Das Verschwundene Tal - Dietmar Preuß - E-Book

Das Verschwundene Tal E-Book

Dietmar Preuß

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Beschreibung

Wulfiard von Gandra hat den Krieg in seiner Heimat, den nordischen Greiflanden, satt. Als Skalde zieht er zum Unsteten Pfad, der Landenge zwischen den Greiflanden und Scimmien, dem heißen Südkontinent. Dort werden andere Götter verehrt, es herrschen andere Sitten und die Frauen sollen von ungeahnter Schönheit sein. Es heißt, hier kann ein Händler reich werden, ein Krieger ein Reich erobern, ein Mann seine große Liebe finden. Darum wagen es Männer und Frauen immer wieder, den Weg über die himmelhohen Klippen zu nehmen. Schon vor vielen unlauteren Herzen ist der Pfad verschwunden und hat die Reisenden in den Tod stürzen lassen. Doch die Gefahr lohnt sich, denn als Nordmann stehen Wulfiard viele Wege und Herzen offen. Und da er keine Gelegenheit bei den schönen Südländerinnen auslässt, gerät er zwischen die Schwerter der Gesetzeshüter, die Knüppel gehörnter Ehemänner und die Dolche der Ssadesti, einer gefährlichen Bande. Deren Anführer Ssadec Tabar wurde bei der Thronfolge in Bual-Bator, einem Emirat in Scimmien, übergangen. Dafür rächt er sich mit Attentaten, Diebstahl und der Entführung der schönsten Frauen. Die macht er willenlos, sodass sie einen Anreiz für alle Gesetzlosen des Landes bieten, zu ihm ins Verschwundene Tal zu kommen. Mit Hilfe eines Magiers wurde eine unüberwindliche Mauer geschaffen, hinter der es sich die Ssadesti mit Drogen, Gelagen und den geraubten Frauen gut gehen lassen. Auch auf Wulfiard hat der Ruf dieses Tals, dessen Herr sich selbst als Freiheitskämpfer bezeichnet, eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Vor allem, weil die junge Frau, für die er zum ersten Mal in seinem Leben echte Gefühle entwickelt hat, in dieses Tal entführt wird. Mit Hilfe eines Schmiedes, der als Agent des Emirs in der Gegend ist, soll er einen Eingang in das Tal finden. Zuerst will er aber herausfinden, ob die Ssadesti tatsächlich nur gemeine Mörder sind, oder ob das Leben in Fülle und Wollust das ist, was er auf seinen Wanderungen gesucht hat.

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Dietmar Preuß

Das Verschwundene Tal

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum neobooks

Kapitel 1

„So schmal, dass eine alte Vettel ihn mit einer Mistgabel verteidigen könnte!“, sagte der Führer des Handelstreks zu dem Skalden an seiner Seite. Mit seinem breiten Gesicht und dem selbstgefälligen Grinsen konnte der Händler nur Kronländer sein. Er deutete nach vorne, wo der Unstete Pfad hinter den Dolmen Wodans begann. Hunderte von Ruten hoch erhob sich ein schmaler Felsarm aus dem Meer. Die Götter, die die Welt in zwei Kontinente geteilt hatten, hatten auch diese einzige Landbrücke zwischen Nord und Süd geschaffen. Aus der Ferne wirkte der Felsarm wie die Klinge einer Axt, die jemand mit der Schneide nach oben auf einen Silberspiegel gelegt hatte.

„Scheint heute breit genug für Packpferde zu sein.“ Der Trekführer kratzte sich den Schmerbauch, über den sich ein speckiges, graues Leinenhemd spannte. Der hochgewachsene Skalde neben ihm legte die Hand über die Augen und betrachtete den Weg, der von ungeheuren Kräften auf halber Höhe in die Flanke der Axtklinge geschnitten worden war. Der Pfad war etwa fünfhundert Ruten lang, ein winziges Stück verglichen mit den Entfernungen, die Karawanen und Handelstreks davor und danach zurücklegten. Und dennoch flößte der plötzliche Anblick dem Skalden Respekt ein. Unbewusst griff er nach dem Langdolch an seinem Gürtel und murmelte ein paar Worte, mit denen er Donar um Mut bat.

Erst vor wenigen Augenblicken hatte der Handelstrek des schmierigen Kronländers den Wald verlassen, der für die meisten Bewohner der Greiflande Schutz und Heimat bedeutete. Wie eine Mauer stieg das satte Grüne hinter ihnen empor. Und obwohl die Hitze des Südens vor ihnen schon zu ahnen war, hielt sich hinter ihnen noch der Nebel in den Baumwipfeln.

Auf dem felsigen Dreieck vor ihnen, das sich zu der Landbrücke hin verengte, lagerten Hunderte von Packpferden, Treibern und bewaffneten Reisigen. Lagerfeuer verbreiteten den Duft nach brennendem Holz und gebratenem Fleisch. In dem Gewirr der Rufe und lautstarken Diskussionen, das bis an den Waldrand drang, waren Ungeduld, Nervosität und Angst deutlich zu erkennen. Händler und Treks wie der, den der Skalde begleitete, zogen auf der Suche nach einem Lagerplatz durch die engen Gassen des Lagers. Reisige und Glücksritter aller Herzogtümer der Greiflande brachen ihre Zelte ab, nur um sie ein paar Dutzend Ruten näher an den Dolmen vor dem Unsteten Pfad wieder aufzuschlagen. Wie mahnende Finger ragten sie an der engsten Stelle des Lagers in die Höhe. Hinter den Dolmen begann der schmale Pfad, zu dessen linker Seite sich der Fels in schwindelerregende Höhen auftürmte. Zur Rechten fiel der Fels etwa zweihundert Ruten unter dem Unsteten Pfad steil ab, wo das Meer im Licht der weißen Sonnenscheibe gleißte.

Die klaren blauen Augen des Skalden wanderten nach oben, und er fand, was an den heimischen Feuern in Runland immer wieder erzählt worden war. Hoch über den Dolmen war der reich verzierte Eingang eines Tempels in der Felswand zu sehen. Weder Stufen noch Leitern führten zu dem verwitterten Heiligtum. Angeblich stand die in den Berg geschlagene heilige Stätte leer, andere erzählten, ein unsterblicher Zauberer hause darin. Er sorge dafür, dass der Pfad sich verenge, wenn ihm nicht gefalle, was er in den Herzen und Köpfen der Menschen las. Der Skalde hielt das für eine Geschichte, wie er selbst sie an fast jedem Abend erfand. Doch niemand, der zu den Dutzenden Karawanen, Pilgern und Abenteurern zweifelhafter Herkunft gehörte, hätte versucht dieses Heiligtum zu besuchen. Sie alle warteten nur auf einen günstigen Zeitpunkt, den Unsteten Pfad zu passieren.

„Wann ist es das letzte Mal vorgekommen, dass der Pfad schmaler wurde?“, fragte der Skalde, der für einen Runländer eher sehnig als muskulös zu nennen war. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand durch das blonde Haar, das ihm vor die Augen gefallen war.

„Bekommst du es mit der Angst zu tun, Geschichtenerzähler?“ Der Trekführer schwang sich in den Sattel und sah abfällig auf ihn herab. Kronland lag mit den Sippen Runlands seit Ewigkeiten im Krieg, und der Skalde hatte sich gewundert, dass ihm die Händler im Herzen des weiter südlich liegenden Quellreichs angeboten hatten, sich ihnen anzuschließen. Er hatte den Grund während der vierzehn Reisetage herausgefunden und sah sich nun nach den geduldig wartenden Männern und Frauen um. Es waren kräftige, untersetzte Leute, die sich mit ihren breiten Gesichtern und blassen Augen neben ihm, dem hochgewachsenen Runländer, ausnahmen, als hätten Wodan und Baldr sie beim Verteilen körperlicher Vorzüge vergessen.

„Du solltest Angst haben, Beutelschneider“, knurrte der Skalde. „Glaubst du, ich habe nicht gesehen, was ihr in den Pelzballen versteckt haltet?“

Sie waren bald in der Mitte des Lagers der Zaudernden angekommen, in dem unentschlossene Bogenweiber aus den Klingensteppen, zögerliche Goden aus den Schimmelhainen und mit Turbanen und Dschellabahs vermummte Händler aus Scimmien auf ein günstiges Zeichen warteten. Die Angst und Nervosität waren nun für Wulfiard, so hieß der Skalde, körperlich spürbar.

