Das wird mir nicht nochmal passieren - Tom Pauls - E-Book

Das wird mir nicht nochmal passieren E-Book

Tom Pauls

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Beschreibung

„Lebe so, dass sich deine Freunde langweilen, wenn du gestorben bist.“ Tom Pauls Tom Pauls, Kabarettist, Fernsehschauspieler und Musiker, gehört zu den unangefochtenen Stars des mitteldeutschen Kabaretts. Hier erzählt er erstmals und so persönlich wie nie zuvor von seinem Leben als Vollblutsachse und lässt den Leser hautnah teilhaben an den Siegen und Niederlagen des heranwachsenden Künstlers. Tom, der Junge mit den schwarzen Locken, ist Brandstifter, Grabräuber, Schulschwänzer, vor allem aber eine halbe Portion. Doch er hält von Anfang an dagegen: mit Schlagfertigkeit, Witz und der großen Gusche, für die ihn heute sein Publikum liebt. Wie Klamotten, Haare und Gesinnung einen Jugendlichen zum Kriminellen machen, warum es nicht ratsam ist, im Ferienlager an der Ostsee Sächsisch zu sprechen, und was passieren kann, wenn man in einer Leipziger Neubauwohnung mit einem Luftgewehr das Schießen übt – mitreißend und witzig erzählt Tom Pauls Anekdoten und Schoten aus seinem Leben.

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Informationen zum Buch

»Lebe so, dass sich deine Freunde langweilen, wenn du gestorben bist.« Tom Pauls

Tom Pauls, Kabarettist, Fernsehschauspieler und Musiker, gehört zu den unangefochtenen Stars des mitteldeutschen Kabaretts. Hier erzählt er erstmals und so persönlich wie nie zuvor von seinem Leben als Vollblutsachse und lässt den Leser hautnah teilhaben an den Siegen und Niederlagen des heranwachsenden Künstlers.

Tom, der Junge mit den schwarzen Locken, ist Brandstifter, Grabräuber, Schulschwänzer, vor allem aber eine halbe Portion. Doch er hält von Anfang an dagegen: mit Schlagfertigkeit, Witz und der großen Gusche, für die ihn heute sein Publikum liebt. Wie Klamotten, Haare und Gesinnung einen Jugendlichen zum Kriminellen machen, warum es nicht ratsam ist, im Ferienlager an der Ostsee Sächsisch zu sprechen, und was passieren kann, wenn man in einer Leipziger Neubauwohnung mit einem Luftgewehr das Schießen übt – mitreißend und witzig erzählt Tom Pauls Anekdoten und Schoten aus seinem Leben.

Tom Pauls mit Mario Süßenguth

Das wird mir nicht nochmal passieren

Meine fabelhafte Jugend

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Sprung in der Platte

Schulhof, Friedhof, Hinterhof

Familienverhältnisse

Sommerhit

Luft und Liebe

Frau Krause

Kinderchor und Fernsehspaß

Der kleine Axel

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf

Rattenlöcher

Schule als Irrtum

Jäger und Sammler

Frau Professor und Familie Propper

Mein Stereo-Vater

Sprach-Chamäleon

Zeit der Rache

Schulschwänzer und Grabräuber

Brandstifter und Pyromane

Gauplerglück

Nichts als Blödsinn

Peepshow mit Folgen

Kutte, Trampen, Rockmusik

Mama, jetzt sind wir alle verrückt

Tanz ins Unglück

Unsere Schießbude

Mehr als eine Hose

Fußball und Randale

Mein Woodstock

Mein Pech als Zeitungsjunge

Selbst ist der Blueser

Benzin im Blut

Per Anhalter durch den Osten

Autoträume

Rätselhafter Säureschutz

Fahne, Freiheit, Flunkerei

Holt mich endlich!

