Tom Pauls - Macht Theater - Tom Pauls - E-Book

Tom Pauls - Macht Theater E-Book

Tom Pauls

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Beschreibung

Erinnerungen eines legendären Theatermachers.

Erstmals erzählt Tom Pauls von dem Moment, der ihn für die Bühne begeisterte, von Selbstzweifeln während seines Schauspielstudiums, den Widersprüchen vor 1989 sowie dem Neuanfang nach 1990. Noch nie sprach er so persönlich von den Höhen und Tiefen seiner Karriere, über die Rolle des Theaters in der DDR, die Ostalgie sowie gegenwärtige Katastrophen wie Elbe-Hochwasser und Corona-Pandemie. Ohne Herausforderungen ging es bei ihm nie. Aber mit Possen bringt er unverdrossen sein Publikum zum Lachen und macht immer weiter Theater.  

»Der Kabarettist und Schauspieler füllt jeden Saal und spricht den Leuten aus Seele und Gemüt.« Stern

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Seitenzahl: 306

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Über das Buch

Weshalb flog Tom Pauls fast von der Schauspielschule und rückwärts über eine Bühne? Wieso spielte er eine Liebesszene mit einem Fallrohr? Warum war er bei der DEFA als Mistkäfer angestellt? Wann sprach er als Frau mit Michail Gorbatschow, und was verbindet ihn mit Diether Krebs, Christopher Lee und Stevie Wonder? Wie entkam er knapp einer Eierlikör-Explosion, und wozu gründete er gleich drei Theater? In diesem Buch lässt der Schauspieler 50 Jahre Theatergeschichte lebendig werden – von Leipzig über Dresden und Berlin bis New York. Er entführt Leserinnen und Leser mit großem Vergnügen hinter die Kulissen der Theaterwelt, berichtet von überraschenden Erfolgen und merkwürdigen Schicksalen. Sein neues Buch erscheint pünktlich zum 10-jährigen Jubiläum des Tom Pauls Theaters in Pirna, ein Haus für die sächsische Seele, Heimat für ein großartiges Publikum.

Über die Autoren

Tom Pauls, geboren 1959 in Leipzig, Schauspieler und Kabarettist. Regelmäßig gastiert er auf Kabarettbühnen, in großen Konzerthäusern, drehte mehrere Spielfilme und ist regelmäßig im Fernsehen zu sehen. Seit 50 Jahren steht er auf der Bühne, gründete vor 40 Jahren das legendäre Zwinger-Trio. Populärste Bühnenfigur ist die sächsische Witwe Ilse Bähnert, der Tom Pauls seit dreißig Jahren Leben einhaucht. Am 11.11.2011 gründete der Schauspieler das Tom Pauls Theater in Pirna, spielt dort seine erfolgreichen Stücke und begrüßt, wann immer er kann, die Gäste persönlich. Im Aufbau Verlag sind seine Bücher „Das wird mir nicht nochmal passieren. Meine fabelhafte Jugend“, „Nischd wie hin. Unsere sächsischen Lieblingsorte“ (zus. mit Bernd-Lutz Lange), „Deutschland, deine Sachsen. Eine respektlose Liebeserklärung“ und „Meine Lene. Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt“ lieferbar. Mehr Informationen unter www.tom-pauls-theater.de    

Peter Ufer, geboren 1964 in Dresden, ist promovierter Journalist, arbeitet als Autor, schreibt u. a. für die Sächsische Zeitung und den MDR. Er ist Spezialist für sächsische Sprache und Kultur und initiierte die jährliche Kür der „Sächsischen Wörter des Jahres“. Sein „Großer Gogelmosch“ ist das exklusive Wörterbuch der Sachsen, erschienen in fünf Bänden. Gemeinsam mit Tom Pauls betreibt er das Theater in Pirna und schrieb mit ihm Bücher wie „Deutschland, deine Sachsen“ und „Meine Lene. Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt“, erschienen im Aufbau Verlag. Mehr Informationen unter www.peterufer.de

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Tom Pauls

Macht Theater

Ein Stück vom Leben

Aufgeschrieben von Peter Ufer

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1: Durch das Raue zu den Sternen

Kapitel 2: Ulbricht und die Knusperhexe

Kapitel 3: Obladi Oblada

Kapitel 4: Aggressive Medien

Kapitel 5: Jumo-Jeans und Meldepflicht

Kapitel 6: Außersituative Sachsismen

Kapitel 7: Kein Damenbesuch, kein Alkohol

Kapitel 8: Dresdner Schwitzbad

Kapitel 9: Murren ist vergebens

Kapitel 10: Grenzgänger mit Katastrophen

Kapitel 11: Parasitäre Zustände

Kapitel 12: TP – Der Ausgestoßene

Kapitel 13: Leutnant bei der DEFA

Kapitel 14: Zeltplatz »Strahlende Zukunft«

Kapitel 15: Der gefesselte Hampelmann

Kapitel 16: Ilse, Ilse, jeder willse

Kapitel 17: Säggsisch, griddisch un - boliddisch

Kapitel 18: Amerikanische Verhältnisse

Kapitel 19: Eine Bühne kommt ins Schwimmen

Kapitel 20: Eine Panne jagt die nächste

Kapitel 21: Ein Theater wie ein Zuhause

Kapitel 22: Epilog

Bildteil

Abbildungsverzeichnis

Erläuterungen

Impressum

Kapitel 1

Durch das Raue zu den Sternen

Es gibt Tage, da kann ich nicht anders. Ich muss in die Natur. Dann fahre ich in die Sächsische Schweiz. Auf dem Weg zu dem Sandsteingebirge halte ich manchmal kurz vor dem Ziel auf einer Anhöhe an, um die weite Aussicht zu genießen. Was für ein Naturschauspiel! Ich sehe Berge und Gipfel, die ich schon erklommen habe und die, auf denen ich noch nie gewesen bin. Vielleicht werde ich da auch nie hinkommen, wer weiß. Diese Felslandschaft fasziniert mich immer wieder. Hier verstehe ich Begriffe wie »ewig« und »vergänglich«. Was lässt Goethe im »Faust« seinen Mephisto sagen: »Alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.«

