Das Zeichen der Isis - Melanie Metzenthin - E-Book
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Das Zeichen der Isis E-Book

Melanie Metzenthin

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Beschreibung

Nach dem Untergang Pompejis folgt die junge Witwe Lydia ihrem Schwager Publius, einem römischen Offizier, nach Alexandria. In der ägyptischen Metropole begegnet sie der »Schwesternschaft der Isis«, einer geheimen Verbindung, die seit den Zeiten der Pharaonen besteht. Deren Hohepriesterin glaubt, Lydia sei die lang prophezeite »Göttin aus der Asche«, die der Schwesternschaft im Kampf gegen Talonas, den grausamen Herrn der Wüste, beistehen soll. Doch Lydia hat Angst, sich diesem Kampf zu stellen, denn tief in ihrem Herzen wünscht sie sich nichts sehnlicher, als dass Publius ihre langsam aufkeimende Liebe erwidert. Sie ahnt nicht, dass Publius selbst dunkle Geheimnisse hütet, die ihr keine Wahl lassen …

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ISBN 978-3-492-98123-1

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: FlexDreams; Petkowicz / Shutterstock.com

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Ich bin ISIS die Große,

diejenige, die war, die ist und die sein wird in ewigen Zeiten.

Kein Sterblicher vermag meinen Schleier zu heben.

Worte der Isis im Tempel zu Sais

Sommertage

»Stimmt es, Lydia? Dein Schwager ist auf dem Weg nach Pompeji?«

Die alte Tullia musterte mich erwartungsvoll, während sie meiner Sklavin Numira zwei Brote über den Verkaufstresen reichte.

»Woher weißt du das schon wieder?« Kopfschüttelnd zog ich das Tuch, in dem ich meinen kleinen Sohn vor der Brust trug, fester um die Schultern. Zum ersten Mal seit seiner Geburt kümmerte ich mich wieder selbst um die Einkäufe. Natürlich hätte ich Numira auch allein schicken können, aber ich genoss die Lebendigkeit der kleinen Gassen, in denen sich neben Garküchen und Handwerksbetrieben ein Laden an den anderen reihte. Aber vor allem wollte ich den neuesten Klatsch hören.

Tullia lächelte. »Du weißt doch, ich höre viel.«

»Und du redest noch viel mehr«, gab ich schnippisch zurück. Dabei starrte ich gebannt auf ihr schadhaftes Gebiss, das sie so freimütig entblößte.

Die alte Bäckerin lachte. Sie wusste, was man sich über sie erzählte. Ihre Klatschgeschichten waren ebenso frisch wie ihre Brote.

»Nun sag, wann erwartet ihr seine Ankunft?«

»Irgendwann in den nächsten Tagen, je nachdem, wie günstig die Winde stehen. Das Schiff soll vor gut zwei Wochen ausgelaufen sein.«

»Er ist ein bedeutender Mann geworden. Befehlshaber in der alexandrinischen Stadtwache.« Tullia pfiff anerkennend durch ihre Zahnlücke. Sie hatte das Benehmen eines Fuhrknechts, aber ich mochte sie gern.

»Es ist nur eine Zenturie, der er vorsteht«, wehrte ich ab.

»Immerhin. Ich erinnere mich noch an ihn, als er so klein war.« Sie hielt die rechte Hand in Höhe ihrer breiten Hüften. »Er war ein frecher Bengel, aber ein Blick aus seinen dunklen Augen, und alles war verziehen. Schon damals nannte man ihn Pertinax, weil er so eigensinnig war. Aber für mich ist er immer Publius geblieben.«

Es fehlte noch, dass sie der kleine Publius gesagt hätte. Tullia brüstete sich gern damit, halb Pompeji schon im Säuglingsalter gekannt zu haben. Ich konnte darauf nichts erwidern, denn ich hatte meinen Schwager noch nie gesehen. Publius war mir nur aus den Erzählungen meines Mannes Quintus bekannt, und die waren voller Bewunderung für den älteren Bruder.

Ich wies Numira an, Tullia zwei Asse für die beiden Brotlaibe zu geben. Die Alte nahm das Geld entgegen, ließ es in die Tonschale mit den kleinen Münzen fallen und betrachtete meinen Sohn mit versonnener Miene.

»Der Kleine ist Quintus wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Wie willst du das heute schon erkennen? Lucius ist doch erst sechs Wochen alt.«

»Genauso sah Quintus in dem Alter auch aus. Allein seine Augen – blau wie das Meer an der Mündung des Sarnus! Aber sie werden noch die Farbe von dunklem Honig annehmen. So wie bei allen Aquiliani.«

Ich lachte. »Bekomme ich heute deine Poesie als Beigabe? Ich hoffte, du könntest mich mit besseren Kuriosa unterhalten ...«

Jäh hielt ich inne, als ich ein heftiges Grummeln vernahm, das an fernen Donner erinnerte. Unwillkürlich blickte ich zum Himmel auf. Er war strahlend blau. Keine einzige Gewitterwolke hing über dem Horizont. Für den Bruchteil eines Augenblicks tanzten die Münzen in der Tonschale mit Tullias Wechselgeld. Fast gleichzeitig brachen die Esel, die im Hinterhof der Bäckerei die großen Mühlsteine bewegten, in lautes Geschrei aus. Ihr Lärm mischte sich mit dem Gekläff der Straßenköter, das plötzlich aus jeder Ecke des Viertels hallte. Auch mein Sohn begann zu weinen.

»Der Fluch unserer Stadt«, schimpfte Tullia unbeeindruckt. »Wenigstens ist diesmal nichts zu Bruch gegangen.«

Die Geldstücke lagen wieder unbewegt in der Schale, und die Tiere verstummten kurz darauf. Nur der kleine Lucius brüllte weiter.

»Du meinst, das war ein Erdbeben?« Erschrocken starrte ich Tullia an.

Das letzte Beben lag siebzehn Jahre zurück; damals war ich zwei Jahre alt gewesen. Ich hatte keine Erinnerungen an die Katastrophe, aber die Spuren waren noch immer an zahlreichen Häusern zu sehen. Viele Familien hatten zu jener Zeit Verluste erlitten. Quintus hatte seine Eltern und drei Brüder verloren. Nur Publius war ihm geblieben.

»Beben kommen und gehen. Gelegentlich sind sie stärker, dann wieder nur ein leichtes Zittern.« Die alte Bäckerin deutete auf die gegenüberliegende Hauswand. »Siehst du diesen Riss?«

Ich nickte. Tullias Gleichmut verunsicherte mich. Wie konnte sie so ruhig bleiben, wenn sie wirklich an einen Erdstoß glaubte?

»Wir haben ihn erst vor zwei Jahren ausbessern lassen. Gute Handwerker sind rar. Manchmal scheint mir, als hätten die Maurer und Zimmerleute einen Pakt mit Gott Vulcanus geschlossen, damit ihnen die Aufträge nicht ausgehen.«

»Du hast keine Angst, es könnten die Vorboten eines größeren Bebens sein?«

Unruhig wiegte ich den schreienden Lucius in meinen Armen. Er wollte sich einfach nicht beruhigen lassen. Erstaunlicherweise linderte gerade das meine Ängste. Ich kannte dieses Gebrüll. Vermutlich sehnte er sich nur nach meiner Brust. Ich nährte ihn selbst, denn ich wollte ihn keiner Amme überlassen.

»Ach was, diese Stadt wird alles überstehen! Du warst noch zu jung und kannst dich nicht an dieses Gemeinschaftsgefühl erinnern, als die halbe Stadt in Trümmern lag. Die Hilfsbereitschaft war so groß, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Alle rückten zusammen. Man kann über Nero sagen, was man will, aber aus Rom kamen damals große Hilfslieferungen, und die reichen Familien sorgten durch Spenden für einen raschen Wiederaufbau der wichtigsten Gebäude. Was die Götter uns auch schicken mögen, wir gehen gestärkt daraus hervor.«

Da Lucius immer noch schrie, verabschiedete ich mich von Tullia und sah mich nach meiner Sklavin um.

»Wir brauchen noch Honig und frische Eier, aber Lucius wird sich nicht eher beruhigen, bis ich ihn gestillt habe. Geh allein zu Quinctillius!«

Numira nickte. Ich sah ein verdächtiges Leuchten in ihren dunklen Augen. »Aber dann komm gleich zurück! Keine Ausflüge zur Gladiatorenkaserne! Ich brauche die Einkäufe.«

Das Leuchten schwand. Ich kannte Numira gut genug. Seit einiger Zeit schwärmte sie für Natakami, einen nubischen Secutor, schwarz wie sie selbst und in der Arena von vielen bewundert.

»Du kannst ihn besuchen, wenn du deine Besorgungen in der Küche abgeliefert hast.«

Sie nickte abermals, dann trennten wir uns. Unser Haus stand nur drei Straßen weiter. Es war nicht so prächtig wie manches andere, aber ich war stolz auf das kleine Peristyl, den von acht Säulen umgrenzten Garten mit den Wandmalereien, die ich selbst geschaffen hatte. Weinreben und kleine Vögel. Nicht unbedingt das, was einer Domina anstand, aber ich zog es dem Webstuhl vor, und Quintus gefiel es. Er ließ mir alle Freiheiten. Und auch wenn er aufs Geld achtete, so hatte er mich niemals angehalten, an Farben oder Pinseln zu sparen. Einmal hatte ein Handelspartner Quintus nach dem Künstler gefragt, der diese wundervollen Bilder geschaffen habe. Als mein Mann auf mich wies, verfinsterte sich das Gesicht des Gastes, und er meinte, das sei keine angemessene Beschäftigung für eine Frau. »Für die meine schon«, hatte Quintus lächelnd entgegnet.

