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Tom Pauls

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Beschreibung

»Was Sachsen sind von echtem Schlag, die sind nicht tot zu kriegen.« Lene Voigt Tom Pauls verdankt der Schriftstellerin Lene Voigt seine beliebteste Figur: die renitente sächsische Rentnerin Ilse Bähnert. Doch wer war Lene Voigt, die einerseits heitere Gedichte und Geschichten schrieb und andererseits unter Wahnvorstellungen litt? Der Schauspieler begibt sich auf ihren Lebensweg und legt eine Hommage an die große Dichterin vor, die ihr Schicksal nicht einfach hinnahm, sondern um ihr Glück kämpfte. So ist diese Biographie eine Liebeserklärung sowohl an Lene Voigt als auch an den Lebensmut der Sachsen und ihren Humor. Lene Voigts Leben ist ein Frauenschicksal zwischen Kaiserreich, Nazidiktatur und DDR. Mit Texten und Gedichten in Mundart wurde sie in den 1920er und 1930er Jahren populär – bis die Nazis das Sächsische als »unheldisch und jüdisch« diffamierten und in der DDR der Dialekt als Parodie auf Walter Ulbricht betrachtet wurde. Lene verlor ihr Kind, ihre Ehe scheiterte, ihr Liebhaber starb. Sie floh aus Sachsen nach München, Bremen und Berlin, landete später in der Psychiatrie, die sie, obwohl genesen, in der DDR nicht mehr verließ. Tom Pauls hat ihren »Glassiggern« zu einer Renaissance verholfen. Er trifft die Schriftstellerin an den Schauplätzen ihres Lebens und lässt sie Begegnungen mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz, Hans Reimann oder Karl Valentin erleben. Er zeigt eine Frau, deren freier Geist und Seelenstärke bis heute beispielhaft sind.

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Über Tom Pauls

Tom Pauls, geboren 1959 in Leipzig, Schauspieler und Kabarettist. Regelmäßig gastiert er in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, spielt auf Kabarettbühnen, in großen Konzerthäusern und ist zudem im Fernsehen zu sehen. In der ARD-Serie »In aller Freundschaft« gab er den Hausmeister Ottmar Wolf. Populärste Bühnenfigur ist die sächsische Witwe Ilse Bähnert, der Tom Pauls seit über zwanzig Jahren Leben einhaucht. Pauls ist Prinzipal seines Theaters in Pirna, spielt dort seine erfolgreichen Stücke und begrüßt, wann immer er kann, die Gäste persönlich. Bei Aufbau lieferbar »Nischd wie hin. Unsere sächsischen Lieblingsorte« (zus. mit Bernd-Lutz Lange) sowie »Deutschland, Deine Sachsen. Eine respektlose Liebeserklärung« (zus. mit Peter Ufer). www.tom-pauls-theater.de

Peter Ufer, geboren 1964 in Dresden, arbeitete 17 Jahre lang als leitender Redakteur der Sächsischen Zeitung. Ufer gründete die Ilse-Bähnert-Stiftung zur Erhaltung und Förderung der sächsischen Kultur und Sprache. Seit 2011 ist er als freischaffender Journalist tätig und führt gemeinsam mit Tom Pauls das Theater in Pirna. www.peterufer.de

Informationen zum Buch

»Was Sachsen sind von echtem Schlag, die sind nicht tot zu kriegen.« Lene Voigt

Tom Pauls verdankt der Schriftstellerin Lene Voigt seine beliebteste Figur: die renitente sächsische Rentnerin Ilse Bähnert. Doch wer war Lene Voigt, die einerseits heitere Gedichte und Geschichten schrieb und andererseits unter Wahnvorstellungen litt? Der Schauspieler begibt sich auf ihren Lebensweg und legt eine Hommage an die große Dichterin vor, die ihr Schicksal nicht einfach hinnahm, sondern um ihr Glück kämpfte. So ist diese Biographie eine Liebeserklärung sowohl an Lene Voigt als auch an den Lebensmut der Sachsen und ihren Humor.

Lene Voigts Leben ist ein Frauenschicksal zwischen Kaiserreich, Nazidiktatur und DDR. Mit Texten und Gedichten in Mundart wurde sie in den 1920er und 1930er Jahren populär – bis die Nazis das Sächsische als »unheldisch und jüdisch« diffamierten und in der DDR der Dialekt als Parodie auf Walter Ulbricht betrachtet wurde. Sie verlor ihr Kind, ihre Ehe scheiterte, ihr Liebhaber starb. Sie floh aus Sachsen nach München, Bremen und Berlin, landete später in der Psychiatrie, die sie, obwohl genesen, in der DDR nicht mehr verließ. Tom Pauls hat ihren »Glassiggern« zu einer Renaissance verholfen. Er trifft die Schriftstellerin an den Schauplätzen ihres Lebens, beschreibt ihre Begegnungen mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz, Hans Reimann, Stefan Zweig, Karl Valentin oder Werner Finck. Er zeigt eine Frau, deren freier Geist und Seelenstärke bis heute beispielhaft sind.

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Tom Pauls

mit Peter Ufer

Meine Lene

Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt

Inhaltsübersicht

Über Tom Pauls

Informationen zum Buch

Newsletter

1. Was soll das?

2. Die Straße der Kindheit

3. Fernes Erinnern

4. Es ist der Mensch also kein Tier

5. Die Geister

6. Lustspiel

7. An den Mond

8. Das konnte noch viel schlimmer kommen

9. Der Nordwind pfeift

10. Manchmal hier, manchmal dort

11. Ich weeß nich, mir isses so komisch

12. Das zweite Leben

13. Muss das nu werklich sin?

14. Wir armen Irren

15. Das letzte Stündlein

16. Unverwüstlich

Bildteil

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Impressum

1. Was soll das?

19.30 Uhr, Vorstellungsbeginn: Ich müsste jetzt auf die Bühne, aber ich kann nicht. Irgendetwas hält mich zurück. Vor mir der Spiegel in der Garderobe, auf meinem Kopf die Perücke und der Strohhut. Meine Füße stecken in Hausschuhen aus Kamelhaar, ich trage ein Kostüm, darüber eine Kittelschürze. Und ich frage mich plötzlich: Was soll das?

