Die Tochter der Sündenheilerin - Melanie Metzenthin - E-Book

Die Tochter der Sündenheilerin E-Book

Melanie Metzenthin

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Beschreibung

Frühjahr 1254: Dreiundzwanzig Jahre sind vergangen, seit die Sündenheilerin Lena und ihr Mann Philip nach Ägypten reisten und gemeinsame Abenteuer bestritten. Mittlerweile leben die beiden zufrieden auf Burg Birkenfeld und sind stolze Eltern dreier Kinder. Doch als ihre älteste Tochter Antonia den Heiratsantrag eines verwitweten Mannes ablehnt, ahnt Lena Schreckliches. Denn Antonias Verehrer ist kein Geringerer als der Sohn von Lenas ältestem Feind – und der schwört nach Antonias Zurückweisung eiskalte Rache.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

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ISBN 978-3-492-96292-6

© 2014 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Ricardo Demurez/Trevillion Images

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Halberstadt, Ostern 1254

Ihr solltet Eure Schönheit nicht an einen kleinen Kläffer verschwenden, Fräulein Antonia. Ihr braucht einen Mann.« Eberhard von Regenstein grinste, als er sah, wie sehr seine Worte die junge Frau überraschten. Antonia von Birkenfeld stand in der Nähe des Domportals unter der großen Eiche und hielt einen dieser kleinen weißen Hunde im Arm, die derzeit in Mode waren. Sogar während der heiligen Messe hatte das lächerliche Fellbündel still zu ihren Füßen geruht. Sie warf einen kurzen Blick zur Seite, als wolle sie sich versichern, ob sie allein war. Ihre Eltern, Graf und Gräfin von Birkenfeld, standen ein wenig abseits und sprachen mit dem Scholasticus Volrad von Kranichfeld. Wie es schien, überschütteten sie ihn gerade wieder mit Goldstücken für seine neue Domschule. Nun gut, Eberhard war es recht, dafür hatte seine Familie sich mit der größten Spende für den Neubau des Halberstädter Doms hervorgetan.

»Ihr braucht einen richtigen Mann«, wiederholte er. »Einen, der Euch mit seiner Leidenschaft erfüllt. Dann habt Ihr es nicht mehr nötig, Eure Zärtlichkeit an ein Tier zu verschwenden.«

»Einen richtigen Mann?« Antonia musterte Eberhard mit blitzenden Augen und setzte den Hund auf den Boden. »Ihr meint so einen wie Euch?«

Ah, er hatte das kleine Luder richtig eingeschätzt. In ihr brannte das südländische Feuer, vermutlich ein Erbe ihrer orientalischen Großmutter. Er trat näher.

»Warum nicht? Ihr hättet gerade das rechte Alter.«

»Für Euch?« Sie hielt seinem Blick mit schamloser Offenheit stand und erinnerte ihn für einen kurzen Moment an ihren Vater. Sie hatte seine hellbraunen Augen, das gleiche schwarze Haar, nur dass ihres lang und seidig bis über die Hüften fiel, gehalten von einem Reif aus versilberten Rosenblättern. Ihr Surcot aus feinster dunkelblauer Seide passte ausgezeichnet dazu und betonte ihre weibliche Figur. Obwohl Eberhard Antonias Vater nicht ausstehen konnte, sah er in ihr ein Juwel, mit dem er sich gern geschmückt hätte.

»Wäre es nicht an der Zeit, Regenstein mit Birkenfeld zu verbinden?« Er lächelte sie an. Eine gute Mitgift würde sie auch einbringen, eine der drei Eisenerzminen, die ihrem Vater gehörten. Und dass sie ihm im Bett Freude bereiten würde, stand außer Frage.

»Ihr glaubt, Ihr wärt der rechte Mann für mich? Herr Eberhard, bedenkt, Eure Tochter ist nur um ein Jahr jünger als ich.«

»Männer sind wie Bäume«, erwiderte er und berührte den Stamm der Eiche. »Ihre Stärke wächst mit dem Alter. Frauen hingegen sind wie Rosen – man muss sie rechtzeitig pflücken, bevor sie verwelken.«

»Ihr seid mir ein rechter Poet, Herr Eberhard.« Sie lachte. »Soll ich mich geschmeichelt fühlen, dass ein starker Baum wie Ihr bereit ist, eine unscheinbare kleine Rosenknospe wie mich zu pflücken?«

»Ihr könntet keine bessere Partie machen, Fräulein Antonia. Niemand vermag es mit der Stärke der Regensteiner aufzunehmen.«

»Und natürlich trügt Ihr mich auf Euren starken Händen und würdet mich mit Eurem sprichwörtlichen Witz und Geist erfreuen.« Sie kicherte. Eberhard nickte zufrieden. Auch wenn sie eine Birkenfelderin war, so schien sie ihm doch verständiger als der Rest ihrer Sippe. Eine Frau, die wusste, was gut für sie war.

