelche größere Katastrophen hinter mich bringen.«
»Wenn du das Verschwinden von unzähligen mehr oder weniger wertvollen Haushaltsgegenständen und Schmuckstücken und deine Hilfe bei einer schweren Fohlengeburt nicht mitrechnest, stimme ich dir zu.«
»Ich sprach von Katastrophen, nicht von Nebensächlichkeiten.« Annie lachte, und die Freundin zwickte sie kameradschaftlich in die Seite. Dann ließ sich Crystal mit dem Rücken an die Brüstung gelehnt auf dem Verandaboden nieder. »Victoria und du – ihr scheint euch jetzt besser zu verstehen.«
»Ich weiß nicht, was Newton vergangenen August zu seiner Frau gesagt hat, aber seither hat sie sich mit ihren Sticheleien und Verdächtigungen zurückgehalten. Ihr Umgangston ist knapp und distanziert, aber damit kann ich gut leben.«
Crystal betrachtete nachdenklich den ausgefransten Saum ihres grauen Bedienstetenkleids. »Der Winter und das Frühjahr waren ruhig, du hast recht. Hoffen wir, dass der Sommer ebenso friedlich verläuft.« Sie griff nach den Zeitungen, die, ordentlich zusammengefaltet, auf dem Boden neben Annies Schaukelstuhl lagen. »Was gibt es Neues?«
»Die Frage nach einem Verhandlungsfrieden und somit eine Rekonstruktion der alten Union spaltet die Bevölkerung im Süden zunehmend in zwei Lager. Ich hoffe, es kommt zu keinem Bruderkrieg im Bruderkrieg.« Sorgenvoll blickte Annie einem Schmetterling nach, den es in Richtung des blühenden Jasmins zog. An dessen Zweigen hingen gelbe Blüten, wie die Perlen auf einem Brautschleier angeordnet. »Ansonsten … dauert der Krieg an, und niemand scheint ihn beenden zu können.« Bekümmert betrachtete Annie ihre mit Schwielen und Rissen überzogenen Finger.
»Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?« Crystal sprach Davids Namen vorsichtshalber nicht aus.
»Viel zu sehr«, murmelte Annie, überwältigt vor Sehnsucht nach ihrem heimlichen Verlobten, der nach dem Tod seines älteren Bruders der nächste Erbe der Birch-Island-Plantation war. Da dieser Umstand sie nervös machte, lenkte sie schnell von dem Thema ab, indem sie Crystal fragte: »Kommst du in deiner kleinen Waldschule zurecht?« Noch leiser fügte sie hinzu: »Du hast ja deutlich mehr Schüler als ich.«
Crystal berichtete begeistert von den Fortschritten ihrer jungen, aber auch erwachsenen Schüler, die sie unter größter Geheimhaltung im Schwarzendorf unterrichtete. Sie wurde unterbrochen, als Straw, die Amme von Victorias zweitältester Tochter Grace, aus dem Haus trat. Das elf Monate alte Mädchen wand sich aus ihrem Arm, krabbelte flink zur Brüstung, zog sich daran hoch und stapfte zu Crystal, wobei sie sich nur mit einer Hand festhielt. Sie lehnte sich an Crystals Beine und streckte ihre pummeligen Ärmchen zu Annie hinauf, die sie hochhob und auf ihren Schoß setzte. Zufrieden glucksend kuschelte sich Grace an Annie. Sie blies der Kleinen spielerisch in das weiche Haar, sodass es wie Daunen aufflog.
»Sie ist glücklich, wenn sie nur in deiner Nähe sein darf«, stellte Crystal fest.
»Diese Zuneigung sollte sie eigentlich ihrer Mutter entgegenbringen.« Traurig stützte Annie ihr Kinn auf den Kopf des kleinen Mädchens.
»Missi Victoria kümmert sich nicht um sie. Sie hat keine Liebe für dieses Kind.«
»Vielleicht ändert sich das ja, nun, da sie endlich einen Sohn hat.« Annie wünschte es Grace von Herzen, immerhin würde sie nicht immer für sie da sein. Wenn Victoria erst zurück auf die Plantage ihres Mannes nach Missouri zog …
»Oder es wird schlimmer«, unkte Crystal im Flüsterton. »Da sie ihre Liebe nur ihrer Erstgeborenen und ihrem Sohn schenken wird, und nicht diesem unerwünschten Mädchen, das sich zwischen die beiden geschummelt hat.«
Straw stand unschlüssig einige Meter von ihnen entfernt. Die von der Nachbarplantage entliehene Amme hatte noch nicht ihr sechzehntes Lebensjahr vollendet und hielt sich weiterhin misstrauisch von den Birch-Island-Sklaven fern.
»Willst du nicht zu deinem Sohn gehen?«, schlug Annie ihr vor. »Ich achte derweil auf Grace.«
»Danke, Missi.« Hastig eilte Straw davon. Kaum dass sich die im Wind auffliegende Gardine an ihren Platz zurückgelegt hatte, brachte Crystal ihr Anliegen vor: »Kannst du mich bitte wieder unterrichten? Aber nicht mehr gemeinsam mit Missi Valerie, ich muss ein paar nützliche Dinge lernen.«
»Demnach ist alles, was ich Miss Valerie beibringe, nicht sonderlich nützlich?« Annie zwinkerte der Freundin belustigt zu.
»Mit wem sollte ich mich über Kunst und Literatur unterhalten?«
»Das sagt ausgerechnet die Künstlerin, deren Bilder sich in New York so gut verkauft haben?«
»Das ist lange her.« Crystal lächelte bei der Erinnerung daran, wie Annies Cousine voller Begeisterung ihre Tuschezeichnungen verkauft hatte, nicht wissend, dass es sich bei der Künstlerin um eine Sklavin handelte. Aus diesem Grund besaß Crystal sogar ein Bankguthaben weit im Norden des Landes. Eines Tages hatte David Williams eine der Zeichnungen im Plantagenhaus von Bekannten entdeckt, die selbst unzählige Sklaven besaßen.
»Wann sollen wir mit deinem besonders nützlichen Unterricht anfangen?«, wollte Annie wissen.
»Jetzt!«
Annie versuchte, all jene Fragen zu beantworten, die förmlich in Crystal brannten. Zuletzt erkundigte sich die Freundin nach dem Ausbruch gefangener Soldaten aus dem Richmonder Libby-Gefängnis im vergangenen Februar. »Es heißt, sie hätten monatelang an einem Tunnel gegraben. Von den hundertneun Unionssoldaten, die fliehen wollten, starben zwei, achtundvierzig wurden eingefangen. Den Restlichen glückte die Flucht.«
»Du bist gut informiert.«
Crystal raschelte wieder mit den Zeitungen. »Du hast mich lesen gelehrt, Annie.«
»Was also willst du wissen?«
»Ob dein Bruder dabei seine Hand im Spiel hatte? Denkst du, er war damals in Richmond, um das Gefängnis auszukundschaften und den Gefangenen Tipps zu geben?«
Annie, der dieser Gedanke gar nicht gekommen war, schaute nachdenklich hinüber zu den sich im Wind wiegenden Birkenzweigen. Da sie nicht antwortete, fuhr Crystal fort: »Oder war er bei dem Kavallerie-Raid gegen Richmond dabei? Die Reiter wollten in Richmond einfallen und etwa fünfzehntausend Gefangene befreien. Andere vermuten aber, dass sie Präsident Davis töten wollten und Richmond niederbrennen. Den Reitern haben sich Büromitarbeiter, Alte und sogar erkrankte Soldaten entgegengestellt.«
»Und gegen Abend auch endlich Wade Hamptons Kavallerie«, fügte Annie hinzu. Sie hatte ebenfalls über diese Vorkommnisse gelesen und machte sich seither vermehrt sorgen um Davids jüngere Schwester, früher eine ihrer Schülerinnen, die in Richmond als Krankenschwester arbeitete.
»Haben wir deinen Bruder deshalb in Richmond gesehen, Annie?«, hakte Crystal nach.
»Ich weiß es wirklich nicht.« Es gab so vieles über ihre Familienangehörigen, das sie nicht wusste, weil der Briefkontakt seit Kriegsbeginn zum Erliegen gekommen war. Es glich einem Wunder, dass sie dennoch ein Telegramm und einen Brief erhalten hatte, doch das war schon lange her.
»Was muss geschehen, damit der Krieg aufhört?«, fragte Crystal, und Annie sah das Mitgefühl in ihren dunklen Augen. Ihre Freundin wusste, wie sehr Annie unter der Trennung von David litt, und unter der Tatsache, nicht zu wissen, wie es ihren Lieben erging.