Das Elbgebirge ist eine Ruinenlandschaft, eine bröckelnde Schönheit. Entstanden vor etwa 140 Millionen Jahren. Eine unvorstellbare lange Zeit ist das her. Die Gegend lag einst unter einem flachen Binnenmeer, in das die hineinfließenden Flüsse Sand schwemmten. Wie Kaffeesatz in einer Tasse lagerte sich der Sand am Grunde des Meeres ab und verfestigte sich unter dem Druck der nachfolgenden Sandmassen. Am Ende schichteten sie sich um die 500 Meter hoch. Vor etwa 100 Millionen Jahren wurde der Meeresboden dann angehoben. Vielleicht war ein Vulkan ausgebrochen. Das Wasser jedenfalls floss ab, und die Sedimente tauchten als zusammenhängende Sandsteintafeln wieder auf. Vor 70 Millionen Jahren drückte das Lausitzer Granitmassiv von Norden her auf die Sandsteinplatte. Sie zerbrach dabei, und ein ausgeprägtes System aus Spalten und Rissen entstand. Und als wäre das nicht schon genug, hob sich vor 35 bis 25 Millionen Jahren die Scholle des Erzgebirges im Süden um bis zu tausend Meter und stellte sich schräg. Dadurch erhielten die Elbe und ihre Nebenflüsse ein stärkeres Gefälle und damit eine höhere Fließgeschwindigkeit. Die Erosion nahm zu, und die Flüsse schnitten sich durch den Sandstein, schufen Täler und Schluchten. Auch die markanten Tafelberge wie der Lilien- und der Königstein entstanden auf diese Weise. Nun bröselt der Stein, und gelegentlich bricht er auseinander.

Hier, in dieser bizarren Felsenwelt bin ich oft unterwegs, um mir Kraft zu holen oder um über mein Dasein, die Welt, meine Probleme und Lösungen zu sinnieren. In der Sächsischen Schweiz stelle ich immer wieder fest, dass es Wege zu geben scheint, die unbegehbar sind oder plötzlich unbegehbar werden. Als ich zum Beispiel am Neujahrstag 2016 mit meiner Frau Sibylle gegen Mittag an der Nordostseite des Rauensteins auf einem schmalen Pfad unterwegs war, stürzten plötzlich Felsen ab. Wir waren gerade an zwei Boofen vorbeigegangen, da rumste es genau dort mörderisch. Es krachte, eine riesige Staubwolke umgab uns, Bäume knickten um und wurden mitgerissen. Wir waren nicht einmal hundert Meter von der Absturzstelle entfernt. Unvorstellbar. Wir hatten wahnsinniges Glück. Das Erste, was ich zu meiner Frau sagte, als wir den Schreck einigermaßen verdaut hatten, war: »Offenbar sind wir noch nicht dran.«

Gleichzeitig entdecke ich in dieser erstaunlichen Landschaft auch neue Wege. So wie am Bärenstein, unweit von Rathen. Als ich dort im Januar 2021 wanderte, suchte ich eine ganze Weile den Einstieg zum Gipfel. Obwohl ich diesen Weg schon mehrfach gegangen war, lief ich diesmal unschlüssig hin und her. Es schneite und die Gegend wurde leicht mit Schnee bepudert. Alles sah irgendwie verändert aus. Und dann, ganz plötzlich, fand ich den Zugang. Da entdeckte ich zum ersten Mal die in Stein gehauenen sechzehn Buchstaben: »Per aspera ad astra«. Übersetzt aus dem Lateinischen heißt das: Durch das Raue zu den Sternen. Man kann auch sagen: Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen. Oder es heißt: Es ist kein bequemer Weg zu den Sternen.

Einer meiner Nachbarn, der als Leistungssportler 1980 mit dem DDR-Doppelvierer bei den Olympischen Spielen Gold erruderte, meinte später, ich solle nicht um den heißen Brei herum reden. Er übersetzte die Zeile mit: Ohne Fleiß kein Preis. Zu seiner Zeit sei im Leistungssport immer hart trainiert worden. Schmerz wurde stets mit Schmerz behandelt, und nur, wer das überstand, konnte gewinnen.

Tatsächlich stammt die Redewendung von Seneca, dem römischen Philosophen, Dramatiker, Naturforscher, einem der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Er lebte vom Jahre 1 bis zum Jahr 65. Heinrich von Kleist erwähnt in seinem Drama »Prinz von Homburg« den Spruch auf der Standarte des schwedischen Heeres. Er ist zudem das Motto der United States Air Force Academy. Die Schöpfer der Fernsehserie »Star Trek« entlehnten die Wendung als Wahlspruch der Sternenflotte. In abgewandelter Form »Ad Astra Per Aspera« stehen die Buchstaben auf der Plakette zum Gedenken an die verbrannte Besatzung der Apollo 1 an der Startrampe auf Cape Canaveral.

Meine Startrampe war an diesem Wandertag im Januar 2021 die Riegelhofstiege, die zum Gipfel des Bärensteins führt. Ich fragte mich, warum mir ausgerechnet heute und hier am Einstieg zum Aufstieg die Lebensformel Senecas begegnete. Ich musste daran denken, wie ich im November 2011 mein Theater am Markt 3 in Pirna eröffnet hatte. Mir fiel ein, wie nachdenklich ich gewesen war, als im Juni 2013 das Hochwasser der Elbe das Haus überflutete und die Bühne schließen musste. Anfang 2021 konnte das Theater wieder nicht spielen, diesmal geschlossen wegen der Virus-Pandemie. Das Jahr des zehnten Geburtstages begann damit, dass keiner feiern durfte. Der Zweifel, ob es richtig war, ein eigenes privates Theater zu betreiben, kam erneut in mir auf. Ich dachte darüber nach, was mich überhaupt antreibt, Schauspieler zu sein. Ich überlegte, was mit mir, was mit dem Publikum geschieht, wenn für Künstlerinnen und Künstler der Vorhang fällt, bevor sie ihn überhaupt öffnen dürfen. Und die Diskussion, ob Theater systemrelevant sind oder nicht, nervt mich. Theater sind nicht für ein System da, sondern für das Leben, sie sind lebensrelevant. Es stellt doch zum Glück auch keiner die Frage, ob die Liebe für ein System wichtig ist. Nein, ist sie nicht. Aber ohne die Liebe kommt kein Mensch aus.