Höllenfahrt

Rettender Engel

Sprulli und Spritzer

Wie ich zum Hydro wurde

Blut und Fäuste

Spieß Schimmel

Winter macht frei

Ein neuer Mensch

Frech im Frack

Bildteil

Über Tom Pauls

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

»Lebe so, dass sich deine Freunde langweilen, wenn du gestorben bist.«

Gerahmter Sinnspruch in der Leipziger Wohnung

Sprung in der Platte

Während der letzten Flut musste ich mit meiner Familie unser Dresdner Haus verlassen. Das Wasser der Elbe züngelte bedrohlich bis an die Sandsteinmauer des Grundstücks. Strom und Gas drehten wir ab. Der Hausrat war einige Tage sich selbst überlassen. Ich machte mir um vieles Sorgen, besonders um meine Schallplattensammlung. Sie lagerte im Keller. An die fünfhundert LPs standen dort in Kisten verpackt. Würden die schon betagten Cover von Led Zeppelin oder Pink Floyd die Feuchtigkeit überstehen? Es half nichts, ich musste die Zeit abwarten, bis der Fluss in sein Bett zurückkehrte. Wir bezogen unser Haus wieder. Sofort stieg ich in den Keller hinab und holte jede einzelne Scheibe hervor, um den Schaden zu prüfen. Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Nur die hohe Luftfeuchtigkeit hatte einige der Hüllen zu Wellpappe werden lassen.

Zwischen Rory Gallagher und Pink Floyd entdeckte ich ein fast vergessenes Foto aus den frühen siebziger Jahren. Das leicht knitterige Bild zeigte mich mit meinen besten Kumpels Schmerle und Schwimmbrot bei Schießübungen am Teich meiner Kindheit. Auf dem Schwarzweißabzug kneife ich ein Auge zu und ziele mit einer aus der ČSSR eingeschmuggelten imposanten Luftdruckpistole auf eine leere durchlöcherte Bierbüchse, den linken Zeigefinger am Abzug. Beim Schießen und beim Essen mit Messer und Gabel bin ich Linkshänder geblieben. Für die anderen Tätigkeiten trainierten mir die Lehrer in der Schule meine ursprüngliche Veranlagung ab, indem sie mich ab der ersten Klasse zwangen, den Stift in meine schwache Rechte zu nehmen. Auch Gitarre lernte ich als Rechtshänder. Das allerdings hatte einen pragmatischen Grund. Ich hätte sonst bei jedem fremden Zupfinstrument die Saiten neu aufziehen müssen.

Schmerle, Schwimmbrot und ich spielten und hantierten unheimlich gern mit Revolvern, Gewehren und mit scharfer Munition. Teilweise bauten wir derlei selbst, manchmal fanden wir so was in Leipziger Abfallcontainern oder auf Müllkippen. In den sechziger und siebziger Jahren liebten alle Jungs Western und Indianerfilme. Wir schauten sie im Kino oder im Fernsehen und spielten die Szenen draußen detailgetreu nach. Das Foto am Teich stammte in etwa aus dieser Zeit. Dieses Gewässer befand sich auf dem Gelände eines Betriebes zur Herstellung von Kunstmarmor, an der Leninstraße, im Süden der Stadt, wo ich aufgewachsen bin. In dem Weiher gab es eine kleine Insel. Und als die Eltern meines Freundes, denen das Areal gehörte, einmal mehrere voll funktionstüchtige Pistolen und Seitengewehre im finsteren Nass versenkten, tauchten wir tagelang, um sie wieder zu heben. Wir konnten diese Schätze jedoch leider niemals finden. Die Erwachsenen hatten das Waffendepot bei Aufräumarbeiten in einem Gartenhaus gefunden, jedes Stück war in braunes Ölpapier eingewickelt. Für sie bedeuteten die Knarren nur drohenden Ärger. Deshalb ließen sie die wundervollen Schießeisen und Bajonette auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Wir wollten so etwas nicht verstehen. Wie konnte jemand derart zerstörerisch mit dem Erbe unserer Vorväter umgehen?

Der Teich diente uns viele Sommer lang als Badegewässer. Beim Gedanken daran schüttelt es mich bis heute. Denn wenn wir aus der Brühe herausstiegen, hingen Blutegel an unseren nackten Körpern.

»Du siehst aus wie enne verweste Wasserleiche«, foppte mich Schmerle.

»Passe du off, dass sich die Würmer nich durch de Haut fressen und dir de Eingeweide wegspachteln«, sagte ich und betrachtete angewidert unsere Leiber.

Lachend pflückten wir die Weichtiere von der Haut und wischten uns den Schleim mit dem Handtuch ab.