Mein Gatte bewirtschaftete einen eigenen Weinberg an den Hängen des Vesuvs mit einem dazugehörigen kleinen Gut und war sich sicher, eines Tages die besten Reben der Gegend zu ziehen. Seine Trauben waren bereits sehr begehrt. Ich verstand nicht viel vom Weinbau, doch verdankte ich diesem Umstand die Einwilligung meines Vaters in die Ehe, denn die Anbaufläche von Quintus Aquilianus Amandus lag unmittelbar neben der meiner Familie.

»Reichtum ist vergänglich, aber das Land bleibt«, pflegte mein Vater zu sagen. Mein einziger Bruder war vor drei Jahren gestorben, und so war es meinem Vater wichtig gewesen, einen geeigneten Schwiegersohn zu bekommen. Es gab mehrere Bewerber, aber für mich war nur Quintus infrage gekommen. Er war der Einzige, der mich liebte und nicht nur als Teil eines Geschäfts sah.

Als ich ins Haus trat und die Treppe zur oben gelegenen Schlafkammer hinaufstieg, um Lucius zu versorgen, deutete nichts darauf hin, dass irgendjemandem der winzige Erdstoß aufgefallen war. Allmählich zweifelte ich sogar, ob es tatsächlich ein Erdbeben gewesen war. Was war denn schon geschehen? Eine Handvoll Münzen hatte geklappert, und das geschah auch, wenn ein schwerer Wagen vorbeifuhr.

Aus der Küche hörte ich das Pfeifen von Orestes, dem Herrn über die Töpfe und Vorräte. Er bildete sich viel ein auf seine Kochkunst, und hätte Quintus ihn nicht von seinem Vater geerbt, dann hätte er ihn sich gar nicht leisten können. Orestes war einer der wenigen, die außer Publius und Quintus den Einsturz des Hauses der Aquiliani überlebt hatten. Er kannte Erdbeben. Wäre er auch so fröhlich seinem Tagewerk nachgegangen, wenn Tullia recht gehabt hätte?

Ich setzte mich aufs Bett, öffnete mein Kleid und legte Lucius an die Brust. Sofort begann er gierig zu saugen, mit offenen Augen, wie ein kleines Raubtier, das fürchtet, ihm könne die Beute streitig gemacht werden. Je länger ich ihn stillte und seine Zufriedenheit spürte, umso sicherer wurde ich mir, dass Tullia sich geirrt hatte. Lucius hatte nur geschrien, weil er Hunger hatte.

Und was war mit den Eseln und Hunden? Heißt es nicht, Tiere könnten Erdbeben noch vor den Menschen spüren?, schlich sich der Zweifel zurück in mein Herz. Doch ich ließ ihn nicht zu. Alles war in bester Ordnung.

Als Lucius satt war, legte ich ihn in seine Wiege. Danach wollte ich kurz nach unten gehen und nachsehen, wie weit Orestes mit den Vorbereitungen der Cena war. Ich hatte das Schlafgemach noch nicht verlassen, als ich bekannte Schritte hörte. Quintus hatte die Eigenheit, immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Eigentlich war es zu früh. Die Weinlese war in vollem Gang, und oft kehrte er erst nach Sonnenuntergang zurück. Gewöhnlich gehörten außer Numira und Orestes noch fünf weitere Sklaven zu unserem Haushalt, von denen drei das kleine Weingut vor den Toren der Stadt versorgten. Zu Zeiten der Weinlese jedoch mietete Quintus weitere Arbeitskräfte an. Er konnte sich auf seinen Vorarbeiter Caleb verlassen, und so hatte Quintus sich in den vergangenen Tagen wiederholt den Luxus geleistet, die Arbeit ruhen zu lassen, um mich aufzusuchen.

Ich öffnete ihm die Tür. Er lächelte mich breit an. Er wusste um die Macht seines Lächelns, das in seinen Augen begann, noch bevor es seine Lippen beherrschte. Wie hatte Tullia doch gleich gesagt? Augen wie dunkler Honig. Selten hatte ich eine treffendere Beschreibung gehört. Quintus war ein ansehnlicher Mann, der viele Blicke auf sich zog. Das hellbraune Haar vom Wind zerzaust, das Gesicht sonnengebräunt, schien er die Frische der Weinberge in unser Schlafgemach zu tragen. Tatsächlich brachte er Früchte mit, die den Sommer in seiner ganzen Reife symbolisierten. Herrliche dunkelrote Weintrauben, fleischig und süß, so wie er sie liebte.

»Orestes sagte mir, dass du mit Lucius hier oben bist.« Quintus reichte mir die Trauben. »Hier, koste die erste Lese!«

»Orestes hat gute Ohren.« Ich pflückte eine Traube vom Strunk und schob sie in den Mund. Sie schmeckte so süß wie erhofft.

»Ausgezeichnet. Sind alle so gut?«

Quintus nickte und nahm mich in die Arme. »Weißt du, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe?«

Ich lächelte. »So sehr wie in den letzten Tagen?«

Seit die Zeit der Enthaltsamkeit nach der Geburt verstrichen war, schien Quintus alles nachholen zu wollen, worauf er in den Wochen zuvor verzichtet hatte. Andere Männer verschafften sich Erleichterung bei Huren oder Sklavinnen, Quintus war mir treu geblieben. Eine seltene Ausnahme, wie mir meine Freundinnen neidvoll versicherten. Allerdings hatte ich mich in den letzten Tagen wiederholt bei dem Gedanken ertappt, dass es durchaus entlastend sein könnte, einen weniger verliebten Gatten zu haben. Ich hätte mich ihm nie verweigert, und es war mir auch nicht unangenehm, bei ihm zu liegen. Seit Lucius' Geburt hatte ich jedoch ständig das Gefühl, sowohl die Bedürfnisse meines Mannes als auch die meines Kindes stillen zu müssen. War dies der Grund, warum sich so viele Frauen für ihre Kinder Ammen nahmen? Weil sie sich überfordert fühlten, ihren Mann und ihr Kind ohne Unterlass mit ausreichender Nähe zu versorgen?

Quintus' Umarmungen und Küsse machten mir schnell klar, wie groß sein Begehren war. Ich ließ mich von ihm aufs Bett heben und gab ihm, was er sich wünschte. Vor Lucius' Geburt hatte ich mehr empfunden. Ob die Mutterschaft wohl bei allen Frauen zum Ende ihrer Leidenschaft führte? Ich hätte gern eine Antwort darauf gefunden, aber nie im Leben hätte ich einer anderen Frau eine derart vertrauliche Frage zu stellen gewagt.

»Ich liebe dich«, flüsterte Quintus mir ins Ohr, nachdem er fertig war und mich in seine Arme nahm. Diese Zärtlichkeit danach war das, was ich begehrte, der Augenblick, in dem ich mich geborgen und sicher fühlte.

»Orestes wird sich wundern, wo wir so lange bleiben«, flüsterte ich zurück.

»Er weiß es doch ganz genau.« Quintus strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachtete mich liebevoll.

In diesem Augenblick zerbarst die Luft. Ein Donner, lauter als alles, was ich jemals gehört hatte, ließ den Boden erzittern. Unser Bett wackelte, knarrte, ganz so, als wolle es zusammenbrechen. Von den Wänden bröckelte Putz, im Erdgeschoss fiel ein Gegenstand polternd zu Boden. Lucius schrie herzzerreißend in seiner Wiege. Ich war wie gelähmt, begriff nicht, was hier gerade geschah, obwohl ich es in meinem Innersten geahnt hatte, seit ich die tanzenden Münzen gesehen hatte. Quintus' Gesicht war zu einer wächsernen Maske erstarrt. Wortlos riss er mich aus dem Bett und hob Lucius aus der Wiege. Er drückte mir den Säugling in die Arme und zerrte uns beide aus dem Schlafgemach. Der Boden schwankte. Das Haus musste in seinen Grundfesten erschüttert sein, wenn wir es hier im Obergeschoss so deutlich spürten. Hätte Quintus mich nicht festgehalten, wäre ich gestürzt. Sonst waren seine Hände immer sanft und fürsorglich, doch diesmal spürte ich die Kraft, mit der er mich umklammerte. Als ich zum wiederholten Mal den Halt verlor, hob er mich kurzerhand auf die Arme und trug mich und den kleinen Lucius die Treppe hinunter, wie üblich zwei Stufen auf einmal nehmend. Sein Ziel war das Peristyl. Hier im Garten waren wir am ehesten sicher vor herabstürzenden Balken oder Ziegeln. Hastig ordnete ich die wenigen Kleidungsstücke, die ich am Leib trug. Quintus schien die eigene Nacktheit nicht wahrzunehmen. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Nie zuvor hatte ich ihn so erlebt. Ich entdeckte keine Furcht, nein, es war der Gesichtsausdruck eines Mannes, der dem Tod ins Auge blickt. Er setzte mich auf dem Boden ab, presste mich und Lucius an sich und versuchte, uns mit seinem Körper vor dem Unheil zu schützen, das uns noch bevorstehen mochte. Auch Orestes war ins Peristyl geflohen. In seinen Augen stand ebenfalls nackte Panik. War es so vor siebzehn Jahren gewesen? Damals, als Quintus nahezu alles verloren hatte?