Ich konnte an diesem Tag nur wandern gehen, weil ich Zeit hatte. Das Virus-Berufsverbot verordnete mir Einsamkeit mitten in der Natur. Es war ganz still, Flocken fielen. Ein Kleiber setzte sich auf einen Ast. Störte ich ihn, oder nahm ich mich zu wichtig? Nach ein paar Minuten ließ er zu, dass ich hier wanderte. Akzeptierte er mich, weil ich in diesem Augenblick Teil der Natur wurde? Wohin der Weg mich führen würde, ahnte ich nur. Doch die Neugier trieb mich, die Strecke von Anfang an zu gehen. Ich dachte: Unterwegs herrscht das Chaos. Erst in der Retrospektive erscheint alles folgerichtig. Ich lief los.

Kapitel 2

Ulbricht und die Knusperhexe

Ich blickte hinauf zum Großen Bärenstein. Am Eingang zur Riegelhofstiege kletterte ich über mehrere Felsabsätze und summte ein Lied vor mich hin: »Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heißa, hoppsassa! Ich Vogelfänger bin bekannt bei Alt und Jung im ganzen Land.« Ich musste daran denken, wie ich schon als Sechsjähriger meiner Schwester vorgesungen hatte: »Wenn alle Mädchen wären mein, so tauschte ich rasch Zucker ein. Die, welche mir am liebsten wär, der gäb ich gleich den Zucker her.«

Als ich Kind war, lief bei uns zu Hause nachmittags und abends immer klassische Musik. Ich hörte vom Schallplattenspieler die Kratzer auf den Eterna-Schallplatten. Beethoven, Haydn und Mozart hatten offenbar einen Schaden. Mein Vater wollte die Nebengeräusche beseitigen, wischte die Platte mehrfach mit einem weichen gelben Tuch ab. Aber es half nichts. Außerdem gab er mir zu verstehen, dass ich mich niemals an Beethoven, Haydn oder Mozart vergreifen sollte, sonst bekämen sie einen Sprung. Ich schwor es. Aber es half nichts. Denn manchmal stellte ich heimlich die Geschwindigkeit von 33 auf 45, und dann klangen die Töne so hoch, als hätte das gesamte Orchester Helium eingeatmet. Mein Vater raste.

Ich muss jedoch zugeben, dass mir Wolfgang Amadeus Mozart auch in Normalgeschwindigkeit gefiel. Nicht nur der »Vogelfänger« aus der »Zauberflöte«, sondern besonders das Violinkonzert A‑Dur mit David Oistrach und der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Franz Konwitschny beeindruckte mich sehr und bewegte mich tief. Obwohl ich als Sechsjähriger weder wusste, wer Oistrach, noch wer Konwitschny waren. Nur von Mozart hatten mir meine Eltern schon sehr früh und sehr nachdrücklich erzählt. Sie erklärten mir, dass er ein echtes Wunderkind gewesen sei und es immer wieder Kinder und Wunder geben würde. Keine Ahnung, ob das in meinem Fall etwas geholfen hat.

Dreißig Jahre später sollte ich dann den »Amadeus« von Peter Shaffer auf der Bühne spielen. Doch bis es dazu kommen konnte, war es ein langer Weg, und es brauchte zuvor diesen einen Moment, der mich berührte und verführte, um überhaupt einen Gedanken daran verschwenden zu können, dass das eines Tages möglich sein könnte. Ich erlebte diesen einen Moment im Dezember 1965, auch wenn mir erst Jahre danach klar werden sollte, dass dieser eine Augenblick mein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt hatte.

Es begann zum einen damit, dass mich mein Großvater Willy seit meinem vierten Lebensjahr regelmäßig mit ins Schauspielhaus in Leipzig nahm. Er arbeitete dort als Gewandmeister und zeigte mir den Fundus und die Theaterschneiderei. Bevor ich auch nur ein Stück auf der Bühne gesehen hatte, sah ich die Kostüme. Ich bewunderte die Schauspielerinnen und Schauspieler, wenn sie für die Vorstellungen eingekleidet wurden. Kennengelernt habe ich so Christa Gottschalk, Manfred Zetzsche, Günther Grabbert, Hans-Joachim Hegewald. Sie hatten alle eine unglaubliche Ausstrahlung. Schon ihre Stimmen ließen mich erzittern.

Besonders beeindruckte mich Marylu Poolmann. Mein Großvater Willy grüßte sie mit großer Ehrfurcht. Er erklärte mir auch, warum. Sie sei Holländerin, geboren am 3. Oktober 1936 in Amsterdam. Ihr erstes Engagement habe sie in Leipzig bekommen und sei geblieben. 46 Jahre lang stand sie in Leipzig auf der Bühne. Allerdings behielt sie ihre niederländische Staatsbürgerschaft und konnte dorthin reisen, wann immer sie wollte. Opa Willy erzählte mir, dass ihre erste Rolle die der Paula in dem Schwank »Der Raub der Sabinerinnen« gewesen sei. Sie habe ihren ersten Auftritt sehr ernst genommen. Als ihr Kollege Johannes Curth ihr bei den Proben zuflüsterte: »Alles sehr schön, meine Gude, aber leider kommds ni über dä Rambe« nahm Marylu Poolmann das gelassen. Nichts brachte sie aus der Ruhe, deshalb erinnere ich mich wohl besonders gern an sie.

