DSA 96: Hohenhag - Dietmar Preuß - E-Book

DSA 96: Hohenhag E-Book

Dietmar Preuß

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Beschreibung

Beolf und Sidra, zwei Halbwüchsige aus dem Norden Andergasts, lieben einander, obwohl sie vielleicht Halbgeschwister sind. Als Sklaven der Orks müssen sie fünf Jahre lang durch die Orklandsteppe ziehen. Allein unter Schwarzpelzen, kostet es sie beinahe übermenschliche Kräfte, ihre Gefühle zu unterdrücken. Doch dann gelingt ihnen die Flucht, und sie schwören Rache. Es gelingt ihnen, blutige Ernte unter den Orks im Grenzland zu halten. Bis sie erfahren, dass einer das Geheimnis ihrer Herkunft klären könnte: der alte Orkschamane, dem sie jahrelang dienen mussten ...

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Biografie

Dietmar Preuß, Jahrgang 1969, veröffentlichte zum ersten Mal im Alter von 13 Jahren ein Gedicht in der örtlichen Tageszeitung für ein Honorar von unwahrscheinlichen DM 5,–. Als er nach Studium, Heirat und Umzug ins schöne Münsterland wieder Zeit zum Schreiben fand, gelangten die ersten Geschichten zur Einsendungsreife.

Er veröffentlichte seit 2003 zahlreiche Fantasy- und Science Fiction-Geschichten in einschlägigen Anthologien und Fanzines (Story­olympiade, Windgeflüster u.a.), außerdem den Kurzroman Die Hexe im Stein über den Rollenspieler Roland Junker.

Dietmar Preuß

Hohenhag

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11020EPUB

Titelbild: Karsten SchreursHohenhag-Karte: Florian StitzRedaktion & Lektorat: Catherine BeckBuchgestaltung: Tobias HamelmannUmschlaggestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Warenzeichen der Ulisses Spiele GmbH, Waldems.

Copyright © 2019 by Ulisses Spiele GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-89064-494-5E-Book-ISBN 978-3-86889-644-2

KAPITEL 1

Beolf schlich durch die feuchtkalte Dunkelheit, die im Boronsmonat früh über die Wälder des nördlichen Andergast kam. Der dreizehnjährige Junge achtete darauf, nicht auf trockenes Laub oder einen Zweig zu treten und hatte bald unentdeckt die steinerne Hütte mit der Esse erreicht. Er war viel zu früh für den Kontrollgang dran, denn er wollte unbedingt sehen, ob der Schmied dem Stahl wieder seinen besonderen Segen spendete. Es war ein Geheimnis, das der kleingewachsene, breitschultrige Mann mit den verbrannten Armen eifersüchtig hütete. Nur Beolf kannte es, und er wusste, dass Wielant das wusste. Offenbar rechnete der Mann es ihm hoch an, dass er das Geheimnis bewahrt hatte.

Stück für Stück schob sich Beolf an das glaslose Fenster der Schmiede heran. Die dicke Jacke aus dunkelbrauner Wolle, die er über dem Schnürhemd trug, schützte ihn vor dem kalten Wind und verbarg ihn ausgezeichnet in der Dunkelheit. Er hörte ein verräterisches Plätschern und grinste, während er beobachtete, wie der bärtige Schmied seinen Hosenbund zuschnürte. Rechts neben dem Schmied stand eine Fasshälfte, in der eine übel riechende Flüssigkeit schwappte. Zu Wielants Linken versprühte die Esse Funken, als er kräftig auf den Blasebalg trat, bis die Glut gelb und weiß war. Beolf sah, dass der Schmied mehrere Eisen im Feuer hatte, die in unterschiedlichen Graden glühten. Als ihm die Farbe des ersten Werkstücks richtig erschien, zog er es mit einer heftigen Bewegung aus der Glut und stieß es in das Fass. Üble Dämpfe quollen empor, und Beolf konnte nur mit Mühe ein Husten unterdrücken.

»Nichts macht die Klingen so hart wie Pisse, mein Junge«, hatte Wielant ihm erklärt, als er ihn zum ersten Mal beobachtet hatte, wie er sein Geschäft in das Fass verrichtete. »Nicht einmal Blut! Seltsam, nicht?«

Beolf hatte damals mit großen Augen genickt.

»Wäre dir verbunden, wenn du das für dich behältst. Ist ein Geheimnis, das ein Schmied nur mit Trabine teilen sollte.« Von Ingerimm, den die meisten Handwerker Andergasts verehrten, hielt Wielant nichts. Selbst ein Gott kann sich nicht mit allen Gewerken auskennen, waren seine Worte gewesen. Da lobe er sich Trabine, die sich allein um die Schmiede und Müller kümmere. Auf Beolfs Frage, warum es neben den Schmieden ausgerechnet Müller seien und nicht Eisenbieger oder Scherenschleifer, hatte Wielant allerdings keine Antwort gewusst. Der Junge hatte Stillschweigen versprochen und sich daran gehalten, und seitdem waren sie so etwas wie Freunde geworden.

Heute Abend würde er mit Wielant Haubeiler den Hohen Hag kontrollieren. Wie alle Bewohner des Wehrhofes an den westlichen Ausläufern des Steineichenwaldes war der Schmied verpflichtet, neben seinem Handwerk auch Wehr- und Wachdienste zu erfüllen. Bei einem Überfall der Orks würde er mit dem Wehrsassen und seinen Leuten zu den Waffen greifen und den Schwarzpelzen zeigen, wo ihre Grenzen waren.

Mittlerweile hatte der Schmied eine Klinge nach der anderen trefflich erhitzt, wozu er die Farbe der Glut genau beobachtete, und in dem Fass mit dem speziellen Wasser abgekühlt.

»Du kannst ruhig hereinkommen, mein Junge«, sagte er, während er die lederne Schürze abnahm und einen wollenen Umhang überwarf. »Wenn die Schwarzpelze so laut beim Anschleichen wären wie du, dann hätten wir hier draußen weniger Mühe.«

Hohenhag lag östlich von Anderstein und dabei sogar noch einige Meilen weiter nördlich. Zusammen mit Hagdorn und Wallhof bildeten die drei Wehrhöfe die Vorposten der Freiherrschaft Waldsteyn und waren Bollwerke der Zivilisation gegen die immer frecher werdenden Schwarzpelze. Ihre Wehrsassen geboten über mehr Land als so mancher Ritter, wenn auch diese Gebiete weit jenseits der Hage im Orkland lagen und somit kaum etwas wert waren. Dennoch waren die Wehrsassen stolze Recken, die mit viel Umsicht und Mut ihre Posten hielten. Einer von ihnen war Waltram von Hohenhag, und einer seiner illegitimen Söhne war Beolf.

»Wir wollen uns beeilen, mein Junge«, sagte Wielant Haubeiler, der mittlerweile in der Werkstatt stand. »Vielleicht sind wir dann zurück, bevor der Inspekteur des Freiherrn kommt. Nimm dir eine Laterne!« Der Schmied wies auf den Türstock, an dem mehrere Lampen aus Blech und Glas hingen.

Jetzt fiel Beolf das Gespräch seines Vaters mit seiner Frau ein, das er in der großen Halle beim Abendessen belauscht hatte. Ein Gesandter des Lehnsherrn sollte heute eintreffen, um die Verteidigungsanlagen zu inspizieren. Er war zwar schon über die Zeit, aber ein halber Tag mehr oder weniger bei solch einer langen Reise war nicht so ungewöhnlich, dass man sich Sorgen machen musste.

Der Schmied verfiel in Schweigen und ging zum südlichen Heckenwall, der den Wehrhof umgab. Hier befand sich die einzige Öffnung in der von Dornengestrüpp durchsetzten Brombeerhecke, weil ein Angriff im Zweifelsfall aus nördlicher Richtung zu erwarten war.

»Einen guten Weg und sichere Heimkehr!«, wünschte einer der Knechte, der am Tor im Schein einer Fackel Wache schob. Wielant nickte ihm zu, Beolf machte ein wichtiges Gesicht und tat es ihm gleich. Einer der Hunde kam durch die Lücke in der Hecke gelaufen und schloss sich ihnen an. Er sah aus wie einer der vielen Olporter-Mischlinge, hatte aber nicht das typische schwarze Fell, sondern war hell- und dunkelbraun gescheckt. Beolf konnte sich nicht erinnern, das Tier schon einmal gesehen zu haben. Aber bei den vielen Hunden auf dem Hof wunderte ihn das nicht.