»Ihr werdet mir gewiss viele Söhne gebären«, sagte er. »Den passenden Körper habt Ihr ja, runde Hüften und volle Brüste, die sich nach Liebkosung sehnen.«

Antonia räusperte sich. »Herr Eberhard, glaubt Ihr nicht, dass Ihr mit Euren Worten ein wenig zu weit geht?«

Ah, jetzt spielte sie wieder die Schamhafte! Umso besser. Sollte sie nach außen ruhig kühl und beherrscht wirken, den leidenschaftlichen Funken würde er allein entfachen, wenn sie erst die Seine war. Und dass sie ihm gegenüber nicht abgeneigt war, hatte sie ihm durch ihre offenen Blicke deutlich genug gezeigt.

»Ich reise morgen für einige Wochen nach Worms«, erklärte er. »Werdet Ihr bei Eurem Vater ein gutes Wort für mich einlegen, wenn ich nach meiner Rückkehr bei ihm vorspreche?«

»Herr Eberhard, mein Vater ist sicher entzückt, wenn Ihr ihn um meine Hand bittet.« Sie blitzte ihn mutwillig an. »Ihr wisst doch, wie viel er von Euch und Eurer Familie hält. Da stört es ihn gewiss nicht, dass Ihr zweiundzwanzig Jahre älter als ich und bereits verwitwet seid. Einen starken Baum erkennt er schließlich auch an den Jahresringen.« Sie blickte auf Eberhards Leibesmitte, die nicht mehr ganz so schlank war wie noch vor einigen Jahren.

Auf einmal hatte Eberhard das Gefühl, dass sie sich über ihn lustig machte. Doch sofort schob er den Gedanken beiseite. Er hatte schließlich das Verlangen in ihren Augen leuchten sehen …

 1. Kapitel  

Antonia liebte die Abendstimmung auf Burg Birkenfeld, wenn sich Handwerker und Gesinde in der Vorburg anschickten, ihr Tagewerk zu beschließen, und der Hof allenthalben von Scherzworten und Gelächter erfüllt war. Vor allem an diesem Tag, da das Pfingstfest unmittelbar vor der Tür stand.

Doch im Augenblick erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Ganz in der Nähe der Schmiede, in der Meister Mattes noch immer seinen Hammer schwang, saß Stephan von Cattenstedt auf einem Mauervorsprung und schliff sein Schwert. Stephan von Cattenstedt … Seit der junge Mann im letzten Herbst auf Burg Birkenfeld erschienen war, beschäftigte er Antonias Gedanken. Dabei war sie regelrecht erschrocken, als sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte, denn eine lange Narbe entstellte sein Gesicht. Vom rechten Jochbeinbogen über die Wange hinweg bis zum Kinn, so breit wie ihr kleiner Finger. Ihr Vater hatte ihr erzählt, man habe Stephan auf dem letzten Kreuzzug für seine Tapferkeit zum Ritter geschlagen. Stammte die Narbe aus diesen Kämpfen? Wie gern hätte Antonia mehr über ihn erfahren, doch jedes Mal, wenn sie Stephan sah, empfand sie seltsame Scheu, die sie nur mit Mühe überspielen konnte. Ausgerechnet sie, der ihre Brüder nachsagten, sie würde noch dem Teufel in der Hölle das Feuerholz abschwatzen. Bei dem Gedanken daran stahl sich ein Lächeln auf ihre Züge. Sollte sie die Gelegenheit wirklich verstreichen lassen? Stephan war wortkarg, gewiss, aber niemals unhöflich.

Sie beobachtete den jungen Ritter eine ganze Weile, bevor sie sich ein Herz fasste und auf ihn zuging.

»Guten Abend, Herr Stephan«, begrüßte sie ihn mit aufgesetzter Munterkeit. Er hielt in seiner Arbeit kurz inne, hob den Blick und musterte sie. Er hatte wunderschöne dunkelblaue Augen, und ihr fiel zum wiederholten Male auf, dass er ohne die Narbe deutlich jünger ausgesehen hätte.

»Guten Abend, Fräulein Antonia«, antwortete er artig, um sich sogleich wieder seinem Schwert zu widmen.

»Sagt, Herr Stephan, warum schleift Ihr Euer Schwert? Wollt Ihr gegen Räuber zu Felde ziehen? Ich dachte, Ihr sollt morgen nur meine kleine Schwester sicher von Burg Hohnstein nach Birkenfeld zurückbegleiten.«

»Ja.«

»Ja, dass Ihr gegen Räuber ziehen wollt, oder ja, dass ihr meine kleine Schwester nach Hause begleiten werdet?«

Er musterte sie mit hochgezogenen Brauen, sagte aber nichts.