„Ach, beim Flammenhaarigen! Wodan und al-Lat können ihre Augen nicht überall haben“, fluchte der Trekführer. „Was glaubst du eigentlich, warum wir dich feigen Runländer mit uns reisen lassen?“ Mit tückischen Augen sah der Händler den erhobenen Hauptes ausschreitenden Skalden an seiner Seite an und zog sein Schwert. „Du wirst vorgehen! Los! Der Zeitpunkt scheint günstig, denn dich naiven Herzling wird der Unstete Pfad nicht fallen lassen.“

Die Männer und Frauen um sie herum sprangen von ihren Lagerfeuern hoch. Wie eine Welle setzte sich das Klirren von Metall auf Metall, das Klappern von Holz und das Knarzen lederner Kleidung um sie herum fort. Als die Leute erkannten, dass hier ein Trek den Mut hatte, ohne Rast auf den Pfad zu reiten, folgten sie den Kronländern zu den Dolmen. Anerkennend nickten hartgesottene Männer und Frauen, raunten einander zu, denn der Kronländer und seine Leute zögerten nicht wie sie selbst, die sie zwischen ihren Pferden, Kamelen, Waffen und Waren ausharrten.

Während sich die Kronländer geradewegs auf den Unsteten Pfad zu ritten, fasste eine Handvoll Männer vor ihnen, mit Kiepen auf den Rücken und gedrehten Wanderstäben in den Händen, ebenfalls Mut. Sie beschlossen, das Wagnis einzugehen, und passierten noch vor ihnen die Dolmen Wodans. Der Unstete Pfad bot genug Platz für die breiten Körbe auf ihren Rücken und der felsige Weg blieb unverändert, denn der unsichtbare Wächter war offenbar einverstanden mit der Passage der Kiepenträger. Dennoch vermieden es die Männer, die sich vor der Felswand ausnahmen wie Ameisen, in die Tiefe zu sehen. Wo das Meer gegen die Felsen brandete, sollten unsagbare Wesen leben, mit messerscharfen Zähnen die einen, mit langen Tentakeln die anderen. Gift und Schmerz sollten dort unten auf die lauern, die sich beim Sturz nicht schon das Genick brachen. Doch die Kiepenträger kamen stetig voran.

„Na also, hinterher!“, rief der Trekführer. „Was diese armseligen Quellreicher können, können wir auch.“ Mit der gezogenen Klinge trieb er sein Pferd an.

Die Wanderer und Händler, die noch Mut für den Aufbruch sammelten, sahen neugierig zu. Viele wünschten ihnen lautstark Glück bei der Passage, andere schwiegen, hofften vielleicht auf ein Unglück, damit ihnen dann ein solches mit geringerer Wahrscheinlichkeit drohte.

Wulfiard hatte nicht die Absicht, auf dem gefährlichen Pfad in der Nähe der Schmuggler zu bleiben. Seine Frage nach den zwischen harmlosen Waren verborgenen Dingen hatte einzig den Zweck gehabt, sein Wissen zu offenbaren. Denn dass die Götter beider Kontinente über die einzige Verbindung zwischen den Kontinenten wachten, so wurde an den Lagerfeuern seines Volkes gemutmaßt, konnte nur einen Sinn haben. Keine Armee, ausgesandt von Königen, Herzögen, Imamen oder Wesiren, sollte jemals in das Land des anderen Gottes oder Pantheons eindringen. Das hieß auch, dass kein Mensch, der mehr Waffen als die zu seiner eigenen Verteidigung trug, den Pfad passieren würde. Und genau das taten die als Händler getarnten Schmuggler.

Wulfiard, der Skalde aus Gandra, einem Dorf im äußersten Norden Runlands, passierte so eilig die beiden verwitterten Dolmen, dass die Kronländer mit den Packpferden nicht mithalten konnten. Natürlich hatte auch Wulfiard Furcht davor, den Unsteten Pfad zu betreten. Zwar war er sich keiner anderen Taten bewusst als jener, die der tägliche Kampf ums Leben mit sich brachte. Doch wer wusste, was die Mächte, die den Unsteten Pfad kontrollierten, davon hielten? Daher blieb die Furcht vor einem Fall ins Bodenlose. Aber alles war besser, als zu seiner heimischen Sippe zurückzukehren, selbst der Sturz in den Tod. Natürlich hätte er sich am liebsten Schritt für Schritt vorwärts getastet, nur langsam einen Fuß vor den anderen gesetzt. Während der langen Reise durch den nördlichen Kontinent hatte er sich vorgenommen, den Felsen zu beobachten und beim leisesten Zittern umzukehren und zurück zu laufen. Doch nun musste er sich beeilen, um nicht im Dunstkreis der Waffenschmuggler zu bleiben. Das Kribbeln in seinem Nacken wurde immer schlimmer, denn er sah sich gleich nur noch auf auf einem Fußbreit Felsen zu stehen, sich mit Händen und Füßen an die Wand krallen und am Ende in die Tiefe zu stürzen. Hoffentlich geht es schnell zu Ende und ich schreie nicht vor Angst, sodass Wodan und Donar meine Furcht sehen, dachte er. Immer schneller schritt er aus, bis er mehrere Pferdelängen Abstand vor den Kronländern gewonnen hatte. Er hielt den Blick fest auf den Pfad gerichtet, damit ihm nicht schwindelig wurde, denn ein einziger Fehltritt bedeutete den sicheren Tod.

„Verfluchter Runländer!“, hörte er hinter sich den Trekführer brüllen. Aber er marschierte unverdrossen weiter, die Hand am Dolch, so wie er früher mit den Kriegern seines Vaters marschiert war. Bald sah er - gut zweihundert Ruten voraus - einen mit Arabesken verzierten Spitzbogen: Das Tor Tengris, das Ende dieses halsbrecherischen Pfades -oder der Beginn, wenn man Scimmien verlassen wollte! Er hielt den Blick immer auf das Ziel gerichtet. Dahinter, so ahnte er, lag ein weiterer Lagerplatz, ähnlich dem, den er hinter sich gelassen hatte. Dort würde er in Sicherheit sein.

„Schneller, Männer, treibt die Pferde an!“, brüllte der Kronländer hinter ihm. „Verflucht, beim Feuerhaarigen! Schneller!“

Der Boden unter den Füßen Wulfiards begann zu vibrieren, während er dem Tor immer näher kam. Gleich hatte er es geschafft! Er legte die Hand auf den glatten Fels neben sich. Auch die Wand vibrierte, während hinter ihm die Schreie immer schriller wurden. Mit einem gewaltigen Satz hetzte er unter dem in den Fels geschlagenen Spitzbogen hindurch. Dort warteten bereits die Kiepenträger, beachteten ihn aber gar nicht. Zusammen mit mehreren Dutzend schwarzhaariger Menschen mit Hakennasen und Raubvogelblick sahen sie an ihm vorbei, sodass auch er sich umdrehte.

Etwa fünfzig Ruten vor dem Arabeskentor begann der Unstete Pfad sich in die Felswand zurückzuziehen und wurde schmaler und schmaler. Schon schrammten die Pferde der Kronländer mit ihren Lasten an der Wand entlang, und immer weiter verschwand der Weg in der Felswand. Nur noch drei Fuß Breite blieben am Ende des Treks. Das letzte Packpferd der Reihe schrie vor Angst wie ein Mensch, seine Hufe suchten einen Moment lang in der Luft nach Halt, dann fiel es mit seinem Führer an der senkrechten Felswand herab. Schon rutschten auch die nächsten beiden Pferde mit ihren Treiberinnen ab und stürzten vor Todesangst kreischend in die Tiefe. Der fette Trekführer brüllte und fluchte und zerrte am Halfter seines Packpferdes, denn ihm bot der Pfad noch einen Fußbreit mehr Halt. Doch hinter ihm nahm das Unglück seinen Lauf. Als der vierte Mann aufschrie, den Halt verlor und samt Pferd in den Tod fiel, ließ er das Geschirr des Tiers los und rannte los. Der Unstete Pfad bot ihm kaum mehr Platz als einen halben Schritt, und während hinter ihm seine beiden letzten Männer und Pferde brüllend die Klippe hinunterstürzten, tastete er sich seitwärts an der Felswand weiter voran. Nur noch einen Fuß breit maß der Weg, vergeblich suchte er mit den Fingerspitzen Spalten in dem glatten Fels, um sich festzuhalten. Beim nächsten Schritt fand sein rechter Fuß keinen Halt mehr. „Bei Loki, verflucht seien Wodan und Tengris!“, schrie er, keine zehn Ruten von Wulfiard, den Kiepenträgern und den vor Grauen erstarrten Scimmiern entfernt. Dann fiel auch er schauerlich schreiend die Klippe hinab ins Meer.