Draußen wartet das Publikum, die Theaterklingel läutet, ich aber sitze in der Garderobe auf einem Stuhl vor dem Schminktisch und sehe im Spiegel eine ältere Dame mit grauem Haar: Ilse Bähnert. Ich bin fast sechzig Jahre alt und frage mich ernsthaft: Warum spiele ich diese Frau? Irgendwann muss es angefangen haben, dass ich mir Damenstrümpfe anzog und in der Dederonschürze auf die Bühne ging, um die Welt im sächsischen Dialekt zu erklären. Das war 1990. Es hatte bis dahin noch nie so eine Rolle gegeben. Ich suchte in einer Zeit, als Sachsen wieder Sachsen heißen durfte, Figuren, um das Lebensgefühl der Menschen in diesem Land zu zeigen. Es war ja 1952 verschwunden und blieb dennoch unvergessen. Genau wie die Texte der Leipziger Dichterin Lene Voigt. Sie erfand in den 1930er Jahren die Bähnerten. Sie schrieb mit herzlicher Heiterkeit auf, was sie erlebte. Ich hatte die Chance, aus ihrem unendlichen Lebensuniversum zu schöpfen. Aber das erklärt noch lange nicht, warum ich Ilse Bähnert bis heute, fast dreißig Jahre später, spiele.

Die lustige Witwe aus Sachsen ist eine Kleinbürgerin, die sich stets dagegen wehrt, kleinbürgerlich zu sein. Sie ist fähig zu ernsthafter Selbstironie, sich völlig im Klaren über ihre Lage, die ein Immobilienhändler als »unverkäuflich« einstufen würde. Ilse dagegen bleibt heiter und optimistisch, verpackt ihre Illusionen in ein kleines Päckchen, wirft es in den Fluss und empfiehlt: »Schau noch ein Weilchen nach, bis deine Bürde zum Nichts verstrich. Dann sag zum Schicksal trotzig und mit Würde: Jetzt kannst Du mich …« So schrieb es Lene Voigt und genau in diesem Witz und dieser Würde ist ihr Optimismus begründet.

Die Bähnerten wirkt wie ein wandelndes Lexikon bekümmerter Lebenserfahrungen, als bodenständiges Unikum aus dem Hinterhof der Geschichte mit einem Hang zu den feinen Leuten, immer auf der Höhe der Zeitgeister, nah dran an den alltäglichen Katastrophen und katastrophalen Alltäglichkeiten. Eine merkwürdige Frauenfigur, etwas unzufrieden, etwas schnippisch, aber lebensklug. Hinter jedem Irrsinn ein Sinn, auf jeden Witz folgen ernste Momente zwischen den Lachern. Unverwüstlich, unverbesserlich, unglaublich. »Höhepunkte, Höhepunkte, Höhepunkte und aus allem das Beste machen«, so heißt ihr Lebensmotto.

Ich sehe in den Spiegel und frage mich erneut: Warum spiele ich Ilse Bähnert? Ich schließe die Augen, in meinem Kopf verlaufen die Gedanken wie Aquarelle im Regen, und ich sehe mich plötzlich als neunjährigen Jungen auf einem Teppich.

Ich liebte es, auf diesem Teppich zu sitzen, denn es war ein dicker Perser, in dem meine kleinen Spielzeugautos versanken wie Riesen im Sand. Der Teppich lag mitten in der Stube der Leipziger Wohnung meiner Großeltern. In der Stube pendelte der Regulator die Stunden. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, auf dem Tisch flackerten vier Kerzen. Die Tür öffnete sich und mein Großvater kam herein. Er trug Papiere und Bücher auf dem rechten Arm, warf alles auf den Fußboden, zog die Tür des Kachelofens auf, stopfte die bedruckten Blätter zwischen das glimmende Holz und sagte wütend: »Weg, alles weg.« Dann lief er wieder hinaus, ließ die Tür offen, kam mit neuen Büchern auf dem Arm zurück, stellte sie neben den Ofen. Dann schmiss er zwei der Bücher in die Flammen, sagte wieder: »Weg, weg mit dem alten Zeug.«

Meine Großmutter Charlotte trat ins Zimmer, ich kroch schnell unter den Tisch, bis an die Wand, um Schutz zu suchen. Ich atmete ganz leise, um mein Versteck nicht zu verraten. Meiner Großmutter liefen Tränen über die Wangen, sie schrie ihren Mann an: »Hör sofort auf damit! Hör auf!« Aber mein Großvater dachte nicht daran. Er stopfte Bücher und Blätter in den Ofen, dass die Flammen in die Höhe schlugen.

»Was meinst du, wer das alte Zeug hier noch lesen will?! Was meinst du denn, wer überhaupt noch liest?«

»Das sind die Bücher von Friedel, deiner Mutter, die kannst du doch nicht einfach verbrennen«, antwortete meine Großmutter.

Ihr Mann sah sie an und sagte: »Sie ist tot. Und das alte Zeug hier hat meine Mutter umgebracht. Aus der Irrenanstalt kommt dieser ganze Kram. Was glaubst du denn, was sie so traurig gemacht hat, was glaubst du denn, was sie umgebracht hat. Ich nicht. Aber dieses alte Zeug hier.«

Meine Großmutter nahm drei der Bücher und wollte aus dem Zimmer gehen, aber mein Großvater versperrte ihr den Weg. Er riss ihr eines der Bücher aus der Hand und sagte: »Sieh dir das an. Sieh dir das an und lies: Ludwig Anzengruber, der Sternsteinhof. Lies mal diesen Blödsinn.« Er schlug die erste Seite auf und las: »Ein Gußregen war herniedergerauscht. Wallend und gischend schoss das sonst so ruhige Wässerlein zwischen den zwei Hügeln dahin; auf der Höhe des einen stand ein großes, stolzes Gehöft, am Fuße des anderen, längs den Ufern des Baches, lag eine Reihe von kleinen Hütten.« Meine Großmutter sah ihn fragend an: »Was willst du mir damit sagen?«

Mein Großvater schleuderte das Buch auf den Fußboden, es rutschte unter den Tisch, wo ich hockte. Er sagte: »Das ist Dorfdusselgeschreibsel, es verkleistert das Hirn, es hat Friedel trübsinnig gemacht, schwermütig, verstehst du? Weg, weg damit, sonst landest du auch noch in der Anstalt.«

Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Was hat meine Mutter immer gesagt, wenn ich sie gefragt habe, warum sie so viel liest? Weißt du es noch?« Meine Großmutter schüttelte den Kopf. »Ich werde es nie vergessen, was sie gesagt hat: Wenn mor sich in ä Buch versenkt, was drinne steckt, ooch überdenkt, dann läbt mor so recht eechendlich, in enner kleenen Welt für sich.«

Er verbarg sein Gesicht hinter den Händen und schüttelte den Kopf. Meine Großmutter schloss die Ofentür und schob meinen Großvater aus dem Zimmer. Ich sah das Buch vor mir liegen, vorn auf dem grauen Einband ein blauer Aufdruck: Hafis Lesebücherei. Vorsichtig zog ich das Buch zu mir, nahm es in die Hände, hob es an meine Nase und atmete den Geruch des Umschlags ein. Er roch merkwürdig, ein wenig verstaubt, ein wenig feucht, leicht parfümiert – und vor allem: seltsam vertraut.