Fast ebenso schnell, wie das Beben begonnen hatte, war es vorüber. Ich blieb noch eine Weile an Quintus geschmiegt stehen und merkte erst jetzt, wie heftig ich zitterte. Lucius war verstummt. Er blickte mich mit großen Augen an, ganz so, als sei es ein neues Spiel, das wir ihn lehrten.

Irgendwann ließ Quintus mich los. »Ich glaube, wir haben es überstanden.«

Alles war so ruhig wie zuvor. Der Himmel zeigte sich strahlend blau, und nur einige umgestürzte Töpfe erinnerten an das kürzliche Geschehen.

»Dann sollten wir uns etwas überziehen«, schlug ich vor. Quintus nickte. Als ich mich zur Haustür umwandte, zuckte ich zurück. Das große Bild, das ich in langen Stunden geschaffen hatte, wies einen breiten Riss auf. Ähnlich jenem, den Tullia mir vor wenigen Stunden gezeigt hatte. Einem der kleinen Vögel fehlte der Kopf. Der Putz des Freskos war von der Wand gerieselt.

Quintus war meinem Blick gefolgt. »Sei nicht traurig! Du wirst es schöner als zuvor wiederherstellen.«

Verblüfft starrte ich ihn an. Wie konnte er glauben, ich sei traurig über einen so unbedeutenden Schaden? Und wenn das ganze Haus eingestürzt wäre, es hätte mir nichts bedeutet, solange ich nur meine Lieben gesund um mich versammeln konnte.

»Ich bin nicht traurig. Ich bin froh, dass wir unverletzt sind.«

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, blickte sich Quintus suchend um. »Wo ist eigentlich Numira?«

Bei seiner Frage wallten heiße Ängste in mir auf.

»Ich habe sie allein losgeschickt, Honig und Eier zu besorgen, weil Lucius so sehr weinte. Glaubst du, ihr ist etwas geschehen?«

»Nein, gewiss nicht. Es war kein schweres Beben. Komm, gehen wir ins Haus!«

Nach überstandenem Schrecken war Quintus wieder so unerschütterlich, wie ich ihn kannte. Von seiner Panik war nichts mehr zu erkennen. Er war wieder Herr der Lage und bereit, seine Familie vor jeglicher Unbill zu schützen.

Die Schäden hielten sich in Grenzen. An einigen Stellen war der Putz von der Wand gebröckelt, aber sonst waren keine auffälligen Risse im Mauerwerk zu erkennen.

Nachdem Quintus und ich uns angekleidet hatten und Lucius' Wiege ins Erdgeschoss getragen worden war, damit ich ihn beständig im Blick hatte, sorgte Orestes für die Wiederherstellung der häuslichen Ordnung.

Wir ließen uns im Atrium nieder, und Quintus genehmigte sich ganz entgegen seiner Gewohnheit einen Becher unverdünnten Weins. Zwar wirkte sein Gesicht gelassen und ruhig wie immer, doch ich spürte, dass das kurze Beben unangenehme Erinnerungen in ihm erweckt hatte.

Kurz darauf kehrte Numira zurück. Ich musste mich nicht umsehen, um festzustellen, wer das Atrium betrat. Das musste ich nie, erkannte ich doch alle Mitglieder unseres Haushalts an ihren Schritten. Für gewöhnlich hatte Numira einen festen, beschwingten Tritt, aber diesmal klang er unregelmäßig und hastig. Als ich mich zu ihr umwandte, sah ich, dass sie den rechten Fuß zögernd aufsetzte und offenbar schonte. An ihrer Schläfe sickerte ein Blutfädchen herab.

»Du bist verletzt?« Selten zuvor hatte ich mich derart erleichtert und erschrocken zugleich gefühlt.

»Ich habe die Einkäufe verloren.« Sie sah mich unsicher an und wischte das Blut mit dem Handrücken weg.

»Das ist doch ganz unwichtig.« Quintus war noch vor mir aufgestanden und führte Numira zu einer der Liegen, die am Rand des Atriums standen. Er war ebenso erleichtert wie ich, sie in Sicherheit zu wissen.

Ich rief nach Orestes, der eine kleine Schüssel Wasser und saubere Tücher bringen sollte, und setzte mich neben Numira.

»Sag, was ist dir widerfahren?«

Noch bevor Numira antworten konnte, war Orestes zurückgekehrt und reichte mir ein sauberes Tuch. Die Wasserschüssel stellte er auf den kleinen Tisch.

Vorsichtig tupfte ich Numira das Blut von der Schläfe. Es war nicht so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hatte.

»Als das Beben begann, war ich auf dem Rückweg«, erzählte Numira. »Irgendwo ging ein Esel durch, der vor einen kleinen Wagen gespannt war. Ich sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, da wankte der Boden, und von einem Haus lösten sich mehrere Dachschindeln. Eine davon streifte mich am Kopf und fiel mir dann auf den Fuß. Menschen rannten in Panik auf die Straße, und als ich mich wieder aufgerichtet hatte, war der größte Teil der Einkäufe zertreten. Ein kleiner Junge griff nach dem Honigtopf und flitzte davon.«

»Die Götter werden ihn dafür mit Bauchschmerzen strafen.« Quintus schenkte sich einen zweiten Becher Wein ein.

»Und dich werden sie mit Kopfschmerzen strafen, wenn du den Wein weiterhin unverdünnt wie ein Barbar trinkst«, erwiderte ich.

Quintus nahm einen Schluck und musterte mich mit herausforderndem Blick. »Wenn ich es recht bedenke, wäre es barbarisch, diesen Wein zu verwässern. Manch römische Tugend ist eher lästig.« Er stellte seinen Becher wieder auf dem Tischchen ab. »Vielleicht sollte ich ganz offen mit den Sitten brechen. Wenn es als vornehm gälte, den Wein unverdünnt zu genießen, könnte ich durchaus höhere Erlöse erzielen.«

»Leider ist dein Stammbaum nicht vornehm genug, um die alteingesessenen Familien von solchen Neuerungen zu überzeugen.«

Quintus lachte. Seine Familie besaß das Bürgerrecht erst in dritter Generation. Sein Urgroßvater war ein Sklave gewesen, der nach dem Tod seines Herrn nicht nur die Freilassung erhalten, sondern auch ein ganz ansehnliches Vermögen geerbt hatte.

»Solange mein Rebensaft vornehm genug ist, scheint mir alles andere nicht von Belang zu sein. Und meinen Wein kannst du wenigstens unverdünnt genießen. Er ist kein Essig wie der von Marinus.«

»Musst du wieder einmal mit Marinus anfangen?«

»Er ist ein hochnäsiger Esel«, schnaubte Quintus. »Glaubt, weil er Lieferverträge mit sechs Tavernen hat, sei er von höchster Wichtigkeit.«

Ein leises Stöhnen neben mir schreckte mich auf. Es war Numira, die trotz ihrer dunklen Hautfarbe blasser aussah als gewöhnlich.

»Komm, ich bringe dich in deine Kammer! Dort kannst du dich ausruhen«, bot ich ihr an. Sie nickte dankbar und erhob sich vorsichtig.

Numiras Kammer lag hinter der Küche, unmittelbar neben der von Orestes. Der Raum war nicht besonders groß, aber es gab ein Bett, einen kleinen Waschtisch und eine Kleidertruhe. Ich wusste von manch freiem Bürger, der in deutlich beengteren Verhältnissen lebte als unsere Sklaven.

Numira setzte sich auf ihr Bett.

»Wenn du dich besser fühlst, kannst du heute noch zu Natakami gehen.« Mein gut gemeinter Vorschlag fand nicht die erhoffte Begeisterung.

»Vielleicht morgen.«

Ich nickte und wollte gerade gehen, als sie mich bat, noch zu bleiben.

»Du hast nichts dagegen, wenn ich Natakami besuche?«

»Dagegen hatte ich doch noch nie Einwände.«

»Nein, aber ... er hat mich gefragt, ob ich auch einmal ...« Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach. » ... bei ihm die Nacht verbringen könnte.«

»Also hat er doch mehr als ein Lächeln für dich übrig«, schmunzelte ich. »Von mir aus. Aber du solltest dein Herz nicht zu sehr an ihn hängen. Ein Gladiator hat beständig den Tod vor Augen.«

»Was wäre, wenn ich ein Kind von ihm bekäme?« Sie musterte mich mit einem unergründlichen Blick.

»Bist du schwanger?«

Sie wehrte ab. »Nein, nein! Aber was wäre, wenn ich ein Kind erwarten würde?«

»Dann wäre es wie bei unseren Müttern.«

Bei dieser Erinnerung lächelte Numira. Sie war nur zwei Monate älter als ich, und ihre Mutter war meine Amme gewesen. Als Kinder waren wir unzertrennlich gewesen wie Schwestern, auch wenn stets ich die Zügel in der Hand gehalten hatte. Die Vertrautheit von einst war größtenteils geblieben, auch wenn sich unsere Rollen mit zunehmendem Alter immer schärfer voneinander abgrenzten.

»Wenn du ein Kind von Natakami bekommst, wird es später zusammen mit Lucius unterrichtet, so wie es auch bei uns war.«

Als ich wenig später ins Atrium zurückkehrte, hatte Quintus den Weinkrug geleert. Natürlich unverdünnt. Ich setzte mich hinter ihn auf die Liege und schlang die Arme um seine breite Brust.