Ich legte das Foto zurück zwischen die Schallplatten und kontrollierte meine Vinyl-Schätze weiter auf etwaige Flutschäden. Mit Daumen und Zeigefinger lupfte ich eine Langspielplatte mit dem Konterfei Bob Dylans. Meine Laune verdüsterte sich. Ich wusste auch sofort, warum. Genau diese Scheibe hatte mir einst sehr viel Kummer und tiefe Trauer beschert. Ich zog den flachen schwarzen Tonträger aus der Hülle. Wie in einer Rückblende erinnerte ich mich an das, was damals in Leipzig passiert war.

Die Platten, deren Interpreten und Lieder wir so liebten, gingen von Hand zu Hand. Wir überspielten sie auf Audiokassetten, um sie jederzeit und überall hören zu können. Dank meiner spendablen Westverwandtschaft besaß ich einige begehrte Stücke wie die Alben von Emerson, Lake and Palmer oder von Led Zeppelin. Sie verlieh ich im Tausch gegen andere rare Scheiben. »Bob Dylans Greatest Hits« von CBS gehörte zu meinen absoluten Schätzen. Das Cover zeigte den noch jugendlichen lockigen Meister mit einem Buch im Arm. Auf der kostbaren Langrille vereinten sich seine großen Songs. »Blowin’ In The Wind«, »Mr. Tambourine Man«, »Like A Rolling Stone« oder »I Want You«.

Jedes Mal legte ich das Werk mit allergrößter Vorsicht auf den Plattenteller, brachte die empfindliche Nadel behutsam in die dafür vorgesehene Position und ließ sie so sanft auf die rotierende Scheibe niedersinken, als würde mein Leben davon abhängen. Wenn ich meinen Dylan abgespielt hatte, steckte ich ihn sofort wieder in die Originalhülle, um ihn vor Staub, Kratzern oder Schlimmerem zu schützen.

Eines Tages verlieh ich das Wertstück an einen entfernteren Freund. Wenn ich mich richtig erinnere, hieß er Frank oder Falk. Jedenfalls bekam ich meinen Tonträger eine Ewigkeit lang nicht zurück. Ich wartete geduldig mehrere Wochen, dann hakte ich nach. Frank oder Falk, wie auch immer – er stand weinend vor meiner Tür in der Kommandant-Prendel-Allee und brachte kaum ein Wort über seine Lippen. Das Cover hatte er dabei.

»Was issn los? Bringste endlich mal die Scheibe zurück?«, fragte ich

»Ja, aber – mir is was Forschdbares dadormit bassiert!«, schluchzte er.

»Wie? Wasn?«

Er zog die Platte aus der Tasche und zeigte mir, was er meinte.

»Die is mir offn Glastisch geknallt, genau off de Ecke. Das dud mir so leid!«, bat er flennend um Verzeihung.

Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Vom Rand der LP war ein Stück herausgebrochen, etwa so groß wie ein Daumennagel. Ich schaute starr vor Schreck auf Dylans Greatest Hits. Frank oder Falk stammelte weiter.

»Dommi, du hast een Gefalln gut bei mir, versprochen!«, sagte er.

Schweigend entriss ich ihm die Platte, schlug die Tür zu. Mit Frank (oder Falk?) wechselte ich nie mehr ein Wort. Weiß der Teufel, wie er den Zacken Vinyl aus der Platte herausbekommen hatte. Ersetzen konnte mir der linkische Unglücksrabe den Schaden sowieso nicht. Ich hätte heulen können. Die ersten beiden Songs auf der A- und auf der B-Seite waren für immer verloren, darunter »Blowin’ In The Wind« sowie »One Of Us Must Know«. Heute gibt es so was für fünfzehn Euro im Internet. Damals verlor ich etwas Unersetzliches.

Ich nahm die Platte aus dem Keller mit hoch unters Dach, in mein Arbeitszimmer. Nach einem kurzen nostalgischen Innehalten packte es mich. Ich griff zum Handy und wählte die Nummer meines alten Leipziger Kumpels. Es war der, mit dem ich am erwähnten Teich und am Völkerschlachtdenkmal so viele unglaubliche Abenteuer bestanden hatte.