Als ich das Buch öffnete, entdeckte ich ein Oktavheft, ein kleines blaues Heft, wie wir sie auch in der Schule benutzten. Vorn auf der Titelseite stand auf einer der zwei Linien: L.V. Ich öffnete das Heft und sah mit Bleistift beschriebene Zeilen. Die Schrift fiel leicht nach rechts, die Buchstaben besaßen famose Bögen und verschnörkelten sich ineinander. Zwischen jedem Wort befand sich exakt derselbe Abstand. Die einzelnen Zeilen standen akkurat untereinander, am Ende aber flatterten sie, ergaben Überhänge und Stufen. Vielleicht, so dachte ich, könnte ich mich an den Punkten, Kommas und Fragezeichen entlanghangeln wie ein Bergsteiger, der einen Gipfel erklimmt. Oben würde ich dann auf der Überschrift stehen, um den Fels aus Buchstaben zu bewundern.

Ich begann das Gedicht auf der Seite zu lesen, aber ich vermutete, dass es sich um eine Mischung aus einer Fremdsprache – vielleicht Holländisch – und Deutsch handeln musste, denn die ersten zwei Worte hießen: Enne gleene. Dann folgte das Wort: Hoffnung. Über dem u befand sich ein Haken. So schrieben wir in der Schule nicht. Ich blätterte weiter, und da sah ich Sätze, die ich lesen konnte: »Keiner denkt daran wohl gern, daß es einst zu Ende.«

Dann schloss ich das Heft und atmete erneut den Geruch des Umschlags ein. Dabei fiel mir auf, warum mir dieser Geruch so vertraut erschienen war: Das Heft roch genau so wie die Kleider meiner Urgroßmutter. Sie hatte immer in dem Sessel neben dem Regulator gesessen und leise ihr weiches Lachen gelacht. Gesagt hatte meine Urgroßmutter in den letzten Monaten vor ihrem Tod nichts mehr. Sie hatte in dem Sessel gesessen, gelacht und gelesen. Oft lag das Buch von Anzengruber, das mein Großvater verbrennen wollte, auf ihren Knien. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Manchmal kitzelte ich sie an den Beinen, dann schmunzelte sie im Schlaf. Nun war der Sessel leer.

Ich hörte meine Großmutter und meinen Großvater in der Küche reden, schlich über den Korridor in mein Zimmer, holte das Oktavheft aus dem Versteck zwischen meinem Hemd und meinem Körper hervor und legte das Diebesgut in eines meiner Schulbücher. Geduldig wartete ich bis zum Abend, denn ich wollte meinen Schatz noch genauer betrachten. Als es ganz still in der Wohnung war, holte ich mein Schulbuch, nahm das kleine Heft heraus und betrachtete es im Licht meiner Taschenlampe. Hinter dem etwas dickeren blauen Umschlag war das Papier im Inneren bräunlich, an den Rändern ein wenig geknickt, und wenn ich es in die Luft warf, dann öffnete sich das Heft in der Mitte, als hätte es mehrere Flügel und könnte fliegen. Ich stellte mich auf das Bett, probierte mehrmals Start und Landung. Mein kindlicher Gutachterblick schätzte das Oktavheft auf einen antiquarischen Höchstwert. Hier handelte es sich sicher um das geheime Tagebuch eines großen Schriftstellers, dessen Werk ich vor der Verbrennung gerettet hatte.

Allerdings passte etwas nicht. Die Buchstaben L.V. stimmten nicht mit dem Namen überein, den mein Großvater genannt hatte. Die Initialen eines Ludwig Anzengruber wären L.A. gewesen. Ich musste also weiterforschen, nahm das Heft hoch zu mir, legte es auf mein Bettlaken und begann das Gedicht weiter zu entziffern. Ich las laut vor: »Keiner denkt daran wohl gern, daß es einst zu Ende. Jeder wünscht, dass doch recht fern letztes Stündlein stände.« Plötzlich hörte ich draußen im Flur die Schritte meiner Großmutter Charlotte. Ich nahm das Heft, legte es schnell unter mein Kopfkissen und simulierte Tiefschlaf. Großmutter kam ins Zimmer, beugte sich über mich, küsste meine linke Wange und verschwand wieder.

Am nächsten Morgen gingen mein Vater, meine Mutter, meine Großmutter, mein Großvater und ich über den Leipziger Südfriedhof zur Beerdigung meiner Urgroßmutter Friederike Emilie Teichert, die alle Friedel nannten. Vor fünf Tagen war sie gestorben. Wir liefen vorbei an den Grabsteinen, die wie Monumente von Heiligen an mir vorüberschwebten. Die verwinkelten, mit gelbem Splitt bestreuten Wege schienen ins Nirgendwo zu führen. Man konnte es sogar hören. Das leise Knirschen unter den Sohlen blieb der einzige Laut. Nicht ein Vogel sang zu dieser Tageszeit. Ich blieb stehen und stellte mir vor, dass wir uns in einem Wald verliefen, der umgeben war von einer mit Efeu überwucherten Sandsteinmauer. Dahinter würde, wünschte ich mir, ganz sicher auf einer Lichtung zwischen Kiefern meine Urgroßmutter stehen und uns zum Essen an einer langen Tafel begrüßen. Der Tisch gedeckt mit roten und weißen Seerosen aus dem Friedhofsteich, dazwischen Silberbesteck und ein Service aus tausend und einem Stück Meissner Porzellan.

Das klingt zugegebenermaßen alles ein wenig kitschig, aber damals ging meine kindliche Phantasie mit mir durch. Meine Großmutter nahm mich an der Hand und zog mich weiter. Ich las auf dem Weg einige der Namen auf den Grabsteinen: Abraham, Baltuttis, Curschmann, Fürchtegott Gellert, Pantenius, Uhlendahl, Ulbricht.

Dann kamen wir an das Tor einer riesigen Halle, deren Bögen und Flügel Schatten auf uns warfen. Ich wusste nicht, was wir hier vor dieser Kapelle zu suchen hatten. Plötzlich öffnete sich das Tor, ein Dunst kroch aus der dahinterliegenden Halle, die im Halbdunkel lag. Ich vernahm das Echo unserer Schritte. Dann sah ich plötzlich etwas, dass mir einen furchtbaren Schreck versetzte. Auf einem hohen Bett lag meine Urgroßmutter und schlief. Alle hatten mir gesagt, sie sei tot, aber sie lag da mit geschlossenen Augen, Blumen zwischen den Händen und lächelte. In der Halle warteten schon viele Leute, einige hatte ich schon einmal gesehen, andere noch nie. Sie saßen auf Bänken und sahen sehr traurig aus. Ein Mann in einem schwarzen Anzug trat vor die Menschen und sagte zu uns: »Friederike Emilie Teichert, Ihre liebe Frau, Ihre Mutter, Schwiegermutter, Großmutter und Urgroßmutter, wünschte sich zum Abschied keine große Rede, sondern nur ein Gedicht. Ich habe dazu eine Freundin von Friederike Teichert gebeten, die Zeilen vorzutragen, bitte, Frau Hönisch.«

Eine Dame in langem schwarzem Kleid mit einer roten Rose am Revers trat vor das Bett meiner Großmutter und begann zu sprechen:

Das Lied vom letzten Stündlein

von Lene Voigt

Keiner denkt daran wohl gern,

daß es einst zu Ende.