»Ich fürchte, die Antwort darauf kennen nicht mal die Präsidenten Lincoln und Davis. Allerdings gehen dem Süden die Pferde, die Waffen, die Munition, die Soldaten, die Nahrungsmittel und allmählich sogar die anfangs feurige Unterstützung der Bevölkerung aus. Der Krieg wird spätestens dann sein Ende finden, wenn die Konföderation am Ende ist.«
»Und wie bald wird das sein, Miss Braun?«
Annie fuhr herum. Trotz der ungewöhnlich frühen Morgenstunde stand Rebecca Sue Williams im Türrahmen, die Witwe von Davids älterem Bruder Kenneth. Crystal sprang eilig auf und wich zurück, während sich Rebecca Sue neben Annie in den zweiten Schaukelstuhl setzte. Auffordernd blickte die Frau mit dem hellblonden Haar und den fein geschnittenen Gesichtszügen Annie an.
»Die Menschen im Süden sind bewundernswert opferbereit und zäh. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange der Krieg noch andauern wird. Wochen, Monate, ein Jahr oder länger?«
»Was für ein Mann ist dieser General Grant, der jetzt Oberbefehlshaber im Norden ist?«, fragte Rebecca Sue weiter.
»Viel weiß ich nicht über ihn, Mrs Williams. Er soll angeblich ein notorischer Trinker sein, allerdings konnte er in den letzten Monaten überzeugende militärische Erfolge vorweisen.«
»Ist er der Mann, der unseren verehrten General Lee schlagen kann?«
»Entscheidend wird die Anzahl der Soldaten in den Armeen sein, der Nachschub in allen militärischen Belangen, wie auch die Verpflegung der Soldaten, weniger das strategische Können der Generäle Lee oder Grant«, wiederholte Annie, was sie schon vor Jahren und soeben Crystal gesagt hatte.
»Sie sprechen der Konföderation tatsächlich ihr Todesurteil aus. Mein Mann hätte sie für diese Worte von der Plantage gejagt.« Rebecca Sue seufzte, und Annie sah sie mitfühlend an.
»Ich jedoch muss Ihnen endlich richtig zuhören.«
Annie ahnte den Schmerz, der in der stolzen Südstaatlerin brannte. Crystal zog sich leise zurück, und Rebecca Sue verfiel in grüblerisches Schweigen, sodass Annie die kleine Grace mit einem Fingerspiel unterhielt.
»Sind Victoria und ihr Sohn wohlauf?«
Von dem Themenwechsel überrascht, wandte sich Annie wieder der jungen Witwe zu. »Mrs Nells geht es gut, und so weit Mae und ich es beurteilen können, dem Baby ebenfalls.«
»Mae hat bei der Geburt geholfen? Nicht Orlean?«
»Orlean ist dieser Tage sehr schwach. Ich wollte sie nicht mitten in der Nacht holen lassen«, erläuterte Annie den Umstand, dass die Köchin bei der Geburt zugegen gewesen war.
»Hat das Kind schon einen Namen?«
»Ja, er heißt William Wade Wesley Nells.«
»Meine Güte!« Von Rebecca Sue kam ein mädchenhaftes Kichern. Es hob hervor, wie jung sie noch war. »Hat dieser Anfangsbuchstabe irgendetwas zu bedeuten?«
Annie zuckte lediglich mit den Schultern.
»Zumindest hat sie mit William, der korrekten Form von Bill, annähernd den Namen ihres Ehemanns berücksichtigt. Wobei er ja Newton, nicht Bill bevorzugt.«
Annie kommentierte Rebecca Sues Annahme nicht, vermutete aber vielmehr, dass Victoria ihrem Sohn die leicht abgeänderte Form ihres Mädchennamens hatte mitgeben wollen.
Rebecca Sue erhob sich, kitzelte Grace kurz an den Füßen und wollte das Haus betreten. In diesem Moment näherte sich ihnen über die hügelige Parkwiese ein Reiter. Er kam aus einer Richtung, die vermuten ließ, dass er über einen der Waldpfade gekommen war. Bald schon erkannte Annie in ihm Mose, den vierzehnjährigen Burschen von Albert und Nathan Jackson.
»Mose kommt allein«, sagte Annie verwundert, da die Brüder, die seit Beginn des Krieges den Unterricht hier auf Birch Island besuchten, nicht in seiner Begleitung waren. Ihr Schaukelstuhl quietschte und wackelte heftig, als sie sich ruckartig erhob, Grace auf Annies Arm kicherte ob der Bewegung. Einige Meter von der Veranda entfernt zügelte der Sklavenjunge sein Pferd und riss sich den zerfledderten Strohhut vom Kopf.
»Sprich!«, forderte Rebecca Sue ihn auf. Ob sie, ebenso wie Annie, schlechte Nachrichten von der Nachbarplantage befürchtete? Annie wollte die Stufen hinuntergehen, doch Moses erhobene Hand hielt sie davon ab.
»Die Missus ist heute Morgen gestorben.« Mose sprach mit vorschriftsmäßig gesenktem Kopf, den Hut drehte er in den Händen.
»Mrs Annabelle Jackson?« Rebecca Sues Stimme überschlug sich, hastig stellte sie sich neben Annie an die Brüstung. Der Reiter dirigierte sein Pferd einige Schritte von der Veranda fort, was Annie besorgt stimmte. Es war nicht der gebotene Respekt den weißen Frauen gegenüber, der den Jugendlichen dazu animierte.
»Was ist los auf Peacock Plantation?«, rief Annie hinüber.
»Gelbfieber, Missi. Master Albert und Master Nathan kommen nicht zum Unterricht. Ich muss auch ganz schnell zurück.«
»Aber sofort!«, erhob sich auf der Veranda über ihnen eine hysterische Stimme, unverkennbar die von Victoria. Mose stülpte sich den Hut auf den Kopf, wendete das Pferd und jagte davon. Annie setzte die Kleine auf den Verandaboden, sprang über die Stufen ins Gras und lief ihm nach, wobei sie mehrmals seinen Namen rufen musste, ehe er endlich anhielt.
»Bleiben Sie bitte von ihm fern«, rief ihr Rebecca Sue hinterher und gestikulierte wild mit den Armen. Annie wandte sich zu der besorgten Frau um. »Ich hatte als Kind Gelbfieber. Falls es das wirklich ist, kann ich mich nicht anstecken.«
Mose sah sie mit weit aufgerissenen Augen ängstlich an, sodass Annie nach dem Hanfstrick griff, aus dem das Zaumzeug gefertigt war. Annie versuchte, eine andere Begründung für das Ableben der Frau zu finden. »Mrs Jackson war schon lange gesundheitlich angeschlagen.«
»Sie hatte sehr hohes Fieber, sagt ihr Mädchen. Und sie hat kurz vor ihrem Tod Blut erbrochen.«
Nun nickte Annie und hoffte dennoch, dass der District nicht auch noch von einer Epidemie heimgesucht wurde. Von Vorteil war vielleicht, dass wegen des anhaltenden Krieges kaum gesellschaftliche Treffen stattfanden und der Winter recht ungemütlich gewesen war, sodass die Menschen lieber zu Hause geblieben waren.
»War jemand auf der Plantage?«, wollte Annie von Mose wissen.
»Flüchtlinge von der Küste.«
»Sie haben vermutlich das Gelbfieber eingeschleppt«, mutmaßte Annie und wandte sich beunruhigt dem Herrenhaus zu. Rebecca Sue stand noch immer auf der Veranda, die kleine Grace, Victorias ungeliebte Tochter, in den Armen.
»Reite zurück, Mose. Ihr müsst Mrs Jackson in mehrere Lagen Tücher wickeln und sofort begraben. Niemand darf in nächster Zeit ihr Zimmer betreten. Die Sklaven, die keinen Kontakt zum Hauspersonal hatten, sollen diesen auch weiterhin meiden, und es werden keine Besucher empfangen. Ich komme nach.«
»Sie kommen zu uns, Missi?«
»Selbstverständlich komme ich, um zu helfen. Richte das bitte Albert und Nathan aus.«
»Sie weinen, Missi.«
»Sicher tun sie das.« Annie wandte sich um und ging zurück zur Veranda, wo Rebecca Sue mit dem Kleinkind mehrere Schritte zurückwich.