»Komm, Gescheckter, wir gehen vor die Hecke! Das wird aufregend«, rief er.

Der Hund wedelte mit dem Schwanz, ließ sich von Beolf im Nacken kraulen und hielt sich dicht an seiner Seite. Nebeneinander umrundeten sie den Hof, der etwa einhundert Schritt im Geviert maß, und näherten sich dem Hag, einer drei Mann hohen und vierzig Schritt tiefen Hecke, die ebenfalls aus Brombeerpflanzen und Dornengestrüpp bestand. Die schwarzen Beeren waren schon längst geerntet und gärten nun in riesigen Ballonflaschen zu Fruchtwein, der die langen Abende des bevorstehenden Winters verkürzen würde. Ein anderer Teil blubberte durch den gefährlich aussehenden Destillierapparat, den der Schmied gebaut und im Keller unter dem Vorratsschuppen aufgestellt hatte. Wielant hatte ihm einmal erklärt, wie man die alkoholische Maische des Fruchtweins brannte. Aber da er das scharfe Getränk nicht probieren durfte, hatte sich der Junge beleidigt gezeigt und nur mit halbem Ohr zugehört.

Beolf hielt sich dicht neben dem untersetzten Mann. Seite an Seite gingen sie eine halbe Meile nach Osten bis an die Stelle, an welcher der verwinkelte Pfad durch die Hecke ins Orkland führte. An diesem Abend durfte er zum ersten Mal an einer Patrouille auf der anderen Seite der Hecke teilnehmen. Und wenn er sich auch schon lange gewünscht hatte, auf diese Weise seinen Mut beweisen zu können, so war er doch froh, dass die Laternen einen hellen Schein um sie herum verbreiteten.

Sie fanden den Durchgang, Wielant ging zuerst hinein, Beolf folgte. Der Weg war gerade so breit, dass zwei Reiter nebeneinander hindurchpassten. Die Hecke war ordentlich beschnitten und ragte gerade wie eine Wand zu beiden Seiten empor. Der Schmied schwieg immer noch. Beolf wusste, dass er es vorzog, möglichst wenig zu sagen, um kein unnützes Wort zu verlieren. Meist sprach er erst eine ganze Weile, nachdem er seine Arbeit beendet hatte.

Vielleicht ging er in Gedanken sein Tagwerk noch einmal durch, vermutete Beolf. Aber wenn er dann sprach, war es stets sehr interessant, ihm zuzuhören.

Diesmal konnte er sich aber eine Frage nicht verkneifen, bevor der Schmied sein Schweigen selbst brach. »Warum führt der Weg nicht geradewegs durch die Hecke? Ist es nicht lästig, wenn unsere Kundschafter oder Kämpfer so viele Winkel und Knicke gehen müssen, bis sie die andere Seite erreicht haben?«

Tatsächlich waren sie bereits dreimal nach links und zweimal nach rechts abgebogen. Beolf hatte das Gefühl, dass sie immer tiefer in die Hecke gerieten, die in der Dunkelheit wie ein massiver Wall wirkte, dessen Krone nicht zu erkennen war.

»Denk doch mal nach. Junge!«, sagte der Schmied, der wohl ein wenig ärgerlich war, dass er sein Schweigen zu früh brechen musste.

Beolf dachte nach, dachte an die fingerlangen Stachelbündel, an die Schrunden und Stiche, die er sich beim Spielen in der Nähe des Hags geholt hatte. Aber was er nun von ihm hören wollte, fiel ihm nicht ein.

»Für wen wäre das denn noch lästig? Komm, ich weiß, dass du ein helles Köpfchen hast!« Wielant fuhr ihm mit der hornigen Hand durch die braunen Locken.

Da fiel es ihm ein. »Für einen Angreifer wäre es lästig!«, rief er. »Eine Reiterattacke würde stecken bleiben und könnte nicht in vollem Tempo durchbrechen!«

»Genau! Und an der inneren Pforte werden unsere Krieger leicht mit den Orken fertig, die jeweils nur zu zweien angreifen könnten. So können sie ihre Übermacht niemals ausspielen, sollten sie so dumm sein, uns überfallen zu wollen.«

Beolf war sehr zufrieden mit sich, dass er aus dem, was er über das Kriegshandwerk gelernt hatte, die richtigen Schlüsse gezogen hatte.

»Aber jetzt drehe deine Lampe herunter, wir haben die äußere Pforte gleich erreicht. Und in der Steppe kannst du ein noch so kleines Licht über mehrere Meilen hinweg sehen.«

Vor der Pforte begann das staubige Steppenland, so wusste Beolf. Es erstreckte sich zwischen dem südlichen und nördlichen Steineichenwald, die sich weit im Westen vereinigten. In diesem öden Landstrich zogen die Orks herum, trieben ihre Herden von Steppenrindern, Schafen und Ziegen vor sich her. Und wenn ihnen nichts Besseres einfiel, gingen sie in den Wäldern, die sich am Rand der Steppe erhoben, auf die Jagd. Wenn es sich ergab, überfielen sie einsame Gehöfte, Holzfällerhütten oder versteckte Ansiedlungen. Natürlich nur dann, wenn sie in der Überzahl waren oder meinten, schwächere Gegner vor sich zu haben. So hatte man es ihm jedenfalls beigebracht.

Hohenhag und die beiden anderen Wehrhöfe im Osten, Hagdorn und Wallhof, hatten in diesem Jahr Ruhe gehabt. Und die Orksippen, die sich in den Jahren davor dem Dornenhag genähert hatten, waren rechtzeitig ausgekundschaftet worden. Auf ihre Überfälle war man vorbereitet gewesen, sodass die Angreifer kläglich in den verwinkelten Durchgängen stecken geblieben und an den Abertausenden von langen Stacheln verblutet waren.

»Wer da?«, erklang es aus der Dunkelheit außerhalb des Lichtscheins ihrer Laternen.

»Wielant Haubeiler und Beolf, Sohn des Wehrsassen«, sagte der Schmied zu der unsichtbaren Person. Bereits den Kindern wurde eingeschärft, auf den Ruf einer Wache sofort den Namen zu sagen und stehen zu bleiben, damit in der Dunkelheit kein Unglück geschah. Die Wächter an den Durchgängen des Hags und an der Hecke um den Hof hatten Anweisung, andernfalls sofort die Alarmhörner zu blasen und ihre Waffen zu benutzen.

Für Beolf war es das erste Mal, dass er im Dunkeln von einem Wachposten angerufen wurde. Die Situation schien ihm gefährhch, zumindest gefährlicher als die verschiedenen Male, an denen die lärmende Kinderhorde die Innenposten des Hofes getestet hatte. Wenn der Posten jetzt, in der Dunkelheit, die Nerven verlor, schoss er womöglich auf sie, auch wenn sie sich zu erkennen gegeben hatten.

Obwohl Beolf meinte, den Ruf der Wache von rechts gehört zu haben, trat Gunthar Eichenfall, ein stattlicher Mann mit Kettenhemd und Lederhelm, von der linken Seite in den Lichtkreis von Wielants Lampe. In den Händen hielt er einen kurzen Reiterbogen, der zwischen den Dornen praktischer war als ein Langbogen. Die Sehne war gespannt, die Pfeilspitze zeigte zu Boden. Langsam, um das Bogenholz zu schonen, nahm er die Spannung weg und steckte den Pfeil in den Köcher auf seinem Rücken. Unbewusst legte er eine Hand auf das Signalhorn am Gürtel.

»Den Zwölfen zum Gruße, Gunthar!«, sagte der Schmied.

»Zum Gruße!«, erwiderte der Wehrmann. Wie die meisten Freien auf Hohenhag war er halb Bauer, halb Krieger. »Hallo,da bist du ja wieder.« Eichenfall tätschelte den Kopf des großen Hundes.

»Du begleitest Wielant heute auf seinem Gang?«, fragte der Wehrmann und sah Beolf an. Kein Wort von dürfen oder können, was die Patrouille als ein harmloses Abenteuer hätte erscheinen lassen. Mit ernstem Gesicht gab er auch dem Jungen die Hand. Beolf platzte beinahe vor Stolz, weil er plötzlich so ernst genommen wurde. Und das auch noch vom Vater Sidras, dem blonden Mädchen aus dem Rudel der vielen ehelichen und unehelichen Kinder, bei dessen Anblick sich immer ein seltsamer heißer Knoten in seinem Bauch bildete.