Jeder wünscht, daß doch recht fern

letztes Stündlein stände.

Angstvoll wie ein banges Kind

wehren wir den Schatten,

die zuweilen huschgeschwind

uns gestreift schon hatten.

Ging der liebste Mensch voran

durch die dunkle Pforte,

hören sich so anders an

dann die beiden Worte:

Letztes Stündlein! Zaubermild

klingt’s wie Wiegenlieder.

Gleicher Sphäre Heimgefild

eint Getrenntes wieder.

Ich fand es sehr schön, wie die Dame mit der Rose das Gedicht vortrug, wollte klatschen, aber es war jetzt ganz still, alle weinten, einige husteten. Immer gibt es Menschen, die husten, wenn es ganz still sein soll, dachte ich noch. Da sah ich, wie der Dame schwarze Tränen über die Wangen liefen. Ich zitterte am ganzen Körper, denn noch nie hatte ich eine Frau gesehen, der schwarze Tränentropfen über das Gesicht krochen. Ich wusste als kleiner Junge nicht, dass sich Schauspielerinnen schminken. Fridel Hönisch, die das Gedicht vorgetragen hatte, war Schauspielerin. Das erfuhr ich, weil hinter mir zwei Frauen tuschelten und die eine sagte: »Dass die Hönisch kommt, hätte ich ja nicht gedacht.« Die andere sagte: »Die ist Schauspielerin und nutzt doch jede Bühne für einen Auftritt.«

Als wir die Halle verließen, wurde mir klar, dass es sich bei dem Gedicht um genau die Zeilen handelte, die ich in dem Oktavheft gelesen hatte. Zurück in der Wohnung, rannte ich in mein Zimmer, hob das Kopfkissen hoch – das blaue Heft fehlte! Draußen im Flur standen mein Großvater und meine Großmutter, die sagte: »Das war ja eine Überraschung, dass die Fridel Hönisch das Gedicht für unsere Friedel vorgetragen hat. Das war doch von Lene Voigt. Hat Friedel sie eigentlich persönlich gekannt?« Mein Großvater sagte: »Ja, sie haben sich in der Heilanstalt in Dösen kennengelernt. Beide waren Patientinnen auf derselben Station. Ich sage dir doch, vor Frauen, die lesen, muss man sich fürchten, sie leben in ihrer eigenen Welt.«

Ich erinnere mich an den Tag, als mir das blaue Heft erneut begegnete. Es war mein zwölfter Geburtstag, die Gäste saßen in der Stube, sie aßen Kuchen, schlürften Kaffee und dazu jeder ein Glas Gotano-Wermutwein. Auf einmal stand mein Onkel Horst auf und sagte: »Ich hab zur Feier des Tages ä Gedicht mitgebracht. Es steht hier in dem kleen blaun Heft.« Ich sah das Oktavheft mit den Buchstaben L.V. vorn auf der Seite und konnte es nicht fassen. Wie kam mein Onkel an das Buch, das mir unter meinem Kopfkissen weggestohlen worden war? Er schlug es auf. Meine Mutter sagte: »Muss das sein, Horst?« Aber Großmutter beruhigte sie: »Lass ihn doch.«

Horst las:

Dr Erlgeenich

von Lene Voigt

Ä Babba, där reidet mit Gustav, sein Sohn,

Seit anderthalb Schtunden dorchs Rosendal schon,

Dr Doktor, der hatn Bewäächung empfohln,

Die will dr Alde nu jede Nacht holn.

Sei Gleener wärd ängstlich un meent: »Gugge da,

Dr Erlgeenich schbukt, au – jetzt gommdr mr nah!«

»Äja, dummes Gind«, schbricht dr Babba un lacht,

»Wär hat dich uff so ä Gescheeche gebracht?«

»Ich sähn ganz deitlich, dort feixtr im Busche,

Un’s Mondlicht, das fälltn genau uff de Gusche!«

»Ich weeß gar nich, Gustav, was du heite hast,

Das is weiter nischt wie ä schimmlicher Ast.«

»Nee, nee, gannst mrsch gloom, ’s is ä Gärl un drhinter

Schwähm seine Deechter. Verbibbch, sin das Ginder!

De Niedlichste winkt mitn Schnubbduch und lacht,

Ach, Babba, is das änne komische Nacht!«

Dr Alde wärd ärcherlich, reidet wie dumm

Un meent zu sein Jung: »Gugg dich bloß nich mähr um!

De schteckst een ja dadsächlich an mit dein Bleedsinn.

Wie gann bloß ä neinjährches Gind so verdreht sin!«

Un doller noch reidet dr Babba drufflos,

Wild fliechen de Fätzen von Ärde un Moos,

Dr Gaul schnauft wie närrsch, fackt de Mähne gen Himmel

Un denkt: Was mei Reider is, där hat ä Fimmel! –

Na endlich da landense, ’s wärd schon balde hälle.

Dr Alde greift hinter sich – läär is de Schtelle.

Da brilltr un gratzt sich drbei hintern Ohrn:

»So’s richtch, jetz habbch Gustaven glicklich verlorn!«

Alle klatschten, nur meine Mutter nicht. Großmutter bedankte sich und meinte: »Ach, was die Voigten doch für herrliche Gedichte geschrieben hat.« Mein Vater sagte: »Obwohl Könige ja heutzutage gar nicht mehr so beliebt sind.« Onkel Horst sagte: »Quatsch, mor kann doch nich off ehma sagen: Der Erlgenosse.« Großmutter sagte nichts mehr, sondern stand auf, stapelte einige der Teller übereinander und brachte sie in die Küche. Die Frauen gingen hinterher, um das Geschirr abzuwaschen. Die Männer blieben am Tisch sitzen. Mein Vater fragte in die Runde, wer Lust auf Skat hat. Onkel Horst sagte: »Vorsichd, da spieln ooch Könische mit.« Er stand auf, ging zum Buffet, legte das blaue Heft auf das Möbel, zog einen Schieber auf, holte eine Schachtel mit Skatkarten, einen Papierblock sowie einen Stift heraus. Er setzte sich an den Tisch, mischte die Karten, verteilte sie und rief wenig später: »Achdzn, zwansch!« Ich zog das blaue Oktavheft von der Anrichte, setzte mich in den Sessel, in dem sonst Großvater saß. Aber der hatte jetzt nur Augen für sein Blatt. »Passe«, rief er und mein Vater: »Nullewert hand.«

