Das Versagen der Religion - Frido Mann - E-Book

Das Versagen der Religion E-Book

Frido Mann

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Beschreibung

Frido Mann, der im kalifornischen Exil der Schriftstellerfamilie Mann geboren wurde, geht der Frage nach, welchen Beitrag Religion, Naturwissenschaft und Kultur zur Beantwortung der Sinnfragen leisten können. Seine These: Die Religion bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten - und ihrer Aufgabe - zurück.

Mann wirbt um Verständigung über kulturelle, insbesondere über religiöse Grenzen hinweg. Er begibt sich auf die Suche nach der gemeinsamen, die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam verpflichtenden Grundlage, die dem respektvollen und friedlichen Zusammenleben der Menschen dient.

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Frido Mann

Das Versagen der Religion

Betrachtungen eines Gläubigen

Kösel

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in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlag: Weiss Werkstatt München

ISBN 978-3-641-09581-9V002

www.koesel.de

Dem vorbildhaften West Eastern Divan Orchestra gewidmet

Inhalt

Vorspiel

Grundlegende Analyse

Eine alarmierende Bestandsaufnahme

Achterbahn Mensch

Erstes Beispiel: Jonas’ gescheiterter Neubeginn■Zweites Beispiel: Das Milgram-Experiment. Außerkraftsetzung ethischer Grundnormen?■Drittes Beispiel: In der Sache J. Robert Oppenheimer■Viertes Beispiel: Der Massenselbstmord der Peoples Temple 1978■Fünftes Beispiel: Schritte über Grenzen. Der Maler und Bildhauer Eduardas Jonušas

Im Bann des vorkopernikanischen Zeitalters

Galileo Galilei und die Folgen

Ist Offenbarung nur festgelegte Glaubensoffenbarung?

Das »Buch der Natur« und das »Buch der Kunst«

Offenbarung, Erfahrung und Glaube

Natur und Sinnerfahrung

Heisenberg, Einstein und Darwin

Kunst / Kultur und Sinnerfahrung

Musik■Literatur■Darstellende Kunst

Religion und Sinnsuche

Die Situation der monotheistischen Religionen■Überkonfessionelle Ansätze

Quantenphysikalische Begründung der Einheit von Natur, Kultur und Religion

Theologische und naturwissenschaftliche Begriffe als Metaphern

Zusammenfassung

Alternative Wege

Die Metaphern »Liebe«, »Licht« und »Leben«

Das Selbst im Zentrum

Lebenssinn und Grundvertrauen durch das Selbst

Verschiedene Wege zu Ehrfurcht, Mitgefühl, Verantwortung

Ein Versagen des Selbst?

Hoffnungsvolles Nachspiel

Anhang

Weiterführende Literatur

VORSPIEL

Ramallah im palästinensischen Autonomiegebiet von Westjordanien am 22. August 2005. Im Konzertsaal des Kulturpalasts der Stadt gastiert heute das 1999 von Daniel Barenboim und Edward Said in der Goethe-Stadt Weimar gegründete West-Eastern Divan Orchestra (das Orchester besteht etwa zur Hälfte aus arabischen und israelischen Jungmusikern).

Das von vielen Ländern live im Fernsehen übertragene Symphoniekonzert ist ein historisches Ereignis, nachdem im vorangegangenen Jahr ein Konzert aus Sicherheitsgründen hatte abgesagt werden müssen. Damit die israelischen Musiker ungehindert einreisen konnten, wurden sie mit spanischen Diplomatenpässen ausgestattet. Dies wurde durch die Teilnahme an der Sommerschule in Sevilla ermöglicht. In dem von bewaffneten Schutztruppen umgebenen und bis in die Gänge, an den Seiten und hinten vollbesetzten Konzertsaal mit der sogar auf dem Boden sitzenden Prominenz der Stadt erklingt jetzt unter Daniel Barenboims Leitung als erstes Mozarts Sinfonia Concertante für Klarinette, Oboe, Horn und Fagott. Es folgt eine leidenschaftliche Wiedergabe von Beethovens Fünfter. Nach dessen letzten Takten setzen mehrminütige stehende Ovationen ein.