»Glaubst du, es wird ein weiteres Beben geben?«

»Nein«, kam die Antwort verdächtig schnell.

»Und falls doch? Wäre es nicht sicherer, wir verbrächten einige Tage außerhalb der Stadt auf dem Gut?«

Quintus drehte sich zu mir um und zog mich an sich. »Willst du dir das wirklich zumuten? Diesen Ameisenhaufen inmitten der Lese?«

»Wenn es sicherer wäre ...«

»Sorge dich nicht, Liebste! Außerdem musst du noch das kleine Fresko im Garten vervollständigen, bevor Publius kommt. Ich habe schon nach Arinius geschickt, damit er dir morgen die besten Farben und Kalkputz liefert.«

Quintus war unvergleichlich. Er wusste genau, was mich glücklich machte.

»Was werden die Nachbarn sagen?«, neckte ich ihn. »Quintus Aquilianus lässt sein Haus von seiner Frau ausbessern.«

»Und trinkt seinen Wein unverdünnt«, ergänzte er lachend. »Wahrscheinlich nennen sie mich einen Barbaren. Und heimlich beneiden sie mich.«

Am nächsten Tag war Quintus früh auf den Beinen, um die Lese weiter zu beaufsichtigen. Die Kopfschmerzen, die ich ihm prophezeit hatte, waren ihm erspart geblieben. Kurz nachdem er das Haus verlassen hatte, lieferte Arinius die bestellten Farben und den Putz. Ich steckte den Zeigefinger in den Bottich, um die Masse zu prüfen. »Wie lange ist er abgelagert?«

Arinius betrachtete mich mit überheblichem Blick. Dass eine Frau sich um den Zustand des Kalkputzes kümmerte, war für ihn immer wieder ein Mysterium. Und das, obgleich er wusste, dass mein Onkel einst einer der angesehensten Maler in Pompeji gewesen war.

»Drei Monate.«

»Drei Monate? Das ist reichlich kurz.«

»Wenn du reiferen Putz haben willst, musst du eben warten.«

Ich seufzte, dann stimmte ich zu und ließ den Bottich in den Garten bringen. Die Beschaffenheit war besser, als ich erwartet hatte. Fast schon wie dicker Rahm. Natürlich hätte sich Quintus den wirklich hochwertigen Kalkputz, der länger als drei Jahre abgelagert war, niemals leisten können. Als Kind hatte ich meinen Onkel begleitet, als er die Fresken im Haus des Vettius ausgebessert hatte. Seither war mein Wunsch erwacht, es ihm eines Tages gleichzutun. Wäre ich ein Junge gewesen, hätte er mich gewiss ausgebildet, doch als Mädchen musste ich mich damit begnügen, ihm dann und wann zuzusehen und seinen Erklärungen zu lauschen.

Ich griff nach dem Spachtel und begann mit dem Verschmieren des Risses. Dann trug ich die Farben auf den feuchten Putz auf. Eine Vorlage brauchte ich diesmal nicht, denn ich musste nur die fehlenden Bildelemente ergänzen. Einzig das Mischen der Farben bereitete mir Schwierigkeiten. Ich musste sie dunkler anmischen als das Original, damit sie sich nach dem Trocknen nicht von dem Rest des Freskos unterschieden.

Lucius schlief in seiner Wiege, die Orestes im Schatten der Säulen am Rand des Gartens aufgestellt hatte. So hatte ich meinen Sohn im Blick und hörte ihn, falls er nach mir verlangte.

Wenn ich erst einmal in meine Arbeit vertieft war, bemerkte ich nicht, wie die Zeit voranschritt. Zwar musste ich zweimal kurze Pausen einlegen, um Lucius zu stillen, aber auch das brachte mich nicht aus dem Rhythmus der Farben, die mir eine eigene Welt eröffneten. Ich fand erst wieder in die Gegenwart zurück, als ich jemanden hinter mir atmen hörte. Ich wandte mich um. Schweigend stand Quintus hinter mir und betrachtete das fast vollendete Wandbild.

»Du bist unbeschreiblich«, flüsterte er, während er mir die Hände sanft auf die Schultern legte.

»Wie lange hast du schon hier gestanden?«

»Ziemlich lange.«

»Und warum hast du nichts gesagt?«

»Darf ich eine Göttin stören, die eine neue Welt erschafft?« Er lächelte mich zärtlich an.

»Nein, das darfst du nicht. Schon gar nicht, wenn die Göttin ihr Werk noch nicht beendet hat.«

»Nun, dann verschwinde ich eben wieder«, seufzte er mit gespielter Enttäuschung. Und so beachtete ich ihn nicht weiter, sondern wandte mich wieder dem Bild zu, um die letzten Verbindungen zwischen dem alten Fresko und den neuen Teilen zu verwischen.

Ich hatte meine Arbeit gerade beendet, als laute Stimmen aus dem Haus zu mir herüberdrangen. Eine der Stimmen gehörte einem Jungen aus der Nachbarschaft, der sich oft ein wenig Geld mit Botengängen verdiente. Die andere war die von Quintus. Was sie sprachen, konnte ich nicht verstehen, aber ich musste nicht lange darüber nachgrübeln, denn schon kam Quintus in den Garten. »Die Serapis ist eingelaufen!«, rief er laut.

Ich fuhr herum. »Publius' Schiff? Heute schon?«

Quintus nickte. »Komm, wir begrüßen ihn am Hafen.« Er fasste mich am Handgelenk und wollte offenbar keinen Augenblick länger warten.

»Halt, ich muss mir erst die Hände waschen! Und überhaupt … so kann ich deinem Bruder doch nicht gegenübertreten, in diesem alten Kleid ... und ...«

»Ach was, du bist wunderschön. Nun komm schon!«

Obwohl Quintus so sehr drängte, bestand ich darauf, mich umzuziehen. Er murrte zwar, wusste aber, dass sein Protest nicht fruchtete. Ich brauchte nicht lange. Der Botenjunge war gewiss noch nicht wieder zu Hause, als ich schon in einem frischen Kleid vor Quintus stand, Lucius aus seiner Wiege hob und Quintus zum Hafentor begleitete.

Der Weg zum Hafentor führte uns an der alten Basilika vorbei. Einen Moment lang zögerte ich. Früher war sie einmal das Herz der Stadt gewesen. Einstmals, zu einer Zeit, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Vor jenem großen Beben siebzehn Jahre zuvor. Man hatte sie nicht wieder aufgebaut. Viele Säulen waren zerbrochen. Ich war oft an diesem Bauwerk vorübergekommen, aber an diesem Tag war es mir, als sähe ich zum ersten Mal die Schäden, die ein wirkliches, ein großes Beben anrichten konnte. Quintus hatte recht – die Erdstöße, die uns kürzlich ereilt hatten, waren vergleichsweise harmlos gewesen.

Am Hafentor herrschte heftiges Gedränge. Händler trieben ihre Zugtiere durch das größere der beiden Tore, während Quintus und ich uns durch die den Fußgängern vorbehaltene kleinere Öffnung drängten. Die Schritte der Menschen hallten von den dicken Mauern wider. Einige Kinder stimmten aus Spaß ein lautes Geschrei an, um das Echo der eigenen Stimmen zu hören. Von der anderen Seite hörten wir Möwen kreischen, die sich auf die Fischabfälle stürzten. Und dann entdeckten wir die Serapis. Obwohl sie einen ägyptischen Namen trug, war sie ein römisches Schiff. Das quadratische große Segel hatte die Mannschaft bereits eingeholt, und die Ruder der Galeere waren eingezogen. Gerade waren Männer dabei, das Schiff ausreichend zu vertäuen und die kleine Brücke auszuziehen, über welche die Reisegäste den Boden Pompejis würdevoll zu betreten vermochten.

An Deck standen schon einige Reisende und warteten darauf, an Land gehen zu können. Quintus reckte den Hals, um besser sehen zu können, ob sich Publius unter den Ankömmlingen befand. Mein Blick blieb an einer wohlbeleibten Frau haften, die immer wieder laut kreischend lachte, während sie von der Reling aus die Stadt betrachtete. Ihre Kleidung wirkte überaus kostbar, und ihr üppiger Schmuck wäre für uns unbezahlbar gewesen. Sie hatte langes schwarzes Haar, das zu zahlreichen Zöpfen geflochten war, und mandelförmige Augen. Ihre Gestalt erinnerte mich an die Bilder im Isistempel, den ich regelmäßig aufsuchte. Hinter ihr trat ein ebenso korpulenter Mann an Deck. Er trug ein hemdartiges langes Gewand, das mit Goldfäden verziert war, sowie Ringe an sämtlichen Fingern. In beiden Ohrläppchen steckten Ohrringe, was ich als unangemessen für einen Mann empfand. Zudem waren seine Augen geschminkt wie die einer Frau. Nun legte er einen Arm um die üppige Ägypterin und redete auf sie ein. Sie kicherte wieder laut vernehmlich. Ich konnte meinen Blick kaum von dem merkwürdigen Paar abwenden, bis Quintus mich sanft in die Seite stieß.