»Es scheint sich tatsächlich um Gelbfieber zu handeln. Es wäre von Vorteil, wenn in den nächsten Wochen niemand Birch Island verlässt noch Besuch empfängt.« Annie tippte sich an die Lippen. »Am besten wird sein, Sie schreiben auf ein Holzschild, dass hier Gelbfiebergefahr besteht, und lassen es Raven dort anbringen, wo der Weg von der Landstraße in Richtung Birch Island abgeht.«
»Können wir erkranken?«, fragte Rebecca Sue mit zitternder Stimme.
»Albert und Nathan waren gestern nicht im Unterricht. Ob sie schon vor dem Wochenende ansteckend waren, kann ich leider nicht sagen.«
»Was können wir tun, außer uns abzuschotten?«
»Nicht viel. Ich reite hinüber auf Peacock Plantation und schaue zu, inwieweit ich dort helfen kann.« Annie lächelte die junge Witwe beruhigend an.
»Was ist, wenn bei uns jemand krank wird?« Rebecca Sues Augen ruhten auf Grace. Das Mädchen streckte ihre Arme nach Annie aus, die das jedoch ignorierte.
»Der Erkrankte wird isoliert. Eine Person muss bei ihm bleiben, seinen Körper kühlen und ihn zum Trinken zwingen. Sie können dann Raven oder Jerome zu mir auf Peacock schicken.«
»Möchten Sie nicht lieber hierbleiben, Miss Braun?« Rebecca Sue trat nun doch näher, was ihr Flehen noch unterstrich.
»Nathan und Albert sind die einzigen Weißen auf Peacock. Ich kenne die Jackson-Leute nicht gut und weiß nicht, wie sie auf Mrs Jacksons Tod reagieren oder über welches Wissen sie bezüglich dieser Krankheit verfügen. Ich sollte wirklich hinüberfahren.«
»Sie haben ein gutes Herz, Miss Braun. Da sollte ich nicht so kleinlich sein und sie hierbehalten wollen, nur weil bei uns die Gefahr eines Ausbruchs dieser furchtbaren Seuche besteht.« Rebecca Sue strich Grace fahrig über die Locken.
»Ich sollte mich vorbereiten und dann eilig los.«
»Kann ich etwas tun? Ihrem Mädchen Bescheid geben oder einige Lebensmittel einpacken lassen?«
»Das ist ein guter Gedanke. Ein wenig Brot und zwei Hühner für Brühe wären von Vorteil. Es könnte nicht schaden, Eis mitzunehmen, da ich nicht weiß, ob sich Mrs Jackson im Herbst um ihren Eiskeller gekümmert hat.«
»Wir haben selbst nicht mehr viel, aber ich lasse einige Stücke in Stroh verpacken, in der Hoffnung, dass es hält, bis Sie bei den Jacksons eintreffen.«
Annie nickte und hastete an Grace und Rebecca Sue vorbei in den Gelben Salon. Ihren marineblauen, gerade geschnittenen Rock gerafft, eilte sie durch das Atrium und die Stufen zur rundumverlaufenden Galerie hinauf. Dort wartete Bessy, Victorias Mammy, auf sie, wich jedoch weit hinter den Torbogen des Familienflurs zurück, sobald sich Annie ihr näherte. »Sie werden uns alle umbringen«, fauchte die Sklavin aus dem Halbschatten heraus.
»Bestimmt nicht«, sagte Annie und wollte zur Dachbodentreppe.
»Denken Sie doch mal an den neugeborenen Erben der Nells. Und an die wunderschöne Verina. Ganz zu schweigen von der von der Geburt geschwächten Missi Victoria!«
»Ich stecke niemanden an, ich hatte als junges Mädchen bereits das Gelbfieber.«
»Jeder wird sich anstecken!«
»Für dich besteht keine Gefahr. Die ersten Pflanzer, die die sumpfigen Gegenden hier im Süden besiedelten, haben doch eigens deshalb die schwarzen Arbeitskräfte hergeholt, da sie gegen derlei Krankheiten immun sind.«
»Das ist schon lange her. Ich bin hier geboren und meine Eltern und Großeltern auch.« Bessy wich noch weiter zurück. Gleichzeitig rief die gelangweilt klingende Verina nach ihr. Sofort drehte sich Bessy um, weil sie die Zweijährige nicht warten lassen wollte.
Annie stieg hinauf unter das Dach. Ob Bessy mit ihrem Einwand, dass die Schwarzen längst nicht mehr die Konstitution besaßen wie ihre direkt aus Afrika stammenden Vorfahren, recht haben könnte? Würde sie auf Peacock Plantation nicht nur zwei kranke Kinder, sondern womöglich auch erkrankte Haussklaven antreffen? Sie packte eilig, und als sie wieder im Atrium war, tauchte der Butler wie gewöhnlich aus dem Nichts auf. »Sie fahren also wirklich?«, fragte Benjamin.
»Natürlich. Jemand muss sich um Albert und Nathan kümmern.«
»Sie haben ihre Mammys und ihren Burschen, Missi.«
»Und eine tote Mutter.« Annie ließ Benjamin stehen und eilte die drei über die gesamte Zimmerbreite hinwegreichenden Stufen hinab ins Vestibül. Dort wartete Davids jüngerer Bruder Bobby auf sie. »Stimmt es, dass Alberts und Nathans Ma gestorben ist?«
»Ja, das ist sie wohl.«
»Dann sind sie ganz allein auf Peacock?«
»Die Jackson-Leute im Haus werden schon nach den beiden sehen. Und ich fahre jetzt hin.«
»Das ist gut«, meinte Bobby und reichte Annie die Hand zum Abschied. »Passen Sie bitte gut auf sich auf, Miss Annie. Sie kennen die Schwarzen dort nicht.«
Mit einem beklemmenden Gefühl nickte sie ihrem Schüler zu. Auf der Jackson-Plantage war sie eine Fremde, nur eine Lehrerin und dazu eine Weiße. Dennoch verließ sie energiegeladen das Haus. Vor der Freitreppe wartete der Stallbursche Raven auf sie. Hinter der Sitzfläche des Einspänners waren ihr Gepäck und zwei Kisten befestigt. Washington, einer von Davids Hunden, sprang Annie schwanzwedelnd entgegen.
»Garry meint, Sie sollen den Hund mitnehmen, Missi«, flüsterte der Zwanzigjährige ihr zu und warf dabei einen prüfenden Blick in Richtung Eingangstür. Niemand durfte sehen, dass er mit ihr sprach, obwohl Annie ihm zuvor keine Frage gestellt hatte.
»Birch Island braucht Washingtons Schutz«, widersprach Annie.
»Sie ebenfalls, Missi. Die beiden anderen Hunde sind ja noch hier.«
~ Nahe Locust Grove, Virgina ~
Die an einen Baum hochgebundene Zeltplane spendete angenehmen Schatten. Annies Cousin Marcus Tanner saß auf einem für seine imposante Statur viel zu zierlichen Stuhl und machte sich Notizen. Er trug die Uniform der Nordstaaten, offiziell war er ein Special, einer der Männer, die sich der Armee angeschlossen hatten, ohne unmittelbar unter deren Kommando zu stehen. Marcus schrieb für eine Washingtoner Zeitung über das Leben der Soldaten und die gegen die Konföderation stattfindenden kriegerischen Aufeinandertreffen.
Es war der 3. Mai 1864. Generallieutenant Ulysses Grant, jetziger Oberbefehlshaber des Unionsheeres, plante, am nächsten Tag in aller Früh seinen Brigadegeneral George Meade, den Oberbefehlshaber der Potomac-Armee, in Bewegung zu setzen.
Marcus zog ein weiteres Blatt Papier aus seiner Tasche und beschrieb die Stimmung der Soldaten vor dem Marsch durch die sumpfige, dicht bewachsene Wilderness. Diese rief selbst in ihm schlechte Erinnerung an die verheerende Schlacht um Chancellorsville vor etwa einem Jahr hervor. Marcus blickte hinüber zu dem – im Vergleich zu ihm – körperlich kleinen General mit den runden Schultern. Grant saß vor dem Holzhaus und studierte seine Landkarten. Vermutlich informierte er sich ein weiteres Mal über die dort eingetragenen, durch die Wilderness verlaufenden Straßen. Marcus vermutete, dass es eine Menge Fußpfade gab, doch von diesen wussten nur Full General Robert Lees Rebellenscouts.
»Der geht mit dem Kopf durch die Wand«, raunte eine bekannte Stimme. Samuel Braun, Marcus’ Cousin, ließ sich auf den freien Stuhl fallen.