Wulfiard, der vor Erschöpfung auf dem Boden zusammen gesunken war, ließ sich von zwei Scimmiern auf die Beine helfen und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Die Kiepenträger nickten ihm zu, wandten sich wortlos ab und marschierten weiter, um die Emirate der Gotteskrieger zu erreichen. Die Scimmier, die sich auf dieser Seite auf die Passage vorbereiteten, hatten sich gesetzt und widmeten sich ihren Shishas und Gebetsteppichen.

„Heimdall, meinen Dank, dass du mich über diesen Weg geleitet hast! Auch wenn es nicht der Bifröst ist“, murmelte Wulfiard und holte tief Luft. Dann hob er den Blick und suchte am westlichen Horizont die von Sagen umwobene Insel beider Liebenden. Da war sie, ein winziger Punkt im endlosen Meer. Und da war auch das einzige Schiff, das nach dem Gebot der Götter allein das Meer neben der steilen Landbrücke befahren durfte. An seinen halbmondförmigen Segeln war es deutlich zu erkennen, so wie es die Geschichten an Herden und Feuern berichtet hatten.

Kapitel 2

Du, meine Schöne, wirst mich heute satt machen. Wulfiard schlenderte zum Ende der Bazargasse, wo eine üppig gebaute Batoriana mit bronzefarbener Haut und Glutaugen hinter einem der Stände auf Kundschaft wartete. Sie erwiderte seinen Blick, der untere Teil ihres Schleiers löste sich wie zufällig und zeigte ihr herzförmiges Gesicht, das von einer schwarzen Lockenpracht umrahmt war. Von ihr werde ich heute mein Mahl bekommen - und einen besonders süßen Nachtisch dazu. Wenn der alte Fettsack ihr Gatte ist, habe ich leichtes Spiel. Hinterher verdiene ich vielleicht noch den einen oder anderen Rachni für ein Nachtlager, dachte er. Und wenn nicht, dann werde ich eben im Schein des Tengrissohns schlafen. Es ist warm, es wird wieder einmal nicht regnen. Wulfiard vermisste den Regen, den weichen Landregen seiner Heimat.

Die Händler auf dem Bazar von Fayum, farbenfroh aber nicht besonders reinlich gekleidete Männer, beobachteten ihn voller Misstrauen, während er neben den andern Leuten aus aller Herren Länder vorbei ging. In der Sommerhitze tummelten sich Söldner, Händler und Abenteurer - Männer, Weiber und Bachabazis zweifelhafter Herkunft zwischen den Ständen und Auslagen. Aber Wulfiard war der einzige der hochgewachsenen Nordmänner, die meist ihre Waffenkraft in einem der Kleinkriege der Emire oder Khane anboten, der ohne Kettenhemd oder ledernen Harnisch daherkam. Also musste er in den Augen der Händler ein Dieb oder Falschmünzer sein, oder gar einer der Ssadesti, die immer offener Raub und Mord im Nordwesten Bual-Bators verbreiteten. Wulfiard hatte gehört, dass manch einer ihr Tun als Freiheitskampf pries, dass sie ihr Raubgut unter den Armen verteilten. Gesehen hatte er noch keinen, aber an ihren Natterzähnen sollten sie leicht zu erkennen sein.

Dennoch waren die Handwerker und Kaufleute unschlüssig, ob sie ihn von ihren Ständen fortjagen sollten. Er wusste, dass er ihnen mit den wildledernen Hosen und Stiefeln, dem Hemd aus grobem Leinen, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und der schwarzen Weste aus ungewöhnlich steifem Stoff, barbarisch vorkommen musste. Aus der Ledertasche, die er über der Schulter trug, ragten Pergamentrollen und die Spitzen von Gänsekielen hervor. Trotz dieser Zeichen von Gelehrsamkeit, und obwohl er weniger muskulös war als die Söldner aus dem Norden, konnte auch er nur aus den Greiflanden stammen. Seine Haut war heller als die der Scimmier um ihn herum, und er überragte die Bualis und Batorianer mindestens um eine Handbreit. Und dass aus seinen verträumten Zügen trotz der Armut weder Unterwürfigkeit noch Verzweiflung sprach, unterschied ihn von den wimmernden Bettlern der städtischen Zunft.

Während ihn die intensiven Düfte und die Fülle der Farben des Bazars von Fayum, einer Kleistadt nördlich des Khoramgebirges, umgaben, sah Wulfiard immer wieder zu der üppigen Schönheit am Ende der Gasse hinüber. Was den Lärm betraf, musste sich der Markt hinter dem größerer Städte wie Nauris und Chasar nicht verstecken, soviel Mühe gaben sich die Händler beim Anpreisen ihrer Waren. Zum ersten Mal seit dem Tod Cid Cadafs, kurz nachdem Wulfiard den Unsteten Pfad vor siebzehn Monaten bewältigt hatte, herrschte so etwas wie Frieden im Zentrum Scimmiens. Die weitverzweigte Familie der Shahim hatte nach langen und blutigen Wirren die Khanate unter sich aufgeteilt und neu geordnet. Anders noch als vor wenigen Monden eilten Männer und Frauen in bunten Kaftanen und Dschellabahs geschäftig hin und her. Riesige Turbane, manche mit einer goldenen Brosche besetzt, wippten über hakennasigen Gesichtern mit dunklen Augen. Die Frauen waren meist verschleiert, aber ihre Schönheit dennoch unverkennbar, sodass die Fremden aus allen Teilen Greiflands die Blicke nicht von ihnen lassen konnten.

„Verschwinde!“ Wulfiard gab dem halbnackten Sumpfzwerg aus dem Taufi, der sich hinter ein paar hochgewachsenen, in Leder und Metall gekleideten Weißmarkern an ihn herangeschlichen hatte, einen Stoß. Der dreckige Kerl schloss sich einer der Scharen von schmutzigen Kindern, die zwischen den Ständen hin und her rannten und versuchten, süßes Obst oder Backwerk zu stehlen. Kamele, schwer beladen mit Stoffballen, schritten mit scheinbarer Arroganz vorüber. Das Gewirr der Stimmen war unfassbar, am lautesten aber riefen die Händler hinter den bunten Ständen.

„Emaille aus Runland, Bronze aus dem Tengriswall, alles was das Herz begehrt!“

„Seht her, Leute, Stoffe, so fein wie am Hofe des Ilkhans von Gidda! Seht euch diese Seide an, das Farbenspiel im Licht!“

„Gewürze aus aller Herren Länder, Essenzen und Rosenwasser!“

„Ja, tretet näher, edle Dame, ihr seid von Stand, das sehe ich, ihr wisst gute Qualität zu erkennen!“

„Dieses Lamm wurde heute geschlachtet, guter Mann, das schwöre ich beim Alten Tengris!“

„Amulette, Herr!“, wurde Wulfiard von einem der schwarzhaarigen Batorier angesprochen. „Die Locke einer rothaarigen Soma. So selten, dass sie einfach Glück bringen muss. Oder eine getrocknete Dattel, die einst von Tengris Teller gefallen ist. Nie wieder werdet Ihr Hunger leiden!“

Wulfiard lächelte den Händler an, schüttelte aber den Kopf.