Ich schlug das Heft auf und suchte das Gedicht, das Onkel Horst gerade gesprochen hatte. Da war es: »Dr Erlgeenich«. Ich fand, dass anderthalb Stunden ganz schön lang waren für einen Ritt durch das kleine Rosental, aber mir gefiel, wie sich »Sohn« auf »schon« reimte, und ich merkte es mir. In den nächsten zwei Zeilen folgte »empfohln« auf »holn«. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Meine Augen überflogen das Gedicht und ich prägte mir Wörter wie »Gescheeche« oder »verbibbch« mit großer Freude ein. Mein Lieblingssatz stand sofort fest: »Ich sähn ganz deitlich, dort feixtr im Busche, un’s Mondlicht, das fälltn genau uff de Gusche!«

Als ich fast das ganze Gedicht auswendig konnte, setzte sich Onkel Horst neben mich auf die Lehne des Sessels und erzählte mir, dass er den Erlkönig in sowjetischer Kriegsgefangenschaft kennengelernt hatte. Im Dezember 1944 zog die Wehrmacht den damals 16-Jährigen in Leipzig ein und schickte ihn in ein Reichsausbildungslager nach Brünn. Zwei Monate später landete er an der Ostfront und musste Panzergräben bauen. Ein Bombeneinschlag verschüttete ihn in dem Loch, das er selbst ausgehoben hatte. Ein russischer Soldat grub ihn nach 36 Stunden aus und nahm den deutschen Jungen mit in ein Lager unweit der Stadt Tallinn. Onkel Horst erzählte: »Vier Jahre habsch im Lager verbracht. Dort ham uns dä Bewacher befohln, mir solln ’ne Theatergruppe bilden und was spieln. Kultur is gut für dä Seele, ham die immer gesagt.« Er hob mich aus dem Sessel, setzte sich hinein und mich auf seinen Schoß. »Horche droff, mei Junge, was ich da gelernt hab: Dr Dell, das war ä mutcher Mann, da gam so bald gee andrer dran. Schon eißerlich gonnt mr das schaun: Sei Vollbart war dr Schwarm dr Fraun.«

Im Lager lernte Onkel Horst einen Leipziger Puppenspieler kennen, der ihm den Tell und auch den Erlkönig beibrachte. Zusammen bauten sie Marionetten aus Holz und ließen sie auftreten. »Unsre Puppen ham nur Säggsch gebabeld. Un der Erlgeenich gehörte zu den größten Erfolgen. Das vorgisst mor nich.« Mit 21 Jahren kam er zurück aus der Sowjetunion. »Die Jugend war geloofn. Aber die Heimat hatte ich dort im Lager immer im Kopf. Dä Lene Voigt hat mir geholfn, zu überlebn. Das kannsch dir sagen.« Ich nickte, während er erzählte, und dann fragte ich ihn nach dem blauen Heft. »Onkel Horst, wo hast du das her?« – »Das habe ich noch aus dem Lager, mei Kleener. Der Puppenspieler aus Leibzsch, der hat mir das off dor Fahrt nachheeme geschenkt. Ich hab den nie wieder gesehn.« Er nahm mir das Oktavheft aus der Hand und ging wieder an den Stubentisch, um weiter Skat zu spielen.

Zwei Wochen später wollte meine Deutschlehrerin wissen, wer schon einmal etwas vom Erlkönig gehört hat. Ich meldete mich. »Ja, bitte, Tom«, sagte Frau Haferkorn. »Mein Onkel«, sagte ich, »kennt den Erlkönig aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft und hat ihn mir beigebracht.«

»Möchtest du ihn der Klasse vortragen?«

Ich mochte, ging nach vorn, stellte mich neben den Lehrertisch und begann: »Ä Babba, där reidet mit Gustav, sein Sohn, seit anderthalb Schtunden dorchs Rosendal schon …« Die Schüler schmunzelten. Als ich gerade meinen Busche-Gusche-Lieblingsreim ins Klassenzimmer rufen wollte, unterbrach Frau Haferkorn meinen Vortrag. Meine Klassenkameraden baten, das Gedicht zu Ende hören zu dürfen, klatschten laut, aber Frau Haferkorn schickte mich zurück in meine Reihe und schrieb neben meinen Namen eine »Fünf« ins Klassenbuch. Außerdem gab sie mir eine Mitteilung an meine Eltern mit. Die lautete: »Tom verunglimpft die Sprache der deutschen Klassiker und macht sich mit seinem parodistischen Vortrag des Erlkönigs lustig.«

Onkel Horst besuchte uns Wochen später, diesmal feierte mein Vater Geburtstag. Doch bevor mein Onkel mich begrüßen konnte, fing ihn meine Mutter ab, schob ihn in die Küche und schloss hinter sich die Tür. Später saß er beim Kaffee am Stubentisch und schwieg. Als meine Eltern den Tisch abräumten, zwinkerte mir Onkel Horst zu und sagte: »Komm ma mit.« Wir gingen hinunter in den Hof. Onkel Horst steckte sich eine Zigarette an und fragte mich, ob ich auch mal paffen wolle. Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Nach einer Weile schmiss er die glühende Kippe auf das Pflaster und trat sie mit seinem rechten Schuh aus. Dann zog er das blaue Oktavheft aus seiner Jackentasche. »Hier, mein Junge, das schenke ich dir. Du hast es dir ehrlich verdient.« Bevor er mir das Heft überreichte, schlug er eine Seite auf und sagte: »Lies mal!«

Nu grade

(Meinen Gegnern gewidmet)

Wie oft geht uns was schief im Lähm,

Doch därf mor das so schwär nich nähm

Un jammern laut: »Wie schade!«

Ärscht rächt schbornt das de Gräfte an,

Un frisch befeiert ruft mer dann:

»Nu grade!«

Wenn alles glabbte in dr Welt,

So wie mer sich’s hat vorgeschtellt,

’S wär mit dr Zeit rächt fade.

Aus Hindernissen schbät und frieh

Wächst freilich-fräche Enerchie.

Nu grade!

Gemeene Mänschen reich an Zahl

Dräächt unsre Erde nu eemal

In jederlei Formade.

Doch jedes Been, das mir geschtellt,

Das bracht mich weiter uff dr Welt.

Nu grade!

Ich sitze in der Theatergarderobe, höre das Klingeln. Gleich beginnt die Vorstellung, doch ich bleibe vor dem Spiegel sitzen, denn in diesem Augenblick wird mir klar, dass die Gedichte aus dem blauen Oktavheft meine erste Begegnung mit Lene Voigt waren, wenn ich ihr auch später auf unterschiedliche Weise immer wieder begegnet bin. Ohne sie würde es auch Ilse Bähnert nicht geben. Ich feiere seit fast dreißig Jahren mit der Figur Erfolge. Und das verdanke ich zuerst der Leipziger Schriftstellerin. Deshalb begebe ich mich auf die Suche nach ihr.