Es gibt noch einen zweiten Grund für die Erinnerung: ihre Tochter Frauke. Mit ihr studierte ich später an der Theaterhochschule in Leipzig Schauspiel. Doch schon als Kinder stromerten wir gemeinsam durch die Künstlergarderoben des Leipziger Schauspielhauses. Eines Tages wurden wir Zeugen einer heftigen Diskussion. Es ging offenbar um Politik, wir begriffen jedoch nicht, was der Grund für den Streit war. Frauke wollte ihrer Mutter dennoch beistehen, rannte zu ihr, stellte sich vor sie. Ihre Mutter blieb wie immer gelassen. Sie nahm die Hand ihrer Tochter und sagte: »Bleib ruhig, bleib ganz ruhig, wir sind nur zu Gast in diesem Land.«

Zum anderen bahnte sich der eine entscheidende Moment für mich damit an, dass ich dreimal in der Woche meine Großmutter zu ihrer Chorprobe begleiten musste. Meine Eltern übertrugen Oma die Aufsichtspflicht über ihr Wunschwunderkind, bei dem allerdings der Knoten erst noch platzen musste. Meine Mutter und mein Vater arbeiteten wochentags bis in den Abend hinein und befürchteten wohl, dass ich in ihrer Abwesenheit allein zu Hause verhungern oder, viel schlimmer noch, beim Hören einer der Eterna-Platten das Vinyl zerkratzen könnte. Also musste Großmutter ran. Ich ging gern mit ihr zur Chorprobe, denn die alten Damen mochten mich und meine lockigen Haare. Jedenfalls nahm ich das an, denn sie strichen immer darüber.

Omas beste Freundin hieß Gigi, eigentlich Gertrud Ilse Pätzold, war pensionierte Musiklehrerin und die Leiterin des Laienchores des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands (DFD). Ich gab Frau Pätzold den Spitznamen Gigi, denn immer, wenn ich mit Großmutter zur Probe kam, stach sie mir zur Begrüßung einen ihrer spitzen Finger wie eine Gieke, also einen spitzen Gegenstand, in meinen Bauch. Dazu meinte sie: »Na, mei Dleener, bisd wo kidzlich!?« Ich spürte ihre Fingerkuppe nah an meinen Eingeweiden und dachte sofort an die Hexe aus dem russischen Märchen »Die schöne Wassilissa«. Das hübsche Mädchen musste sich gegen die Sticheleien der bösen Zauberin wehren, und es gelang ihr eines Tages, sie in einen Kessel mit kochendem Wasser zu werfen. Doch die Hexe versuchte zu entkommen. Immer drohten neue Gefahren. Irgendwann gelang es der schönen Wassilissa, den Deckel auf den Blechpott zu drücken, und die Furie verendete in dem heißen Wasser wie ein Krebs im Kochtopf.

Was mich allerdings versöhnte, war der Gesang. Der Chor der alten Damen trällerte mit feinem Sopran beispielsweise »Ännchen von Tharau«. 17 Strophen lang intonierten die Sängerinnen die Geschichte um eine offenbar begehrenswerte Frau, die all ihre Männer überlebt hatte. Ich hörte genau hin: »Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein soll unsrer Liebe Verknotigung seyn.« Ich verstand kein Wort, aber es klang verheißungsvoll. Auch als meine Großmutter mit ihren Sängerinnen »Im Krug zum Grünen Kranze« trällerte, stieg meine Stimmung. Ich wusste nicht warum, aber die Melodie ging mir nah. »Hei, was die Becher klangen, wie brannte Hand in Hand: Es lebe die Liebste deine, Herzbruder, im Vaterland!« Ich ahnte nicht einmal, was damit gemeint sein könnte, aber es klang erhebend.

Neben diesem populären deutschen Liedgut probte der Chor ein weiteres Musikstück. Oder besser gesagt: Gertrud Ilse Pätzold Gigi verlangte von ihren Frauen, dass dieses Lied geübt werden sollte. Man werde als DFD-Chor demnächst auf dem Pressefest der »Leipziger Volkszeitung« auftreten, erklärte sie. Und zu dieser Veranstaltung müsse dieser neue Gassenhauer intoniert werden. Die meisten der Chorfrauen schüttelten den Kopf. Ich spürte den kollektiven Unmut des Ensembles. Aber Gertrud Ilse Pätzold Gigi wiederholte ihre Forderung. Sie argumentierte damit, dass der DFD ihnen den Proberaum kostenlos zur Verfügung stellen würde und es deshalb selbstverständlich sei, auch mal dankbar etwas zurückzugeben. Und so schlimm sei das Traktoristen-Lied nun auch wieder nicht. Es hieß: »Fritz, der Traktorist«. Gigi begann zu singen: »Wer ist überall der Erste? Das ist Fritz, der Traktorist! Ob’s im Pflügen oder Säen, oder ob’s im Lernen ist. Auf dem Felde bei der Arbeit, singt er stets das beste Lied, dann stimmt Gretel ein ganz leise, weil ihr Herz vor Sehnsucht glüht, nach dem Fritz, nach dem Traktor, nach dem Fritz, ja! Dem Fritz, dem Fritz, dem Fritz, dem Traktorist!«

Die DFD-Chor-Frauen lächelten leicht verkrampft, und meine Großmutter sagte: »Das singen wir nicht.« Gigi Pätzold sang weiter. »Sonntag bei der Erntefeier griff sie heimlich seine Hand. Da ist Fritz, der stets der Erste, kopflos in den Wald gerannt! Wer ist überall der Erste? Das ist Fritz, der Traktorist!« Meine Großmutter formulierte diplomatisch: »Vielleicht überlegen wir uns das noch mal mit dem Fritz.« Das Pressefest fand ohne die Hymne auf den Traktoristen statt.