»Wo kommst du denn her? Niemand, den ich gefragt habe, konnte mir sagen, wo du steckst.«
»Das ist auch gut so«, meinte Samuel grinsend und schob sich eine seiner von der Sonne ausgebleichten Locken aus dem gebräunten Gesicht. »Longstreet befindet sich mit seinem Rebellenkorps etwa dreißig Kilometer südwestlich der Wilderness, also angenehm weit weg. Ewells Korps liegt uns am nächsten, aber auch noch fünfzehn Kilometer entfernt. Das dürfte uns genug Zeit geben, dieses garstige und feuchte Waldgebiet zu durchqueren, ehe Lee uns seine Soldaten entgegenstellen kann.«
Damit erschloss sich Marcus, dass Samuel einmal mehr unsichtbar wie ein Geist durch die Maschen der konföderierten Linien geschlüpft war. »Hast du das General Grant so gesagt?«
»Nein, ich habe ihm nur die Entfernungen mitgeteilt, die Einschätzung hat er schon persönlich vorgenommen.«
Marcus nickte und notierte sich die Daten. Dann zog er seine Taschenuhr hervor und betrachtete den dahineilenden Zeiger. Es war an der Zeit, ein Telegramm an seinen Brötchengeber aufzugeben.
»Noch vor Mitternacht wird die erste Kavalleriedivision gemeinsam mit den Pionieren aufbrechen, um Pontonbrücken über den Rapidan River zu bauen. Geh früh schlafen, Marc, es wird eine kurze Nacht.«
»Ich bin Kriegsberichterstatter, Samuel. Schlafmangel ist mein zweiter Vorname.«
»So siehst du auch aus«, spottete Samuel. »Was macht denn dein Auge?«
»Die Augenklappe muss ich nicht mehr tragen, allerdings sehe ich auf der Seite nicht sonderlich gut. Vermutlich wird mir der Arzt bei meinem nächsten Besuch in Washington eine von diesen Drahtbrillen verpassen.« Marcus entging Samuels breites Grinsen nicht und verzog das Gesicht. Er wusste selbst, dass ein Mann mit seiner Statur mit einer so winzigen Brille auf der Nase komisch aussehen musste. Nicht umsonst hatten ihn seine Kameraden von der West-Point-Military-Acadamy Dancing Bear genannt. Doch für derlei Eitelkeiten gab es keinen Spielraum, immerhin war es von Vorteil, die eigenhändig niedergeschriebenen Notizen lesen zu können.
»Übrigens bin ich gekommen, um dir von einer interessanten Neuerung zu erzählen«, sagte Samuel.
»Hat Sheridan endlich diesen eitlen Custer vor die Tür gesetzt und dich zum Kavalleriegeneral ernannt?«
»Falsch, aber es gibt Frischlinge bei der Kavallerie. Einen von ihnen kennst du.«
»Einen Kavalleristen, der noch grün hinter den Ohren ist? Und den soll ich kennen? Ich werde wohl kaum die Möglichkeit haben, ihn zu sprechen. So schnell wie die Rekrutierten hier auftauchen, sind sie auch wieder verschwunden.« Marcus deutete eine Verpuffung an.
»Ich glaube nicht, dass er desertiert. Philipp Alley ist zwar ungern hier, doch zu seinen Verpflichtungen steht er.«
»Sophias Ehemann ist hier?« Marcus runzelte die Stirn. Ihm gefiel nicht, dass der Mann seiner kleinen Cousine zu den Truppen gestoßen war. Hatte er nicht in Kansas eine Farm zu bewirtschaften, damit sie in den Armeelagern etwas zum Beißen zwischen die Zähne bekamen, und auf seine Frau und die Kinderschar zu achten?
»Er und sein Freund Sven Stenmark wurden per Los in die Heimwehr eingezogen. Bei ihrer Meldung in Lawrence hatten sie ein unschönes Zusammentreffen mit Quantrill und seinen Rebellengangstern. Zur Ernte, die allerdings durch einen Hagelsturm fast vollständig vernichtet war, und zur Aussaat im Frühjahr durften sie zu ihren Farmen zurückkehren. Aber das Ausscheiden jener Soldaten, die sich für drei Jahre verpflichtet hatten, hat sie schließlich hierhergeführt.«
»Also ist Sophia mit ihren drei Kindern allein auf der abgelegenen Farm?« Marcus rieb sich über die Stirn.
»Vier Kinder, Marc. Wir waren nicht auf dem Laufenden. Sophia hat vor vier Wochen einen weiteren Jungen zur Welt gebracht, aber da war Philipp schon auf dem Weg hierher.«
Unangenehm berührt rieb sich Marcus diesmal den Nacken, was Samuel hinzufügen ließ: »Ich verstehe deine Sorge. Das Tal wurde schon mehrmals von Desperados angegriffen. Einige Farmer haben Haus und Hof verloren, viele Menschen ihr Leben. Und nun gibt es dort fast nur noch Frauen und Kinder.«
»Werden sie zurechtkommen? Die Farmersfrauen haben doch sowieso von morgens bis abends zu tun. Wenn sie jetzt zusätzlich die Arbeiten der Männer übernehmen müssen …«
»Die Farmerinnen sind zäh, Marc. Sogar unsere kleine, sanfte, immerzu fröhliche Sophia. Sie passen sich an und wachsen über sich hinaus. Ich frage mich nur, was aus den armen Kerlen wird, wenn der Krieg vorbei ist, sie nach Hause kommen und feststellen, dass ihre Arbeit nun von den Frauen erledigt wird.«
»Die Glücklichen, die dann wenigstens den Krieg gewonnen haben. Die anderen stehen vor dem Nichts.«
»Das kommt darauf an, ob sich Lincoln mit seinen großherzigen Versöhnungsgedanken gegen die aggressiven Hardliner durchsetzen kann, die eine totale Zerstörung des Südens fordern.«
»Im Herbst stehen Präsidentschaftswahlen an. Die Frage ist vielmehr, ob Lincoln Präsident bleibt. Seit Andrew Jackson in den 1830er-Jahren wurde kein amtierender Präsident zweimal gewählt, seit 1840 nicht mal mehr für eine zweite Amtszeit nominiert.«
»Was denkst du?« Samuel knickte einige Grashalme und blickte den Cousin fragend an.
»Falls sich bis zur Wahl die Lage an den Fronten ungünstig entwickelt, wird Lincoln die Schuld dafür bekommen. Es stehen schon mehrere Männer bereit, seinen Platz einzunehmen. Einer von ihnen ist Salomon P. Chase. Er hat sich selbst ins Rennen gebracht, indem er verlauten ließ, dass für die nächsten vier Jahre ein Mann mit anderen Qualitäten gefragt sei als der amtierende Präsident. Chase traut sich zu, dieser Mann zu sein. Und -«
»Marc?«
Marcus hob den Kopf und sah Samuel an.
»Verschone mich bitte mit Einzelheiten. Ich denke, ich könnte keine Nacht lang ruhig schlafen, wenn ich über dein Wissen verfügen würde, was die unzähligen Machenschaften angeht, die unsere Politiker Politik nennen.«
Marcus grinste und schob sich den Bleistift hinter sein rechtes Ohr. »Es wird dich interessieren, dass McClellan als Präsidentschaftskandidat der Demokraten gehandelt wird.«
Diesmal nickte Samuel. Es war kein Geheimnis, dass der aufs Abstellgleis geschobene ehemalige Oberbefehlshaber der Unionsarmee Lincoln gegenüber … verstimmt war.
Mehrere Reiter näherten sich Grants Hauptquartier, begleitet von einer Staubwolke. Der Kommandierende erhob sich und drückte einem Adjutanten seine Karten in die Hand, damit der sie sorgfältig aufrollte.
»Wo wirst du in den nächsten Tagen sein?« Marcus richtete seine Frage an Samuel, behielt jedoch das Treffen der Offiziere im Blick.
»Irgendwo bei der Orange Turnpike. Ich habe den einbeinigen Ewell im Auge zu behalten. Er ist derjenige, der sich uns am schnellsten in den Weg stellen kann.«
Marcus wusste es nicht mit Sicherheit, nahm aber an, dass David Williams als Feldchirurg unter Ewell diente, da der nach Stonewall Jacksons Tod vor etwa einem Jahr dessen Korps übernommen hatte.