„Ich verkaufe Gedichte und Geschichten. Steht Euch der Wunsch nach Kurzweil?“

Der Amuletthändler winkte ab. „Nichts für ungut, Fremder, aber das ist das Letzte, was ich brauche.“

Wulfiard hatte bereits den ganzen Tag über versucht, seine Kunst an den Mann zu bringen. Immer, wenn er abgewiesen wurde, hatte er ein paar freundliche Worte übrig. „Natürlich, Ihr habt ehrliche Arbeit im Sinn. Aber sagt, edler Herr, wer ist das dort am letzten Stand dieser Gasse?“

Der Amuletthändler schaute über die Schulter. „Das ist Aguilar ibn Golg. Er und sein Weib Medeme verkaufen Shishar, vergorene Stutenmilch und jede andere bekannte Droge.“ Der Gesichtsausdruck des Händlers wurde verächtlich. „Ihn kümmert es nicht einmal, an wen er seine verfluchte Ware verkauft. Heute Morgen waren es kaum vierzehn Jahre alte Mädchen, die sich wohl als Houris verdingen – vielleicht sogar bei diesen Ssadesti im Verschwundenen Tal.“

„Habt Dank!“ Dem Amuletthändler musste er so fremd vorkommen, wie ein Spindelkatapult einem Sumpfzwerg. Mit einem Blick über die Schulter erkannte er, dass die schöne Medeme ihn mit bebenden Nasenflügeln beobachtete. Sie wartet darauf, dass ich zu ihrem Stand komme, ahnte Wulfiard, denn er hatte die Batorianerinnen bereits kennengelernt. Der beleibte Mann in dem seidenen Kaften neben ihr drehte sich zu ihr um, und sie senkte den Blick und ordnete die Ware.

„Sieh dir diesen halb verhungerten Bettler an, Medeme! Zu stolz das Haupt zu beugen, aber im Bauch nichts als Hunger“, hörte Wulfiard, denn er er war keine fünf Schritt mehr entfernt. Der fette Händler wischte sich den Schweiß aus dem glänzenden Gesicht.

„Aguilar ist stolz auf sein junges Weib“, flüsterte der Amuletthändler, der Wulfiards Blick gefolgt war, „ist sie doch der lebende Beweis für seine Tüchtigkeit. Sie ist die Tochter eines Nachbarn, den er mit einem hinterhältigen Kontrakt in den Ruin getrieben hat.“ Er legte einen Finger an den Nasenflügel und rotzte auf den Boden. „Nur dadurch, dass er ihm seine Tochter gab, das schönste Mädchen des Dorfs, hat er sein Geschäft retten können. Aguilar ist reich und imstande, ihr alles zu bieten, was sie begehrt.“

Dass sie sich nichts weniger wünschte, als einen alten, fetten Mann mit schlechtem Atem, und ihn mit Leichtigkeit um den Finger wickelte, war für Wulfiard nicht schwer zu erraten. Sie beobachtete ihn eingehender, als es einem tugendhaften Weib zugestanden hätte. Wulfiard rückte die Ledertasche über der Schulter zurecht, damit sie das Pergament und die Federn sah und ihn als Haimamud erkannte, als Geschichtenerzähler, wie man hier sagte, und ihn nicht für einen Bettler hielt.

Sie lächelte über die anderen Stände hinweg und sah ihm in die Augen, deren Blau so strahlend war wie der Himmel, wenn der seltene Regen die Luft vom Staub befreit hatte. Vielleicht erfüllte sie sich in Gedanken gerade Wünsche, die ihren Gatten in entrüstetes Staunen versetzen würden. Wulfiard ging weiter zu dem Kupferschmied, der den Laden neben dem Stand Aguilar ibn Golgs betrieb. Er würde diesem Pfeffersack Aguilar wohl anbieten müssen, für ihn zu arbeiten. Wohlgemerkt: nur anbieten!

Der Kupferschmied in der brandfleckigen Dschellabah folgte seinem Blick. „Ja, frag den dicken Aguilar. Er hat erst vor wenigen Wochen die schöne Medeme geheiratet. Vielleicht steht ihm der Sinn nach Poesie und Gedichten, ich kann mit dergleichen nichts anfangen. Aber wahrscheinlich wirst du auch bei ihm Pech haben, denn für ihn zählt nur bare Münze. Und die kann der Hundesohn sich mit Rauschmitteln verdienen, weil er die Büttel bestochen hat.“

Aguilar ibn Golg beäugte seine Frau mit einem misstrauischen Ausdruck, als Wulfiard an ihren Stand trat. „Tengris zum Gruße, edle Dame, reicher Herr!“ Er hielt sich lange genug in diesem Land auf, und so beherrschte er das Batorianische gut, wenn auch mit einem Akzent.

Während Medeme ihn verträumt ansah, wurde der Händler bei diesem Gruß plötzlich nervös, machte ein betroffenes Gesicht und sah sich nach allen Seiten um. Sein Blick blieb bei einer Gruppe von Männern hängen, die – bis auf einen Greifländer in Schwarz - in Burnusse, Kaftane und Pluderhosen aller Farben gekleidet waren. Ihre wilden Augen und grimmigen Gesichter versetzten nicht nur Aguilar in Schreckten, währends sie im Schatten der um den Bazar laufenden Arkaden standen und das Volk beobachteten. Wulfiard hielt sie für zwielichtiges Gesindel, wahrscheinlich Diebe und Räuber, und ihm wurde klar, warum der Markthändler nicht lauthals als „reich“ bezeichnet werden wollte. Es waren Ssadesti, erkennbar an den Natterzähnen, die sie am Gürtel oder in der Schärpe trugen, drei der gebogenen Dolche hatten sogar einen silbernen Griff.

„Ich biete euch meine Dienste als Haimamud an. Ein Lied aus fernen Landen für ein Brot. Für eine Mahlzeit ein Gedicht auf die Schönheit Eurer Frau, verewigt auf Pergament“, sagte Wulfiard dennoch zu dem fettleibigen Markthändler.

Die Augen Medemes begannen zu glänzen, denn ein fahrender Dichter hatte die herrlichsten Geschichten zu erzählen. Und dass er sie edle Dame genannt hatte, wiewohl er doch viele bezaubernde Frauen auf seinen Reisen getroffen haben musste, verfehlte seine Wirkung nicht. Sie richtete ihr golddurchwirktes Kopftuch, und wie zufällig rutschten ein paar Strähnen des dicken, schwarzglänzenden Haares hervor. Die mit Kajal verzierten Augen waren geeignet, die Lebenssäfte eines Mannes zum kochen zu bringen. Sie reckte sich und verschaffte den üppigen Rundungen unter dem hochgeschlossenen Kleid Geltung. Die Blicke des Wulfiards ruhten für einen Moment auf den prachtvollen Brüsten, die sich unter der Seide abzeichneten.

„Nein!“, sagte Aguilar, der solch zweifelhafter Kunst wie Geschichten und Poesie keinen Wert beizumessen schien.

„Aber, Aguilar, du gütiger und großzügiger Ehemann, willst du mir diesen Wunsch nicht erfüllen?“ Wulfiard war sehr zufrieden, dass die Schöne ein gutes Wort für ihn einlegte. Das war schon der halbe Weg zum Ziel, wie er aus Erfahrung wusste.

„Der Nichtsnutz soll verschwinden, bei seinen rauen Göttern! Sein Magen knurrt so laut, dass er die anderen Kunden vertreibt. Kunden mit Geld, die nicht kommen, um zu betteln.“

„Welche Kunden, liebster Aguilar?“ Medeme griff nach seiner Hand und streichelte sie. „Es ist kaum noch jemand auf den Strassen, mein Gatte, denn bald schlägt die Mittagsstunde und wir bauen ab“, sagte sie, wobei sie Wulfiard Blicke zuwarf, die ihn hoffen ließen.