»Sag an, gibt es Neuigkeiten von draußen?« Wielant deutete mit einem Kopfnicken in die Finsternis, die die unendliche, von Praios verlassene Steppe verbarg. Waltram von Hohenhag, der Herr des Hofes, hatte verfügt, dass dem Wachposten bei jedem Kontrollgang vor dem Hag diese Frage zu stellen war. Niemand sollte in Gefahr geraten, nur weil er die neusten Berichte eines Kundschafters nicht kannte.

Aber Gunthar Eichenfall schüttelte den Kopf.

»Der letzte größere Trupp Orks waren die Tscharshai von letzter Woche. Sie haben wie immer ein paar Säcke Färberdisteln gegen Holzkohle eingetauscht. Tunhard Dobel ist gestern von einem Kundschaftsritt zurückgekehrt. Er hat drei Orks etwa zwanzig Meilen nördlich von uns beobachtet, die nach Süden auf uns zumarschiert sind. Einer von ihnen sei verletzt oder sehr alt gewesen, hat er gesagt, jedenfalls humpelte er und bewegte sich langsam. Als sie ihn bemerkten, haben sie sich zwischen die Hexenbirken zurückgezogen. Das war alles.«

»Danke, dann werden wir mal. Eine ruhige Nacht wünsche ich dir!«, sagte Wielant. Die Nachricht schien den Schmied nicht sonderlich zu beunruhigen.

»Und euch eine gute Heimkehr!«, sagte der Wehrmann.

»Wielant?«, fragte Beolf mit unsicherer Stimme. »Hm?« »Wie viele Meilen schafft ein Ork in einer Stunde?«

»Orks schaffen selbst voll ausgerüstet fünf Meilen in der Stunde, und das über Tage hinweg«, gab der Schmied zurück. Dass seine Mundwinkel zuckten, konnte der Junge nicht erkennen.

Beolf hatte beim Rechenunterricht immer gut aufgepasst. Er dachte einen Moment nach, dann lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Demnach konnten die Orks innerhalb von vier Stunden den Hag erreichen. Ausgerechnet jetzt befand er sich mit Wieland vor dem schützenden Heckenwall!

»Ich drehe jetzt meine Laterne herunter. Junge«, sagte dieser nun auch noch. »Wir wollen doch niemanden auf uns aufmerksam machen, oder?« Diesmal zuckte kein Grinsen um den Mund Wielants, das war jetzt bitterer Ernst. Er öffnete die kleine blecherne Tür an seiner Laterne und schraubte den Docht der Öllampe herunter, bis nur noch eine winzige Flamme zu erkennen war. Die Dunkelheit um sie herum wurde tiefer und bedrohlicher. Beolf meinte sogar, dass die Geräusche der Nacht, das Rascheln im Steppengras, das Flügelschlagen über dem Hag und die Winde, die aus den Weiten der Steppe zu ihnen wisperten, lauter wurden. Schauer über Schauer lief an seiner Wirbelsäule bis zum Steiß hinunter, und er spürte, wie sich kalter Schweiß bildete und sein graugrünes Schnürhemd durchnässte. Dann holte er tief Luft, schüttelte den Kopf und versuchte die bösen Ahnungen zu vertreiben. Er straffte die Schultern und malte sich aus, wie er später vor Sidra mit seinem Mut angeben konnte. Wenn sie denn jemals zurückkamen.

»Gut!«, sagte Wielant, der den Jungen im schwachen Schein der kleinen Flamme beobachtet hatte. »Dein Vater kann stolz auf dich sein.«

Noch während Beolf überlegte, wie er das wohl gemeint hatte, da seine Angst offensichtlich nicht zu übersehen gewesen war, stapfte der Schmied los nach Westen.

Sie hielten sich auf ihrem Marsch durch die Nacht immer einen Schritt vom Rand des Hags entfernt. So konnten sie die Orientierung nicht verlieren. Außerdem war es ja ihre Aufgabe zu kontrollieren, ob sich ein Angreifer an der Hecke zu schaffen gemacht hatte, ob Lücken entstanden waren oder Feuer seine Spuren hinterlassen hatte. Peraine sei Dank, dass die saftigen Ranken der Brombeere nur schwer zu entzünden waren!

Wielant Haubeiler und Beolf gingen Meile um Meile durch die Dunkelheit, bis der Sohn des Wehrsassen glaubte, dass diese unheimliche Wanderung niemals ihr Ende finden würde. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckten sie im Licht des Madamais weder Axtspuren noch Zeichen von Brand oder Fäulnis. Immer wieder hielten sie an. Wielant drehte den Docht seiner Lampe etwas höher und ließ den Lichtschein vom Fuß der Hecke bis zur Spitze gleiten. Aber nur ein paar Wildkatzen, Feldmäuse oder Insektenschwärme waren zu sehen.

Als Beolf trotz der Ausdauer, die er während der vielen Stunden auf dem Pferderücken und bei den endlosen Übungen mit Holzschwertern und Jagdbogen erworben hatte, müde wurde, blieb Wielant ein letztes Mal stehen.

»Das sollte für heute Abend reichen. Junge. Machen wir, dass wir in die große Halle zum gemeinsamen Abendessen kommen. Ich werde deinem Vater berichten, dass du dich tapfer ...«

Er verstummte und hielt die Nase in die Luft. »Sag mal, Beolf, fällt dir auch ein fauliger Geruch auf? Und wo ist der Hund? Er war doch gerade noch an unserer Seite.«

***

Die alte Heike beugte sich zu Sidra hinüber. Das Mädchen mit den grünen Augen verzog angewidert das Gesicht, als die Amme ihr die Schüssel mit dem Kräuteraufguss unter die Nase hielt.

»Mir egal, ob sich der Geruch von Labkraut- und Löwenzahnsud unterscheidet. Sind doch fürs Gleiche gut. Viel lieber wäre ich mit Beolf und dem Schmied auf Patrouille gegangen. Ich will was erleben und nicht dauernd an Kräutern schnüffeln!«, schimpfte das Mädchen.

Die grauhaarige Frau in dem langen braunen Wollkleid lächelte voller Nachsicht. Sidra war die beste Schülerin unter den Mädchen und Jungen, denen sie die guten und schlechten Wirkungen der vielen Wildkräuter erklärte. Die ungeduldige Meute hatte sich nah dem Feuer in der Mitte der Halle des Wehrsassen, einem hohen, spitzgiebligen Vierständerbau, versammelt. Zu den wenigen Jungen gehörte fast immer Ermenrich Wilkin, der mit seinen dreizehn Jahren zwar schon ein guter Fechter war, aber Löwenzahn nicht von Arnika unterscheiden konnte. Heike hegte den Verdacht, dass er nur wegen Sidra hier war, denn während des Unterrichts wich er nicht von ihrer Seite.

»Peraisumu hat in ihrer grenzenlosen Weisheit gegen beinahe jedes Übel ein Kraut geschaffen, merkt euch das«, sagte Heike zum Abschluss. »Man muss nur wissen, welches, und ob man es frisch, als Tee oder in Alkohol darreicht.« Die alte Amme betete eine besondere Form der Erdgöttin Sumu an, in die sich über die Zeiten Elemente der Peraine gemischt hatten. Statt eines Altars hatte sie ihr einen Heiligen Hain in den Wäldern westlich des Hofes errichtet.

An diesem Abend würde keiner der Halbwüchsigen noch etwas hinzulernen, denn sie wussten, dass noch heute ein Gesandter des Freiherrn eintreffen sollte. Ein solch seltenes Ereignis bot natürlich schon im Vorhinein reichlich Gesprächsstoff. Das Feuer wurde heute besonders gut gefüttert, damit der Mann vom Hofe nach seinem langen Ritt durch die feuchte Kälte eine wohlig warme Halle vorfand. Der Rauch der Flammen sammelte sich unter den Holzschindeln des Giebeldaches und zog dann durch das Rauchloch nach draußen.

»Und jetzt ab mit euch. Seht zu, wo ihr euch nützlich machen könnt«, entließ die grauhaarige Amme ihre Schüler.