An einem Sonntag im Dezember 1965 kam meine Großmutter überraschend zu meinen Eltern nach Hause. Sie offenbarte mir, dass ihr Chor heute in die Oper gehen würde und auch für mich eine Eintrittskarte gekauft worden sei. Eine Stunde später fuhren wir zur Leipziger Oper am Karl-Marx-Platz. Als wir am Eingang angekommen waren, kam ein Herr im schwarzen Anzug auf uns zu. Er erklärte den anwesenden Chordamen, dass er vor der Opernaufführung von »Hänsel und Gretel« von Engelbert Humperdinck noch eine kleine Hausführung organisiert habe. Wir folgten ihm in das Foyer.

Beim Eintreten entdeckte ich über einer der Eingangstüren ein Relief aus Blättern und einem Ährenkranz, in dessen Mitte ein Hammer und ein Zirkel eingemeißelt waren. Der Herr im schwarzen Anzug sah meinen verstohlenen Blick und erklärte, das sei die Supraporte mit dem Staatsemblem der DDR. Die Fassade bestehe übrigens aus hellem Pirnaer Sandstein.

Der Herr im Anzug setzte seinen Vortrag fort. So erfuhren wir, dass Walter Ulbricht, der aus Leipzig stammte, das Opernhaus am 8. Oktober 1960 persönlich eingeweiht hatte. Der Bau soll 44,6 Millionen DDR-Mark gekostet haben. Zudem verfüge das Gebäude über 680 Zimmer mit 737 alugerahmten Fenstern, und es sei in seiner bühnentechnischen Ausstattung das modernste Opernhaus in ganz Europa. »Wir befinden uns hier im Vestibül«, sagte der Mann. Die Wände, so erklärte er, seien mit handgefertigten Fliesen aus Meißener Porzellan wie in einem Palast verkleidet. Dann zeigte er auf einen Fahrstuhl. »Der führt zur Staatsratsloge samt separatem Eingang und Empfangsräumen. Da befindet sich sogar ein Tisch, fein mit Perlmutt besetzt.« Ich sah Gigi an und hoffte, sie würde mir erklären, was Perlmutt sei, aber sie sagte nichts, sondern fragte nur: »Kann man aus der Ulbricht-Loge gut sehen?« Der Anzugträger antwortete: »Von oben sieht man nicht so gut, was unten passiert. Aber von unten sieht man sehr gut, was oben passiert.«

Plötzlich klingelte es, die Führung war beendet, alle gingen auf ihre Plätze und setzten sich. Das Licht erlosch. Die Ouvertüre erklang. Der Vorhang öffnete sich. Die Märchenoper begann mit Bläsern, es setzten die Violinen ein, Flöten folgten. Plötzlich sang Gretel: »Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh? Die Gänse gehen barfuß und haben kein Schuh.« Das Taumännchen, die Kuchenkinder, der Besenbinder Peter und das Sandmännchen spielten auf der Bühne, die sich in einen Wald und eine Lichtung samt Pfefferkuchenhaus verwandelte. Hänsel und Gretel hungerten, wurden von Mutter und Vater verstoßen, verliefen sich zwischen den Bäumen, bewunderten den Mond. Nebel waberte. Und plötzlich flog die Hexe auf einem Besen quer über die Kulissen hinweg. Sie verzauberte Tiere, sperrte Hänsel ein. Gretel kämpfte mit der Knusperhexe und stopfte sie in einen Ofen. Ich zitterte, ich schwitzte, ich lachte, ich sog jeden Ton in mich ein. Das war der Moment. Ich spürte zum ersten Mal die Faszination des Theaters. Nur eines hatte mich während der Vorstellung gewundert: Hänsel bewegte sich nicht wie ein Hänsel. Ich wusste nicht, dass beide Rollen mit Frauen besetzt waren.

Als wir nach Hause kamen, fragte meine Mutter, wie es denn gewesen sei. Ich schwieg. Meine Großmutter erzählte, dass ihr Chor vor der Aufführung durchs Haus geführt worden sei und dass wir die Ulbricht-Loge besichtigen durften. Mein Vater fragte in die Runde: »Kennt ihr den Ulbricht-Witz?« Meine Großmutter schüttelte den Kopf, meine Mutter warf meinem Vater einen strengen Blick zu. Sie schienen Ulbricht zu kennen. Ein Wunderkind wie Mozart schien er aber offenbar nicht gewesen zu sein, sonst hätten mir meine Eltern von ihm erzählt.

Mein Vater kicherte und sagte: »Walter Ulbricht besucht den Rostocker Überseehafen. Er fragte einen Matrosen aus den USA: ›Wohin fahrt ihr denn?‹ Der Matrose antwortete: ›Nach Ghana.‹ Ulbricht fragte: ›Und was bringt ihr hin?‹ Der Matrose: ›Wir bringen Traktoren, Rohre, Saatgut hin.‹ Ulbricht: ›Und womit kommt ihr zurück?‹ Matrose: ›Mit Bananen und Kokosnüssen und Zuckerrohr.‹ Ulbricht fragte einen französischen Matrosen: ›Wohin fahrt ihr denn?‹ Der Matrose: ›Nach Buenos Aires.‹ Ulbricht fragte: ›Und was bringt ihr da hin?‹ Der Matrose: ›Wir bringen Rotwein hin, Käse und schöne Stoffe.‹ Ulbricht: ›Und womit kommt ihr zurück?‹ Matrose: ›Mit Rindfleisch, Mais und Zigarren.‹ Ulbricht fragte einen Matrosen der DDR-Handelsmarine: ›Wohin fahrt ihr denn, Genosse?‹ Der Matrose: ›In die ruhmreiche Sowjetunion.‹ Ulbricht fragte: ›Und was bringt ihr dahin?‹ Der Matrose: ›Wir bringen Maschinen hin, Simson-Mopeds und Schrankwände aus Zeulenroda.‹ Ulbricht fragte: ›Und womit kommt ihr zurück?‹ Der Matrose: ›Wie immer, mit dem Zug.‹«

Mein Vater lachte laut, sehr laut. Meine Mutter warf ihm einen Blick zu. Er hörte auf zu lachen und meinte, es sei ja schon spät geworden und der Junge müsse ins Bett. Großmutter umarmte mich und sagte: »Das war wirklich schön heute in der Oper.« Ich küsste ihre Wange zum Abschied. In dieser Nacht träumte ich davon, wie ich mich in eine Hexe verwandelte und durch die Luft flog.