»Hallo, mein Bester, hier ist Tom«, sagte ich, und wir unterhielten uns eine Weile darüber, wie es uns geht und was dieser und jener gerade so treibt. Dann fragte ich: »Sag mal, weißt du noch, wie damals dieser Vogel hieß, der mir meine Greatest Hits von Bob Dylan demoliert hat?«

Mein Kumpel überlegte und sagte: »Frank!« Dann schob er nach: »Oder Falk, so genau kann ich dir das nicht mehr sagen! Ist das wichtig?«

»Nein, mir fallen bloß gerade eine Menge Dinge aus dieser Zeit ein, nur dieser Name nicht!«

»Weil du gerade von Namen redest«, unterbrach mich mein Kumpel. »Ich habe in meinen Sachen aus den frühen siebziger Jahren eine Visitenkarte gefunden, sie stammte von deinem Vater! Willst du sie zurück?«

Ich wusste genau, was er meinte. Als Fünftklässler war ich eines Nachmittags an den Schreibtisch meines Vaters gegangen und hatte in der Schublade nach Sachen gekramt, die mir gefallen könnten. Ich fand eine kleine versilberte Blechdose zum Aufklappen. Darin lagen zwanzig blütenweiße Pappkärtchen, auf denen mit schwungvollen schwarzen Buchstaben der Name meines Vaters und unsere Adresse standen. Ich fand das faszinierend. In der DDR waren private Drucksachen kostbare Wertgegenstände. Wer eine Druckerei bemühen wollte, brauchte eine entsprechende Genehmigung und eine offizielle Freigabe, ob für Trauerkarten oder eben für Visitenkarten. Der Staat wollte stets wissen, was vervielfältigt wurde. Überall sahen die SED-Funktionäre die Gefahr illegaler Flugblätter und Agitation. Ich packte die Visitenkarten in meinen Ranzen und nahm sie am nächsten Tag mit in die Schule. Wie ein gönnerhafter Betriebsdirektor verteilte ich die Kärtchen während der großen Pause an alle Klassenkameraden, denen ich imponieren wollte. Sie fanden das witzig und nannten mich einen ganzen Tag lang »Herr Dr. Pauls«.

Es dauerte nicht lange, bis mein Vater den Verlust bemerkte. Es gab nur einen, der ihm seine Visitenkarten entwendet haben konnte – ich, sein ältestes Kind, ein Junge, der zu viele Dummheiten im Kopf hatte. Er nahm mich zur Brust und verlangte unmissverständlich, dass die Drucksachen bis zum Ende der Woche vollzählig wieder in der Blechschachtel liegen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als in den folgenden Tagen meine Mitschüler abzuklappern, denen ich so ein Kärtchen in die Hand gedrückt hatte. Ich bat sie eindringlich, mir die Namenspappe zurückzugeben, mein Vater würde mich sonst grün und blau schlagen. Die meisten bekamen Mitleid und holten die Andenken hervor. Die Prügellust meines Vaters erfand ich, um mehr Eindruck zu schinden. Geschlagen hätte er mich gewiss nicht. Stubenarrest oder Kontaktsperre zu meinen Freunden wären jedoch die üblichen Strafen gewesen. So was schmeckte mir natürlich nicht.

»Du kannst die Karte behalten«, sagte ich zu meinem Freund. Mir fiel noch eine Geschichte ein: »Erinnerst du dich daran, als wir Schmerles Vater bei der Haussanierung helfen wollten?« Ich hörte Lachen aus dem Telefon.

»Na klar, als wäre es gestern gewesen!«

Unser beider Kumpel liebte seinen Vater über alles. Irgendwann Anfang der siebziger Jahre schnappte Schmerle von ihm auf, dass das Haus neu verputzt werden sollte. Er fragte uns, ob wir dabei helfen könnten, den Vater zu überraschen. Schmerle wollte ihm einen Teil der körperlich schweren Arbeit abnehmen. Jeder von uns nahm einen Meißel und einen Fäustel zur Hand, und wir klopften wie die Wilden den alten Putz herunter. Wie angenagelt haftete er an den roten Ziegeln, und wir wunderten uns darüber, dass er noch so fest war. Bis zum Einbruch der Dunkelheit schafften wir eine halbe Hauswand. Unsere Glieder, die Handgelenke und der Rücken schmerzten. Schmerle dankte uns überschwänglich. Wir sagten, für einen Freund tue man so was doch gern und jederzeit. Morgen könne die andere Mauer vorbereitet werden, schlugen wir vor.