Nach einer kurzen Ansprache von einem der palästinensischen Minister steigt Daniel Barenboim auf das Podium und wendet sich mit folgenden bewegten Worten an das Publikum:

»Sehr geehrte Damen und Herren! Was ich Ihnen zu sagen habe, habe ich bereits in der Musik gesagt. Dennoch möchte ich Ihnen mitteilen, dass dieses Orchester aus wunderbaren, intelligenten und mutigen Menschen aus Palästina, Israel, aus dem Libanon, aus Syrien, Jordanien, Ägypten und aus Spanien besteht. Alle von ihnen sind sehr mutige Menschen. Ich brauche Ihnen allen nicht zu erklären, dass es sehr viel Mut von jeder und jedem braucht, um zusammen hier im Orchester zu spielen. Dieses Projekt, das Edward Said und ich 1999 gründeten, wurde manchmal in einer sehr schmeichelhaften Art, als ein Orchester beschrieben, welches den Frieden bringen würde.

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen sie mich dazu etwas sagen. Die Tatsache, dass diese wunderbaren Menschen zusammen musizieren, bringt keinen Frieden. Was es bringen kann, ist das Verständnis, die Geduld, den Mut und die Neugier auf die Geschichte des jeweils anderen zu hören. Jede und jeder ist in der Lage sich frei zu äußern. Darum geht es! Deshalb sind wir heute mit der Botschaft der Menschlichkeit zu Ihnen gekommen. Nicht mit einer politischen Botschaft. Sondern mit einer Botschaft der Solidarität für eine Freiheit, die Palästina und die gesamte Region benötigt …«

Nach dem hier wiedergegebenen Anfang der Ansprache von Daniel Barenboim erfolgt eine letzte Botschaft für Dialogbereitschaft, Offenheit und Verständigung wieder durch Musik. Es wird, als Zugabe zum Konzert, »Nimrod« aus den Enigma-Variationen von Edward Elgar, mit einer unter die Haut gehenden Innigkeit und Erfülltheit gespielt.

Die CD-Dokumentation dieser einzigartigen Darbietung von Musik zur Förderung des zwischenmenschlichen Dialogs zwischen zwei auf religiösem Hintergrund politisch tief zerstrittenen Völkern im Dienste von Solidarität, Verständigung und Humanität bleibt für mich eines der am tiefsten berührenden, vorbildhaften Versuche eines großen Künstlers. Menschen, denen jede Verständigungsgrundlage abhandengekommen zu sein scheint, werden wieder einander nähergebracht, Barrikaden des Hasses eingerissen und neue Brücken gebaut. Dieses Engagement wirft einerseits ein Licht auf die anscheinend hoffnungslos verfahrene Situation im politischen und religiösen Pulverfass des Nahen Ostens als eines der alarmierenden Konfliktherde auf der Welt. Andererseits zeigt es auch den bewundernswerten, durch nichts zu brechenden Mut herausragender Menschen, das zu tun, wozu sich vor allem die drei in dieser Region beheimateten »prophetischen« oder abrahamischen und monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam ursprünglich verpflichtet hatten: nämlich dem Aufbau eines respektvollen und friedlichen Zusammenlebens der Menschen zu dienen. Nachdem sie im Gegenteil darin versagt hatten, sich gegenseitig zu achten und im Geiste der Brüderlichkeit und Nächstenliebe zusammenzuleben, tritt jetzt an deren Stelle ein Häufchen mutiger Menschen und kämpft mit einem letzten Aufgebot an künstlerisch-kulturellem Einsatz für offene und geduldige Dialogbereitschaft und Verständigungswillen, ohne die es keinen Frieden geben kann. Dieses Beispiel hat mich besonders darin bestärkt, im Sinne meines lebenslangen Bestrebens weiter um eine Antwort auf die Frage zu ringen, wozu wir Menschen letztlich bestimmt sind, wer wir sind, welchen inneren Sinn wir unserem anfälligen und gefährdeten Leben abgewinnen können und welche ethischen Grundwerte wir uns zu eigen machen sollten. Durch die innere Erstarrung und Verarmung der sich auch noch gegenseitig bekämpfenden Religionsgemeinschaften droht ein Vakuum zu entstehen, welches den Menschen umso mehr bewusst macht, wie sehr sie darauf angewiesen sind, auf ihre Frage nach dem inneren Sinn ihres Lebens eine Antwort auch außerhalb der betreffenden Religionen zu suchen.