Kapitel 3

Obladi Oblada

Hier, zwischen den Steinen der Sächsischen Schweiz, könnte eine Hexe wunderbar fliegen – von Fels zu Fels. Auf dem Gipfel des Bärensteins wäre der ideale Hexentanzplatz. Ich stieg Schritt für Schritt die Riegelhofstiege höher, hielt mich mit den Händen links und rechts am Felsen fest und atmete immer schwerer.

Während ich so lief, musste ich an meinem Großvater im Leipziger Schauspielhaus denken. Seit ich die Hexe in »Hänsel und Gretel« gesehen hatte, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich verwandeln zu können. Aber ich wollte auf keinen Fall erkannt werden. Die Verkleidung reizte mich wie andere Kinder das Versteckspiel im Clara-Zetkin-Park. Eines Tages, als ich wieder einmal den Fundus des Theaters erkundete, entdeckte ich ein Kostüm, das mir perfekt zu passen schien. Ich zog es vom Kleiderständer, streifte die weiten Hosen an, legte mir den Mantel um meine schmalen Schultern, zog die schwarzen Stiefel über meine Füße. Dann nahm ich ein Florett in meine rechte Hand. Kampfbereit stellte ich mich breitbeinig wie ein unbesiegbarer Held in den Flur unweit des Intendantenbüros. Ich fühlte mich wie Gérard Philipe in dem Film »Fanfan, der Husar« und war mir sicher, Madame Pompadour oder jede andere Geliebte eines Königs kraft meiner Verkleidung und großartigen schauspielerischen Fähigkeiten aus jeglicher Gefahr retten zu können. Das erklärte ich erhobenen Hauptes auch jeder Schauspielerin und jedem Schauspieler sowie dem Theaterchef, die mir in dem Flur entgegenkamen. Mein Großvater nahm mich beherzt zur Seite und sagte: »Mein Junge, es gibt eine Regel im Theater: Keiner nimmt ungefragt ein Kostüm aus dem Fundus. Schreib Dir das hinter Deine Löffel. Und Du siehst auch nicht aus wie ein Husar, sondern wie der gestiefelte Kater.«

Fast 20 Jahre später, 1984, sollte es mir endlich einmal gelingen, abzuheben. Ich sah aus wie eine Fledermaus und glaubte für kurze Zeit, ein echter Überflieger zu sein. Im Dresdner Schauspielhaus spielte ich in William Shakespeares Stück »Der Sturm« den Ariel. Der Luftgeist muss dem Magier Prospero dienen, der ihn aus dem Baum gerettet hat, in dem er von Sycorax, der Hexe, die zuvor die Insel bewohnt hatte, eingesperrt worden war. Da war sie wieder, die Hexe. Kurz vor der Schlussszene schnallten mir die Kollegen der Technik einen Sitzgurt an meine Oberschenkel, zwischen meine Beine und um den Bauch. So festgezurrt zogen sie mich nach oben in Richtung Schnürboden. In den 1980er Jahren betätigten die Theater-Techniker das Flugwerk noch per Hand, mit Muskelkraft und Augenmaß. Ich hing also in den Seilen und spürte mein ganzes Gewicht auf meinem Gemächt. Das schmerzte, und mir wurde irgendwie schwummrig. Aber ich sollte vorwärtsfliegen. Das war der Plan. Einen der Kollegen hatte ich noch heftig animiert, meine Schussfahrt hoch hinaus möglichst zügig zu gestalten. Als Luftgeist wollte ich natürlich einen aerodynamischen Eindruck beim Publikum hinterlassen.

Ich rief in der dritten Szene Prospero zu: »Heil dir, mein großer Meister! Ehrwürdiger Herr, heil dir! Ich komme deine Befehle auszurichten; sei es nun zu fliegen oder zu schwimmen, mich in die Flammen zu tauchen, oder auf den krausen Wolken zu reiten; Ariel und alle seine Kräfte sind zu deinem mächtigen Befehl.« Eine Szene später war es so weit. Jetzt gleich sollte ich über die Kulissen rauschen. Ich spürte den Zug an meinem Körper. Es ging los. Ich stieß mich kräftig von der Kante ab und segelte dem Portal auf der anderen Seite entgegen. Ein fantastisches Hochgefühl. So muss es einst dem Schneider von Ulm ergangen sein, als er allen beweisen wollte, dass es einem Menschen möglich ist zu fliegen. Ich sah auf das Publikum hinab, und während des Gleitens fielen mir einige Zeilen eines Gedichts von Bertolt Brecht ein: »Bischof, ich kann fliegen, sagte der Schneider zum Bischof. Pass auf, wie ich’s mach! Und er stieg mit so ’nen Dingen, die aussahn wie Schwingen auf das große, große Kirchendach.«

Mit diesem Reim im Kopf schoss ich dem Portal auf der anderen Seite entgegen, wo ich mich an einem Tau festhalten sollte. Aber ich erreichte weder das Portal noch das Tau. Aus heiterem Himmel stoppte mein Flug, der kehrte sich um, und ich flatterte zurück. Ich flog plötzlich rückwärts. Das war nicht der Plan. Keine Fledermaus, kein Vogel fliegt rückwärts. Aber ich. Ich bin nicht der Schneider von Ulm, sagte ich mir, sondern Ariel aus dem »Sturm« von Shakespeare, und die Kollegen der Technik verstehen ganz sicher ihr Handwerk. Die lassen mich bestimmt nicht hängen. Sie versuchten ihr Bestes, aber mein ungebuchter Rückflug nahm kein Ende.