Als wir am nächsten Tag bei Schmerle klingelten, sahen wir schon an seinem Gesichtsausdruck, dass etwas nicht stimmte. Wir fragten besorgt, was los sei. Er begann fast zu heulen. Dann rückte Schmerle mit der Sprache heraus.

»Ich muss mich verhört ham!«, sagte er kleinlaut.

»Wie, du musst dich verhört ham?«, fragte ich.

»Na, mein Vater.«

»Wie – dein Vater?«

»Mein Vater, der will unsre Bude gar nich neu verputzen!«

»Hä? Aber du hast’s doch selber von ihm gehört, oder was?«, sagte ich.

Schmerle erzählte, dass es bei dem Gespräch ums Erben ging und darum, wer einmal das Haus bekommen sollte. Da habe sein Vater gemeint, er würde so was auf jeden Fall ausschlagen. Mit einer Immobilie wäre doch jeder gestraft, nur Kosten und Ärger, dagegen keinerlei Einnahmen. Und irgendwann müsse das Dach gedeckt oder das Haus neu verputzt werden.

»Na siehste«, meinte ich.

Nein, meinte Schmerle, sein Vater habe das doch alles nur als abschreckendes Beispiel gegen jegliches Immobilieneigentum geäußert.

»Der is stinkesauer«, sagte Schmerle.

Wir blickten uns an wie die Kamele im Leipziger Zoo. Eine Hausseite sah aus wie im Rohbau – und sie bot dieses traurige Bild noch eine ganze Weile. Denn Baustoffe und Handwerker waren in der DDR schwer zu bekommen.

Mein Leipziger Freund und ich lachten uns am Telefon scheckig über die Geschichte aus fernen Zeiten. Irgendwann müssten wir uns mal treffen, um über die Schoten zu reden, sagte ich. Er fand, das sei eine gute Idee. Zwei Leuten fällt immer mehr ein als einem allein.

Einen Sommer später schlenderte ich bei strahlendem Sonnenschein die Elbe in Dresden-Blasewitz entlang und traf mich auf ein kühles, spritziges Hefeweizenbier mit meinem ältesten Sohn. Er kam mit dem Kinderwagen. Darin lag schlummernd mein Enkelsohn. Für eine Weile war ich allein mit dem kleinen Fratz, und ich schaukelte mit der linken Hand die Babykutsche, während ich mit der anderen Hand glücklich und zufrieden mein volles Glas erhob. Wie honiggelber Bernstein leuchtete das köstliche Getränk, und mir kam das Behältnis in dieser Sekunde vor wie die geheimnisvolle Glaskugel einer Hellseherin. Ich sah mein Spiegelbild und erkannte das Gesicht jenes Mannes, der genau an dieser Stelle vor über dreißig Jahren gesessen hatte. Damals gab es kein Hefeweizenbier. Damals wurde Vollbier vom Fass in meist trübe Gläser mit angefressenem Rand ausgeschenkt. Der idyllische Schillergarten am vielbefahrenen Schillerplatz neben dem berühmten Brückenbauwerk Blaues Wunder galt in den frühen achtziger Jahren als räudige Kaschemme. Aus einer vergammelten Pappbude heraus wurden die alkoholischen Getränke an zwielichtiges Publikum verkauft. Hier traf ich die kuriosesten Kunden, die einem die unglaublichsten Geschichten auftischten. Mit steigendem Rausch berauschten wir uns an waghalsigen Gesprächen über Kunst, Philosophie und Politik. Nachts verschwand das Grau des Alltags. In der Elbe glitzerten und flimmerten die spiegelnden Lichter des Himmels oder die Bordbeleuchtung der Weißen Flotte, die mit den Dampfern »Junger Pionier« oder »Ernst Thälmann« behäbig und sächsisch gemütlich vorbeischipperten.