Auch ich fühle mich umso mehr dazu gedrängt, meine eigenen Gedanken zu dieser zentralen Frage weitgehend abseits von den großen religiösen Institutionen, von ihren »Lehren« und Gesetzesvorschriften, zu ordnen und zu versuchen, sie in Worte zu fassen. Dafür werde ich als erstes die Situation, die den eben wiedergegebenen »humanistischen« Kraftakt von Ramallah notwendig gemacht hat, unter globalem Aspekt betrachten. Nach einem anschließenden Rückblick auf unsere Kulturgeschichte, mit besonderem Fokus auf die für unseren Werteverlust mitverantwortlichen großen Weltreligionen, will ich versuchen, mögliche Ansätze und erhoffte Wege aus unserem »Sinnelend« vorzuzeichnen.

Bei meinen Erläuterungen werde ich mich stark leiten lassen von eigenen biografischen Erlebnissen und Erfahrungen sowie von meiner persönlichen Auseinandersetzung mit den Inhalten derjenigen Disziplinen, mit denen ich im Laufe meiner akademischen Ausbildung involviert war.

GRUNDLEGENDE ANALYSE

EINE ALARMIERENDE BESTANDSAUFNAHME

Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit einer noch nie gekannten Anzahl von Toten und einem ungeheueren Ausmaß an Zerstörungen durch zwei Weltkriege haben die schon lange vorher angebahnten, tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche um ein Vielfaches beschleunigt. Das Leben auf unserem immer dichter bevölkerten und mit einem wachsenden sozialen Spannungspotential versehenen Planeten ist heute in erster Linie bestimmt von einer sich fast überschlagenden Mobilität, nicht nur räumlich physisch, sondern auch bewusstseinsmäßig und emotional. Man kann heute fast von einer globalen Völkerwanderung sprechen. Hinzu kommt eine nie gekannte Reisetätigkeit und ein intensiver Informationsaustausch dank einer sich täglich verdichtenden Vernetzung unseres Globus. Diese Beweglichkeit, verbunden mit enormem Erfahrungs- und Wissenszuwachs, fördert einerseits unseren wissenschaftlich-technischen Fortschritt, wirtschaftliche Prosperität und den kommunikativen Austausch. Andererseits führt die kaum mehr zu bewältigende Flut an Informationen zu einer Desorientierung und einer emotionalen Verunsicherung. Unser ganzes Wertebewusstsein wird im Sinne der Devise: »immer schneller, immer mehr, immer besser« zunehmend relativiert und droht zu verflachen. Hochzeitspaare geben sich in Weltraumfähren ihr Jawort, fünf- bis fünfzehnjährige Mädchen lassen sich in eigens für sie eingerichteten Schönheitssalons stylen und es gibt in Tierkliniken bereits Intensivstationen für vierbeinige Lieblinge, während in Entwicklungsländern täglich massenweise Kinder und Erwachsene verhungern. Ein dominierendes Phänomen der äußeren und inneren Atemlosigkeit unserer Gesellschaft ist der Jugendwahn, der gelegentlich bizarre Formen annimmt. Senioren kleiden sich wie pubertierende Teenager, und Eltern, die keine Zeit mehr für ihre Kinder haben, bekleiden diese fast noch im Säuglingsalter mit Blue Jeans. Wer nicht erwachsen werden will, verweigert gern die Übernahme von Verantwortung und bleibt ein ewiger Rebell. Dazu passt auch die zunehmende Labilisierung heutiger Familien- und Partnerschaftsbeziehungen mit oft gravierenden Schädigungen besonders der Kinder und dem sozialen Abstieg der Betroffenen als Folge. Ganz zu schweigen von der sinkenden Hemmschwelle zu Gewalt und Zerstörung im zwischenmenschlichen wie auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich. Unsere aus den Fugen geratene Zivilisation steht am Abgrund des Zusammenbruchs einer lebenswerten sozialen Ordnung und eines für den Weltfrieden notwendig bleibenden Wertesystems.