Die meisten der Kinder, manche konnten gerade erst laufen, andere waren fast alt genug, ein Handwerk zu erlernen oder die ersten Wachaufgaben zu übernehmen, sprangen auf und liefen in alle Richtungen davon. Nur Sidra blieb sitzen. Sie war der Liebling des Wehrsassen, denn der hatte an ihren grünen Augen und den blonden Haaren einen Narren gefressen. Sie erinnerten ihn wohl an seine Frau Gotelind, als sie noch jung war. Dabei konnte er gar nicht mit Sicherheit sagen, ob Sidra seine leibliche Tochter war. Das wusste nur ihre Mutter. Und vielleicht die alte Heike, die die meisten Kinder von Hohenhag zur Welt gebracht hatte.

Jetzt sah die Amme die ebenfalls dreizehnjährige Sidra an, deren Blick durch die Flammen des Kaminfeuers in weite Fernen gerichtet schien. Heike schien Gedanken lesen zu können.

»Denkst du gerade an die entgangene Patrouille? Dein Vater hat dir doch versprochen, dass du nächstes Jahr mitgehen darfst.«

»Ach ...«, sagte das Mädchen und reckte ihre schlanken, aber überraschend kräftigen Glieder. Sie würde später einmal eine ausdauernde Fechterin und Ringkämpferin abgeben. Die Jungen in ihrem Alter würden sich hüten müssen, wenn sie ihre Spaße mit ihr treiben wollten. Wie alle Mädchen und halbwüchsigen Frauen war sie gekleidet wie die Jungen. Ihre dunkelblauen Beinkleider und das rote Hemd boten dennoch einen reizvollen Kontrast zu Augen und Haaren. Die Jungen würden sich auch aus anderen Gründen vor ihr hüten müssen, denn Sidra würde sie mit einem Augenaufschlag um den Finger wickeln.

»Ist es wegen dem Gesandten des Freiherrn? Oder wegen Beolf?«, fragte Heike. Sie hatte so viele Mädchen zu jungen Frauen werden sehen, dass sie ein untrügliches Gespür entwickelt hatte.

»Ach, der Gesandte ist sicher ein statticher Mann in prächtigen Kleidern und hat höfische Sitten. Beolf dagegen ist nur ein Junge«, sagte Sidra und ließ unvermutet ab von ihrer Schwärmerei. »Aber in ein paar Tagen ist der Gesandte wieder weg. Und Beolf ist bald ein Mann und wird dann immer noch hier sein.«

Die Amme zog eine Augenbraue in die Höhe über solch frühreife Erkenntnis. Die Kinder hier im Norden Andergasts mussten schneller erwachsen werden als in anderen Teilen des Königreichs, da war kaum Platz für eine Schwärmerei. Die vielen Geschichten, die in der Halle für die großen und kleinen Zuhörer erzählt wurden, boten zwar genug Stoff für Träumereien von stolzen Burgen, edlen Damen und wahren Helden. Die andergastsche Vernunft und Nüchternheit schien den Kindern aber schon in die Wiege gelegt worden zu sein.

Heike fiel in Schweigen und machte ein ernstes Gesicht, das Sidra so gar nicht von ihr gewohnt war. Endlich fasste die Amme einen Entschluss, der allem Anschein nach einen weiteren Traum des hübschen, blonden Mädchens zerstören würde. Die alte Frau, die dem Wehrhof zwei Generationen lang als Hebamme und Kräuterkundige gedient hatte, wusste wie die meisten, dass Beolf von Waltram von Hohenhag und einer jüngeren Magd abstammte. Aber Heike war sich nicht sicher, ob Waltram nicht auch der Vater von Sidra war. Gotelind von Hohenhag verkehrte damals zwar mit Gunthar Eichenfall in Rahjas Zelt. Solche Verhältnisse wurden auf den Wehrhöfen geduldet, denn es war notwendig, dass viele Nachkommen gezeugt wurden, um die Höfe zu bewirtschaften und zu verteidigen, und um das Blut jung zu halten. Wenn Sidra nun aber nicht aus der Vereinigung Gotelinds mit Gunthar stammte, sondern Waltram der Vater war, dann waren die beiden Kinder Halbgeschwister. Eine solche Liebe, falls sie sich aus der noch kindlichen Zuneigung entwickeln sollte, durfte natürlich nicht gefördert werden. Sie beugte sich zu dem Mädchen hinüber.

»Sidra, was ich dir jetzt sage, dient deinem Schutz und dem Schutz der Kinder, die du einmal bekommen wirst. Du bist vielleicht nicht die Tochter des Wehrmannes Eichenfall, mit dem deine Mutter ein rahjagefalliges Verhältnis hatte, als du gezeugt wurdest. Möglicherweise stammst du vom Wehrsassen ab.«

Die grünen Augen Sidras weiteten sich, aber dann nickte sie. Wie der Nachwuchs zustande kam, war einem dreizehnjährigen Mädchen auf einem Wehrhof nicht mehr unbekannt. Und was das für sie und Beolf bedeutete, hatte sie nach kurzem Nachdenken begriffen.

Vielleicht war sie ja doch nicht in den Jungen verliebt, und was sie ihr gerade offenbart hatte, traf sie weniger, als befürchtet, hoffte die Amme.

Heike seufzte und begann, die Utensilien ihrer kleinen Kräuterkunde zusammenzuräumen. Bis die beiden so weit waren, vergingen noch ein paar Jahre. Wer wusste schon, was bis dahin noch alles passierte.

Heute Abend jedenfalls würde der Gesandte wohl nicht mehr kommen – sicher hatte er sich für die Nacht eine andere Unterkunft gesucht, dachte die alte Amme. Da erklang das Signalhorn des Wächters an der Südpforte, und nicht nur Heike und die Kinder, sondern auch die Wehrmänner und ihre Frauen, die sich bereits an den Tischen versammelt hatten, zuckten zusammen und lauschten der Tonfolge.

Gotelind Hohenhag, die hochgewachsene Wehrsassin mit den edlen, etwas hochmütigen Zügen und Haaren, die bis zu den Kniekehlen fielen, kam aus ihrer Kammer, In ihrem bodenlangen, königsblauen Gewand, dessen Hexenfenster bis zu den Hüften reichten und einen Blick auf die Umrisse einer knabenhaften Brust unter einer feinen weißen Cotte erlaubten, stand sie aufmerksam lauschend da.

Praios sei Dank war es nicht der langgezogene Warnton, der alle Bewohner an die Waffen gerufen hätte. Vielmehr waren zwei kurz aufeinanderfolgende Stöße zu hören, die einen willkommenen Gast ankündigten. Das musste dann wohl doch der Gesandte des Freiherrn sein.

***

Beolf legte den Kopf in den Nacken, blähte die Nasenflügel und holte tief Luft. Während er sich umsah, tat er noch einen prüfenden Atemzug und nickte. »Das riecht schlimmer als das spezielle Wasser, in dem du die Klingen härtest«, flüsterte er.

Wielant verzog die Mundwinkel und gab dem Jungen einen kleinen Stoß.

»Aber wo kommt es her?«

Beolf drehte sein Gesicht in den Wind, der wie immer stetig aus Westen kam, und schnupperte. Dann drehte er sich um, machte einen Schritt auf den Hag zu und sog wieder die Luft ein. »Eindeutig von hier«, sagte er leise in der Finsternis.

Der Schmied trat neben ihn, drehte die Laterne ein wenig heller und bückte sich. Die Zweige der Hecke glänzten nass, was im Boronsmonat immerhin nichts Ungewöhnliches war.

Die Luft war feucht, immer wieder fiel an den Ausläufern des Steineichenwaldes ein feiner Nieselregen. Trotzdem hatte Wielant ein schlechtes Gefühl. Er machte ein paar Schritte auf und ab, bückte sich hier und da und hielt die Laterne an die dornigen Zweige der Hecke.

Plötzlich richtete er sich auf und hielt die Lampe in die Dunkelheit in ihrem Rücken. Beolfs Nackenhaare stellten sich auf und seine Kopfhaut kribbelte, denn auch er hatte am Rande des Lichtscheins eine Bewegung wahrgenommen. Beinahe hätte er aufgeschrien, als sich eine mannshohe Steppenhexe in den Schein der Laterne bewegte. Es war nur eine der kugeligen, grasähnlichen Pflanzen, die im Frühlingsregen auf nassem Boden Wurzeln schlugen und weiße Blütendolden bildeten, ansonsten aber wie abgestorben vor dem Wind über die Steppe rollten.