2. Die Straße der Kindheit

Am 2. Mai 1891 wurde Lene Voigt als Helene Wagner geboren. Ihre Mutter Alma Maria Wagner wohnte damals schon seit einigen Wochen nicht mehr bei ihrem Mann in der Leipziger Ludwigstraße 46, sondern war zur Entbindung bei ihren Eltern in der Sidonienstraße 14 eingezogen. Jeden Tag wartete sie darauf, dass endlich die Wehen einsetzten. Aber nichts geschah. Sie saß Tag für Tag da, las vormittags die »Leipziger Nachrichten« von vorn und nachmittags von hinten. Die Zeitung brachte täglich ihr Gatte Karl Bruno Wagner mit, der als Schriftsetzer in der Präge-Vergoldungsanstalt und Rüschenfabrik in der Langen Straße Nummer 6 arbeitete.

Alma Maria erfuhr, dass im Hafen von Gibraltar das britische Schiff Utopia mit einem Schlachtkreuzer kollidiert war und innerhalb von fünf Minuten sank, 535 Passagiere und Besatzungsmitglieder starben. Sie las, dass das Theaterstück »Einsame Menschen« eines gewissen Gerhart Hauptmann in Berlin und Wien uraufgeführt worden war. Es ging um eine Bürgertochter, deren Leben verpfuscht war, weil sie nie etwas Richtiges lernen durfte, und ihren Mann, der zum Kompromissler verkam. Alma Maria fühlte sich an ihre eigene Ehe erinnert. Wie die neue Bismarck-Rentenversicherung funktionieren sollte, begriff sie auch nach mehrmaligem Lesen des betreffenden Artikels nicht. Ab dem siebzigsten Lebensjahr gab es wohl vom Staat Geld, aber dazu musste einer erst mal so alt werden und dreißig Jahre lang irgendwelche Beiträge einzahlen, wenn er sie denn zahlen konnte. Viel interessanter fand sie, dass es jetzt in Afrika eine deutsche Kolonie namens Deutsch-Ostafrika gab und die Engländer ihre Briefmarken nicht mehr am Schalter im Postamt, sondern aus einem sogenannten Automaten holten.

Alma Maria Wagner las und fluchte, weil dieses Kind in ihr nicht kommen wollte. Schon vier Mal hatte sie Wehen gehabt, aber nichts geschah. Ihre Mutter Alma Jansen legte sie jeden Abend ins Bett, strich ihr über den Bauch und sagte: »Diesmal schaffen wir es.« Alma Maria Wagner schüttelte den Kopf: »Ich habe schon den Pfarrer bestellt, er soll das Kind nach der Geburt nottaufen und kann es gleich im Sarg mitnehmen.« Die Mutter widersprach ihrer Tochter: »Achduliebergott! Du bist verflucht, wenn du so etwas denkst, und verfluchst dein Kind gleich mit.«

Sie mussten beide daran denken, wie Alma Maria im Dezember vor vier Jahren ein Kind tot zur Welt gebracht hatte. Klein wie ein Hühnchen hatte der Junge vor ihnen gelegen. Er schrie nicht, er lag einfach so da. Sie umhüllten ihn mit einem Tuch und brachten ihn in die Kirche, legten ihn auf den Altar, und der Pfarrer schlug ein Kreuz. Ein Jahr später, am 11. November 1888, kam Hans zur Welt, er schrie, er atmete, er lebte. Nach drei Stunden starb er. Ungetauft. Sie liefen zum Friedhof nach Schönefeld, legten ihn auf eine Wiese und baten den Gärtner, ihn zu begraben.

Jetzt saß Alma auf einem Stuhl und fluchte erneut. »Hör endlich auf mit deinem Gefluche«, sagte die Mutter. »Nimm dir ein Beispiel an Anna, die flucht nie, die tut was.« Anna war Alma Marias Schwester. Sie hatte gerade an der Wohnungstür geklingelt, kam herein und brachte eine Hebamme mit. Beide füllten Töpfe mit Wasser und stellten sie auf den heißen Ofen. Es klingelte erneut. Almas Gatte Karl Bruno trat ein und brachte den Pfarrer mit. Noch während sie eintraten, sagte Karl Bruno laut in die Runde: »Kenn Se dän, wo der eene den andern frachd: ›Nuh sag ma, warum trinkst du denne so viel?‹ Sagt der andre: ›Weil ich so vorzweifelt bin‹. Fragt der erste: ›Warum sin Se denn so verzweifelt?‹ Sagt der andre: ›Nuh, weil ich so viel trinke.‹ Is der ni herrlisch.« Bruno und der Pfarrer lachten.

Alma Maria sagte, er solle aufhören mit seinen blöden Witzen, dann kreischte sie plötzlich laut auf und rief: »Es geht los.« Die Männer gingen in die Küche, holten aus der Vorratskammer eine Flasche Schnaps und gossen sich zwei Gläser voll. Nebenan hörten sie Alma Maria, wie sie jammerte, wie die Hebamme rief: »Ich sehe schon den Kopf, schwarze Haare hat es.« Eine halbe Stunde später strampelte ein Kind auf dem Stubentisch, 3250 Gramm schwer. Es schrie und hörte die nächsten zwei Stunden nicht auf zu schreien. Alma Maria fragte: »Was ist es?« Die Hebamme antworte: »Ein süßes Mädchen.« Alma: »Hatte ich zwei tote Jungs und gedacht, es kann nicht schlimmer kommen. Jetzt hab ich ein Mädchen.« Der Pfarrer fragte: »Wie soll es heißen? Ich schlage vor, Sieglinde?« Alma Maria schüttelte den Kopf. »Klara«, sagte die Mutter. Alma Maria schüttelte wieder den Kopf. »Lotte«, sagte Karl Bruno. Noch einmal schüttelte Alma Maria den Kopf. Da meldete sich ihre Schwester Anna und sagte: »Wir haben doch, wie ihr alle wisst, eine Großtante in Krojanke, in Westpreußen. Die hat keine Nachkommen. Wenn wir das Kind so nennen wie sie, dann erbt sie vielleicht eines Tages alles. Nennen wir sie also Amalia.« Alma Maria schüttelte den Kopf und sagte: »Herr Pfarrer, taufen Sie meine Tochter auf Helene Alma Wagner. Und dann wollen wir sehen, ob sie das überlebt.«

Sie überlebte die Taufe, die Eltern brachten sie drei Tage später nach Hause in ihre Wohnung in die Ludwigstraße 46. Vater Karl Bruno stand jeden Morgen, bevor er gegen sechs Uhr das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, einen Augenblick neben der Wiege seiner Tochter. Er reichte ihr den kleinen Finger seiner linken Hand und Helene griff mit ihrer winzigen Hand danach. Seine Frau schlief noch. Er weckte sie und sagte: »Lass sie nich ausn Oochn.« Alma Maria entgegnete ihm, dass er aufhören möge, sein elendes Sächsisch zu sprechen und lieber pünktlich von der Arbeit nach Hause kommen solle. Dann stand sie auf und stellte sich im Nachthemd neben die Wiege. Als Karl Bruno am Nachmittag von der Arbeit wieder in die Wohnung zurückkam, da stand seine Frau immer noch im Nachthemd da. Das Kind schrie.