Auch oder gerade die drei anfangs genannten monotheistischen Religionen können diese Entwicklung nicht aufhalten. Sie gelten offiziell immer noch als die eigentlichen Instanzen für eine solidarische und friedliche Koexistenz auf unserem klein gewordenen Planeten. In vielen Einzelfällen sind religiöse Institutionen zwar immer noch erfolgreich bei ihrem Bemühen, seelischen Beistand an in innere Not geratene Menschen zu vermitteln, karitativ weltweite Armut, Elend und Leid zu lindern und den nachrückenden Generationen eine geistige Führung zu geben. Dies vermag jedoch nicht die Tatsache aufzuwiegen, dass eine erschreckende Mehrheit der in Angst und bigottem Starrsinn verharrenden Machtrepräsentanten aller drei genannten Religionen die Flucht nach vorn antritt. Mit ihrer militanten Verteidigung anachronistischer Anschauungen treiben deren geistliche Führer die destruktive Entwicklung auf unserem Planeten weiter voran. Dabei sind die wirklich religiösen Motive der verantwortlichen Religionsvertreter und ihre mit diesen vermischten oder auch nur bemäntelten wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen immer schwerer auseinanderzuhalten. Die zunehmende Unglaubwürdigkeit der Religionshüter erzeugt bei immer mehr, vor allem bei jungen Menschen Widerstand, Verunsicherung, eine doppelte Moral oder auch die Tendenz, bei der Ablehnung überalterter Normen das Kind mit dem Bad auszuschütten und genauso destruktivem Nihilismus oder gar Zynismus zu verfallen.

Im schrillen Gegensatz zu diesen beängstigenden Aussichten begegnet uns im Alltag vor allem in den bisher einigermaßen intakt gebliebenen Industrienationen eine weitere Folge des allgemeinen Werteverfalls. Es ist eine sich ins Maßlose steigernde Macht- und Lebensgier und ein Sich-Klammern an das »Goldene Kalb« eines kurzsichtigen, egoistischen Genuss- und Gewinnstrebens voller lärmiger Fröhlichkeit. Blickt man allerdings unter die Oberfläche von Unbekümmertheit und euphorischem »Hoppla wir leben« etwas tiefer, so spürt man rasch Angst und Ratlosigkeit und Verzweiflung sowie eine Neigung zur Flucht in betäubende Drogen oder andere Stimulantien oder in falsche spirituelle Heilsversprechen. Diese züchten dann wieder einen verlogenen Fundamentalismus mit doppelter Moral, und der Teufelskreis beginnt wieder von vorn.

Dass es trotzdem Kräfte gibt, die gegen den drohenden Niedergang unserer Zivilisation ankämpfen, sollte am Anfang deutlich werden mit dem segensreichen Wirken der sich für zwischenmenschliche und politische Annäherung und Verständigung einsetzenden westöstlichen Divan Orchestervereinigung. Es werden in diesem Buch noch mehrere andere nachahmenswerte Beispiele im Bereich der Kunst und Kultur, der Wissenschaften und auch der Religionen folgen, mit denen ich im Laufe meiner akademischen sowie künstlerischen Tätigkeit in persönliche Berührung gekommen bin. Diese vorbildhaften Menschen haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass mit anderen, vernünftigen, engagiert werbenden Tönen und mit entsprechend vorbildhaftem Wirken im Namen der Liebe und der Ehrfurcht vor dem Leben eine Linderung, ein Aufschub, eine begrenzte Besserung der Lage erreicht oder gar die Basis für einen Neuanfang geschaffen werden kann.