„Das liegt an diesen verfluchten Ssadesti“, flüsterte der dicke Händler. „Das Volk, das sich jetzt noch vor die Türe wagt, ist solch Gesindel wie dieser da!“

Der Pfeffersack lässt sich nicht erweichen, erkannte Wulfiard. Aber wenn ich lange genug in der Nähe bleibe, ergibt sich bestimmt eine Gelegenheit. Außerdem könnte ich wirklich eine anständige Mahlzeit vertragen. Lass dir etwas einfallen, Geschichtenerzähler! „Ihr habt Recht, edler Herr und Meister des Handels. Was scheren euch Reim und Sang? Heute Abend werdet ihr in den Armen eurer jungen Frau liegen. Der Genuss, den sie euch bereiten wird, ist meiner belanglosen Kunst natürlich vorzuziehen. Handfeste Arbeit biete ich Euch also, den Stand will ich abbauen und die Waren auf den Wagen laden, während Ihr Euch im Schatten vom harten Geschäft erholt. Und nicht mehr verlange ich dafür, als etwas zu essen, ein halbes Brot oder ein Schälchen Reis. Ihr aber trinkt ein kaltes Minzwasser, schließt die Augen oder wagt euer Glück beim Spiel! Das Glück ist mit dem Tüchtigen, und dass ihr tüchtig seid, das sieht man sofort.“ Solche blumigen Ansprachen kamen Wulfiard nach über einem Jahre in den Ländern Scimmiens leicht von den Lippen. Wenn Vater oder die Brüder mich so hätten reden hören, sie hätten mich zu einem Goden gebracht, um mir ein Loch in den Kopf bohren zu lassen, damit die bösen Geister entweichen können! Ohne Wehmut dachte er an seine Sippe zurück. Ohne Wehmut? Nein, der Gedanke an die alte Mutter und die kleinste der Schwestern verursachte ein ärgerliches Brennen in der Brust.

Der dicke Händler schaute zum Himmel, schaute seine Frau und dannn den freundlich lächelnden Wulfiard an. Tatsächlich war es ein überaus heißer und trockener Tag gewesen, und er war auf den Beinen, seit die Tengristochter aufgegangen war. Die meisten Leute, die den Bazar soeben noch zu einem quirligen Platz gemacht hatten, waren in die Schatten der Tavernen und Schlaftempel geflüchtet. Nur noch ein paar schmutzige Kinder zeigten Interesse für die Stände und Waren. Dazu hatte ibn Golg noch den Heimweg auf dem schaukelnden Ochsenkarren vor sich! Noch einmal musterte er Wulfiard aus zusammengekniffenen Äuglein und versuchte gar nicht erst, sein Misstrauen zu verbergen. „Und sobald ich weg bin, raubst du mir Wagen und Ware.“

Wulfiard machte ein einfältiges Gesicht. Auf seinen Reisen hatte er festgestellt, dass den Simpeln und Dummen nichts Böses zugetraut wurde. Dabei hatte er zuhause – nein, das ist nicht mehr mein Zuhause - die Erfahrung gemacht, dass die Dummen lediglich die Schlechtigkeit ihres Tuns nicht erkannten. „Euer tugendhaftes Weib mag nur laut rufen, falls ich dergleichen tue. Es sind genug anderer ehrbare Kaufleute da, die ihr beistehen und Euch Bescheid geben werden. Lasst mich die Arbeit machen, für eine Mahlzeit, Herr!“ Während er vom Essen redete, wurde der Hunger Wulfiards immer bohrender, und auch der Durst.

Aguilar ibn Golg dachte darüber nach, konnte aber nichts finden, was sein Misstrauen rechtfertigte. “Medeme, sieh nach, was wir auf dem Wagen zu essen haben. Gib dem Halunken kein Rauschgras, das ist viel zu gut für ihn, und erst recht keine vergorene Milch.“ Er wandte sich an Wulfiard. „Sag uns noch, wie du über den Unsteten Pfad gekommen bist.“

Wulfiard hatte sich auf seiner Wanderung bereits daran gewöhnt, dass jedem Fremden, der vom nördlichen Kontinent kam, diese Frage gestellt wurde. „Hinter mir stürzten Schmuggler ins Meer, aber für mich war der Pfad breit und sicher.“

Wie alle, die ihm diese Frage gestellt hatten, nahm auch Aguilar ibn Golg die Antwort als Zeichen dafür, dass er nichts Übles im Schilde führte, und fasste einen Entschlus. „Ich habe noch etwas in der Teestube zu besprechen. Zur Mittagsstunde baust du den Stand ab. Hör zu, Fremder, wenn du nach zwei Stunden den Karren nicht beladen hast, gibt es nichts zu essen! Verstanden, Medeme?“

Medeme, ganz gehorsames Weib, senkte den Kopf und sagte mit dem richtigen Maß Unterwürfigkeit: „Ja, Herr, ich werde deine Rückkehr herbeisehnen.“

Der Pfeffersack meinte wohl, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, dachte Wulfiard. Hat sich zwei Stunden schweißtreibender Arbeit unter der heißen Tengristochter erspart, so dass er am Abend noch genügend Kraft für sein Weib haben wird. Wulfiards Mundwinkel umspielte ein wissendes Lächeln, als der dicke Händler ihm den Rücken zukehrte und mit würdevollen Schritten zur Teestube ging, die sich zwei Gassen weiter befand.

Der Kupferschmied zur Linken und die Händler gegenüber sprachen selbst darüber, ihre Stände abzubrechen. Dass der dicke Aguilar einen armen Tropf bezahlte, in der Hitze für ihn zu schuften, war ihnen wohl nicht neu. Medeme hatte sich züchtig in den Wagen zurückgezogen. Doch zwischen den roten Stoffbahnen, die vor dem Einstieg hingen und in einem Bogen über die Ladefläche gespannt waren, warf sie ihm einen wollüstigen Blick zu. „Wie heißt du, Helfer meines Mannes?“

„Mein Name ist Wulfiard von Gandra. Das ist weit im Norden der Greiflande, in Runland. Und ich muss zugeben, dass ich sehr hungrig bin. Ich würde gerne etwas essen, bevor ich mit meiner, ähm, Arbeit beginne.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare.

Medeme gefiel offenbar dieses Spiel, und sie wollte es noch ein wenig hinauszögern, bis es ernst wurde. „Haben die Frauen im Norden auch solch goldenes Haar wie du, Wulfiard? Da werden dir die Frauen unseres Landes bestimmt nicht gefallen.“ Sie verschwand hinter den Wollbahnen des Karrens.

Aber nicht doch, schöne Medeme, dachte Wulfiard und wollte ihr in den Wagen folgen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er zuckte zusammen, drehte sich um und war verwundert, dass niemand zu sehen war. Erst als er nach unten schaute, entdeckte er einen schmächtigen Mann, der den roten Burnus und das Wappen der Stadtwache an seinem blauen Turban trug. Eine spitze Nase, vorstehende Zähne und ein dünner, zu den Seiten abstehender Schnurrbart zierten sein Gesicht. Dazu sprach er mit einer hohen, pfeifenden Stimme. „Wie ist dein Namen und was machst du in dieser Stadt, Fremder?“

Wulfiard musste sich ein Grinsen verkneifen, denn jetzt legte das Männlein ihm eine Hand auf den Arm, als könne er ihn mit seinen schwächlichen Kräften festhalten. Aber er hütete sich zu lachen, denn er ahnte, dass der kleingewachsene Scimmier auf Schmähungen übel reagieren würde.

„Raus damit, sonst lasse ich dich aus der Stadt werfen. Du sprichst mit Mussad Baba, dem Kommandanten der hochlobzu­preisenden Stadtwache von Fayum!“

„Mein Name ist Wulfiard von Gandra. Ich bin hier, um die Schönheit des Landes zu besingen und Gedichte über den Mut seiner Männer zu schreiben.“

Der Blick des Kommandanten blieb misstrauisch.

„Soeben arbeite ich für den Händler Aguilar, um mir eine Mahlzeit zu verdienen.“

„Ein hungerleidender Haimamud aus dem Norden also! Ich werde dich im Auge behalten, merke dir das! Wenn du vorhast, dich unbeliebt zu machen, wird dir das Ärger einbringen!“

In diesem Moment schob Medeme die Wagenplane beiseite. „Ich habe Hirse gekocht, Fremder, und einen Rest Lammfleisch hineingeschnitten. Komm und iss, bevor es kalt wird.“

Der Blick Mussad Babas wechselte von Wulfiard zu der Markthändlerin. „Geh nur und iss deine Hirse, Fremder aus Gandra. Aber lass es dabei bleiben, wir haben hier ein Auge auf unsere Frauen!“

Endlich konnte sich Wulfiard Medeme und seinem Essen widmen.