Karl Bruno Wagner nahm seine Tochter aus der Wiege und trug sie durch die Stube. »Hast du sie geschdillt?«, fragte er seine Frau.

Sie sagte: »Ich kann das nicht.«

»Willst du sie verhungern lassn?«

»Ich kann das nicht, Bruno«, sagte sie. »Bring sie weg.«

Karl Bruno Wagner lief mit Helene zur Nachbarin in den ersten Stock. Sie arbeitete als Amme und legte, ohne etwas zu fragen, das Kind an.

»Könnse sie nehmen, meine Frau will sie nich?«, fragte Karl Bruno. »Es is mei einzsches Gind.«

Die Nachbarin schlug vor, Helene die nächsten Wochen zu stillen. »Für ein paar Mark mach ich das, bis es ihrer Frau wieder besser geht«, sagte die Amme.

Karl Bruno ging zurück in die Wohnung, Helene schlief in seinen Armen ein. Er legte sie in die Wiege, schaute sie lange an. Dann ging er ins Schlafzimmer zu seiner Frau und sagte: »Ich bring unser Mädel zur Amme. Vielleicht gehd’s dir dann wieder besser.«

1893 zogen Bruno und Alma Wagner mit ihrer Tochter in die Ludwigstraße 40. Eine Minute Fußweg weg von der Nummer 46. Die alte Wohnung schien Alma zu eng, die Wände zu dünn, die Nachbarn hören das Geschrei des Kindes, meinte sie. Die neue Wohnung hatte ein Zimmer mehr, Platz für die Tochter, Platz für ein zweites Kind. Alma Maria war erneut schwanger.

Der Vater las Helene jetzt vor dem Einschlafen Märchen vor. Eines Abends rezitierte er den Erlkönig: »Wer reitet so spät … huuu … durch Nacht und Wind …« Da kam Alma ins Zimmer, blickte ihn zornig an und schüttelte den Kopf. »Höre auf, dem Kind solche schaurigen Geschichten vorzusagen.«

Karl Bruno schwieg, ging ans Kopfende des Bettes, hob eine Puppe übers Gestell und ließ sie sprechen: »Wer reitet so schbäte durch Nacht und Wind, das is dor Babba mit sei Gind. Er hält das Mädel wohl im Arm, er fasst es sicher, er hält es warm.« Der Vater ließ die Puppe einschlafen. Helene fielen die Augen zu. Karl Bruno legte die Puppe auf das Kissen seiner Tochter, ging in die Stube und sagte zu seiner Frau: »Morgen is Sonntag, da gönn wir doch ma mit dor Kleen rausgehn.«

Alma Maria antwortete ungehalten: »Sie bleibt hier in der Wohnung. Du weißt genau, dass sie da draußen nur krank wird, und ich kann nicht. Du siehst doch, in welchem Zustand ich bin. Und diesmal wird es ein Junge.«

Lene Voigt schrieb Jahre später ein Gedicht, eine Art gereimte Biographie im Stil von Wilhelm Busch. Sie nannte sich darin selbst Mally. In Teil II passiert es:

Mally der Familienschreck

Lieber Leser, freu dich mit:

Mally tut den ersten Schritt

Resolut hinein ins Leben.

Der Familie Herzen beben.

Bald folgt diesem Schritt ein zweiter,

So bewegt der Mensch sich weiter.

Doch es hat des Kindes Schreiten

Auch verschied’ne Schattenseiten.

Früher lag’s an einem Ort,

Jetzo ist es plötzlich fort.

Und so zuckt durchs Haus ein Schreck:

Weh, die Mally, sie ist weg!

Händeringend sucht der Vater,

Auf dem Sofa schluchzt die Mater.

»Ach«, seufzt sie, »die Mutterschaft

Fordert sehr viel Nervenkraft.

Sie ist wirklich mein Ruin,

Mann, reich mir das Aspirin!«

Vater bringt’s an ganz geschwind.

Weiter sucht er dann das Kind.

Horch, es klingelt an der Tür,

Und der Schutzmann vom Revier,

Lächelnd wie ein Maienmorgen,

Bringt die Mally, wohlgeborgen,

Die er griff, als sie soeben

Wollt dem Elternhaus entschweben.

Denn ein Leierkastenmann

Tat es ihrem Ferntrieb an.

Ja, es wirkt die Macht der Töne

Auch schon auf die kleinste Schöne.

Am 2. Mai 1895 lehnte Helenes Mutter am Fenster und sah nach unten in den Hof zu ihrer kleinen Tochter. Die lief durch die Sonnenstrahlen über das Pflaster und auf die Kinder aus der Nachbarschaft zu. An diesem frühlingswarmen Tag durfte Helene zum ersten Mal die Wohnung verlassen. Es war Helenes vierter Geburtstag. Vier Kinder standen Rücken an Rücken, und das Mädchen rannte wie ein wildgewordenes Fohlen um die Gruppe herum. Mehrere Runden umkreiste sie die anderen. Sie sah die Kinder an wie kleine Wesen aus einer Puppenstube, mit der sie bisher nicht spielen durfte. Ein Junge trug einen viel zu großen Pullover, die Hose hing bis zu den Knien, die Socken schoben sich aus den Schuhen, die Mütze saß schief auf dem Kopf. Er heiße Hans, sagte er, und wohne in der Ludwigstraße 5. Ein Mädchen mit ganz wild gelocktem Haar sah Lene mit großen Augen an. Als das Mädchen loslief, zog sie ihr rechtes Bein steif hinter sich her.

Helene musste in diesem Augenblick daran denken, was sie vor zwei Tagen erlebt hatte. Sie war zur Mutter in die Küche gelaufen und hatte ihr gesagt, dass ihre Bibbi vom Bein gefallen wäre. Die Mutter schaute sie ungläubig an, sagte, dass das Unsinn wäre und sie ein dummes Kind. Denn keine Puppe könnte vom Bein fallen, sondern höchstens ein Bein von einer Puppe. Aber Helene sagte, sie hätte doch das Bein noch in der Hand und ganz genau gehört, wie die Puppe mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen wäre. »Du kannst einen tatsächlich zur Verzweiflung bringen«, sagte die Mutter ungeduldig.