In diesem volkstümlichen Garten an der Elbe wurde ich eines Nachmittags verhaftet. Das Areal war blitzschnell von grünuniformierten Bereitschaftspolizisten umstellt worden, die nahezu jeden Schillergartengast auf einen der schätzungsweise zehn bereitstehenden Lastwagen abführten. Binnen Minuten saß ich mit etlichen rotnasigen Gestalten zusammen auf der Holzbank eines Robur-Lastwagens. Die Ordnungsmacht hatte uns zum Stillschweigen verdonnert. Viele konnten ihre Zunge eh nicht mehr zum Artikulieren nutzen, lediglich zum Grölen reichte die Kraft noch. Reden durfte nur, wer gefragt wurde.

Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war. Seit ich Student an der Leipziger Theaterhochschule und jetzt Mitglied des Schauspielstudios Dresden geworden war, hielt ich mich mit derben Provokationen und zweifelhaften Taten zurück. Eine Dreiviertelstunde hockte ich zwischen den betrunkenen Strolchen, die weitaus heruntergekommener ausschauten als ich, und wartete auf ein schnelles Urteil der Volkspolizei. Durch den Pulk der Ordnungshüter bahnte sich ein Mann mittleren Alters seinen Weg. Der Herr trug einen gepflegten braunen »Präsent 20«-Anzug.

»Wer hier issn Tom Pauls?«, fragte er.

Ich meldete mich wie ein Schuljunge und sagte schüchtern: »Ich!«

»Gommse mal da runter vom Hänger«, forderte der Herr.

Ich stand auf, drängelte mich durch die Reihe der Festgenommenen und kletterte von dem Pritschenwagen. Den Herrn im Anzug kannte ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, warum er gerade mich herausgepickt hatte.

»Sie ham immer und jederzeit Ihrn Bersonalausweis bei sich zu ham«, sagte er in schneidendem sächsischem Ton. »Verstanden!«

»Jawohl«, gehorchte ich, totenblass im Gesicht.

»Das hätte eene ganz lange Nacht für Sie wern gönn«, fügte er hinzu.

»Aber warum?«, wollte ich wissen.

»Asozial un arbeitsscheu«, sagte er und drehte ab. »Das sin hier bei uns in unsrem Land Straftaten! Haunse ab, Herr Pauls!«

»Wer sind Sie denn«, rief ich halblaut hinterher. Ich sah, wie er abwinkte. Ratlos fragte ich mich, wer da den schützenden Engel für mich spielte. Die Stasi war es jedenfalls nicht. Der hatte ich zuvor unmissverständlich eine mir angebotene Zusammenarbeit abgelehnt.

Dann stand plötzlich mein Freund Schmerle neben mir, der nun ebenfalls in Dresden wohnte und an der Kunsthochschule Theatermalerei studierte.

»Nochmal Schwein gehabt!«, sagte er.

Ich schaute ihn fragend an.

»Ich hatte meinen Ausweis zum Glück dabei«, sagte Schmerle. »Ich hab denen gesagt, wer du bist und dass du dringend zur Vorstellung musst!«

»Danke!«, sagte ich und atmete erleichtert auf.

Tatsächlich stand ich abends in »Blaue Pferde auf rotem Gras« auf der Bühne, einem geschichtskritischen russischen Stück mit Wladimir Iljitsch Lenin als umstrittenem Helden.

Als mein Sohn mit seinem frischen Bier zurückkehrte, erzählte ich ihm die Räuberpistole von damals. Natürlich kannte er sie längst. Er schaute mich lächelnd an, bedankte sich fürs Babysitten und prostete mir zu.

»Als du noch ein ganz kleiner Wicht warst«, setzte ich meinen Rückblick fort, »da hast du genau an dieser Stelle hier im Schillergarten im Kinderwagen gelegen. Und später bist du immer zu den Trunkenbolden getippelt und hast ihnen Kamm und Geldbörse aus der Gesäßtasche herausgezogen und mit unschuldiger Miene gewartet, bis sie den Verlust bemerkten.«

»Sag mal, Vater«, fragte mein Sohn spitz. »Du erzählst jetzt ständig diese Storys von früher. Willst du deine Memoiren schreiben?«

»Nein, dafür bin ich viel zu jung«, antwortete ich. »Aber man wird sich ja wohl noch erinnern dürfen!«

Schulhof, Friedhof, Hinterhof

Hoffnung in den Sechzigern

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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