Dann wollen wir doch mal sehen. Sein Magen knurrte vernehmlich, denn er hatte seit drei Tagen kein warmes Essen mehr gehabt. Den Reizen der schwarzhaarigen Medeme würde er sich erst mit vollem Bauch zuwenden. Er stieg die zwei Tritte hoch in den Wagen, der unter der Stoffplane reichlich Platz für zwei sitzende Leute bot. Medeme hatte einen bunten Webteppich ausgebreitet und einen dampfenden Topf und einen Teller aus Steingut darauf gestellt. Sie selbst saß im Schneidersitz am Ende des Teppichs und hatte den Schleier abgelegt, sodass das schwarze Haar ihr Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen umfloss. Wulfiard wunderte sich wieder einmal, wie schön die Frauen dieses Landes in ihrer Jugend waren und wie schnell ihre Schönheit in der Hitze verdorrte. Aber diese Blume würde er vorher pflücken!

„Erzähl mir eine Geschichte von deinen Reisen, Haimamud!“

Wulfiard setzte sich, griff mit bloßen Händen, wie es hier Sitte war, in den Topf, formte aus der dick eingekochten Hirse und dem geschnetzelten Lamm ein Bällchen und schob es sich in den Mund. Der Reis war gewürzt mit Safran und Kräutern und schmeckte köstlich. Eine Weile kaute er stumm vor sich hin, bis der schlimmste Hunger gestillt war. Medeme betrachtete ihn dabei, und immer wieder blieb ihr Blick auf seinem goldblonden Haar hängen. „Welcher glückliche Ort darf sich deine Heimat nennen, schöne Medeme?“, fragte er schmatzend.

„Mein Mann hat sein Kontor in Barisch, das sind zwei Stunden Fahrt mit dem Ochsenkarren nach Osten.“

Wulfiard hatte diesen kleinen Flecken, in dem es nicht einmal ein Gasthaus gab, vor ein paar Tagen durchquert. Er erinnerte sich, dass er danach durch ein überraschend kühles Wäldchen aus Zedern und hier seltenen Weiden gekommen war. „Jetzt weiß ich auch endlich, woher ich dich kenne“, sagte er.

„Ich glaube nicht, dass wir einander je begegnet sind.“ Me­deme sah ihn verwundert an.

„Du hast Recht, aber ich habe von dir erzählen hören.“

„Wer hat von mir gesprochen, und was?“ Medemes Neugier war geweckt.

Das war die Gelegenheit, seine Kunst spielen zu lassen. Gleich war sie gefügig wie eine Houri aus Markisch. „Ich war vor einigen Tagen östlich von Fayum unterwegs und durchquerte ein verwunschenes, dichtes Wäldchen. Traurige Weiden hingen über klaren Tümpeln, in denen sich das Licht der abendlichen Sonne brach.“

„Dieses Wäldchen liegt nahe bei Barisch. Du musst ganz nah an meinem Heim vorbei gekommen sein“, flüsterte sie.

Er rückte ein Stück näher an sie heran und nahm ihre Hand. „Wäre ich nicht in Eile gewesen, ich hätte diesen gesegneten Ort aufgesucht“, sagte er und blickte ihr tief in die Augen.

Seine Worte wirkten, sie lechzte nach mehr, ihre Augen schimmerten. Jetzt würde sie alles glauben, was er ihr erzählte, und das gedachte er hemmungslos auszunutzen. „An diesem Abend in dem Zauberwäldchen überkam mich eine seltsame Müdigkeit. Ich legte mich unter eine der Weiden, nachdem ich mich entkleidet und in einem der Tümpel erfrischt hatte. Wie Tengris mich geschaffen hat, ruhte ich auf den weichen Mooskissen.“

Medeme errötete, aber sie schien sich dieses Bild nicht ungern vorzustellen.

„Ich schlief ein, bis ich von traurigem Gesang geweckt wurde. Ohne mich zu bewegen öffnete ich die Augen, und sah, wie eine wunderschöne Dryade dem Wasser entstieg, sich darin betrachtete und wieder und wieder seufzte. Mit sanfter Stimme sprach ich sie an und fragte, warum sie so traurig sei. Sie erschrak, aber sie erkannte mich als arglosen Jünger der Musen und begann zu erzählen von einer Prinzessin, die ihren Geliebten vor langer Zeit heimlich in dem kühlen Weidengrund getroffen hatte.“

Medeme verfolgte atemlos die Geschichte. Sie hatte eine Hand in den Schoß gelegt, die andere hatte das Kleid über ihren Brüsten geöffnet, wie um sich Luft zu verschaffen.

Wulfiard streichelte die wohlgeformte Pracht mit Blicken. „Eine große, unschuldige Liebe sei es gewesen, die von den Geistern der Weiden gut geheißen worden sei. Aber eines Tages ermordete ein Räuber den Geliebten hinterrücks. Als sie den ausgeraubten Leichnam fand, wählte die Prinzessin das Jenseits, in dem sie ihren Geliebten wiederzusehen hoffte. Die Bäume haben geweint, als die beiden Liebenden im Tode vereint dalagen, und aus den Tränen entstanden die klaren Wasser unter den Weiden. Die guten Geister des Waldes erlaubten der Prinzessin und ihrem Geliebten, als Dryaden ewig dort zu leben und zu lieben.“

Medeme war bei dieser Geschichte dahingeschmolzen, eine Hand hatte sie unter dem Kleid auf ihr Herz gelegt. „Wie schön …“

Wulfiard rutschte im rötlichen Licht, das durch die Wagenplane sickerte, zu ihr hinüber und streichelte ihre bebenden Schultern. „Ich fragte die Dryade, ob ich sie wiedersehen dürfe, aber dass musste sie mir verweigern. Wenn ich ihre Schönheit nicht wieder schauen könne, so sagte ich, müsse ich sterben. Da empfahl mir die Dryade, ich solle nach Barisch gehen, denn dort lebe die tugendhafte Frau eines Händlers, die ebenso schön wie sie sei.“

Medeme war betroffen, dass eine Dryade, die einst eine Prinzessin gewesen war, ihre Schönheit kannte und rühmte. Sie stöhnte auf, als Wulfiards Hand unter ihr Kleid glitt und die weiche Haut und die festen Brüste zu liebkosen begann, und ließ sich auf dem Teppich in seinen Armen treiben.

So ist das Leben, dachte Wulfiard. Gerade noch hungrig und allein, jetzt satt und in den Armen eine willige Frau …

***

Als Aguilar ibn Golg zu seinem Stand und dem Ochsenkarren zurückkehrte, verdorrte der Shishar in der Sonne, die vergorene Stutenmilch in den Tonkrügen roch bereits übel, das Eis in der Dose mit den Normolcheiern war nur noch laues Wasser. War dieser Halunke aus dem Norden gegangen, ohne seine Arbeit zu machen? Und warum hatte dann dieses faule Weib nicht selbst die verderbliche Ware in den Schatten geschafft? Er stieg in den Wagen und was er vorfand, verschlug ihm die Sprache. Medeme lag entblößt da, auf ihren Brüsten glitzerte das Salz getrockneten Schweißes, eine Hand lag auf ihrer Scham und zuckte, während sie im Schlaf lächelte. Seltsam, dass ihn der Anblick erregte, hatte sie ihm doch ganz offensichtlich gerade Hörner aufgesetzt! Von dem blondhaarigen Nordmann war keine Spur zu finden, abgesehen von dem seligen Gesichtsausdruck seiner Frau.

Trotz – oder wegen – seiner Erregung stieg Wut in Aguilar hoch, Wut auf seine Frau, Wut auf den Fremden, der ihn so schamlos ausgenutzt hatte, und Wut auf seine eigene Vertrau­ensseeligkeit. Auf dem Unsteten Pfad musste der Runländer noch ohne Arg gewesen sein, aber die üblen Absichten konnte er sich ja auch danach zugelegt haben. Na warte, Fremder, den dicken Aguilar solltest du nicht unterschätzen, dachte er. Aus einer Ecke des Wagens kramte er einen Knüppel hervor, in dessen keulenförmigem Ende zahlreiche Eisendornen steckten. „Medeme!“, brüllte er.