In diesem Augenblick kam der Vater in die Küche, Helene lief zu ihm und erklärte, dass ihre Puppe vom Bein gefallen wäre. Das Gesicht der Mutter lief rot an, sie sagte: »Rede du mit deinem Kind, das Kalb behauptet immer Dinge, die nicht stimmen. Das Bein ist von der Puppe gefallen, und dabei bleibt es.« Der Vater nahm seine Tochter in den Arm, sie gingen hinüber in die Stube. Da lag die Puppe auf dem Boden, Helene öffnete ihre Hand und gab dem Vater das kleine Bein. Karl Bruno beruhigte sein Mädchen: »Hasd recht, meine Kleene, de Bubbe is vom Been gefalln.«

Jetzt aber lief sie unten im Hof um die Kinder herum. Noch eine Runde und noch eine, ihr wurde warm, sie zog ihre Strickjacke aus und warf sie dem Jungen mit der Mütze zu. Hans grinste sie mit breitem Mund frech an. Lene flitzte weiter, und je heißer ihr wurde, um so mehr zog sie aus. Sie schleuderte ihre Bluse einem der Mädchen entgegen und einem anderen Jungen ihren Rock. Die Kinder lachten und klatschten Beifall, als würde eine Artistin eine schwierige akrobatische Nummer vorführen. Vielleicht lebt dieses Mädchen in einem Zirkus, dachten die anderen Kinder wohl. Einer musste sie geschickt haben, damit sie ihre Kunststücke vorführen konnte. Sie wussten es nicht besser, denn sie hatten Helene noch nie zuvor gesehen. Die Kinder lachten, Hans am lautesten, sie schlugen ihre Handflächen gegeneinander, als die Zirkustänzerin ihnen ihren Unterrock zuwarf. Sie klatschten auch noch, als eine Frau aus der Haustür in den Hof trat und die Kinder anschrie, sie sollten still sein und augenblicklich Strickjacke, Bluse, Rock und Unterrock zurückgeben. Ob sie das Schild nicht lesen könnten, das der Hauswirt extra an die Tür geschraubt habe: »Das Spielen der Kinder auf Hof, Flur und Treppe sowie das Umherstehen vor der Haustüre ist untersagt.«

Helenes Mutter griff nach der Hand ihrer Tochter und zog sie ins Haus. Eine Minute später saß das Kind oben in der Küche und hörte sich an, wie verdorben es sei und dass es wohl besser gar nicht auf die Welt gekommen wäre. Die Mutter: »Womit habe ich dich nur verdient, gottverdammt? Stell dich dort in die Ecke!«

Sie kämmte ihr die Haare straff nach hinten und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Die Verwandten, die am Nachmittag kamen, um zum Geburtstag zu gratulieren, schickte die Mutter wieder weg. Helene sei krank. Nur Tante Anna durfte hereinkommen, hörte sich die Geschichte aus dem Hof an und bestätigte, dass Helene nicht ganz gesund sein könne.

Lene Voigt erinnert sich später an diesen Tag: »Im sich anschließenden Familienrat wurden schlimmste Befürchtungen über mein späteres Leben laut, denn man schrieb ja 1895, und die Bestrebungen ›Zurück zur Natur‹ waren noch unbekanntes Land im damaligen Erziehungsprogramm. Und wenn so manches, was ich späterhin ausgefressen habe, zu Tantes Ohren drang, dann pflegte sie mit gen Himmel geschlagenen Augen zu sagen: ›Von der überrascht mich gar nischt, die war schon mit vier Jahrn verdorbn.‹«

Am nächsten Morgen stand Helene auf, ging in die Küche und sah Tante Anna sowie eine fremde Frau, die Töpfe mit Wasser auf den heißen Ofen stellte. Die Tante sagte: »Geh, geh in dein Zimmer und warte dort, bis ich dich hole.« Helene lief zurück in ihr Zimmer. Die Tante schloss hinter ihr die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Helene hörte schnelle Schritte. Es klingelte an der Tür, und die Stimme eines Mannes war zu hören. Sie kannte die Stimme. Sie gehörte dem Arzt, der kam, wenn sie krank war. Aber diesmal kam er nicht zu ihr. Er ging ins Schlafzimmer der Eltern, zur Mutter. Von ihr hörte Helene nichts. Nach zwei Stunden schloss Tante Anna das Kinderzimmer auf.

»Komm raus«, sagte sie. »Geh in die Küche.« Dort stand ihr Vater Bruno mit aschgrauem Gesicht. »Mir ham kein Glück mit Jungn, die wolln nicht leben«, sagte er. »De Mutti wollte noch een, aber mit den Jungs ham mir kein Glück. Du bist unser Glück, Helenchen.« Er ging in die Knie, umarmte sie und weinte. Der Pfarrer kam, schlug ein Kreuz und goss einige Tropfen auf die Stirn des toten Babys. Als er ging, sagte er, dass er nicht noch einmal zu einer Tottaufe zu den Wagners kommen werde. Tottaufe – das Wort vergaß Helene nie.

Jahre später, am 12. Dezember 1934, schrieb Lene Voigt ein Gedicht in Erinnerung an ihre Kindheit, das die »Neue Leipziger Zeitung« veröffentlichte:

Die Straße der Kindheit

Nach Jahrzehnten einmal wieder

Durch der Kindheit Straße gehn,

Wer dies tat, hört alte Lieder

Heimlich in sich auferstehn.

Dort im Torweg, noch erhalten,

Saßen wir, wenn Regen rann,

Flüsterten von Spukgestalten,

Die ein jeder sich ersann.

Sieh, da steht auch noch der Schuppen,

Altersmorsch, doch wohlbekannt,

Wo das Lottchen mit den Puppen

Sich gebaut den Unterstand.

Hier der Nußbaum weiß zu sagen

Von verwegnem Kletterspiel

An den freien Nachmittagen,

Bis die letzte Beute fiel.

Dort am Eck war einst ein Lädchen

So mit Kleinkram und mit Tand,

Doch uns Buben und uns Mädchen

Galt es als das Wunderland.

Und im Keller drüben pochte

Schusterkarl, den liebten wir!

Keinen gab’s, der ihn nicht mochte

Weit und breit in dem Revier.

Unsre kleinen Sorgen trieben

Täglich uns zu ihm ganz dicht.

Ja, wo ist der wohl geblieben?

Die ich frage, wissen’s nicht …

3. Fernes Erinnern

Lene Voigts Vater Karl Bruno Wagner stellte sich jeden Freitagabend neben den Stubentisch, auf dem ein Notenbuch lag. Da muss sie drei Jahre alt gewesen sein. Aber vielleicht erinnerte sie sich auch nur daran, weil der Vater dieses Ritual jahrelang vollzog. Jeden Freitag dirigierte er. Um 19 Uhr, keine Minute früher oder später, sondern exakt 19 Uhr. Er wartete die sieben Schläge der Wanduhr ab, dann stand er aus seinem Sessel auf.