Gesellschaftliche Niedergänge, die in der Vergangenheit zum Ende eines bestimmten Imperiums und dessen Kultur geführt haben, haben sich früher immer auf bestimmte Herrschaftsgebiete auf unserer Erde beschränkt, und an ihrer Stelle entstanden wieder neue lebensfähige politische Systeme. Ihr Aufstieg und Niedergang ist in der Regel das Resultat komplexer und sich über längere Zeiträume erstreckender Entwicklungen gewesen. Beispiele dafür sind der Aufstieg und Fall Ägyptens, die Geschichte des römischen Reiches sowie Blüte und Untergang der großen Kulturen der Azteken und Inkas in Mittel- und Südamerika. Das vorhin so pessimistisch skizzierte politische und gesellschaftliche Szenarium hingegen finden wir so weit über den ganzen Globus ausgebreitet, dass für die Rettung aus einer daraus folgenden Katastrophe kein ausreichend intaktes Hinterland mehr vorhanden ist. Dazu kommt, dass es in unserer zunehmend schnelllebigen Zeit bis zu unserem beängstigenden heutigen Zustand nur wenige Jahrzehnte gebraucht hat.

Ich erinnere mich, wie meine Eltern und Verwandten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in unserem kalifornischen Exil auf eine neue politische Ordnung und auf eine Rückkehr in die humanistischen und wenigstens versuchsweise demokratischen Vorkriegsverhältnisse auf dem alten europäischen Kontinent hofften. Sie sahen jedenfalls eine neue Chance gekommen und hätten sich den tatsächlich bald folgenden, noch dramatischeren Niedergang auf globaler Ebene während der kommenden Jahrzehnte nie träumen lassen.

Als wir zwei Jahre nach Kriegsende mit einem ersten, noch kurzen Europabesuch unsere endgültige Rückkehr vorbereiteten, zeigten mir bereits die schrecklichen Zerstörungen am Hafen von Rotterdam bei der Schiffsankunft und bald später ähnlich im norditalienischen Genua die schweren äußeren und inneren Beschädigungen auf diesem Kontinent. Diese konnte ich dann nach unserer endgültigen Übersiedlung 1949 während einiger Grundschuljahre in der ländlichen Idylle an einem Ort im österreichischen Salzkammergut zusammen mit meinen Eltern hautnah erleben. Erst langsam erfolgte der Wiederaufbau in ganz Westeuropa, besonders prägnant im westdeutschen »Wirtschaftswunder« Mitte der Fünfzigerjahre. Im Lauf der Jahrzehnte danach konnte ich als in Deutschland lebender Student und dann als Berufstätiger am dortigen wachsenden Wohlstand teilhaben.

Doch das schon früh im Kalten Krieg zwischen den beiden Machtblöcken in Ost und West beginnende, fiebrige Wettrüsten mit immer bedrohlicherem, neuem Kriegsmaterial erregte vor allem in intellektuellen Kreisen eine zunehmende Besorgnis. Bald wurde in mehreren Bereichen unserer Gesellschaft ein internationaler Ruf nach ethischer Selbstverpflichtung und Selbstbescheidung laut. So forderten zehn Jahre nach Kriegsende der britische Philosoph Bertrand Russel und der Physiker Albert Einstein im Wissen um die verheerende Zerstörungskraft der mittlerweile eingesetzten Massenvernichtungswaffen in ihrem berühmten »Manifest« ein »neues Denken« im Sinne gewaltfreier und kriegsvermeidender politischer Konfliktlösung. Im selben Jahr 1955 probte Bertolt Brecht im Berliner Ensemble die revidierte Fassung seiner Bühnenparabel »Leben des Galilei«, die er nach dem Krieg in Los Angeles unter dem Eindruck des Atombombenabwurfs über Hiroshima und Nagasaki neu geschrieben hatte. Hier stand nicht mehr wie in der Vorkriegsfassung die Macht der Kirche im Zentrum, sondern die Verantwortung des Wissenschaftlers und die Frage nach dem Wert und der Verwertbarkeit des Wissens für missbräuchliche politische Zwecke.