Seine Frau schrak auf, raffte ihr Kleid vor den nackten Brüsten zusammen und senkte den Blick. „Liebster Aguilar, ich habe geträumt, von dir. Du warst wie ein wilder Hengst und im Fieber muss ich meine Sachen zerrissen haben.“

„Schweig! Hältst du mich für einen Trottel?“, schrie er und hob die Keule. „Das wird dieser Fremde mir büßen!“ Er drehte sich um, während Medeme zu jammern begann, und schüttelte ihre Hand ab und. Blind vor Zorn stieg er vom Wagen und sah daher nicht, wie der Kupferschmied und die noch verbliebenen Händler einander anstießen und grinsten.

„Wenn ich zurückkomme, hast du den Stand abgebaut. Sieh zu, was du von der Ware noch retten kannst! Einen Monat lang werde ich dich bei Wasser und Brot einsperren!“

Die Leute lachten laut auf, aber der dicke Händler hob die Keule und das Gelächter verstummte. Dann wandte er sich Richtung Stadttor, wo er den Fremden vermutete.

***

„Wirst du manchmal an mich denken?“, hatte Medeme noch gefragt, kurz bevor sie eingeschlafen war.

„Aber natürlich“, hatte Wulfiard wie schon so oft zuvor gelogen. „Wärst du nicht verheiratet, würde ich dich mit mir nehmen, das schwöre ich bei Tengris.“ Bei Wodan und Freya hätte er nie im Leben eine solche Lüge beeidet, denn er hatte nicht die Absicht, sich an dieses Verspechen zu halten. Vor allem nicht bei Freya, denn Medeme war eine allzu leichte Eroberung gewesen. Hätte er geahnt, dass er sie all zu bald und unter so seltsamen Umständen wiedersehen sollte, wäre ihm weniger leicht ums Herz gewesen.

Dann erhob er sich leise wie eine Katze, kleidete sich an, steckte den Kopf aus dem Wagen und sah sich um. Die anderen Händler hatten nichts bemerkt oder wollten nichts sehen. Kaum ein Käufer war in der Mittagshitze noch unterwegs. Drei von den Gestalten mit den Natterzähnen, die immer noch in der Nähe herumlungerten, fielen Wulfiard auf. Die Gruppe hatte sich geteilt: Fünf von ihnen sah er die Gasse hinunter Richtung Stadttor schlendern, die drei mit den wertvolleren Dolchen, die dageblieben waren, schauten die Passanten mit hochmütigen Gesichtern an und schienen auf etwas zu warten. Wulfiard stieg aus dem Wagen, während er sein Hemd zuknöpfte und die Weste überwarf. Nichts wie weg, bevor der fette Ehemann kommt, dachte er und schlug den Weg zum Stadttor ein.

Wieder eine Stadt, die er hinter sich ließ, mit Eindrücken, die er irgendwann in einer Geschichte verarbeiten würde. Wohin es nun ging? Das würde er an der nächsten Wegkreuzung entscheiden. Es war ihm nicht wichtig, wo er am nächsten Tag seine Kunst an den Mann oder die Frau brachte.

***

Der Haimamud aus Runland war schon seit einer halben Stunde fort, und der dicke Händler ibn Golg hatte gerade den Wagen mit vor Wut verzerrtem Gesicht verlassen, als Bewegung in die Männer mit den Natterzähnen kam. Sie verließen den Schatten und gingen zu Medemes Wagen hinüber. Der Kupferschmied und die wenigen Markthändler, die noch in der Nähe waren, sahen weg. Ihren Gesichtern war anzusehen, dass sie sich dafür schämten, aber es war manchmal besser, nicht zu wissen, was vor sich ging.

Zwei der Ssadesti kletterten die Stiege zur Ladefläche des Wagens hoch, einer zog dabei eine kleine Tonkruke aus seiner Schärpe. Der dritte Mann, der eine häßliche Narbe auf der Stirn trug, stellte sich mit dem Rücken zum Wagen auf und beobachtete, ob sich jemand für das interessierte, was hier vor sich ging. Ein niederer Geweihter des jungen Tengris in weißer Dschellabah, der dem Amuletthändler ein vergoldetes Abbild der Sonne abgekauft hatte, sah herüber. Als der Narbengesichtige die Klinge im Sonnenlicht blitzen ließ, sah er weg und ging seines Weges. Der Natterzahn verschwand wieder in der Schärpe des Ssadesti.

Aus dem Innern des Wagens war ein kurzer Aufschrei zu hören, der in dumpfes Stöhnen überging. Ein ersticktes Gurgeln folgte, kurz darauf herrschte Ruhe. Die Wagenplane wurde von einem der Männer beiseite geschlagen. Mit unsicheren Schritten kletterte Medeme herunter, wurde in Empfang genommen und unter den Armen gestützt. Eilig ausschreitend führten die Ssadesti die willenlose Frau mit den glasigen Augen vom Bazar. Eine Stadtwache, die in den Gassen patrouillierte, wechselte bei ihrem Anblick die Richtung und kehrte den Ssadesti und ihrer Beute den Rücken zu.

***

Wulfiard hatte das Stadttor erreicht und wurde von zwei Torwachen in schwarzledernen Brustpanzern aufgehalten. Der eine Mann war untersetzt und hatte ein glänzendrotes Furunkel auf der Nase, der andere war dürr und pockennarbig. Sie rückten ihre Schwertgehänge zurecht, musterten ihn von oben bis unten und stellten ihre Fragen.

„Was hast du in der Stadt getan?“

„Geschichten und Gedichte verkauft.“

„Wo willst du hin?“

„In die nächste Stadt.“

„Was willst du dort?“

„Geschichten und Gedichte verkaufen.“

„Und was noch?“

„Dumme Fragen der Stadtwache beantworten.“

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die Männder begriffen, was er da gesagt hatte. „Ein bisschen mehr Respekt vor der Obrigkeit täte einem Fremden wohl gut“, sagte der Pockennarbige und umfasste den Griff seines Krummschwertes.

Die beiden Batoris waren einen Kopf kleiner als Wulfiard, und er überlegte, ob er sie einfach zur Seite stoßen sollte. Warum musste er auch immer sein Maul so weit aufreißen? Schließlich wollte er doch die Stadt schleunigst verlassen, denn jeden Moment konnte der dicke Aguilar zurückkehren. Vielleicht hatte er ja doch genug Mumm, ihm zu folgen, um sich für die Schmach zu rächen. „Natürlich meine ich nicht die tapfere Stadtwache von Fayum“, sagte er, „sondern die Tölpel aus Shuyuk.“

Wulfiard hatte in den vergangenen Tagen den Gesprächen in den Wirtshäusern gelauscht und wusste, dass die Büttel der beiden kleinen Städte in einer Art Wettstreit miteinander lagen. Es ging darum, welche Stadtwache härter durchgriff und wer die meisten Halunken in die Erzminen im Tengriswall schickte. Die beiden Wachen grinsten, als er die Shuyuki schmähte. „Aber ihr seid viel tüchtiger und wisst sicher, was es mit den Männern auf sich hat, die ihre Dolche wie Abzeichen tragen?“Die Männer stießen ihre Scimitare zurück in die Scheiden, der mit dem Furunkel fühlte sich genügend geschmeichelt, um zu antworten. „Natürlich sind wir genauestens im Bilde. Diese Männer sind Anhänger von Ssadec Tabar. Ihr Lager ist angeblich in der Nähe von Shuyuk, und manch Armer oder Elender geht dorthin, denn dieser Räuberfürst verteilt gestohlenes Brot und Münzen an sie. Sollte uns einer dieser Ssadesti auffallen, bekommt er Ärger!“

Eher verkriecht ihr euch in ein tiefes Loch, dachte Wulfiard. Diese Ssadesti haben nicht ausgesehen, als seien sie von zwei Stadtwachen zu beeindrucken. Er hätte gerne mehr über diesen Räuberfürsten erfahren, vor allem über dessen Freigebigkeit, aber da tauchte der dicke Markthändler am Ende der Straße auf. Nicht weit hinter ihm folgten fünf Ssadesti, angeführt von dem großen Norländer, der schwarze Hosen und ein schwarzes Wams trug, auf dem silberne Mjöllnir um so mehr glänzte.