»Puh!«, machte Wielant und ließ den Schein der Lampe hin und her wandern. Dutzende Steppenhexen waren nun zu erkennen. »Da wäre mir doch fast mein altes Herz stehen geblieben.«

Beolf war unendlich erleichtert. Nicht nur, weil sich der vermeintliche Angreifer als harmlose Pflanze herausgestellt hatte, sondern auch, weil der so kräftige und selbstsichere Mann gerade zugegeben hatte, dass auch ihn für einen Moment Furcht befallen hatte.

»Lass uns nach Hause gehen!«, sagte Wielant Haubeiler.

Noch nie hatten diese Worte für Beolf so gut geklungen. Endlich drehten sie um und schlugen den Weg nach Osten ein, zurück zum verwinkelten Gang durch den Hag. Hinter ihnen, wo Unmengen von Steppenhexen den Weg nach Westen versperrten, erschienen drei schwarzpelzige Gesichter mit platten Nasen und Hauern, die im Licht des Madamais schimmerten. Einer der Orks bückte sich und sah dem großen, gescheckten Hund, der mit Beolf und Wielant den Hof verlassen hatte, in die sanften Augen.

***

Das Hornsignal war kaum verklungen, als Waltram von Hohenhag neben seine Frau trat. Er hatte eisengraues, kurz geschorenes Haar über ebenso eisengrauen Augen und eingefallene Wangen. Ein paar Lachfalten in den Augenwinkeln milderten den harten Eindruck. »Depold und Tunar, ihr geht unserem Gast bitte entgegen und geleitet ihn in die Halle.«

Zwei Wehrmänner standen auf, um dem sofort nachzukommen.

»Havel und Detter, ihr versorgt das Pferd des Gesandten!«

Die halbwüchsigen Jungen, die mit vierzehn und fünfzehn Jahren die ältesten der legitimen Söhne des Sassen waren, sprangen von ihrem Würfelspiel auf. In ihren ungewaschenen Gesichtern konnte man lesen, dass sie die Aufgabe als Auszeichnung empfanden. Wie die Wiesel rannten sie hinter den beiden Wehrmännern her.

Waltram Hohenhag hatte seine Stimme kaum erhoben, um die Befehle zu erteilen, und auch als er sich seiner Frau zuwandte, blieb sein Tonfall ruhig und bestimmt.

»Meine Liebste, würdest du veranlassen, dass ein Becher mit heißem Wein und stärkenden Kräutern bereitet wird?«

Noch bevor die hohe Frau den Befehl an eine der Mägde weitergeben konnte, verschwanden schon zwei von ihnen Richtung Rauchküche. »Wann wird das Essen fertig sein?« »In wenigen Minuten, Waltram, sorge dich nicht.« Der Wehrsasse sah seine Frau an, als verstünde er den Sinn ihrer Worte nicht. Während um sie herum hektische Betriebsamkeit ausbrach, Teller und Platten aufgetragen, das Feuer geschürt und Holzscheite nachgelegt wurden, standen Waltram und Gotelind Seite an Seite in der Mitte ihrer Halle und erwarteten ihren Gast.

Das Hornsignal hatte natürlich nicht nur in der großen Halle für Aufregung gesorgt. Noch bevor der Gesandte des Freiherrn anlangte, strömten die anderen Wehrmänner mit ihren Frauen, die Handwerker und Feldknechte, die dienstfreien Wachen und nicht zuletzt die etwa zwei Dutzend Kinder und Halbwüchsigen in die Halle und verteilten sich auf ihren Plätzen. Sidra und ihre Freundinnen hockten in den Schatten unter den niedrigen Dachschrägen und beobachten, was nun geschah.

Aber nicht nur sie, auch alle anderen hielten den Atem an, als die Tür aus starken Eichenbohlen aufschwang. Herein kam aber nicht der lang erwartete Gast. Es waren Wielant und Beolf. So etwas wie ein leises Stöhnen der Anspannung war hier und da zu hören, aber Waltram und seine Frau bewahrten Haltung.

»Wielant und Beolf, ich bin froh, dass ihr wohlbehalten zurückgekehrt seid. Ihr werdet mir später von eurem Gang berichten, denn jeden Moment kommt der Gesandte des Lehnsherrn. Begebt euch auf eure Plätze!«, sagte der Wehrsasse.

Der Schmied nickte und führte den sichtlich verwirrten Beolf mit einer Hand auf der schmalen Schulter zur Seite. Nachdem er ihm auf den Rücken geklopft und etwas ins Ohr geflüstert hatte, kam Beolf auf Zehenspitzen, um nicht die wieder entstandene erwartungsvolle Stille zu stören, zu Sidra hinüber.

Wortlos setzte er sich neben seine Freundin und grinste von einem Ohr bis zum anderen. Er hatte sich vorgenommen, so lange nichts zu erzählen, bis sie es nicht mehr aushielt und ihn auszufragen begann.

Leider wurde seine eigene Geduld auf die Probe gestellt, denn wie alle anderen starrte Sidra gebannt auf die Pforte, die nun wieder aufschwang.

Diesmal kam tatsächlich ein Fremder herein. Er trug einen verschmutzten grauen Umhang, den er sich fest um den Körper gewunden hatte. Der Kragen, den er vor dem Nieselregen hochgeschlagen hatte, ließ kaum etwas von seinem Gesicht erkennen. Als eine der Dienstfrauen vortrat und ihm aus dem Umhang half, zeigte er ein schmuckloses dunkelgrünes, wattiertes Wams, über dem er einen zerschrammten Lederpanzer trug. Seine Beine steckten in ebenso grünen Kleidern, nur die braunledernen Reitstiefel, die bis über die Knie reichten, machten einen teuren Eindruck.

Sidra entfuhr ein enttäuscht klingendes »Ach!«, und Beolf, dem die Missachtung seiner Person nicht gerade gefiel, sah sie an.

»Hast du erwartet, dass er sich für eine tagelange Reise zu Pferd in seine beste Tunika wirft?«

Sidra sah ihn wütend an, auch wenn es genau das war, was sie zu sehen erhofft hatte. Aber vielleicht verbarg sich die höfische Kleidung ja in den beiden Satteltaschen, die Depold und Tunar hinter dem Gast in die Halle trugen.

Der Gesandte nahm nun seinen leichten Reithelm ab, schüttelte das lange schwarze Haar und dankte der Magd für das Tuch, das sie ihm reichte. Nachdem er sich das Gesicht getrocknet hatte, zog er etwas aus einer der Taschen und wandte sich endlich dem Wehrsassen und der hohen Frau zu.

»Waltram von Hohenhag und Gemahlin Gotelind, ich bringe Euch die Grüße Eures Lehnsherrn. Freiherr Nymmir von Waldsteyn wünscht dem Wehrsassen und der hohen Frau Gesundheit und Glück! Er dankt ihnen und ihren Wehrleuten für die Dienste, die im Angesicht von Gefahr, Not und Tod erbracht wurden, um die nördlichen Grenzen zu sichern!«

Während dieser Rede war er ein paar Schritte auf den Herrn von Hohenhag zugegangen und verbeugte sich. Dann hielt er ihm die prallvolle Lederbörse hin, die Waltram nun ebenfalls mit einer knappen Verbeugung entgegennahm.

»Hier ist der Sold, den der Freiherr zur Instandhaltung des Hags und als Wehrgeld für getötete Krieger und umgekommene Frauen alle fünf Jahre zu senden versprochen hat.« Nochmals verbeugte er sich.

Beolf war etwas erstaunt über das steife Gehabe des Gesandten, auf das sein Vater und seine Gemahlin ebenso steif antworteten. Aber wenn solch ein wichtiger Besuch nur alle fünf Jahre eintraf und auch noch derart wertvolle Gaben mitbrachte, war es wohl notwendig, der Form zu genügen.

Viel mehr wurmte ihn, dass Sidra ihn noch immer nicht nach seinem Abenteuer vor dem Hag gefragt hatte. Mit einem Seitenblick erkannte er, dass sie den Gesandten in der einfachen, dunkelgrünen Uniform anhimmelte, als sei er ein Prinzensohn.