»Ich muss los«, sagte Samuel. »Bei Lee weiß man nie, wie früh er den Braten riecht und seine Truppen in Bewegung setzt. Wie sagten doch einige Offiziere kürzlich zu General Grant: Sie kennen Bobby Lee noch nicht!«
Marcus schob seine Papiere in die Brusttasche seines Hemdes, holte den Stift hinter dem Ohr hervor und steckte ihn dazu. Die Cousins verabschiedeten sich, nicht ahnend, dass sie sich für lange Zeit nicht sehen würden.
~ Peacock Plantation, South Carolina ~
Der Wald lichtete sich, endlich wurde der Weg breiter. Über den brachliegenden Feldern flimmerte der Horizont, und der vom Buggy aufgewirbelte Staub legte sich wie ein grauer Schleier auf die Blätter und Blüten am Wegesrand. Annie wischte sich mit dem Lederhandschuh über das schweißnasse Gesicht und blinzelte mehrmals gegen das Brennen in ihren Augen an. Zwischen den tief hängenden Zweigen der moosbehangenen Eichen zeichnete sich das braune Backsteinhaus mit den weißen Vorbauten ab. Sie lenkte den Buggy zu den erhabenen Säulen der Pforte. Prüfend sah sie sich um. Der Garten, einst ein blühendes Paradies, durch den sich ein Bach schlängelte, war ungepflegt, an vielen Stellen holten sich Sträucher, Dornenstauden und Kiefern den Raum zurück, der ihnen vor Jahren abgetrotzt worden war.
Die Felder waren nur am äußersten Rand bepflanzt, wohl um den täglichen Bedarf der hier lebenden Menschen zu decken, doch selbst diese schmalen Äcker wirkten vernachlässigt. Direkt ans Haus grenzte ein Nutzgarten, den es früher nicht gegeben hatte. Dort hatte eine schwarze Frau gekniet und Unkraut ausgerupft. Bei Annies Ankunft erhob sie sich hastig und bedeutete ihr mit beiden Armen, die Plantage wieder zu verlassen. Gleichzeitig kam Mose über die Veranda angerannt und griff der Stute ins Geschirr.
Annie stieg ab und lud sofort die Eiskiste von der Ladefläche. »Wo wird hier das Eis aufbewahrt, Mose? Ich muss es schleunigst aus der Sonne schaffen.«
»Es gibt einen Kellerraum, aber ich darf das Haus nicht betreten, Missi. Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Dann kümmere dich bitte um das Gepäck und das Pferd.« Annie eilte die Stufen hinauf und drückte die Tür auf, ohne zuvor den Klopfer oder den Klingelzug zu benutzen. Eine angenehme Kühle schlug ihr entgegen. Alle Fenster waren abgedunkelt, die Hitze ausgesperrt. Als Annie die Tür mit dem Fuß hinter sich zuschob, stand plötzlich eine ältere Frau vor ihr, das Gegenstück zu Benjamin auf Birch Island.
Das schmelzende Eis nässte mittlerweile ihre Hände, deshalb fragte sie ohne viel Federlesens: »Wo ist die Eiskammer?«
»Ich weiß nicht, ob Sie hier einfach eindringen dürfen, Missi Braun.«
Von der abwehrenden Haltung der Frau irritiert, wandte sie sich in die Fronthalle und rief laut: »Wer kann mir den Eiskeller zeigen? Ich bringe Eis, falls noch mehr Personen am Gelbfieber erkranken.«
»Kommen Sie bitte, Miss Braun«, erklang eine junge Stimme aus dem Hintergrund. Alberts schlanke Gestalt, irgendwo zwischen Kind und Jüngling, schälte sich aus dem Dämmerlicht. In der Hand hielt er einen Weidenstock, und in einem Gürtel, den er sich zweimal um die Hüfte geschlungen hatte, steckte eine Pistole. Alberts Gesichtszüge zeigten Verbissenheit und Erleichterung zugleich.
Annie folgte ihrem Schüler durch einen der Flure und von dort nach draußen auf die Kolonnade. Das Sonnenlicht fand kaum Einlass zwischen das einstmals weiße Holzkonstrukt, das von wildem Wein und anderen Kletterpflanzen überwuchert war. Durch diesen grünen Tunnel gelangten sie zum menschenleeren Küchenhaus. Albert öffnete eine im Holzboden eingelassene Luke und deutete mit seinem Stock hinunter in den kalten, dunklen Raum. Behutsam, den Rock weit nach oben gerafft, die Kiste an die Seite gedrückt, stieg Annie hinab. Ein wuchtiger Steintisch zeigte, dass hier früher große Mengen Eis gelagert worden waren, nun war der Platz leer.
Die Eislieferung für Birch Island hatte unverschämt viel gekostet, dennoch hatte Annie sie für nötig erachtet, um die wertvollen Lebensmittel länger frisch zu halten und es bei möglichen Komplikationen – sei es bei Victorias Niederkunft oder anderen Erkrankungen – zur Hand zu haben.
Sie fröstelte, als sie die Kiste abstellte, entsprechend eilig stieg sie die steile Steintreppe wieder hinauf und schloss die Luke. Alberts Augenbrauen waren zusammengezogen. »Mose hat gesagt, dass Sie kommen würden. Ich wollte es nicht glauben.«
»Ich bin hier, Albert. Der Verlust deiner Mutter tut mir sehr leid.«
Alberts einzige Reaktion war ein Senken seines Kopfes.
»Haben sie deine Mutter bereits begraben?«
»Ja. Ohne Beerdigungsrede und ohne Blumen. Nathan und ich durften nicht mit. Der Kleine sitzt jetzt oben und heult.«
»Das war zu eurem Schutz, Albert. Ihr dürft euch nicht auch noch anstecken.«
»Das haben wir doch längst. Wir waren bei ihr, bis sie begonnen hat, Blut zu spucken, dann hat Pinny uns weggeschickt.«
Annie folgte dem Jungen zurück ins Hauptgebäude, wobei er jedem Kolonnadenbalken einen Schlag mit seiner Rute verpasste.
»Wer ist Pinny?«
»Mas Mädchen«, lautete die verwunderte Antwort. Vor der nach oben führenden Treppe wandte sich der Junge um, Schmerz und Hilflosigkeit flackerten in seinen Augen auf. »Was sollen wir jetzt tun, Miss Braun?«
»Zuerst möchte ich, dass du die Waffe wegräumst. Die ist hoffentlich nicht geladen?«
»Natürlich ist sie das! Mit ihr halte ich uns die Feldarbeiter vom Leib. Sie dürfen nicht reinkommen und plündern.«
Betroffen schüttelte Annie den Kopf und streckte die Hand nach der Waffe aus, doch Albert wich vor ihr zurück.
»Wenn sie wirklich eindringen wollten, hätten sie das längst getan. Außerdem kannst du mit einer einzigen Kugel nichts gegen mehrere Sklaven ausrichten.«
Albert zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Allerdings legte er im Weggehen die Waffe auf einer Kommode ab. Annie nahm die Patrone heraus und ließ sie in ihre Schürzentasche fallen. »Wo ist Nathan?«, rief sie ihrem Schüler hinterher.
»Heult vor dem Zimmer unserer Mutter.« Albert klang genervt, wohl, weil er meinte, dies vorhin schon deutlich gemacht zu haben.
»Und wo ist das Zimmer deiner Mutter, Albert Jackson?«, fragte Annie streng.
Er wandte sich um und warf ihr einen unfreundlichen Blick zu. »Sie sind hier nicht in Ihrem Unterrichtszimmer, Miss Braun. Das hier ist Peacock, und ich bin nun der … der …«
»Der verzweifelte Vierzehnjährige, der gerade seine Mutter verloren hat und nun feststellen muss, dass er mit seinem jüngeren Bruder allein dasteht? Und ich bin die Frau, die eigens hergekommen ist, um nach euch beiden zu sehen.« Annie deutete auf die Treppe, damit Albert endlich vorausging.
Im Flur des zweiten Stockwerks trafen sie auf den elfjährigen Nathan. Zusammengerollt wie eine Kugel, lag er vor der geschlossenen Zimmertür. Annie setzte sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf den zuckenden Rücken. Sie bat Albert, alle im Haus Lebenden im Eingangsbereich zu versammeln. Er warf einen verächtlich anmutenden Blick auf seinen Bruder, eilte aber folgsam davon.
»Nathan?« Annie strich dem Jungen über die Schulter, doch er rührte sich nicht. Ihre Hand wanderte in seinen Nacken, die Hitze, die von dort ausging, ließ sie die Lippen zusammenpressen. Der Junge trauerte nicht nur um seine Mutter, er war krank! In diesem Augenblick streckte er die Beine aus und wimmerte vor Schmerzen. Gleich darauf bettete er seinen Kopf in ihren Schoß. »Mir ist kalt. Ist das, weil ich so traurig bin? Und meine Beine tun weh.«
Annie musterte besorgt die glasigen Kinderaugen. »Zeig mir bitte deine Zunge.« Hinter ihnen vernahm sie eilige Schritte, doch sie konzentrierte sich ganz auf Nathan. Fügsam öffnete er den Mund.