»Sieh nur! Publius!«

Er stand etwas abseits des ägyptischen Paars. Auf den ersten Blick sah er Quintus sehr ähnlich. Die gleiche kraftvolle, schlanke Statur, wenngleich Publius breitere Schultern hatte. Auch sein Haar war deutlich dunkler, fast schwarz, und das Gesicht von der ägyptischen Sonne gebräunt, als wäre er selbst ein Sohn der Wüste. Gekleidet war er in eine einfache dunkelblaue Tunika und einen Reisemantel. Doch gerade diese Schlichtheit verlieh ihm mehr Würde als jedem anderen, der dort an Deck wartete.

Publius hielt sich vornehm zurück, während das ägyptische Paar es kaum erwarten konnte, das Schiff schnatternd und gackernd zu verlassen. Mit ernsten Augen suchte Publius den Hafen ab, bis er endlich auf den winkenden Quintus aufmerksam wurde. Dann erst zeichnete sich ein feines Lächeln auf seinen Lippen ab.

Wie immer ich mir Publius vorgestellt haben mochte, in einem war ich mir sicher gewesen: Sein Lächeln wäre bestimmt ebenso sonnig wie das von Quintus. Doch ich hatte mich geirrt. Es war ganz anders. Nur seine Lippen lächelten. Die Augen blieben ernst. Es war, als hinge eine tiefe Schwermut über ihm. Und trotz der Hitze des Sommertags verspürte ich einen kalten Luftzug, der mich frösteln ließ ...

Die geheimnisvolle Göttin

Der Eindruck der Schwermut wurde durch die herzliche Begrüßung fortgewischt. In dem Augenblick, da sich beide Brüder nach so langen Jahren wiedersahen, flammte auch in Publius' Augen ein Leuchten auf, dem jedoch die Kraft fehlte, die Quintus zu eigen war. Quintus konnte sich kaum mehr beherrschen, riss Publius in die Arme, drückte ihn an sich, bis dieser sich lachend befreite und mir zuwandte.

»Du bist Lydia.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Quintus hat in seinen Briefen nicht übertrieben. Meergrüne Augen und Haar, so hell wie Sommerweizen.«

Quintus räusperte sich. »Weitere Einzelheiten behältst du aber besser für dich.«

»Weitere Einzelheiten?« Ich wusste nicht, ob ich belustigt oder verunsichert sein sollte. Publius lächelte. Zum ersten Mal so schalkhaft, wie es sonst nur Quintus vermochte. Bevor er jedoch noch mehr verraten konnte, nahm Quintus mir Lucius ab.

»Und das ist unser Sohn Lucius. Unser ganzer Stolz. Hast du jemals so einen prächtigen Knaben gesehen?«

Publius hob die Augenbrauen. »Erwartest du auf diese rhetorische Frage wirklich eine Antwort?«

Quintus lachte. »Du bist immer noch so spitzzüngig wie damals.«

»Bin ich das?« Publius blickte sich suchend um. »Hast du keinen Sklaven dabei, der sich um mein Gepäck kümmert?«

Quintus wirkte verunsichert – daran hatte er gar nicht gedacht. »Du weißt, die Weinlese ... Bis auf Orestes halten sich alle auf dem Gut auf.«

Publius nickte nachsichtig. »Schon gut. Vermutlich sind die Burschen hier froh, wenn sie sich ein As verdienen können.« Mit einer knappen Handbewegung rief er einen der halbwüchsigen Jungen herbei, die für ein kleines Entgelt ihre Dienste anboten, und wies ihn an, seine Habe von Bord zu holen.

»Weshalb bist du ohne Begleitung gereist?« Quintus schien erst jetzt zu bemerken, dass sein Bruder allein gekommen war. »Wo ist Selianus?«

»Er ist tot.« Auf einmal war die Kälte wieder da, die mich frösteln ließ.

»Aber wie ...?« Hilflos starrte Quintus seinen Bruder an.

Publius hob abwehrend die Hände. »Er ist tot, lass es gut sein.«

Auf dem Weg zu unserem Haus kam keinerlei Fröhlichkeit mehr auf. Als Publius den jungen Träger bezahlte, fragte ich Quintus leise nach Selianus.

»Er war Publius' Leibsklave, seit vielen Jahren schon. Aber er war mehr als ein Diener. Die beiden standen sich sehr nahe.«

Publius entspannte sich erst wieder, als wir gemeinsam im Triclinium saßen und Numira ihm Quintus' besten Wein servierte. Einen Moment lang ruhten Publius' Augen auf der dunkelhäutigen Sklavin, und entgegen den gewöhnlichen Gepflogenheiten sprach er sie unvermittelt an. »Du stammst aus Nubien?«

Numira war verwirrt, denn sie war es nicht gewohnt, von Gästen wahrgenommen zu werden, und schüttelte stumm den Kopf. Ich sprang ihr bei.

»Numira ist in Pompeji geboren. Ihre Mutter war meine Amme.«

»Ich verstehe.« Publius setzte den Weinpokal, den Numira ihm gerade gereicht hatte, an die Lippen und trank einen Schluck.

»Dein Wein ist ausgezeichnet.« Anerkennend nickte er seinem Bruder zu. »Du bist deinem Traum von den besten Reben des Reichs näher, als ich vermutete.«

»Dachtest du, ich übertreibe?« Quintus lächelte überlegen.

»Nein. Das wäre auch nicht dein Stil, du warst schon immer grundehrlich. Im Geschäftsleben kann das zu einer Schwäche werden.«

»Wohl kaum. Mein ehrbarer Ruf hat mir schon manche Tür geöffnet.«

»Das ist der Unterschied zwischen einem Winzer und einem Soldaten. Oft wird Ehrlichkeit mit Ehre verwechselt. Für einen Soldaten kann das tödlich sein.«

Quintus schwieg. Ich vermochte nicht zu sagen, was in ihm vorging. Für gewöhnlich fiel es ihm leicht, seine Gäste zu unterhalten. Und nach allem, was er mir über Publius erzählt hatte, hätte ich dieses Schweigen am allerwenigsten erwartet.

Bevor die Stille sich wieder bleiern über uns legen konnte, versuchte ich, das Gespräch unverfänglich im Gang zu halten. »Unterscheidet sich das Leben in Alexandria sehr von dem in Pompeji?«

Publius lächelte mich an. Es war ein warmes Lächeln, wie ich es bislang noch nicht bei ihm gesehen hatte.

»Alexandria ist eine andere Welt. Manchmal scheint es mir, als würde mich der Hauch der Jahrtausende umwehen, geprägt von ägyptischen Pharaonen und ihren Göttern. Aber wenn ich genauer hinsehe, entdecke ich doch nur eine römische Kolonie. Das Imperium hat Alexandria sein Siegel aufgedrückt. Der Glanz der Pharaonen ist längst im Staub der Wüste versunken.«

»Aber was ist mit den Ägyptern? Haben sie ihre eigene Kultur aufgegeben? Als wir auf dich warteten, fiel mir ein ägyptisches Paar auf. Sie kamen mir nicht vor wie Menschen, deren Land eine römische Kolonie ist.«

Publius lachte. »Die beiden sind dir aufgefallen? Nun, sie sind nicht gerade die Zierde ihres Volks. Neureiche Emporkömmlinge, die ihren Reichtum vulgär zur Schau stellen.«

»Du kennst sie?«

»Das ließ sich nicht vermeiden. Es erwies sich als unmöglich, ihnen auf dem Schiff aus dem Weg zu gehen.«

Publius nahm einen weiteren Schluck Wein.

»Du bist erstaunlich still, Quintus. Was ist aus dem lebenssprühenden Jungen geworden, den ich hier zurückließ?«

»Mir geht nicht aus dem Kopf, was du über Selianus gesagt hast. Wie ist er gestorben?«

»Berührt dich sein Schicksal so sehr, dass du darüber das Schweigen gelernt hast?« Die Ironie war unüberhörbar.

»Es ist weniger sein Schicksal als das, was es aus dir machte«, entgegnete Quintus. »Was ist aus meinem leichtlebigen Bruder geworden, der tatendurstig nach Alexandria zog, um dort einen steilen Aufstieg anzustreben und zu Glück und Reichtum zu gelangen?«

»Eine gute Entgegnung! Ja, was ist aus mir geworden ...« Nachdenklich betrachtete Publius den silbernen Weinpokal in seiner Hand, ganz so, als wäre er gänzlich in die feinen Verzierungen vertieft. Tatsächlich aber war sein Blick nach innen gekehrt. »Ja, das alles habe ich mir stets gewünscht. Aber manchmal ist der Preis sehr hoch. Und den musste Selianus zahlen. Er wurde ermordet.«

»Er wurde ...« Quintus schien der Atem zu stocken. »Und ich glaubte, Alexandria sei befriedet.«

Zu meiner Verwunderung berührte mich das Schicksal des Sklaven kaum. Für mich war Selianus nur ein Name, und fast schämte ich mich, nicht das notwendige Mitgefühl für ihn aufzubringen.

»Alexandria ist befriedet, ja, aber es gibt immer wieder Aufständische, die das anders sehen. Selianus war in meinem Auftrag unterwegs, als er getötet wurde. In der Wüste treibt sich übles Gesindel herum. Leider wagen sich die Strolche gelegentlich sogar ins Stadtinnere. Doch das dulden wir nicht länger. Während ich mit euch zusammensitze, räumen meine Männer vermutlich schon unter ihnen auf. Niemand stellt sich Rom auf Dauer entgegen. Schon gar nicht diese dahergelaufenen Wüstenräuber.«

»Was ist ihnen außer dem Mord an deinem Diener sonst noch vorzuwerfen?«, fragte ich.