Die Enttäuschung über die einfache Reisekleidung war verflogen, und als er seinen Helm abgenommen, das Haar geschüttelt und ein edles Profil mit gerader Nase, vollen Lippen und einer kleinen, aber sichtbaren Narbe auf der Wange offenbart hatte, war sie hingerissen. Anders als die meisten Männer auf Hohenhag war er trotz der langen Reise glatt rasiert. Seine Kleidung mochte auf den ersten Blick staubig und schmucklos sein, aber sie war unverkennbar von edlem Schnitt und aus wertvollem Tuch gefertigt.

»Hey!« Beolf stieß Sidra in die Seite. »Ich bin auch noch da! Was hast du an diesem Gecken vom Hofe nur gefressen?«

»Schscht!«, machte Sidra nur und sah ihn nicht einmal an.

Beolf verfiel in verärgertes Brüten. Na warte, dachte er, wobei er gar nicht wusste, welches Übel er ihr denn in Aussicht stellen sollte.

»Sagt uns Euren Namen!«, bat nun Gotelind von Hohenhag den Abgesandten.

»Ich bin Ingver von Teshkal, Korporal der Waldsteyner Reiterei«, gab der Mann als Auskunft, und sofort entstand ein Raunen unter den wartenden Hofleuten. Jeder hatte von den Heldentaten der Reiterei des Freiherrn gehört. Ihre Pferde gehörten zu den schnellsten und ausdauerndsten des nördlichen Andergast.

Die Truppe, zwei Halbhundertschaften, war dafür bekannt, in Windeseile überall dort zu erscheinen, wo Not am Mann war. Kein Orkentrupp, keine Räuberbande konnte sich auf ihre Späher verlassen, denn die Reiter waren so schnell, dass sie die Kundschafter einfach überritten. Dass der Gesandte des Freiherren ein Korporal und noch dazu so jung war, gereichte ihm besonders zur Ehre.

Beolf, der immer noch beleidigt vor sich hin brütete, musste sich eingestehen, dass der junge Kämpfer keineswegs einen Gecken darstellte. Seine Erscheinung war schlicht, die Haltung gerade und selbstsicher, die Narbe auf seiner Wange und die Spuren langen Gebrauchs an den Lederstiefeln und Satteltaschen sprachen für sich.

Frau Gotelind trat vor, nachdem eine Magd ihr den Pokal mit dem warmen, gewürzten Wein gereicht hatte, und bot ihm den Trunk an. Ihr Gatte sprach die Begrüßungsformel.

»Ingver von Teshkal, seid willkommen auf Hohenhag und bleibt, so lange Ihr nur wollt. Wir fühlen uns durch Eure Anwesenheit geehrt und danken für die Wünsche Nymmirs von Waldsteyn und natürlich auch für den Sold. Er wird uns in den kommenden fünf Jahren helfen, den Orken die Stirn zu bieten.«

Waltram und seine Frau hielten nun auch einen Pokal mit Wein in der Hand.

»Auf die Gesundheit und das Glück unseres Gastes!«, rief die Wehrsassin. Sie hob den Pokal, ihr Mann und der Gast taten es ihr gleich, dann nahmen alle einen tiefen Zug des starken Getränks.

Damit war den Formalitäten Genüge getan. Waltram von Hohenhag führte den Korporal an die Ehrentafel und hieß ihn, sich neben ihn zu setzen. Frau Gotelind und alle anderen im großen Saal setzten sich ebenfalls.

Gespräche und Wortfetzen erfüllten nun den Raum. Bereits während die Mägde und Küchenknechte die Speisen auftrugen, spekulierten die Leute über Neuigkeiten vom Freiherrensitz, über die Verwendung des Soldes und lobten die stattliche Erscheinung des jungen Korporals.

»Wenn wir mehr Männer von dieser Sorte im Norden Andergasts hätten, brauchten wir die Orks nicht zu fürchten«, hörte Beolf, der immer noch neben Sidra unter der Schräge saß. Sidra hatte sich zwei Freundinnen in ihrem Alter zugewandt.

»Bestimmt ist er der beste Reiter des Herrn und hat schon viele Jungfrauen gerettet!«, schwärmte Sidra, und die beiden anderen Mädchen nickten mit glänzenden Augen.

»Und so schönes schwarzes Haar hat er!«, sagte die sommersprossige Lind.

»Wie er erst in einer Galauniform bei Hofe aussehen mag!«, flüsterte Gunahild, der man wegen ihrer Kopfläuse gerade die Haare abrasiert hatte.

»Weiber!«, stieß Beolf hervor und stand auf. Da saßen drei Mädchen und schwärmten von einem Soldaten, als seien sie Zofen an einem Fürstenhof.

Mit den Augen suchte er Wielant Haubeiler und fand ihn am oberen Ende der Handwerkertafel. Als Ältester war es sein Recht, den Vorsitz an diesem Tisch zu übernehmen und sich als Erster die besten Stücke aus den Schüsseln herauszusuchen.

Die Kinder saßen meist auf Bänken am Rand der Halle oder gleich auf dem Boden. Ihre Eltern riefen sie dann und wann zu sich und gaben ihnen von ihren Tellern, sodass sie genug zu essen hatten, aber nicht am Tisch mit den Großen sitzen mussten.

Beolf aber war unendlich stolz, als der Schmied ihm winkte und bedeutete, sich neben ihn zu setzen. Sein Vater würde angesichts seines hohen Gasts wohl kaum Zeit für ihn haben, seine Mutter arbeitete in der Rauchküche und würde erst später zu Speise und Trank kommen.

»Leute, dieser junge Mann war heute mit mir vor dem Hag!«, rief der Schmied, und Beolf sah, dass Treutmar, der Bäcker, und Dolmann, der Stellmacher, sowie einige andere anerkennende Gesichter machten und ihm zunickten.

»Zur Feier des Tages soll er seinen ersten Becher Met trinken!«, rief Wielant.

Die anderen Männer und Frauen an der Tafel klopften mit ihren Humpen auf die Tischplatte.

Der Schmied selbst füllte einen kleinen Tonkrug mit dem süßlichen Getränk und reichte ihn dem Jungen, der vor Stolz beinahe platzte.

»Ich trinke auf den Mut, den du heute bewiesen hast, Beolf. Mut, das merke dir, bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern seine Angst zu überwinden.«

Wieder klopften die Männer am Tisch mit den Humpen auf den Tisch.

»Gut gesprochen, Wielant!«, rief der hagere Treutmar.

Beolf und der Schmied stießen an, und der Junge nahm einen vorsichtigen Zug von dem alkoholischen Getränk. Es schmeckte, als habe Praios selbst ihm diesen Trunk gesandt. Nach einem weiteren Schluck war es ihm, als summe es in seinem Kopf, die Gespräche um ihn herum schienen gleichzeitig leiser und lauter als zuvor. Schwankte er schon? Hoffentlich sah ihm Sidra das nicht an!

»Wielant Haubeiler!«, rief da plötzlich die Stimme Waltrams vom Tisch des Wehrsassen. »Bring unseren neuen Kämpen einmal zu mir!«

Beolf blieb fast das Herz stehen. Kämpe hatte der Wehrsasse ihn genannt, nicht kleiner Mann oder Held, sondern einfach Kämpe!Wie die meisten Jugendlichen hatte er ein Gespür dafür, ob ein Erwachsener ihm ehrliches Lob spendete oder ihn nur über den grünen Klee lobte.

Die Leute an den Tischen schenkten der Szene zwar keine große Beachtung, aber die Kinder, die in den Ecken und Schatten hockten, verstummten und sahen zu ihm herüber. Auch Sidra hatte sich von ihren beiden Freundinnen abgewandt und beobachtete ihn, wie Beolf zu seiner großen Befriedigung merkte.

Wielant stand auf und ging mit ihm um das Feuer herum zu Waltram von Hohenhag, der ihn mit einem prüfenden Blick ansah.

»Ich grüße Euch, Vater, und Euch, hohe Frau!«, fiel Beolf im letzen Moment ein zu sagen. »Und natürlich auch unseren Gast, Korporal Ingver von ... von Teshkal!« Beolf deutete eine knappe Verbeugung vor den drei Herrschaften an.