Bald nach dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss von 1979 beteiligte ich mich aktiv am Engagement der Vereinigung »Ärzte für den Frieden« gegen das erneut aufscheinende Schreckgespenst von Krieg, Umweltzerstörung und Entwurzelung der Menschen durch Migration. Mit Genugtuung und Erleichterung registrierte ich damals auch andere Vorstöße in diese Richtung, beispielsweise einen durch den »Kongress des Bundes demokratischer Wissenschaftler« in Marburg ergehenden Protest gegen jenen Doppelbeschluss sowie die Forderung des Literaten und Literaturwissenschaftlers Walter Jens nach einem »hippokratischen Eid der Wissenschaftler« und damit verbunden die »Herausbildung einer wissenschaftlichen Ethik als verbindlicher und konsensfähiger Geschäftsmoral«. Als sich in den Neunzigerjahren meine beruflichen Aktivitäten als klinischer Psychologe von der Einzel- und Gruppenpsychotherapie und Selbsterfahrung auf ein interkulturelles Engagement zwischen Deutschland und Brasilien als dem Herkunftsland einer meiner Vorfahren ausweitete, beobachtete ich voller Genugtuung den Einsatz mehrerer weltweit wirkender Musiker für Frieden und Völkerverständigung. Besonders inspiriert und geprägt fühlte ich mich durch Vorbilder im Bereich der klassischen Musik wie Yehudi Menuhin, Mstislav Rostropowitsch, George Solti mit seinem von ihm 1995 gegründeten, aus internationalen Spitzenmusikern bestehenden »Orchestra for World Peace« und später Daniel Barenboims und Edward Saids anfangs angeführtes West Eastern Divan Orchestra. Im Bereich der Popmusik bewunderte ich Stars wie Bob Geldof mit seinen Life-Aid-Benefizkonzerten gegen Hunger und Armut in Afrika sowie die sich für Frieden und für die Erhaltung unserer Erde einsetzenden Songwriter wie Sting, Bono und Herbert Grönemeyer.

2005 erschien in Deutschland das »Potsdamer Manifest«, welches von der unter anderem von Hans Peter Dürr herausgegebenen Buchausgabe begleitet wurde, der detailliert ausgearbeiteten »Potsdamer Denkschrift 2005«. In dieser sprachen die Verfasser und Unterzeichner von weltweit wahrnehmbaren, »vielfältigen Krisen«, welche Ausdruck einer »geistigen Krise« unserer Zeit seien »im Verhältnis von uns Menschen zu unserer lebendigen Welt«. Diese geistige Krise hänge zusammen mit »unserem weltweit (bisher) favorisierten materialistisch-mechanistischem Weltbild und seiner Vorgeschichte«. Einsichten der modernen Physik, namentlich der »Quantenphysik«, könnten jedoch grundsätzlich aus dem materialistisch-mechanistischen Weltbild herausführen.

»Anstelle der bisher angenommenen Welt einer mechanistischen, dinglichen (objektivierbaren) zeitlich determinierten ›Realität‹ entpuppt sich die eigentliche Wirklichkeit (eine Welt die wirkt) im Grunde als ›Potentialität‹, ein nicht auftrennbares, immaterielles, zugleich wesentlich indeterminiertes und genuin kreatives Beziehungsgefüge … Die im Grunde offene, kreative, immaterielle Allverbundenheit der Wirklichkeit erlaubt, die unbelebte und auch die belebte Welt als nur verschiedene … Artikulation eines ›praelebendigen‹ Kosmos aufzufassen.«1