»Sie überfallen Karawanen, rauben abgelegene Güter aus, begehen bezahlte Morde, entführen reiche Leute gegen Lösegeld. Zu jeder nur vorstellbaren Schandtat sind diese Schurken bereit und in der Lage.«

Bevor Quintus oder ich antworten konnten, war Publius' Blick durch den Säulengang hindurch nach draußen ins Peristyl geschweift. Auf Anhieb erkannte er die erneuerte Stelle in dem Fresko, deren Farbe noch nicht ganz trocken und deshalb dunkler war als der Rest des Bilds. Zudem stand der Bottich mit Kalkputz vor der Mauer. Sofort zog er die richtigen Schlüsse.

»Gab es etwa wieder ein Erdbeben?«

Quintus nickte. »Ja, gestern, aber es war nicht sonderlich schwer. Lydia hat das Bild schon wieder ausgebessert.«

»Die Wandbilder stammen von dir?« Publius sah mich bewundernd an. »Das sieht nicht aus wie das Werk einer gelangweilten Ehefrau, sondern zeugt von Kunstverstand.«

»Mein Onkel ist Aulus Placidus.«

»Der berühmte Maler? Du scheinst sein Talent geerbt zu haben. Quintus, um diese Frau bist du zu beneiden.«

An diesem Abend sprachen wir noch über mancherlei, aber nicht mehr über Publius' Leben in Alexandria. Durch den gewaltsamen Tod des Leibsklaven hatte Quintus jedes Verlangen nach weiteren Berichten verloren. Ich nahm es hin, obgleich ich gern mehr über die ägyptische Hauptstadt gehört hätte. Ich wusste indes, dass weitere Fragen ungehörig gewesen wären. Stattdessen nutzte Publius die Gelegenheit, alles zu erfahren, was sich während der langen Jahre seiner Abwesenheit hier in Pompeji ereignet hatte. Ich kannte die Geschichten zur Genüge und war insgeheim froh, als Lucius sich meldete und ich mich zurückziehen konnte, um ihn zu versorgen.

Als Quintus sehr viel später am Abend in unser Schlafgemach kam, wirkte er noch immer verschlossen.

»Was ist mit dir?« Kaum hatte er sich zu mir gelegt, schmiegte ich mich in seine Arme. »Du hast dich doch so sehr auf Publius' Besuch gefreut.«

Quintus hielt mich sanft umfangen, aber von der Leidenschaft der vergangenen Tage war nichts mehr zu spüren.

»Er ist so verändert. Damals hatte er keine Geheimnisse vor mir.«

»Du glaubst, er verheimlicht dir etwas?«

»Ich weiß es nicht.« Quintus seufzte. »Er war früher mindestens so redselig wie ich.«

»Dafür warst du heute auch erstaunlich still«, neckte ich ihn. Quintus ging nicht auf meine Bemerkung ein und wirkte noch immer ganz abwesend.

»Ich wüsste zu gern, unter welchen Umständen Selianus wirklich gestorben ist. Ich kannte ihn fast mein ganzes Leben lang. Er kam kurz nach dem großen Beben in unser Haus. Publius war damals erst fünfzehn Jahre alt, aber da alle unsere Angehörigen umgekommen waren, wurde er trotz seines jungen Alters Familienvorstand und trat das Erbe unseres Vaters an. Mein Bruder war geschickt im Umgang mit Finanzen und legte einiges Geld in Grund und Boden an. Nach dem Beben waren viele Familien gezwungen, ihr Eigentum zu verkaufen. Das war von Vorteil für uns, denn unser Vater hatte uns ein ansehnliches Vermögen hinterlassen. Zu dieser Zeit tauchte Selianus erstmals auf. Er war nur wenig älter als Publius, hatte aber erkannt, welche Zukunft im Geschick meines Bruders lag. Für einen Sklaven war Selianus bemerkenswert umtriebig. Er machte sich nützlich, verfügte er doch über vielerlei Kenntnisse, die Publius bei seinen Geschäften halfen. Selianus' damaliger Herr war ein ehemaliger Senator aus Rom, der in Pompeji seinen Alterssitz genommen hatte, aber immer noch über wichtige Kontakte verfügte. Möglicherweise zapfte Selianus diese Quelle an und teilte Publius sein Wissen mit. Jedenfalls wurde Selianus für Publius so wichtig, dass er ihn seinem Herrn abkaufte. Ich mochte Selianus, aber für Publius war er eher ein Freund als ein Sklave. Vielleicht war ihre Beziehung ähnlich innig wie die zwischen dir und Numira. Selianus' Tod muss ihn hart getroffen haben.«

»Er wird darüber hinwegkommen. Ich glaube, er kann recht gut für sich selbst sorgen.«

»Das konnte er schon immer«, bestätigte Quintus. »Und auch für mich. Als er zum Militär ging, teilte er unser Erbe gerecht auf. Ich bekam das Land, während Publius sich in Gold auszahlen ließ. Manchmal hatte ich das Gefühl, er wolle geradezu aus Pompeji fliehen. Dennoch umgab ihn so viel Lebendigkeit. Er brachte immer alle zum Lachen. Mittlerweile wirkt er völlig verändert.«

Quintus seufzte abermals. Ich wollte ihn mit Liebkosungen von seinen düsteren Gedanken befreien, doch er wies mich sanft ab. Von der Lust, die ihn allabendlich in meine Arme getrieben hatte, war in dieser Nacht nichts zu spüren.

Am folgenden Morgen stand ich zur gleichen Zeit wie Quintus auf. Im ersten Augenblick wunderte er sich, war er es doch gewohnt, dass ich morgens den fehlenden Schlaf der Nacht nachholte, wenn Lucius' Bedürfnisse mich wach hielten. Aber dann fiel es ihm ein.

»Du willst sicherlich zum Apertus in den Isistempel.«

Ich nickte. Seit Lucius' Geburt hatte ich nicht mehr an dem Ritual teilgenommen. Jetzt wollte ich das Heiligtum mit meinem Sohn aufsuchen, damit auch er des Segens der Göttin teilhaftig wurde. Quintus opferte nur römischen Göttern, aber er hütete sich, etwas gegen die Vorliebe der Frauen meiner Familie zum Iseum zu sagen. Eine erzürnte Muttergottheit hätte sich womöglich schlecht auf seine Ernte ausgewirkt.

Ich wusch mich rasch, kleidete mich an und rief nach Numira. Sie wirkte noch völlig verschlafen. Ob es wohl daran lag, dass sie meinen Tagesrhythmus teilte? Numira war ohnehin ein schweigsamer Mensch, aber an diesem Morgen fiel es mir besonders auf. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Erst Quintus und nun Numira? Ich dachte jedoch nicht weiter darüber nach. In Gedanken war ich bereits im Isistempel, der sich hinter dem großen Theater erhob. Ganz in der Nähe lagen auch die Gladiatorenkasernen.

»Nach dem Ritual kannst du gern Natakami besuchen«, schlug ich vor. Numira musterte mich mit ihren dunklen Augen. »Brauchst du mich heute noch?«

»Willst du länger bei ihm bleiben?«

»Wenn du gestattest, verbrächte ich gern die Nacht bei ihm. Er hat morgen einen Kampf.«

»Und du meinst, du könntest seine Kampfkraft stärken?« Ich lächelte sie wissend an. Sie lächelte zurück. »Es ist ja kein Kampf auf Leben und Tod.«

Unser Gast schlief noch, während wir ein einfaches Frühstück zu uns nahmen. Ich hoffte, rechtzeitig aus dem Heiligtum zurück zu sein, um meinen Pflichten als Gastgeberin nachzukommen, aber Quintus meinte, ich solle mir ruhig Zeit lassen.

»Publius ist kein Mensch, der ständig nach Unterhaltung durch andere verlangt. Die hat er sich immer selbst verschafft.«

Während mein Gatte sich auf den Weg zum Weingut machte, brachen Numira und ich zum Isistempel auf. Orestes blieb im Haus, um Publius' Wünschen nachzukommen, sobald dieser sich erhob.

Vor dem Tempel der Isis hatte sich schon eine große Anzahl von Gläubigen versammelt. Das Iseum war sehr beliebt, vor allem unter der einfachen Bevölkerung, aber ich erkannte auch einige Frauen aus wohlhabenden, patrizischen Familien, die eine Vorliebe für die Göttin der Frauen hatten.

Noch waren die Tore verschlossen, das Apertus hatte noch nicht begonnen. Links neben dem großen Tor entdeckte ich meine Base Gallia. In unserer Familie galt seit vielen Generationen der Brauch, den erstgeborenen Töchtern die Namen jener Länder zu geben, in denen männliche Vorfahren militärische Erfolge errungen hatten. Einem meiner Ahnen war das in Lydien gelungen. Insgeheim war ich dankbar, nach seinen Leistungen benannt worden zu sein und nicht nach denen des Vorvaters, der unter dem göttlichen Cäsar am gallischen Krieg teilgenommen hatte, wenngleich dessen Erfolge um einiges beträchtlicher waren und letztlich zur Landvergabe vor den Toren Pompejis geführt hatten.