»Beolf ist heute mit Wielant Haubeiler zwei Stunden lang Patrouille vor dem Hag gegangen. Mit nichts als der Finsternis zwischen sich und den Orken. Nun, was sagt Ihr zu solchen jungen Männern, Korporal?«, fragte der Wehrsasse.

»Ich würde sagen, dass dieser junge Mann ein besseres Benehmen als so mancher Gleichaltrige auf Burg Waldsteyn hat. Und Mut scheint er auch zu haben. Die strengere Zucht ist hier draußen wohl unerlässlich. Ihr müsst sehr stolz auf Euren Sohn sein, hohe Frau.«

Gotelind von Hohenhag schüttelte den Kopf »Ich bin zwar stolz auf ihn, aber er ist der illegitime Sohn meines Mannes«, gab die Wehrsassin zurück.

Korporal von Teshkal hob die Augenbrauen und schüttelte verständnislos den Kopf

»Wisst Ihr, Korporal«, erklärte Waltram von Hohenhag, »hier draußen nehmen wir es nicht ganz so genau, wenn nur genügend gesunde Nachkommen geboren werden. Das gilt für den Wehrsassen und seine Wehrmänner ebenso wie für ihre Frauen. Ihr seid doch wohl kein Dualist oder Abstinenzler, dass Ihr Euch an solchen Sitten stört?«

»Nein«, gab der junge Korporal zurück, »es ist nur etwas ungewöhnlich für mich.«

Waltram zuckte mit den Schultern, fühlte sich dann aber doch zu weiteren Erklärungen genötigt. »Hier wachsen die Kinder ohne Standesunterschied auf. Jeder hat ein Handwerk zu lernen, das uns hilft zu überleben. Und jeder Junge oder Mädchen, wird an den Waffen geschult. Sie alle schlafen im gleichen Saal, bekommen das gleiche Essen und die gleiche Kleidung. Erbe des Hofes wird der tüchtigste meiner Nachkommen, nicht der älteste. Havel zeigt ganz gute Anlagen, aber Detter hat wohl den Butz im Leibe. Wenn man ihn reizt, gerät er viel zu schnell in Raserei.«

Korporal von Teshkal nickte. Er hatte nicht vor, diese tüchtigen Leute hier wegen ihrer Moral zu tadeln.

»Aber nun zu dir, mein Sohn!«, sagte der Wehrsasse und blickte zu Beolf

Der sah ihn erwartungsvoll an.

»Wie mir Wielant der Schmied berichtet hat, warst du klug genug, Angst zu haben, als ihr vor dem Hohen Hag wart. Aber auch mutig genug, deine Angst zu überwinden.«

Beolf nickte. Er hatte mittlerweile verstanden, dass es keine Schande war, Angst zu haben, wenn man sie nur bezwingen konnte. Waltram griff in seinen Gürtel, in dem neben seinem edelsteinverzierten Langdolch eine weitere Waffe steckte.

»Es ist gute Gepflogenheit auf den Wehrhöfen, dass ein Junge ... ein junger Mann, der seinen ersten Kontrollgang vor dem Hohen Hag bestanden hat, fortan eine Waffe tragen darf. Daher nimm dieses Messer und ziehe es nur, wenn du es auch benutzen willst!« Damit reichte er seinem Sohn ein Jagdmesser, dessen Griff zwar aus schlichtem Holz bestand, aber eine Klinge aus bläulich schimmerndem Stahl hatte.

»Danke! Vielen... Dank!«, stammelte Beolf, der sein Glück an diesem Abend gar nicht fassen konnte. Wielant, der immer noch neben ihm stand, klopfte ihm auf dem Rücken. Die Wehrmänner, die in der Nähe saßen und die Ehrung beobachtet hatten, klopften mit ihren Messern und Dolchen Beifall gegen ihre Zinn- und Steinkrüge.

Beolf sah sich nach Sidra um und lief rot an, denn sie warf ihm eine Kusshand zu. Havel und Detter, die neben ihr hockten, machten dagegen wegwerfende Gesten. Sie trugen ihre Messer schon seit über einem Jahr.

Beolf wollte sich umdrehen und sich einen Platz suchen, an dem er sich still seiner Freude hingeben konnte. Aber sein Vater hielt ihn ab. »Bleib hier, mein Sohn! Heute sitzt du an unserer Tafel. Wielant, auch du, wir wollen deinen Bericht hören.«

Die Wehrmänner rückten zusammen, damit Beolf und der Schmied Platz fanden. Eine Magd stellte ihnen Brot und Schinken hin, sodass Beolf gleich sein Messer ausprobieren konnte.

»Wir haben nichts Auffälliges am Hag entdeckt, Wehrsasse Waltram«, begann Wielant Haubeiler.

Korporal Ingver hörte interessiert zu.

»Nur einen üblen Geruch, etwa eine Stunde Fußmarsch westlich des Durchgangs«, sagte Beolf mit vollem Mund.

Gotelind von Hohenhag warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Einen üblen Geruch? Soso! Habt ihr noch etwas anderes entdeckt?«, fragte der Wehrsasse.

Der Schmied schüttelte den Kopf, und Waltram von Hohenhag zuckte mit den Schultern. »Vielleicht eine Steppenkatze, die gerade ihr Revier markiert hat«, tat er die Sache ab.

»Und ihr habt auch keine ungewöhnliche Bewegung oder ein Licht in der Ferne gesehen?«, fragte der Korporal, der sich aufmerksam nach vorne gebeugt hatte. Ihm schien die Sache mehr Sorgen zu bereiten als dem Herrn von Hohenhag.

»Nein, nichts. Nur die üblichen Steppenhexen, die der Wind gegen den Hag getrieben hatte«, sagte Wielant.

»Wie auch immer, mein Sohn«, sagte der Wehrsasse zu Beolf »Morgen wirst du weitere Gelegenheit bekommen, dich auszuzeichnen. Für eine Heerschau ist unser Hof natürlich zu klein, aber ein kleiner Wettkampf der alten und heranwachsenden Kämpen wird unserem Gast die Wehrkraft von Hohenhag am besten deutlich machen. Und jetzt ab mit dir!«

Beolf stand auf, verabschiedete sich von Wielant und den hohen Männern und Frauen mit einer kleinen Verbeugung und ging zu seiner liebsten Freundin hinüber.

Sidra rückte ein Stückchen zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte.

»Ich habe das meiste mitgehört«, flüsterte sie ihm zu und legte ihm eine Hand auf die angewinkelten Knie. »Du kannst stolz auf dich sein.«

»Ja, aber ich weiß nicht, worauf ich am meisten stolz sein soll. Auf mein Jagdmesser oder darauf, dass der Wehrsasse mich seinen Sohn genannt hat.« Er nahm Sidras Hand in die seine, und gemeinsam lauschten sie den Gesprächen an den Tafeln der Erwachsenen, bis sie aneinandergelehnt einschliefen. Sie wachten kaum auf, als Beolfs Mutter und eine andere Magd sie in ihre Schlafkammer schickten. Halb schlafend stolperten sie zum Gesindehaus hinüber.

KAPITEL 2

Am nächsten Morgen war Beolf einer der Ersten, die in der großen Halle erschienen. Nur Waltram, seine Frau Gotelind und zwei Küchenmägde waren schon auf. Eine von ihnen war Varena, Beolfs Mutter. Sie brachte ihm einen heißen, belebenden Kräutertee, Brot und Käse und setzte sich zu ihm an den Gesindetisch.

»Ich bin sehr stolz auf dich, Beolf. Elandra hat mir gestern noch alles berichtet, was sich zugetragen hat. Du hast das Blut deines Vaters, das weiß ich genau!«, sagte die immer noch ansehnliche Frau mit den üppigen Brüsten, die sich über mangelnde Aufmerksamkeit aus den Reihen der Knechte und Handwerker nicht zu beklagen brauchte.

Sie umarmte ihren Jungen und drückte seinen Kopf an ihre langen braunen Locken, die die gleiche Farbe hatten wie Beolfs.

Der Junge genoss das warme, geborgene Gefühl. Andererseits war er froh, dass die anderen Kinder noch nicht aufwaren und sahen, wie sein neuer Stand als Dolchträger beschädigt wurde. Seine Mutter gab ihm noch einen Kuss und verschwand dann wieder in der Küche, um beim Herrichten des Frühstücks für die Hofgemeinschaft zu helfen.