Irgendwann war ich wieder am Startplatz angekommen. Der Versuch, mich dort festzuhalten, scheiterte. Erneut surrte ich in irrer Höhe über die Bühne. Das Portal auf der anderen Seite näherte sich mir erneut. Kurz bevor ich angekommen war, wiederholte sich, was nie geplant war. Ich raste ungewollt wieder zurück. Dreimal hin und her. Es war wie verhext und die Szene nicht mehr zu retten. Irgendwann landete ich. Das Publikum schien etwas verwirrt. Ich auch, hatte aber wenigstens überlebt. Ich verneigte mich, und mir schossen die Worte von Wilhelm Busch aus dem Gedicht »Der alte Narr« durch den Kopf:

Ein Künstler auf dem hohen Seil,

Der alt geworden mittlerweil,

Stieg eines Tages vom Gerüst

Und sprach: Nun will ich unten bleiben

Und nur noch Hausgymnastik treiben,

Was zur Verdauung nötig ist.

Da riefen alle: »O wie schad!

Der Meister scheint doch allnachgrad

Zu schwach und steif zum Seilbesteigen!«

Ha! denkt er. Dieses wird sich zeigen!

Und richtig, eh der Markt geschlossen,

Treibt er aufs neu die alten Possen

Hoch in die Luft, und zwar mit Glück,

Bis auf ein kleines Missgeschick.

Er fiel herab in großer Eile

Und knickte sich die Wirbelsäule.

»Der alte Narr! Jetzt bleibt er krumm!«

So äußert sich das Publikum.

Als mir Minuten später die Techniker das Flugwerk vom Leib schnallten, konnte ich vor Wut kein Wort sagen. Die Männer entschuldigten sich und meinten, in der Probe hätte doch alles wunderbar geklappt. Ich wagte später dennoch viele Flüge. Schon sehr früh fühlte ich mich der theatralischen Fliegerei eng verbunden. Mein Großvater verschaffte mir bereits in der Kindheit zu Fasching himmlische Auftritte. Er verwandelte mich in furchterregende Wesen, die sich erheben konnten, aber leider auch zu Boden gingen. Ich begriff, dass ein Kostüm im Theater unerlässlich war, um Wirkung zu erzielen.

Da mein Opa im Fundus des Leipziger Theaters immer Zugriff auf die skurrilsten Kleider hatte, stattete er mich zu Fasching bis zur Unkenntlichkeit aus. Legendär war meine Verwandlung zum Ritter. Mit einer Kinderrüstung samt Harnisch, Helm und Beinschützern aus Metall, war ich als Siebenjähriger perfekt eingekleidet. Mein Großvater meinte, in der Montur würde ich dem Reiter auf Albrecht Dürers Kupferstich »Ritter, Tod und Teufel« gleichen. Ich fühlte mich eher wie Ritter Heino Runkel von Rübenstein. Im »Mosaik« von Hannes Hegen verkündete der beste Freund der Digedags: »Wenn man Ritter so verpackt, ist die Lage sehr vertrackt!« Ich hätte darauf hören sollen. Denn mein Kostüm brachte mich in eine fatale Lage.

Beim Faschingsfest in der Schule erhielt ich zwar von allen Seiten Komplimente für meine gelungene Verkleidung. Viele lachten, als ich mit winzigen Schritten langsam durch den Saal tippelte. Doch freiwillig tat ich das nicht. Die Metallrüstung, die mein Großvater kurz vor Beginn der Veranstaltung zu Hause über meinen Körper gestülpt hatte, war viel zu eng und nahm mir die Bewegungsfreiheit. Und, wie ich bald bemerken sollte, nahm sie mir gleichfalls die Luft. Das Ding drückte auf meine Lunge, ich japste zunehmend, hechelte, röchelte und irgendwann wurde mir schwindlig. Da ich meine Beine nur ein wenig und meine Arme gar nicht bewegen konnte, gelang es mir auch nicht, irgendjemandem ein Zeichen zu geben, um anzudeuten, dass meine Atemnot immer unerträglicher wurde. Nach einer Stunde fiel ich mitten auf der Tanzfläche um. Meine Klassenlehrerin bemerkte zum Glück meine atemberaubende Lage, konnte mir aber zunächst nicht helfen. Sie rannte zu ihrem Saporoshez, sächsisch »Sabo«, einer russischen Lizenz des NSU Prinz, holte vorn aus dem Kofferraum einen Werkzeugkasten und schraubte mich anschließend aus der stählernen Zwangsjacke. Vermutlich rettete sie mich so vor dem sicheren Rittertod. Eine derartige Peinlichkeit durfte sich natürlich keinesfalls wiederholen.

Also forderte ich im darauffolgenden Jahr schon Wochen vor den tollen Tagen meinen Großvater auf, er möge mich in die fliegende Furie aus »Hänsel und Gretel« verwandeln. Diesmal wollte ich nicht zu Boden gehen. Er half. Angescheußelt wie die grässlichste und zänkischste Xanthippe im gesamten Wohngebiet, zog ich als Achtjähriger los, um auf der Faschingsfeier Angst und Schrecken zu verbreiten. Mit einem Fuchsfell auf dem Kopf, spitzem Buckel auf dem Rücken und fetten Pickeln auf der Hakennase erregte ich vor allem die Aufmerksamkeit der Mädels. Die starrten mich entsetzt an, als wäre ich geradewegs aus Frankensteins Labor geflüchtet. Ich verstellte meine Stimme, krächzte wie ein halskranker Rabe in Quarantäne und winkte mit meinen verlängerten krummen Fingern. Die Jury, die über das beste Kostüm entscheiden sollte, war beeindruckt und verkündete meinen Sieg. Nach der Preisverleihung stürzte ich mich glücklich ins Getümmel und wollte mit einem Mädchen tanzen. Aber sobald ich mich einem näherte, verschwand es ängstlich. Es wollte sich auch niemand mit mir unterhalten. Ich war einfach nur zum Fürchten. Genau genommen gefiel mir der Zustand, denn ich hinterließ einen unvergesslichen Eindruck und nahm meine Wirkung wahr. Fasching gehörte für mich ab sofort zum Höhepunkt des Jahres. Denn es war eine andere Welt, meine Welt. Jahr um Jahr folgten Steigerungen des Faschingswahns.