»Guter Gott, nicht auch noch der Kleine!«, jammerte eine tiefe Frauenstimme, vermutlich gehörte sie Pinny.
Nathan Jackson hatte Gelbfieber.
~ Nahe Locust Grove, Virginia ~
Der Morgen begann mit Vogelzwitschern, einer mageren Scheibe altem Brot und dem Befehl, sich für einen schnellen Abmarsch fertig zu machen. David warf seine persönlichen Gegenstände in eine Kiste, verschloss sie und stopfte den Rest in die Satteltaschen seiner hellbraunen Stute Cow. Er schwang sich auf ihren Rücken, wobei das gemütliche Tier nicht mal mit den Ohren zuckte. Allerdings drehte es den Kopf und sah den Reiter an.
»Ich bin es«, murmelte David und wandte sich im Sattel um. Die Planwagen mit den Arzneien und Verbandsmaterialien rumpelten hinter ihm vorbei, und er schloss sich dem Tross an, gefolgt von Joe Cobb und Benny Miles, beides ebenfalls Feldchirurgen, jedoch deutlich älter als David. Gemeinsam folgten sie den eilig marschierenden Infanteristen und der zu ihrem Korps gehörenden Artillerie.
»Was ist eigentlich los?«, erkundigte sich David.
»Dieser Meade hat Pontonbrücken bauen lassen und überquert gerade mit seiner Armee den Fluss«, erläuterte Miles gewohnt sachlich. »Die Yanks haben unsere Vorposten überwältigt und marschieren in Richtung Chancellorsville.«
»Und was hat Lee vor?«
»Er will einfach mal wieder schneller da sein, als man es uns zutraut. Er hätte gern, dass wir die Yanks noch in der Wilderness abfangen, da wir dort von unseren Geländekenntnissen profitieren.« Miles schob sich seinen Filzhut in den Nacken und betrachtete prüfend die lange Reihe schaukelnder Wagen. David erinnerte sich nur ungern an die verwirrend verlaufenden Flussarme, das sumpfige Gelände, die verkrüppelten Eichen und Kiefern und das undurchdringliche Unterholz. Und an die Geschehnisse von vor einem Jahr, als diese Armee in eben jenem Gebiet Stonewall Jackson verloren hatte.
Die Division kam schnell voran. Niemand schien daran zu zweifeln, den Wettlauf gegen die Zeit und Meades Armee zu gewinnen. Zwischendurch döste David mehrmals im Sattel ein. Cow hatte einen ruhigen Gang und war durch nichts zu erschüttern. Stunden später schob sich David den Hut aus dem Gesicht und blinzelte in die tief stehende Sonne. »Gab es keine Arbeit für mich?«, fragte er seinen Kollegen Cobb erstaunt.
»Ich habe sie erledigt, Junge. Schlaf du nur, solange du kannst.«
»Wir sind in den letzten Monaten so oft von hier nach dort und dann wieder zurückgezogen, dass man meinen könnte, dieser Krieg bestehe nur noch aus Truppenverschiebungen«, lästerte David.
»Dieses Mal ist es anders, Doc. Ich spüre so etwas. Es steht eine Schlacht an.«
»Und wie heißt dein Gespür?«
Cobb lachte und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Kavallerie, Spähtrupps und Kuriere. Sie sagen, es gäbe einen gewaltigen Aufmarsch. Die Blaubäuche würden alle Furten und Straßenkreuzungen absichern, damit wir uns ihnen ja nicht in den Weg stellen, bevor sie dieses Durcheinander aus Flüssen, Morast und Krüppeleichen hinter sich gelassen haben. Und genau da will unser General Lee nicht mitspielen.«
»Sie wissen noch nicht, dass wir kommen?«
»Unsere Reiter behaupten, keiner der blauen Voraustrupps habe uns entdeckt. Sie vermuten uns mehrere Meilen entfernt da hinten.« Cobb deutete erneut mit dem Daumen über die Schulter.
»Das hört sich gut an.«
»Das ist gut, Junge. Das ist sehr gut. Wir werden sie in diesem Gestrüpp überraschen und ihnen eine noch größere Niederlage verpassen als beim letzten Mal.«
David erwiderte nichts. Er war kein Militärstratege, nahm aber an, dass Grant, der Einzige, der es im Norden zum Rang eines Generallieutenants gebracht hatte, diesen nicht umsonst innehatte.
»Stimmst du mir nicht zu, Doc?«
»Ich widerspreche dir nicht, das muss dir genügen, Cobb.«
Der Mann brummte gewohnt missbilligend vor sich hin und kümmerte sich nicht weiter um seinen jungen Kollegen. Ein Reiter sprengte von hinten herbei. Es handelte sich um Miles, der David aus der Reihe herauswinkte. »Ich habe ein paar Soldaten mit den typischen Anzeichen von Mumps. Schauen Sie sich das doch bitte genauer an, aber schützen Sie sich ausreichend. Falls sich der Verdacht bestätigt, sondern Sie die beiden letzten Wagen ab. Sie sollen versuchen, mit den Erkrankten in Richtung Richmond durchzukommen.«
David nickte, wendete Cow und ritt an den vorbeirumpelnden Buckboards entlang, zurück zum Ende der Kolonne. Er zog sich das Halstuch, das ihm für gewöhnlich als Schutz vor aufwirbelndem Staub diente, über Mund und Nase und stieg vom Pferd aus auf einen der beiden letzten Wagen.
»He, Doc. Der andere Doc ist geflüchtet, als hätten wir die Pest.«
David enthielt sich eines Kommentars und näherte sich einem der hier liegenden Männer. Er tastete die Partie zwischen Ohr, Wangen und Hals ab und nickte frustriert und besorgt zugleich.
»Was ist es nun?«, fragte einer der Erkrankten.
»Eine Kinderkrankheit.«
Ein paar der Soldaten lachten. David sprang ab und wechselte auf den nächsten Wagen. Die Männer dort hatten bereits Fieber und die typischen angeschwollenen Gesichtspartien.
»Bleiben Sie ruhig liegen, und versuchen Sie, viel zu trinken. Ich muss wissen, von welchen Einheiten Sie kommen, da sich weitere Soldaten angesteckt haben könnten, die ich schnell herauspicken möchte.« David zog einen Papierbogen aus der Uniformtasche, dazu seinen Bleistift und notierte, was die Männer sagten. Schließlich sprang er von dem fahrenden Wagen ab und ging zu seinem Pferd, das treu neben den Buckboards hergetrottet war.
»Was passiert jetzt mit uns?«, rief ihm einer der Kutscher mit panischem Unterton zu.
»Kommen Sie den Männern einfach nicht zu nahe und vor allem: Trinken Sie nicht aus deren Bechern oder Flaschen.«
»Wie soll ich denn Abstand halten können, Doc?« Entrüstet zog der vordere Fahrer seinen Pferden die Peitsche über den Rücken.
»Drehen Sie sich nicht um. Sehen Sie sich immer nur die Hintern ihrer Zugpferde an.«
»Das ist nicht schwer«, rief der andere Soldat auf dem Kutschsitz nach vorn. »Die sind weit hübscher als die Männer da hinten.«
David trieb grinsend sein Pferd an, um Miles den Verdacht zu bestätigen, damit sie eine Trennung der Erkrankten von der Gruppe in die Wege leiten konnten. Er selbst würde die eben notierten Regimenter durchgehen und nach Soldaten Ausschau halten, die womöglich bereits Krankheitssymptome zeigten. Nur so konnte er versuchen, eine schnelle Ausbreitung einzudämmen.
~ Peacock Plantation, South Carolina ~
Die vergangene Nacht und den ganzen Tag über war Annie nicht von Nathans Seite gewichen. Sie wusch den Jungen mit kühlem Wasser ab und legte ihm winzige Eisstückchen in den Mund. Das Fieber stieg, und Nathan wechselte zwischen leisem Wimmern und unruhigen Fantastereien hin und her. Mehrmals hielt er Annie für seine ältere Schwester Susanna Belle.