Auch Gallia hatte mich gesehen. Sie war seit fünf Jahren mit dem reichen Tuchwalker Marcus Segestus verheiratet. Er war erheblich älter als sie und schon einmal verwitwet. Aus seiner ersten Ehe hatte er vier unmündige Kinder mit in die Verbindung gebracht, denen Gallia, soweit es der Familienklatsch hergab, eine gute Mutter war. Dank seines Reichtums erfüllte Segestus Gallia jeden Wunsch. Natürlich war sie wieder in kostbarste dunkelblaue Seide gekleidet und trug goldenen Schmuck von atemberaubender Schönheit zur Schau. Ihr langes rabenschwarzes Haar hatte sie zu einer eleganten Frisur aufgesteckt. Ich bewunderte die goldenen Spangen und das feingliedrige Haarnetz, in dem zahlreiche Edelsteine funkelten. Gallia hatte alles, was eine Frau sich wünschen konnte. Einen aufmerksamen Gatten, ein prächtiges Haus in der besten Gegend der Stadt und genügend Geld, um sich alle Annehmlichkeiten zu leisten, nach denen sie verlangte. Vermutlich war eine der Sänften, die im Hintergrund warteten, ihr persönliches Eigentum. Nur eines war Gallia bislang nicht vergönnt gewesen. Ein eigenes Kind.

Seit Lucius' Geburt hatte ich Gallia nicht gesehen. Ich hatte sie auch nicht vermisst, denn wir hatten nie ein besonders inniges Verhältnis zueinander gepflegt. Zu gut erinnerte ich mich an ihre hochnäsigen Bemerkungen bei meiner Eheschließung mit Quintus. Insgeheim beneidete sie mich um meinen athletischen jungen Mann, der nicht wie ihr alternder Gatte zur Fettleibigkeit neigte. Aber natürlich hatte sie es sich nicht nehmen lassen, mir immer wieder Quintus' niedere Herkunft vorzuhalten. Das hörte erst auf, als ich kurz darauf schwanger wurde. Von Stund an ging sie mir aus dem Weg. Sie hatte sich nicht einmal dem Kreis der Frauen meiner Familie angeschlossen, die mich nach der Geburt besucht und beglückwünscht hatten.

»Lydia, wie schön, dich zu sehen!« Sie umarmte mich und hauchte mir einen Kuss auf jede Wange. Dabei linste sie aus den Augenwinkeln zu den vornehmen Frauen hinüber, mit denen sie sich sonst umgab. Ich hatte das Gefühl, die Begrüßung galt in Wahrheit ihnen und nicht mir. Aber ganz offen mochte sie es sich nicht mit mir verderben, galt mein Gemahl inzwischen doch als ernst zu nehmender Weinzüchter, und viele sagten ihm eine glänzende Zukunft voraus.

»Ja, es ist lange her, seit wir uns zuletzt sahen.« Auch ich hauchte ihr einen Kuss auf jede Wange, obwohl mich die Unaufrichtigkeit ihres Verhaltens abstieß.

»Ist das der kleine Lucius?« Gallia blickte auf das Tragetuch, in dem ich meinen Sohn wie üblich vor der Brust trug. »Ein goldiges Kindlein! Du willst ihn gewiss des Segens der Göttin versichern.«

»Ja, deshalb bin ich gekommen.«

»Das ist auch gut so«, kam es honigsüß zurück. »Er wird es brauchen, so dünn und zerbrechlich, wie er ist. Hast du ihn deshalb keiner Amme anvertraut? Weil du fürchtest, er könne ihre Milch nicht vertragen? Oder hatte Quintus nicht die nötigen Mittel zur Hand?«

So war Gallia. Nie um eine spitze Bemerkung verlegen.

»Das Geld hätte er durchaus gehabt, aber ich halte es lieber wie die Göttin Isis, die nährende große Mutter.«

Numira stand gelangweilt hinter mir. Ich wandte mich kurz zu ihr um. »Wenn du magst, kannst du schon zu Natakami gehen. Ich brauche dich heute nicht mehr.«

Das Leuchten ihrer dunklen Augen zeigte ihre Freude, bevor sie in Richtung der Gladiatorenkasernen verschwand. Gallia lachte laut los. »Ja, das kann ich mir denken. Einem so ansehnlichen Mann wie Natakami schickst du sie gern. Ein Kind aus dieser Zucht würde euer Vermögen nicht unbeträchtlich erhöhen. Und wer weiß? Wenn Natakami lange genug in der Arena überlebt, wird er ihr gewiss noch viele Füllen zeugen, die du gewinnbringend verkaufen kannst.«

Ich setzte ein ebenso heuchlerisches Lächeln wie meine Base auf. »Wer denkt denn immer gleich ans Geld? Es gibt Wichtigeres. Ich hoffe, es geht deinem Gatten gut. Hat Isis deinen Leib schon gesegnet, damit du ihm bald eigene Kinder schenken kannst?« Dabei blickte ich herausfordernd auf ihre dürre Leibesmitte. »Immerhin weiß er, welch gute Mutter er in dir für seine Kinder aus erster Ehe hat. Da verschmerzt er es gewiss, falls der Segen ausbleibt.«

Gallia maß mich mit verächtlichem Blick und wandte sich einer Gruppe vornehmer Patrizierinnen zu, ohne mich vorzustellen, wie es der Sitte entsprochen hätte. Aber darauf konnte ich gut verzichten.

Kurz darauf wurden die Torflügel des Heiligtums geöffnet. Begleitet vom Klang der Sistren, trat der kahl rasierte Hohepriester in makellos weißer Robe auf die erste Stufe vor dem Heiligtum. Neben ihm erschien die oberste Priesterin in der Gewandung der Isis. Sie trug eine dicke schwarze Perücke, auf deren Scheitel das Symbol der Isis emporragte, die von Kuhhörnern eingefasste Sonnenscheibe. Ihr Kleid war ebenso weiß wie das des Hohepriesters, aber um die Schultern trug sie einen schwarzen Umhang, der über der Brust von der Lebensschleife verschlossen wurde.

Hinter ihr reihten sich in Zweierreihen die rangniederen Priesterinnen auf und bewegten rhythmisch die Sistren, die Isisklappern, während sie die Lobeshymne der Isis anstimmten. Allerdings in so hoher Stimmlage, dass kaum jemand den Wortlaut verstehen konnte.

Der Hohepriester hatte die Hände unter seinem weiten Gewand verhüllt. Auf diese Weise vermied er es während der Verehrung, dass er das Hydreion, das Behältnis mit dem gesegneten Nilwasser, durch eine Berührung mit seiner bloßen Haut verunreinigte. Er schwenkte das heilige Gefäß in alle vier Himmelsrichtungen. Nach Beendigung der Zeremonie hielt ihm die Isis die Situla entgegen, den Krug für das heilige Trankopfer. Er neigte das Hydreion und füllte die Situla. Während seiner stummen Handlung vernahm ich die laut hallende Stimme der höchsten Priesterin. »Ich bin Isis. So wie das heilige Wasser des Nils Leben bringt, so bringe ich den Menschen Leben und Gesundheit. Ich bin die Göttin der Frauen, ich bestimme, dass Frauen von Männern geliebt werden sollen, dass ihnen die Macht gegeben sei, Kindern das Leben zu schenken, und dass die Kinder ihre Eltern lieben sollen. Ich bin die Hüterin der Familie und des Lebens. Solange die Wasser des Nils fließen, werde ich Leben schenken. Ich bin Isis, die große Mutter allen Lebens.«

Erst als die Situla vollständig gefüllt war, trat die Priesterschaft zur Seite und gewährte uns Einlass ins Innere ihres Heiligtums.

Ich war jedes Mal ergriffen von der ehrfürchtigen Stimmung, welche die kostbaren Wandbilder und Reliefs der Isis, ihres Gatten Serapis und ihres Sohns Harpokrates in mir erzeugten. Das Innere des Tempels war vom Duft des Weihrauchs geschwängert. Der kleine Lucius war diesen Geruch noch nicht gewohnt und nieste mehrmals, aber sonst verhielt er sich mustergültig.

Zielstrebig suchte ich die Nischen auf, in denen die Statuen des göttlichen Kinds und des Totengottes Anubis standen. Hier wurde mir der Kreislauf des Lebens stets aufs Neue bewusst, und hier hatte ich schon um eine glückliche Niederkunft gebetet. Meine Bitten hatten sich erfüllt. Die Geburt hatte mich viel Kraft gekostet, denn mein Sohn war sehr groß und kräftig gewesen. Aber er war gesund zur Welt gekommen, und auch ich hatte die Strapazen gut überstanden.

Ich schickte Harpokrates und Anubis meine Gebete, bevor ich weiter zum Bild der nährenden Isis schritt, der großen Mutter, und um ihren Segen für den kleinen Lucius bat. Gegen eine geringe Spende erstand ich von einem Tempeldiener eine Phiole mit heiligem Nilwasser und opferte es vor dem Bildnis der Göttin.

»Worum bittest du die große Mutter?« Plötzlich stand meine Base hinter mir. »Das größte Geschenk der Göttin hast du doch bereits erhalten. Oder ist es nicht so gut um deine Ehe bestellt?«

Gallias Bosheit verfehlte ihre Wirkung nicht, und ich zuckte erschrocken zusammen.

»Deine Sorge rührt mich, aber sie ist überflüssig. Meine Ehe ist so glücklich, dass ihr noch viele Kinder entspringen werden.« Ich bemühte mich, gleichmütig zu antworten, aber ich ärgerte mich. Gallia hatte es geschafft, mich aus meiner religiösen Ergriffenheit zu reißen.