Schon lange hatte ich ganz in der Nähe unserer Wohnung in Stötteritz einen Mann beobachtet. Er arbeitete als Schlachter in der Pferdefleischerei an der Ecke. Sein Gesicht interessierte mich. Der Rossschlächter besaß einen leichten Überbiss, seine kaputten Zähne sahen gelb aus, und er sabberte. Ein wunderbares Vorbild für meine nächste Faschingsverwandlung. Ich sah ihn mir deshalb wochenlang genau an, prägte mir sein Kau- und Sprechverhalten ein, um ihn imitierten zu können. Ich liebte es, Leute nachzumachen. Aus dem Mund des Rossschlächters stolperten die Silben unkontrolliert heraus. Die Spitze seiner belegten Zunge stieß an den Restbestand seiner löchrigen Zahnreihen und die Spucke spritzte bei jedem Wort aus dem Mund. Er sagte nicht trocken »Solche Pferdewürste gibt es nur in Stötteritz«, sondern feucht: »Sochlschee Ffferdewüürschde gibdsss nuur in Schdddodddridddz«. Seine Worte klangen wie eine geheim kodierte Tiersprache. Offenbar plauderte der Pferdeflüsterer vor dem Ausweiden der Viecher noch mit ihnen.

Ich band mir also am Faschingsdienstag 1968 eine Schürze um, die mein Großvater aus einer weißen Wachstuchdecke hergestellt hatte. Die beschmierte ich mit rot-schwarzer Johannisbeermarmelade, um einen blutigen Effekt zu erzielen. Die Vorderseite meiner Schneidezähne hatte ich mir nicht gelb, sondern schwarz angemalt und in meinen Wangen gelbe Puddingsoße eingelagert wie ein Hamster seinen Körnervorrat. In meine linke Hand nahm ich das Messer aus der Küche, mit dem meine Mutter sonst die Blutwurst in Scheiben schnitt. An den Füßen trug ich Gummistiefel. Im Spiegel betrachtete ich mein Äußeres zufrieden, denn ich sah aus wie der kleine Bruder des großen sabbernden Pferdefleischers. So ausgestattet lief ich auf die Straße. Als mir ein Pudel samt älterer Dame begegnete, vollzog ich den Puddingtest. Aus meinem Mundwinkel lief die Soße, die floss an meinem Kinn entlang und tropfte von dort nach unten auf den Fußweg. Dabei sprach ich einige Worte, die wie »Ffferdewüürschde gibdsss nuur in Schdddodddridddz« klangen.

Ich verstand aber nicht mal selbst, was ich da von mir gab, denn die Buchstaben versackten zwischen Zungenspitze, Zahnreihe und Puddingresten. Ich sah die Frau mit aufgerissenen Augen an und hielt ihr das Messer entgegen. Ihr blieb der Mund offen stehen, sie riss die Augen auf und ließ vor Schreck die Leine los, an der der Hund sie durch die Gegend zog. Der Pudel blieb erst erstarrt stehen, dann flüchtete er hinter die Hecke im Vorgarten unserer Nachbarn. Die jetzt hundelose Dame besann sich, schrie mich an, was ich denn für ein gottverdammter Rotzlöffel sei, und schlug mit ihren fuchtelnden Händen nach mir. Jetzt flüchtete ich, fiel aber beim Rennen mit meinen Gummistiefeln hin, denn es war glatt. Außerdem stolperte ich über die Wachstuchfleischerschürze, die viel zu lang geraten war. Ich rappelte mich wieder auf, lief davon und freute mich unbändig darüber, welch emotionale Reaktion mein Auftritt ausgelöst hatte. Ich liebte Fasching. Doch als ich Schauspieler geworden war, verging mir das. Heute interessiert mich dieses Fest nicht mehr, denn jeden Tag Fasching, das ertrage nicht mal ich.

Als Kind konnte ich jedoch nicht genug davon bekommen. Bei uns zu Hause war irgendwie immer Fasching. Den organisierte aber nicht nur ich, sondern ebenso meine Schwester Irina, die später erst an der Dresdner Palucca-Schule lernte und danach Choreografie in Leipzig studierte. Sie entführte regelmäßig Mädels aus der Schule und der Nachbarschaft in unsere Wohnung, um mit ihnen Tänze einzustudieren. Im Eingangsbereich unseres 17 Meter langen Korridors befand sich unter anderem ein Raumteiler aus Bambusstangen. Den zerteilte ich, um auf Wunsch meiner Schwester Ballettstangen daraus zu basteln. Später sah ich zu, wie sie die Mädels mit harter Hand trainierte oder, besser gesagt, drangsalierte. Ihre Schülerinnen gehorchten, waren allerdings so verängstigt, dass sich eine der Elevinnen nicht mal traute, darum zu bitten, auf die Toilette gehen zu dürfen. Es geschah, was in solchen Fällen geschieht, und sie weinte bitterlich über ihr Missgeschick. Als meine Mutter nach Hause kam und ihr Unglück bemerkte, griff sie ein, half der Kleinen und schickte sie mit neuer Unterwäsche zu ihren Eltern, die sie bereits seit Stunden im Wohngebiet gesucht hatten.

Als schließlich alle Kinder nach Hause gegangen waren, lobte meine Mutter meine Schwester für ihr konsequentes Training der Nachwuchstänzerinnen. Ich allerdings bekam Ärger, weil ich den Bambus-Raumteiler zerstört hatte. Als ich kleinlaut erwähnte, dass ich auf ausdrücklichen Befehl meiner Schwester gehandelt hatte, erhielt ich für zwei Tage Stubenarrest.