Pinny kam regelmäßig und erkundigte sich, was Annie für die Pflege des Jungen benötigte. Sie brachte das Gewünschte und versorgte auch Annie mit gesüßten Getränken und Mahlzeiten, denen Annie ansah, dass sie eigens für sie so großzügig zubereitet worden waren. Pinny wollte die Pflegerin bei Kräften halten.
Obwohl Annie Nathan unaufhörlich Flüssigkeit in den Mund löffelte, wurde seine Haut trocken, seine Lippen sprangen auf, ebenso die Haut an Ellenbogen, Knien, Fingern und den Füßen. Als sich die zweite Nacht über die Plantage senkte, war Annie erschöpft und fühlte sich hilflos. Sie schrak hoch, da sich gegen Mitternacht die Zimmertür öffnete. Im Schein der flackernden Kerze trugen Pinny und einer der Haussklaven Albert herein.
»Er hat es auch, Missi«, murmelte Pinny und bereitete für Albert ein Lager in der anderen Hälfte des Zimmers zu.
»Müssen wir jetzt sterben?«, fragte der Junge halblaut.
»Nein, Albert. Ihr Kinder seid stark und ansonsten gesund. Ich habe das Gelbfieber als Kind überlebt, warum solltet ihr beide es nicht überstehen?«
»Aber Sie sind sich nicht sicher?«
Annie schüttelte den Kopf und hielt den laut aufschreienden Nathan fest, der mit seinen kleinen, heißen Fäusten auf sie einschlug. Albert beobachtete das Wüten seines jüngeren Bruders und richtete dann seinen Blick gen Zimmerdecke. Als Nathan sich wieder beruhigt hatte, kniete sich Annie vor den Älteren und legte ihre Hand auf seine erhitzte Stirn.
»Werde ich auch so … toben?«
»Vermutlich.«
Albert sah sie aus glasigen Augen an. »Dann entschuldige ich mich schon jetzt, Miss Braun. Und danke.«
Eine Stunde später bezichtigte Albert Annie als Yankeehure, die gekommen sei, um die Sklaven aufzuhetzen. Er drohte damit, alle Frauen aus dem Norden mit seinem Stock zu erschlagen. Fast zeitgleich begann Nathan, sich zu erbrechen. Die Nacht schritt voran. Stickige, säuerliche Luft lag im Raum, obwohl die Fenster geöffnet und nur die Läden geschlossen waren. Doch Nathan wurde zusehends schwächer. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, die gelbliche, über die Wangenknochen gespannte Haut ließ ihn wie einen alten Mann aussehen. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Läden drangen, erbrach Nathan Blut.
Der Geruch im Zimmer wurde unerträglich. Annie öffnete weit die Läden und lehnte sich der frischen Luft und dem fröhlichen Vogelgesang entgegen. Pinny kam kaum noch damit nach, die Schüssel zu leeren. Das erbrochene Blut färbte sich immer dunkler. Den beiden Frauen blieb keine ruhige Minute mehr.
Mehrmals prüfte Annie Nathans Puls, konnte ihn aber kaum mehr finden. Erschöpft lehnte sie sich an das Bettgestell und blickte hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Schmetterlinge tanzten vor dem Fenster und schienen den Kampf der beiden Jungen ums Überleben zu verspotten. Irgendwann musste Annie eingenickt sein, denn sie erwachte, als Pinny ihr leicht auf die Schulter tippte. Sie saß noch immer mit dem Rücken an das Bett gelehnt auf dem Parkettboden, der Stand der Sonne verriet ihr, dass sie mindestens zwei Stunden geschlafen haben musste. »Warum hast du mich schlafen lassen, Pinny?«
»Sie sind schon so lange wach, und Albert hat in den nächsten Stunden Ihre Hilfe dringend nötig.«
»Nathan? Was ist mit Nathan?«
»Wir können ihn jetzt umziehen, Missi. Er hat gerade ins Bett uriniert.«
Annie drehte sich auf die Knie und betrachtete den nassen Fleck auf dem zerwühlten Leintuch. Erleichtert schloss sie die Augen. Die Ausscheidungsorgane des Jungen funktionierten, was bedeutete, dass er das Schlimmste überstanden hatte. Nathan würde das Gelbfieber überleben!
Ihr Blick ging hinüber zu Albert. Bleich, als sei bereits jegliches Leben aus ihm gewichen, lag er da, murmelte aber unverständliche Worte.
~ Nahe Locust Grove, Virginia ~
Um etwa fünf Uhr morgens setzten sich die Unionstruppen in Bewegung, eine Stunde später entdeckten die Rebellen ihre Vorhut. Somit war Grants Plan gescheitert, die Wilderness verlassen zu haben, bevor es zu einem Zusammentreffen mit den Südtruppen kam. Allerdings hatte sich Lee ebenfalls einen späteren Zeitpunkt gewünscht, da er noch nicht alle seine verstreuten Divisionen geeint hatte.
Marcus stieg ab und beobachtete, wie die Unionisten eine Frontlinie bildeten, Kuriere wurden entsandt, um weiter entfernt marschierende Truppenteile zu warnen. In seinem Auftrag als Kriegsberichterstatter machte er sich bereits Notizen, sah sich aber beständig unbehaglich um. Wie schon im Jahr zuvor war er von einem undurchdringlichen Dickicht aus Bäumen und Sträuchern und von Sümpfen und Bächen umgeben und konnte in keine Richtung weiter als hundert Meter sehen – was nicht an der schlechten Sehkraft auf einem Auge lag.
Marcus rieb sich die Stirn und fragte sich, wo Samuel war. Denn dass seine kleine Spähtruppe Grant nicht vor der drohenden Gefahr gewarnt hatte, war besorgniserregend. Hatten die Konföderierten ihn sich geschnappt, oder war es Lee schon wieder gelungen, sich an allen Vorposten und Spähern vorbeizuschleichen?
Die Sicht war so schlecht, dass manche Einheiten in die falsche Richtung gingen und Offiziere vergeblich einen Weg suchten. Die Explosionen von Granaten und das Mündungsfeuer der Waffen setzten Teile des Unterholzes in Brand. Die Flammen fraßen sich gierig vorwärts und ergriffen schließlich die toten und verletzten Unionssoldaten. Ihre Patronentaschen explodierten.
Genug davon, in vorderster Front zu sein und das Grauen zu Papier bringen zu müssen, bestieg Marcus sein Pferd und suchte sich einen Weg zurück zu Grant. Dieser schien das Vertrauen in Meade verloren zu haben und versuchte selbst, seine Truppen zu koordinieren. Doch auch ihm machten das widerborstige, ihm unbekannte Gelände und die verzögerte Ausführung seiner Befehle Probleme.
Marcus strich sich ununterbrochen den Schweiß von der Stirn. Er ahnte, dass aufseiten des Nordens mehr als doppelt so viele Soldaten kämpften als bei ihrem Gegner Ewell auf der gegenübergelegenen Seite der Schlachtlinie, dennoch war ihnen offenbar nicht beizukommen.
Um etwa 21.00 Uhr endete der tödliche Schlagabtausch. Grants Pläne eines vernichtenden Großangriffs waren gescheitert, da unter anderem das Gelände gegen ihn gearbeitet hatte und er seine Armee nicht in dem Maße hatte führen können, wie er es gern getan hätte. Dennoch wirkte er nicht unzufrieden. Er wusste, dass er zahlreiche, noch ausgeruhte Truppen in der Hinterhand hatte, und war zuversichtlich für den kommenden Tag, da er den rechten Flügel seines Gegners nicht ausreichend geschützt sah.
David hatte vor sich Zehntausende verschmutzte und völlig erschöpfte Soldaten. Sie suchten nach Wasser und Nahrung, die meisten von ihnen legten sich in dem Versuch zu schlafen dort nieder, wo sie gerade standen. Er trank einige Schlucke, gab seine Wasserflasche an Baldhead zurück und wandte sich dem nächsten Verwundeten zu. Der Schwarze, der als Diener zur Armee gekommen war, half weiterhin den Ärzten, obwohl sein Herr schon vor nahezu zwei Jahren gefallen war.
David empfand die Stille nach dem Kampflärm als seltsam unangenehm statt tröstlich. Das Atmen in der rauchgeschwängerten Luft fiel ihm schwer, und seine Kehle kratzte, egal, wie viel Flüssigkeit er trank. Zur Hand ging ihm George Fisher, ein Medizinstudent, und so kamen sie über das gesamte Schlachtfeld, dessen dichtes Buschwerk durch das Feuer niedergebrannt war. Sie versorgten Brandwunden, die teilweise verheerendere Verletzungen angerichtet hatten als das feindliche Geschoss, das den Soldaten daran gehindert hatte, den Schauplatz schnell genug zu verlassen.