»Dann pass nur auf! Deine schlanke Taille hast du schließlich schon deiner ersten Schwangerschaft geopfert. Bald siehst du aus wie die dort drüben.«

Sie wies auf eine wohlbeleibte Frau, die sich gerade vor dem Bildnis des Serapis verneigte. Ich erkannte in ihr die üppige Ägypterin, die ich am Tag zuvor auf dem Schiff gesehen hatte.

»Lieber etwas fülliger als ein solch hageres Knochenbündel wie du. Möglicherweise liegt deine Kinderlosigkeit darin begründet, dass dein Mann euer Ehelager flieht. Aus Angst, sich an deinen spitzen Rippen zu erdolchen.«

Gallia stieß einen vulgären Laut aus und ließ mich stehen.

»Wer hätte gedacht, dass die sanfte Lydia ein so gefährliches Mundwerk führt?« Ich fuhr herum. Hinter mir stand Publius und grinste breit. Ich spürte, wie mir das heiße Blut in den Kopf schoss. Verlegen zog ich das Tuch glatt, in dem ich den kleinen Lucius trug.

»Du bist ebenfalls ein Anhänger des Heiligtums?«, fragte ich und wollte das Gespräch in eine unverfängliche Richtung lenken.

»Ich bin ein Anhänger der Isis, nicht dieses Tempels.«

Er sprach das Wort Tempel mit einer gewissen Verachtung aus.

Verwirrt sah ich ihn an. »Aber man kann den Göttern doch nur in Tempeln huldigen.«

»Sag das nicht! Manch nördlicher Stamm verehrt Wälder und Quellen. Überirdische Macht, so glauben die Barbaren, lasse sich nicht in Häusern einschließen. Man könne die Götter nur in der Weite der Natur anbeten.«

»Sind Barbaren der Maßstab, nach dem du dich richtest?«

Publius lachte. »Du bist wahrhaftig um keine Antwort verlegen. Der arme Quintus! Hat er überhaupt noch etwas zu vermelden?«

»Wirst du mir das von nun an ständig vorhalten? Nur weil ich mir von meiner Base nicht jede Bosheit unwidersprochen gefallen lasse?«

Er hob abwehrend die Hände. »Gewiss nicht. Ich fand es sehr treffend und wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«

»Warum bist du gekommen, wenn du den Tempel nicht ehren willst?«

»Obwohl ich nicht an die Macht der Priester glaube, so könnte mich doch kein anderer Ort derart anziehen wie das Iseum. Und dass meine schöne Schwägerin eine Verehrerin der Isis ist, beeindruckt mich umso mehr. Auch wenn sie dem falschen Ritus anhängt.«

Ich sah ihn fragend an, und er sprach weiter. »Wie ich schon gestern sagte, drückt Rom Ägypten sein Siegel auf. Denn das, was Isis von allen anderen Göttern unterscheidet und sie so besonders macht, findest du hier nicht mehr. Selbst ihren Gatten und ihren Sohn haben die Römer ihr genommen.«

»Nein, die göttliche Familie ist sehr wohl hier versammelt. Serapis, ihr Gemahl, und Harpokrates, ihr Sohn.« Ich wies auf die Statue der Isis, die ihren Sohn an der Brust nährte. Publius schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das ist nicht die Familie der Isis, das ist ptolemäischer Aberglaube. Komm mit nach draußen! Dann erzähle ich dir etwas über Isis, über die wahre Göttin. Nicht hier, wo meine Worte die Priester beleidigen und um ihre Einnahmequelle bringen könnten.« Sein Zynismus war erschreckend, aber irgendwie fühlte ich mich von seinen Worten angezogen, auch wenn sie dem Heiligtum gegenüber jede Hochachtung vermissen ließen. Ich folgte Publius nach draußen. Er führte mich zu den Theatergärten, die hinter dem Iseum lagen und wo um diese Zeit keine Menschenseele anzutreffen war. Während wir auf einer Bank Platz nahmen, fragte ich mich die ganze Zeit, ob unsere Begegnung wohl ein Zufall war oder ob mein Schwager gezielt nach mir gesucht hatte. Überhaupt hatte ich einen völlig anderen Eindruck von ihm als am Tag zuvor. Die Schwermut, die ihn umgeben hatte, schien gänzlich verschwunden.

»So, nun befinden wir uns fern aller priesterlichen Ohren, und du kannst mir frei berichten, was falsch am Heiligtum der Isis ist.« Ohne es zu wollen, klang ich schon genauso zynisch wie er.

»Ich habe dich wirklich unterschätzt, Lydia. Du bist eine Person mit ganz eigenem Kopf.« Er grinste mich breit an, aber es wirkte ausgesprochen gutmütig. »Du glaubst an Isis, aber in diesem Heiligtum gibt es keinen Glauben mehr. Die Anhänger der Isis mögen im Gebet Hilfe und Trost finden, aber die Priesterschaft fühlt sich der wahren Verkörperung des Glaubens nicht mehr verpflichtet. Der Dienst an der Göttin ist zum reinen Geschäft verkommen. Wie viel hast du für das heilige Nilwasser bezahlt, das du vor dem Antlitz der Isis lactans geopfert hast?«

»Ein As.« Ich begriff nicht, worauf er hinauswollte. Es war in allen Heiligtümern üblich, die Opfergaben zu bezahlen. Und ob es nun Tauben im Tempel der Venus oder Nilwasser im Heiligtum der Isis war – worin bestand der Unterschied? Genau das fragte ich Publius. Er ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen.

»Du opferst den Gegenwert eines Brotlaibs und glaubst, damit deine Schuldigkeit den Göttern gegenüber getan zu haben.« Er sah mich an, als wäre ich ein unerfahrenes Kind.

»Manche opfern mehr, manche weniger«, widersprach ich, »aber es kommt doch nicht auf die Summe an, sondern auf den Glauben, der dahintersteht.«

»Denkst du, die Priester sehen das auch so? Sie reichen dir Wasser, behaupten, es stamme aus dem Nil, und schon ist ein winziger Schluck so viel wert wie ein ganzes Brot. Ist es nicht eher eine Beleidigung für die Götter, wenn ihnen auf diese Weise geopfert wird? Da bittest du um das Heil derer, die dir am Herzen liegen, also die wertvollsten Güter, die einem Menschen geschenkt werden können. Und was bietest du der großen Mutter? Einen Schluck Wasser, angeblich aus dem Nil. Vielleicht stimmt das sogar. Aber selbst wenn es so sein sollte – glaubst du, es enthält besondere Kräfte, nur weil die Priester es von einer Schale in die nächste gegossen haben? Und wenn es so wäre, wäre ein As dann nicht viel zu billig? Sind die göttlichen Gaben der Isis tatsächlich nur so viel wert wie die Arbeitskraft eines jungen Trägers am Hafen? Glaubst du wirklich, man könne die Göttin durch solche Opfer milde stimmen? In Wahrheit verdienen nur die Priester. Rechne dir aus, wie viel Wasser sie jeden Morgen überteuert verkaufen!«

Erschüttert starrte ich Publius an. Mit wenigen Worten entweihte er alles, das mir heilig war.

»Und du behauptest, an die Göttin zu glauben?«, fuhr ich ihn an. »So wie du spricht nur jemand, der seinen Glauben längst verloren hat.«

Sanft strich er mir mit der rechten Hand über die Wange und hob mein Kinn an, bis er mir in die Augen sehen konnte.

»Ich hatte den Glauben tatsächlich verloren, aber dann sah ich sie. Die leibhaftige Isis, die große Mutter, die Göttin, die das Leben schenkt. Und ich erkannte, worin der Unterschied liegt. Die Göttin gibt aus ihrer Gnade heraus. Sie braucht keine billigen Opfer. Sie will, dass wir in ihrem Sinn leben. Isis verlangt keine Bestechungsgelder wie ein korrupter Senator. Du kennst nur die verfälschte Geschichte von Isis, wie sie sich seit zweihundert Jahren erst die Ptolemäer, dann die Griechen und später die Römer erzählten. Als man ihr den großen Gatten Osiris nahm und ihr stattdessen den schwachen Serapis zur Seite stellte. Und aus ihrem Sohn Horus, dem Falkengott, einem der mächtigsten Krieger in der ägyptischen Glaubenswelt, wurde das unmündige Kind Harpokrates. Hast du hier jemals ein Bildnis des erwachsenen Horus gesehen? Nein, denn in diesem Heiligtum ist kein Platz für den großen Falken, der einst die Pharaonen Ägyptens repräsentierte. Hier ist nur Raum für den Säugling und den unbedeutenden Serapis. Ein Gott, geschaffen von Griechen, der nur einen Teil der ägyptischen Seele bewahrt hat. Die des großen Stiers Apis. Soll ich dir erzählen, was Isis wirklich bedeutet? Ihre wahre Geschichte?«

Er ließ mich los. Seine Augen leuchteten, und seine Wangen waren gerötet. Die Leidenschaft, die in ihm loderte, überraschte und überwältigte mich. Wortlos nickte ich. Seine heißblütige Rede hatte meine Seele berührt. Publius besaß eine innere Kraft, die mir bislang bei keinem anderen Menschen begegnet war. In diesem Augenblick begriff ich, warum Quintus seinen Bruder so sehr verehrte. Und ich verstand auch, warum er so verwirrt gewesen war, als wir am Abend zuvor gemeinsam bei Tisch gelegen hatten. Dieser Publius, der sich mir hier offenbarte, schien ein ganz anderer Mann zu sein.