Ob der Pfeffersack sie wohl gedungen hat, um mir Ärger zu machen?, fragte sich Wulfiard. Die beiden Torwachen hatten Aguilar noch nicht bemerkt. „Habt Dank für diese Auskunft, aber nun muss ich mich auf den Weg machen. Tengris zum Gruße!“

Auf diesen frommen Wunsch hin gaben Furunkel und Pockennarbe den Weg frei, und Wulfiard marschierte durch das überbaute Stadttor auf das nicht weit entfernte Wegkreuz zu. Vor sich hatte er nichts als Staub und Felsen, der in der Sonne glühte. Hinter sich hörte er das Keuchen des Kaufmannes, der mit hoch erhobener Nagelkeule herbeieilte.

„Haltet … ihn, er … hat … gestohlen und hat …!“ Er schnaufte wie ein alter Eber, der zum letzten Mal auf seine Säue steigt. Schwer atmend starrte er die Wachen an. „Warum … habt … ihr den Mann nicht … aufgehalten?“, hörte Wulfiard ihn zetern.

„Es liegt nichts gegen ihn vor, warum sollten wir ihn nicht aus der Stadt heraus lassen?“

„Weil er mein Weib …“ Aguilar unterbrach sich. Warum sollte er zugeben, dass er zum Hahnrei gemacht worden war? „… und mich betrogen hat.“

„Naja, jetzt ist es zu spät für uns einzuschreiten.“ Wulfiard erkannte die Stimme von Furunkel. „Außerhalb der Stadt sind die Soldaten des Khans von Chasar zuständig.“

Wulfiard war im Schatten einer halb verfallenen Scheune stehen geblieben, um dem Disput zuzuhören.

Die Wut in Aguilars dickem Bauch war noch nicht gewichen. „Hört auf zu grinsen, ihr Söhne von Eseln und Kamelen!“, brüllte er.

Mit einem Grinsen in den Mundwinkeln wandte sich Wulfiard endgültig ab. „Tja, wohin diesmal?“, fragte er sich halblaut. Im Osten war ich schon, nach Süden will ich noch nicht, im Westen sind die Berge, bleibt der Norden, den ich vielleicht zu schnell durchquert habe. Da liegt auch Shuyuk mit dem Lager dieses Räuberkönigs. Vielleicht hat er Brot und Münzen auch für Gedichte und Geschichten übrig. Als Wulfiard das Wegekreuz erreichte, kümmerte ihn der dicke Händler ihn schon nicht mehr - aus den Augen aus dem Sinn! Das karge Land hatte sich mit Wärme vollgesogen und gab sie nun wieder ab. In der Hitze zu wandern, war überhaupt nicht nach Wulfiards Geschmack, und da sein Bauch voll und seine Lenden angenehm leer waren, wollte er sich einen Platz für ein Schläfchen suchen. Da kam ihm der halb verfallene Schober am Wegekreuz gerade recht. Der war zwar verschlossen, aber auf der Westseite hatte das Dach einen großen Überhang und bot ausreichend Schatten. Auf dem Boden lag zudem reichlich Stroh, das ein besseres Lager abgab, als Wulfiard es in den meisten Nächten seit seinem Fortgang von seiner Sippe gehabt hatte. Er wollte gerade seine Hirtentasche ablegen, als zu seiner Überraschung Aguilar ibn Golg mit rot angelaufenem Gesicht um die Ecke kam.

Verdammt, dachte Wulfiard, das war es wohl mit meinem Mittagsschlaf. Wie er es einst gelernt hatte, wandte er dem fetten Mann die linke Schulter zu, verlagerte das Gewicht auf sein rechtes Bein und machte sich bereit, den Angriff abzuwehren.

„Du hellhäutiges Schwein hast meine Frau gevögelt und mich entehrt!“, keuchte der Händler. Er hob die Nagelkeule über den Kopf und wollte gerade seine ganze Kraft in den Schlag legen, als Wulfiard einen schnellen Schritt auf ihn zu machte, nach oben griff, sein Handgelenk packte und seinen Arm blockiert.

Tatsächlich war Wulfiard nicht so übermächtig wie viele Männer aus dem Norden, was ein Grund war, dass er seiner Heimat seit so vielen Mondläufen fernblieb. Aber dem verweichlichten, fetten Händler das Handgelenk umzuknicken, war keine Mühe für ihn. Als die Keule auf den Boden fiel, trat Wulfiard sie weg und zog seinen Dolch. „Mach dich nicht unglücklich, Pfeffersack! Ich bin vermutlich nicht der erste, mit dem dein wollüstiges Weib dich betrügt, und ich werde ganz sicher nicht der erste sein, den du dafür erschlägst.“

Aguilar konnte kaum glauben, mit welcher Leichtigkeit der harmlose Haimamud ihn entwaffnet hatte. Und jetzt hielt der einen gefährlich langen Dolch an seinen Bauch. Er riss die Augen auf und presste die Lippen zusammen.

„Aber ich will dir ein Angebot machen, damit du dein Gesicht wahren kannst“, fuhr Wulfiard fort. „Ich werde jetzt die Beine in die Hand nehmen und weglaufen, sodass die Stadtwachen es sehen. Dann kannst du ihnen berichten, du habest mich verprügelt und zum Gehörnten gejagt.“

Aguilar glotzte immer noch, denn er verstand gar nichts.

„Ich kann dir mit dem Dolch auch deinen fetten Wanst verzieren, so dass deine Frau für den Rest deines Lebens über dich lachen wird. Also?“

Endlich begriff der Händler und nickte, murmelte sogar einen Dank und ließ die Schultern hängen. Er machte nicht einmal Anstalten, sich nach seiner Waffe zu bücken.

Wulfiard lief los, wandte sich am Wegekreuz nach Norden und wirbelte dabei den Straßenstaub auf. Die Stadtwache sollte schließlich denken, er habe es eilig, denn der dicke Händler tat ihm inzwischen leid. Mit dem Schauspiel würde er die Ehre des Händlers, dessen hitziges Weib er verführt hatte, wenigstens zum Teil wieder herstellen. Dieser Hang zum Mitgefühl war ein weiteres Mosaiksteinchen seiner eigenen Geschichte.

Er schaute nicht zurück und sah daher auch nicht, dass die fünf finsteren Ssadesti um die Ecke des Heuschobers bogen. Sie versperrten Aguilar, der - unsichtbar für die Torwachen von Fayum - mit dem Rücken zur Holzwand stand, den Weg. Auf ein stummes Zeichen des Anführers zogen sie ihre Natterzähne und stachen alle gleichzeitig auf den Händler ein. Gleich der erste Stich traf seine Kehle, sodass er nur noch ein Gurgeln von sich geben konnte. Schließlich sank er blutüberströmt zu Boden.

Kapitel 3

Moamin Doriah, Hauptmann der Garde von Chasar, gab dem Kundschafter, der ihm soeben Bericht erstattet hatte, eine Handvoll Maruch. Der Batorianer stammelte Worte des Dankes, als er die Silbermünzen entgegennahm, und sich bis zum Boden verbeugte. Dabei vermied er es, den Hauptmann der Garde von Halef ibn Shahim anzusehen. Der kleingewachsene, dunkelhaarige Spion war zwar abgebrüht genug, abtrünnige Dörfer oder feindselige Nomadenstämme auszuspionieren. Aber das Gesicht Moamin Doriahs flößte ihm Angst ein. Das Messer eines Sumpfzwergs hatte Doriahs rechte Gesichtshälfte zerstört, die Augenhöhle war nurmehr ein leerer Krater. Dennoch hatte Doriah die Raserei des Zwergs aus dem Taufi überlebt und ihn zum Gehörnten geschickt. Die linke Wange des Hauptmanns zeigte die Spuren eines Jagdunfalls, der sich gleich beim ersten Ausritt nach seiner Genesung zugetragen hatte. Ein Wildschwein, das er im Jagdrevier des Khans von Chasar gestellt hatte, hatte ihn von den Beinen geholt. Bevor Doriah wieder auf den Füßen stand, hatte der Keiler mit seinen Hauern durch das gerade verheilte Gesicht gepflügt. Tengris sei Dank war das verbleibende Auge unverletzt geblieben, und so hatte Doriah trotz der zerfetzten Wange aufstehen und den Keiler mit einem wuchtigen Stoß des Jagdspeers auf den Waldboden nageln können. Erst dann hatte er sich erlaubt, das Bewusstsein zu verlieren.