Damit auch jeder seine Auszeichnung sah, zog Beolf mit umständlichen Gesten das Jagdmesser, wischte die Klinge am Ärmel ab und säbelte sich ein paar dünne Stücke vom Käse herunter. Dabei ließ er den Tisch des Wehrsassen nicht aus den Augen.

Wie er gehofft hatte, war auch der Korporal früh auf den Beinen. Seine gestrige Eifersucht hatte er völlig vergessen. Schließlich hatte dieser Recke mit ihm am Tisch seines Vaters gesprochen wie von Kämpe zu Kämpe. Für ihn war der Korporal nun ein Vorbild, ein Krieger und Mann vom Hofe, zu dem er aufblicken konnte.

Mit etwas verschlafenen Augen, aber korrekt in seine frisch ausgebürstete Uniform gekleidet, kam er aus der Schlafkammer der Gäste in die große Halle. Die Absätze seiner von dienstbaren Geistern polierten Reitstiefel knallten auf dem steinernen Boden. Einen Moment lang wärmte er sich an dem munter lodernden Feuer auf und trat dann an die Tafel des Wehrsassen. »Ist es gestattet?«, fragte er. Offenbar nahm er es nicht als selbstverständlich, dass ihm auch heute ein Platz an der Ehrentafel gebührte.

»Aber natürlich«, sagte die Wehrsassin. »Wünscht ihr einen belebenden Kräutertee oder lieber etwas fette Ziegenmilch?«

»Kräutertee, bitte.«

Die Magd, die den Leuten an der hohen Tafel aufwartete, brachte sofort einen leeren Becher und eine dampfende Kanne mit dem Tee. Das Rezept war eine Spezialität der Köchin und brachte angeblich sogar Lahme zum Gehen, so stark war der Aufguss.

»Hervorragend!«, sagte Ingver von Teshkal. Ihm war regelrecht anzusehen, wie das heiße Getränk seine Lebensgeister weckte.

Gunthar Eichenfall, der Erste unter den Wehrmännern, war hereingekommen und hatte sich an die Tafel gesetzt.

»Den Zwölfen zum Gruße!«, sagte er. »Ihr hattet gestern angedeutet, dass Ihr den Bericht meines letzten Kundschaftsrittes zu hören wünscht, Korporal von Teshkal«, sagte er und schüttete sich ebenfalls von dem Kräutertrank ein.

»Ja, habt Dank, dass Ihr daran gedacht habt«, sagte Ingver von Teshkal. »Aber da kommt ja auch der Schmied, der noch gestern seine Runde gemacht hat.« Der Korporal hatte sich schnell in die Sitten an diesem Wehrhof gefunden, sodass nicht er den Handwerker an den Tisch rief. Er sah den Wehrsassen an, der sofort verstand.

»Wielant, sitz nicht alleine für dich, sondern komm herüber. Der Korporal möchte noch einmal die letzten Berichte hören«, rief Waltram, und der Schmied kam mit seinem Becher Ziegenmilch in der Hand an die Tafel.

Beolf verfolgte jedes Wort, das gesprochen wurde. Schließlich war er deshalb so früh aufgestanden. Sein Vater sah, wie er die Ohren spitzte.

»Nun komm schon her, Beolf, sonst wachsen deine Ohren noch, bis du aussiehst wie ein Waidelf«, rief er dem Jungen zu. Darauf hatte Beolf nur gewartet. Er sprang wie vom Skorpion gestochen auf und setzte sich an ein Ende der Ehrentafel. Hoffentlich wachte Sidra früh genug auf, um zu sehen, dass er wieder zu den Männern gerufen worden war!

»Der letzte Kundschaftsritt führte mich vor acht Tagen etwa zwanzig Meilen nach Nordosten«, begann Wehrsasse Eichenfall. »Ich konnte mich ungesehen einer Sippe von Orks nähern, die mit sechs großen Wagen und ihren Ziegen und Steppenrindern nach Westen zogen. Ich vermute, es waren Zholochai, denn sie schienen mir sehr groß und kräftig. Ihre Pelze waren tiefschwarz, manche der Khurkach hatten ihren Haarkamm gefärbt.« »Khurkach?«, fragte der Korporal. »Das orkische Wort für Krieger«, erklärte Waltram. »Verzeiht, aber für fremde Sprachen habe ich keinerlei Begabung«, sagte Ingver von Teshkal.

»Außerdem begleiteten keine Alten und nur sehr wenige Weiber den Zug. Wir wissen von den Zholochai, dass sie die Alten, Kranken und Schwachen in ihren Winterquartieren an den Hängen der Blutzinnen zurücklassen. Nur die gebärfähigen Weiber begleiten die Khurkach und Drasdech, die Handwerker, die für den Nomadenzug unerlässlich sind.«

»Bei Praios, das klingt, als hätten die Orks so etwas wie Sitten, Gebräuche und einen durchdachten Jahreslauf. Am Hofe Nymmirs und erst recht in den südlichen Rittergütern und Freiherrschaften hält man die Orks für Bestien, die kaum intelligenter sind als ein Oger«, sagte der Korporal. Es war allzu deutlich, dass er kaum glauben konnte, was er da hörte.

»Nun, im Süden begegnet man nur einzelnen Orks oder marodierenden Trupps, die sich irgendwie ins Land gestohlen haben«, erklärte der Wehrsasse. »Und auch die Reiterei von Waldsteyn beschäftigt sich mit den Orken nur, um ihnen die Köpfe von den Hälsen zu schlagen. Das natürlich auf vortreffliche Weise.«

Korporal Ingver deutete so etwas wie eine sitzende Verbeugung an.

»Die Wehrhöfe senden seit Generationen Kundschafter ins Feindesland«, fuhr Waltram von Hohenhag fort. »Und seit Generationen warnen wir davor, die Schwarzpelze zu unterschätzen. Unsere Männer sind unter unglaublichen Gefahren bis jenseits des nördlichen Steineichenwaldes gelangt. Sie haben sogar die große Staubsteppe durchquert und sind bis in die Blutzinnen und Ogerzähne, ja bis zum Firunswall gekommen. Ihr könntet Heldengeschichten an diesem Feuer hören, Korporal, dass Euch das Blut gerinnen würde. Aber wir Leute auf den Wehrhöfen wissen, dass die Orks ein feststehendes Kastensystem haben, das jedem Ork einen Platz zuweist, an dem er seinen Fähigkeiten entsprechend etwas zu leisten vermag. Sie vermögen sogar in kleinen Mengen Stahl, wenn auch minderwertigen, herzustellen, kennen so etwas wie Bildhauerei – ja, guckt nicht so ungläubig –, Schmuck und Musik. Und sie sind auch nicht gottlos, wie viele vermuten. Zwar erkennen sie die Zwölfe nicht an. Aber ihr Glaube an Brazoragh, Gravesh, Tairach und die anderen Idole macht sie noch tüchtiger im Kampf.«

Der junge Ingver von Teshkal schwieg eine Weile und starrte ins Feuer. Beolf war erschrocken, dass das Wissen über den Feind, das ihm eingetrichtert wurde, seit er zurückdenken konnte, so wenig verbreitet war. Dass nicht einmal ein Korporal der Reiterei von Waldsteyn von diesen Dingen wusste, konnte er kaum glauben.

»Mir scheint, dass auf diesem Hof, vermutlich auch auf Hagdorn und Wallhof, Wissen existiert, das in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigt wurde«, sagte der Gesandte des Freiherrn. »Auch wenn ich bisher kaum etwas von diesem Hof gesehen habe, kann ich meinem Herrn schon jetzt berichten, dass es hier ein äußerst wirksames Kundschaftersystem gibt.«

»So ist es auch auf den anderen Höfen«, sagte Waltram. »Aber denkt nicht, dass wir die Orks deshalb für weniger grausam halten. Wehe dem Reiter, der in ihre Hände fallt. Er wird auf bestialische Weise gefoltert und unter unsagbaren Qualen ihrem Gott Tairach geopfert werden. Ein schneller Tod wäre eine Gnade Borons für ihn.«

»Gibt es sonst noch etwas aus der jüngsten Zeit?«, fragte Korporal von Teshkal.

»In der letzten Woche sind Tscharshai vorbeigezogen und haben gehandelt«, rief Beolf, als die Männer mit den Köpfen schüttelten.