Dieses im Anschluss an Einstein und Russel geforderte »neue Denken« von Naturwissenschaftlern empfand ich, trotz des mehr naturphilosophischen als naturwissenschaftlichen Entwurfcharakters jener Denkschrift, als eine Vertiefung und Weiterführung dessen, womit ich mich bereits während meines fortgeschrittenen Theologiestudiums während der späten Sechzigerjahre befasst hatte. Nach meiner verstärkten Auseinandersetzung mit ethischen und spirituellen Fragen im Zusammenhang mit meinem interkulturellen Engagement etwa zur Jahrtausendwende sprachen mich die Grundgedanken des Potsdamer Manifests und der Denkschrift trotz seiner im Vergleich zu Einstein und Russel etwas vage bleibenden Nomenklatur besonders an. Denn dort wurde eine »organismische Kulturenvielfalt« gefordert, die den empathischen Menschen hervorbringt und zu einer Grundhaltung im Zeichen sinnhaft bewusster »Allverbundenheit« des Menschen mit allem Lebendigen anregt. Besonders wichtig war mir dabei, dass der Brückenschlag, den eine aus der modernen Physik erwachsene Grundhaltung nahe legte, sich nicht auf »interne« Verbindungen »zwischen den auseinanderdriftenden wissenschaftlichen Disziplinen« beschränkte. Die besagte »Allverbundenheit« zwischen Mensch und allem Lebendigen sollte vielmehr auch »enge Verbindungen zu den Künsten und Religionen« beinhalten. Dieses Manifest fand Unterzeichner aus allen Religionen und Kulturen in Europa, Nord- und Südamerika, Äthiopien, Tansania, Malaysia, Japan, China, Bangladesh und Indien.

ACHTERBAHN MENSCH

»Auf ihrem Flug durch das All begegnet die Erde einem anderen Planeten. Der ruft ihr im Vorbeiflug zu: ›He, Erde, du siehst schlecht aus! Bist Du krank?‹ ›Ach‹, ruft die Erde zurück, ›mir geht es schlecht. Ich bin wirklich krank: Ich habe Mensch.‹ ›Macht nichts‹, kommt es vom anderen Planeten zurück, ›das geht vorbei!‹«2

Als ich mich Ende der Sechzigerjahre, nach meinem Musikstudium und danach erfolgter theologischer Promotion, einer vollen Ausbildung als klinischer Psychologe zuwandte – mit Praxisschwerpunkt in der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers – versuchte ich das Wesen des Menschen etwas tiefer auszuloten, als dies in dem reichlich abgehobenen dogmatischen System der katholischen Theologie möglich gewesen war. In den vorlesungsfreien Monaten nach meinem ersten klinischen Semester im Psychologiestudium blickte ich in einem sechswöchigen Praktikum in einer teilweise geschlossenen psychiatrischen Anstalt im westfälischen Münster sehr viel erschreckender als bisher in die Abgründe seelischer Verirrungen und Erkrankungen. Meine dortigen Erfahrungen förderten meinen Entschluss, nach meinem Studienabschluss mich mit vollem Einsatz therapeutisch um psychiatrisch Kranke zu kümmern, was ich dann fünf Jahre lang in einem anderen, nahe gelegenen psychiatrischen Krankenhaus tat. Eine weitere nachhaltige Erfahrung Ende der Achtzigerjahre war etwa zwei Jahre lang die tägliche Konfrontation mit dem Sterben und dem Tod von Kindern zwischen Vorschul- und Jugendalter auf der Abteilung für krebskranke Kinder in der Kinderklinik der Universität Münster als Medizinpsychologe zusammen mit einem Musiktherapeuten und einer Kunsttherapeutin. Ich gab den jungen Patienten Gelegenheit, mittels aufzuschreibender Erzählungen, Gedichte, Briefe oder Klinikalltagsberichte ihrem Knäuel aus Ängsten, Hoffnungen, Träumen, Sehnsüchten, Leiden und Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Als besonders belastend empfand ich die Wechselbäder zwischen dem finalen Elend der vom Schicksal geschlagenen Kinder und deren wiederholtem, ergreifendem, manchmal letztem Aufleuchten ihres Lebenswillens im Zeitraffertempo. Dazu kam, dass die bis an ihre Grenze geforderten Eltern und Angehörigen dieser Kinder oft einer eigenen psychologischen, sich oft sehr schwierig gestaltenden Betreuung bedurften. Irgendwann glaubte ich mich von diesen aufreibenden Erlebnissen selber frei schreiben zu müssen. Die Gelegenheit hierfür gab ich mir in meiner Romanparabel »Terezín oder der Führer schenkt den Juden eine Stadt«, nachdem ich noch während meiner Arbeit mit krebskranken Kindern den Parallelen zwischen deren tödlicher Bedrohung und derjenigen von jüdischen Kindern durch die nationalsozialistische »Endlösung« nachgegangen war. Insbesondere hatte ich frappierende Ähnlichkeiten zwischen den Kinderzeichnungen aus dem Konzentrationslager Theresienstadt und denen einiger meiner kleinen Patienten entdeckt. Dies bewegte mich während der Niederschrift meines Buches dazu, zu einer damals von der Abteilung Kinderonkologie der Universität Münster durchgeführten Tagung zum Thema »Aus Krisen Kraft schöpfen« eine Einladung der über achtzigjährigen Miep Gies aus Amsterdam zu einer Lesung aus ihrem Buch »Meine Zeit mit Anne Frank« anzuregen. In dem Buch berichtet sie auf erschütternde Art und Weise, wie sie und ihr Mann Jan während der deutschen Okkupation Hollands im Zweiten Weltkrieg die dreizehnjährige Anne und ihre Familie bis zu deren Verrat und Deportation versteckt und täglich mit Lebensmitteln versorgt hatten.