Wieder erbat sich David seine Wasserflasche und schüttete den Inhalt in seinen Mund. Den Rest goss er sich über den Kopf, sodass es ihm angenehm kühlend in den Nacken und den Rücken hinunterrann. In einiger Entfernung tanzten die Lichter der gegnerischen Ärzte und Ambulanzhelfer durch den Wald, die Rufe der Verletzten beider Seiten vermengten sich miteinander. Eine Hand streckte sich Hilfe suchend nach David aus, und er kniete sich neben den Soldaten in die feuchte, blutgetränkte Erde. Seine Bauchverletzung verriet, dass er den nächsten Morgen nicht erleben würde, und David flüsterte ihm dies ins Ohr. Zuerst riss der Verwundete panisch die Augen auf, dann nickte er und wandte den Kopf ab.
David verband den Streifschuss eines anderen Rebellen, ehe er zwei Männer aus dem Musikkorps herbeiwinkte, damit sie ihn vom Schlachtfeld trugen. Schließlich erhob er sich, nahm seinen Verbandskasten auf und ging hinüber zu George, der bei einem besinnungslosen Kavalleristen kniete.
»Streifschuss am Kopf, und das Bein hat was abbekommen«, sagte George. David schob die Locken des Mannes beiseite. Blut sickerte aus einer oberflächlichen Wunde. Mit wachsender Irritation betrachtete er das schmutzige Gesicht des Verwundeten, der nur wenig älter als er selbst sein konnte. Irgendetwas Vertrautes lag in seinen Zügen, und David wurde das Gefühl nicht los, den Mann zu kennen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und wandte sich dem blutgetränkten Hosenbein des Kavalleristen zu. Er schnitt die Kavalleriehose der Nordstaaten auf, bei der es sich vermutlich um ein Beutestück handelte, um die kaputte Uniformhose zu ersetzen. Die Rebellen behalfen sich immer öfter mit fremden Uniformen, da die Konföderation kaum noch neue lieferte.
Zwei Kugeln steckten im linken Oberschenkel, und David konnte bei der mangelhaften Beleuchtung und den Unmengen von Blut nicht eindeutig feststellen, ob eine von ihnen den Knochen durchschlagen hatte. Er wollte eben die Träger herbeiwinken, als George ihn mit dem Ellenbogen anstieß. Auf eine weitere Verletzung gefasst, wandte er sich seinem Helfer zu, doch der hob die graue Uniformjacke des Verletzten an. Darunter kam die blaue eines Unionskavalleristen zum Vorschein. »Was hältst du davon, David? Ist er ein Überläufer oder Deserteur?«
»Oder ein Kundschafter der Union.«
»Dann ist er aber unglücklich zwischen die Fronten geraten.«
David nickte, hob die Hand und bedeutete den Trägern, dass sie den Mann zu den Operationszelten bringen sollten. Langsam erhob er sich, wobei er erneut die Gesichtszüge des Bewusstlosen musterte. Wenn er aus der gegnerischen Armee stammte, woher kam dann sein Eindruck, ihn zu kennen? Hätte er einen Medizinstudenten aus seiner Zeit an der Universität vor sich, wäre der sicher nicht als konföderierter Soldat getarnt.
Die Helfer vom Musikkorps packten den Mann und trugen ihn davon.
Um 4.30 Uhr startete Ewell einen Überraschungsangriff und kam somit dem Norden zuvor, der eine halbe Stunde später an derselben Stelle ein Ablenkungsmanöver geplant hatte. Gegen 6.00 Uhr traf eine Unionseinheit – sie hatten die Rebellen vor sich hergetrieben – überraschend auf eine Lichtung. Dabei handelte es sich ausgerechnet um das Feldhauptquartier von Full General Robert Lee. Der große General des Südens stellte sich persönlich an die Spitze einer Brigade Texaner aus Longstreets Korps und führte sie zu einem Gegenangriff. Während die Texaner vorrückten, riefen sie Lee zu, dass er zurückbleiben solle; er kam der Bitte nach, als weitere Truppen auf die Lichtung strömten.
Einer von Longstreets Brigadelieutenants verfügte über gute Ortskenntnisse und wies auf einen nicht fertiggestellten Bahndamm auf der linken Seite der Union hin. Der war weder auf einer Karte verzeichnet, noch konnte er entdeckt werden, da er von wildem Wein und undurchdringlichem Unterholz verdeckt war. Eine eilige Planung führte zu fast demselben Manöver, das Stonewall Jackson ein Jahr zuvor vollzogen hatte, nur dass diesmal die zurückzulegende Distanz kleiner war. Der Bahndamm wurde für vier Rebellenbrigaden zum Aufmarschweg. Kurz vor Mittag brachen sie über die völlig überraschten Nordstaatenregimenter herein. Dabei geschah jedoch dasselbe Unglück, das damals – nur drei Meilen entfernt – Stonewall Jackson ereilt hatte. Während die Rebellen mit ihrem schauerlichen Angriffsschrei losstürmten, trafen sie im rechten Winkel auf Einheiten ihres eigenen Korps. Durch den Pulverrauch und das Dickicht in der Sicht stark beeinträchtigt, traf Longstreet eine Kugel aus den eigenen Reihen in die Schulter. Weitere Männer wurden getötet.
Marcus beobachtete durchs Fernglas das schemenhafte Getümmel zwischen den Bäumen. Er wurde Zeuge des letzten Infanterieangriffs von General Lee, dessen Sinn sich Marcus auch diesmal nicht erschließen wollte. Er setzte seinen Feldstecher ab und drehte sich zu Grant um, der mit grimmiger Miene den Erläuterungen eines Kuriers folgte und sich dann an seine Stabsoffiziere wandte. Grant räumte ein, dass Lee und die Wilderness zusammengenommen zu mächtige Gegner für ihn und die Potomac-Armee waren. Lee hatte ihn dort abgefangen, wo er unter keinen Umständen hatte kämpfen wollen.
Der Journalist trat näher und stellte erleichtert fest, dass Grant dennoch nicht gewillt war, sich geschlagen zu geben. Er ließ sich sofort die Karten bringen und begann, über neue Strategien nachzudenken.
Ein Brigadekommandeur kam auf einem schweißnassen, dreckverkrusteten Pferd herbeigedonnert und zügelte das Tier knapp vor der Gruppe von Stabsoffizieren. Seine Stimme klang entmutigt, und sein Atem ging heftig, als er über die aktuelle Lage berichtete und mit den Worten endete, dass alles verloren sei. Grant musterte den Mann, reckte die Schultern und erwiderte: »Ich habe es gründlich satt, immerfort zu hören, was Lee vorhat!« Er trat einen Schritt nach vorn. »Bilden Sie sich ein, Lee kann einen doppelten Salto schlagen und gleichzeitig in unserem Rücken und an unseren Flanken stehen? Reiten Sie sofort zurück zu Ihrem Kommando, und denken Sie nicht darüber nach, was Lee vorhat, sondern was wir vorhaben!«
Der Offizier grüßte und sprang in den Sattel seines Pferdes. Marcus setzte sich und machte sich Notizen, während er die Unterhaltung der Stabsoffiziere verfolgte, die darauf schließen ließ, dass sich Grant, anders als seine Vorgänger, nicht über den nächsten Fluss zurückziehen wollte. Vielmehr hatte er einen Flankenmarsch vor Augen, mit dem Ziel, eine zehn Meilen südlich gelegene Straßenkreuzung beim Spotsylvania Court House einzunehmen. Wie es aussah, war Grant gewillt, zu halten, was er Präsident Lincoln versprochen hatte: Egal, was geschehen mochte, Grant würde nicht umkehren. Er wollte so lange kämpfen, bis die feindliche Armee vernichtet war und Frieden einkehren konnte. Auch wenn es den ganzen Sommer dauern würde.
~ Peacock Plantation, South Carolina ~
Für Annie und Pinny vergingen die Tage schleppend. Sie wussten nichts von der Schlacht in der Wilderness, die der Potomac-Armee einen Verlust von 17.500 Soldaten eingebracht hatte und der Nordvirginia-Armee den von mindestens 8.700 Mann. Sie diskutierten nicht darüber, welchen Kraftausdruck der stets so besonnene und höfliche Lee offenbar gebraucht hatte, als er die Flucht von Hills Korps miterleben musste, und ahnten nicht, dass Longstreet durch seine Verletzung für fünf Monate ausfallen würde.