Stellte sich mir zu jener Zeit die Frage nach dem Menschen als Alternative zu der nach meinem Theologiestudium recht weit in den Hintergrund getretenen Frage nach Gott dar, so sehe ich nachträglich darin keinen Widerspruch, sondern eine plausible Konsequenz des Verlusts meines sicheren religiösen Halts. Je tiefer ich bei meiner Arbeit mit Kranken und Moribunden in die Abgründe und Schattenzonen des Menschseins eindrang und mich niederdrückenden, aber auch hoffnungsvoll berührenden Situationen aussetzte, desto intensiver beschäftigte ich mich wieder mit der Grundfrage nach dem Sinn unseres Daseins. Je länger und häufiger ich mich mit meinen Einblicken in die Seele meiner kleinen und großen Patienten auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnung und Verzweiflung, ja zwischen Leben und Tod entlang bewegte und in besonders dunklen Augenblicken meinen schwankenden Glauben an einen Sinn meines Tuns erlöschen sah, desto größer war für mich die Herausforderung, mich erst recht erneut nach einem solchen Sinn zu fragen. Nach und nach wurde mir immer klarer, dass dieses provokative und radikale Infragestellen und Immer-wieder-neu-Fragenmüssen gerade nicht im Gegensatz zu religiösem Denken und Fühlen stand, sondern im Gegenteil ein Grundmerkmal des mit Religion ursprünglich Gemeinten war. Diese Erkenntnis wird der Hauptgegenstand dieses Buches sein.

Die weiteren Verfinsterungen unserer Weltlage nach der Jahrtausendwende – immer mehr Kriege und Terroranschläge und Leben auslöschende Klimakatastrophen in überfluteten und manchmal dicht daneben in austrocknenden und verkarstenden Landstrichen – bewegten mich wieder ein Jahrzehnt später, als ich die Universität und die Klinikpraxis verlassen hatte, zur Abfassung eines Librettos für das bald auch aufgeführte Musikdrama Flood (»Sintflut«). Dort verband ich die Sintflut-Erzählung der Bibel und anderer Religionsschriften mit Al Gores aufrüttelnder ökologischer Mahnschrift An Inconvenient Truth. Als weiteres Abbild unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit entstand als nächstes ein ebenfalls vertont auf die Bühne gebrachter Text des globalen Katastrophenszenariums President Jekyll. Aufbauend auf Robert Stevensons berühmter Parabel The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde hatte unsere politische Version die vielbeschworene Zweigesichtigkeit des Menschen und seinen Umgang mit Macht und Moral, die Identität des Einzelnen und der Masse sowie die oft problematische Rolle der Wissenschaft in Politik und Gesellschaft zum Thema.