»Ihr seid heute nicht sonderlich redselig.«

»Nein.«

»Habt Ihr gar schlechte Laune?«

»Nein.«

»Könnt Ihr auch mit mehr als einer Silbe antworten, wenn Euch der Sinn danach steht?«

»Gewiss.«

»Wir machen Fortschritte«, stellte Antonia fest. »Brächtet Ihr auch drei Silben zuwege?«

»Womöglich.«

»Zwei Worte?«

Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Fräulein Antonia?«

»Ja, Herr Stephan?« Sie lächelte ihn an.

Er legte Schwert und Schleifstein beiseite. »Was wollt Ihr von mir?«

»Nur ein wenig reden.«

»Aha.«

Sie setzte sich neben ihn auf den Mauervorsprung. »Ist das nicht ein wunderschöner Abend?«

»Gewiss.«

»Ich dachte immer, zu den ritterlichen Tugenden gehöre mehr, als ein Schwert zu schleifen. Die höfische Kunst des Gesprächs beispielsweise.«

»So?«

»Warum seid Ihr kein Freund gewandter Worte?«

»Bin ich das nicht?«

Antonia seufzte. »Ich merke schon, an Euch beiße ich mir die Zähne aus.«

Sie erhob sich und blickte zum Burgtor, durch das soeben zwei Männer ritten. Ihre Brüder Alexander und Rudolf, die wie so oft gemeinsam auf der Jagd gewesen waren. Rudolf hatte einen stattlichen Rehbock quer vor seinem Sattel liegen.

»Pfingstsonntag gibt es Rehbraten für alle!«, rief er stolz in den Hof, nahm Bogen und Köcher von der Schulter und warf sie einem Knecht zu, der beides geschickt auffing. Dann stieg er ab. Antonia lächelte. Ihr Ziehbruder Rudolf war das genaue Gegenteil von Stephan. Über alle Maßen redselig. Jedenfalls in seinen guten Zeiten. Alexander grinste nur und sprang ebenfalls vom Pferd.

Hinter sich hörte sie wieder das Geräusch des Schleifsteins. Sie wandte sich um. Stephan hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt und bearbeitete seine Klinge mit neuer Kraft. Die Funken sprühten nur so, und die Muskeln seiner Unterarme zeichneten sich deutlich unter der Haut ab.

»Machst du dem Stephan etwa schöne Augen?«

Antonia fuhr herum. »Rudolf, du redest Unsinn!«

»Wer schreit, hat unrecht, Schwesterchen. Wusstest du das nicht?«

»Und du musst dich dafür auch nicht schämen«, pflichtete Alexander ihm bei. »Die meisten Frauen mögen Männer mit Kriegsnarben.«

»Wenn ihr beide nicht sofort den Mund haltet, sorge ich höchstpersönlich dafür, dass ihr auch gleich Narben davontragt!«

»Oh! Komm, Alex, Rückzug! Sie wird gefährlich.«

Lachend ließen die beiden ihre Schwester stehen.

»Und ihr nennt euch tapfere Ritter!«, rief sie ihnen verärgert nach. Erst jetzt bemerkte sie, dass Stephan mit dem Schleifen aufgehört hatte und sie ansah. Heißes Blut schoss ihr in die Wangen. Am liebsten wäre sie vor Scham davongelaufen.

Stephan erhob sich von dem Mauervorsprung. »Gute Nacht, Fräulein Antonia.« Für einen Moment glaubte sie, den Hauch eines Lächelns zu erahnen. Doch sofort verflüchtigte sich dieser Eindruck wieder. Niemand auf Burg Birkenfeld hatte Stephan von Cattenstedt jemals lächeln sehen.

Am folgenden Morgen brach Stephan schon in aller Frühe mit einem der Waffenknechte auf, um Antonias Schwester Meret rechtzeitig zum Pfingstfest nach Burg Birkenfeld zurückzuholen. Antonia hatte es sich nicht nehmen lassen, ihm vom Fenster ihrer Stube aus unbemerkt nachzusehen. Warum um alles in der Welt hielt der Kerl ihre Gedanken nur so gefangen? Und war es wirklich so offensichtlich? Oder hatte Rudolf sich nur wieder einen seiner albernen Scherze erlaubt? Sie verließ ihre Kammer, um sich in der Burgküche ein Frühmahl richten zu lassen. Seit sie denken konnte, war es so üblich, dass jeder morgens in die Küche ging, wenn er Hunger hatte. Die einzige gemeinsame Mahlzeit fand abends statt. Ausnahmen bildeten die hohen Feiertage, wenn man schon mittags beisammensaß.

»Alexander, wurde der Ochse schon übergeben?«, hörte sie die Stimme ihres Vaters aus der Küche.

»Ich kümmere mich gleich darum«, lautete die Antwort.

»Und wenn er nicht reicht, schieße ich noch einen Rehbock für die Dörfler.« Rudolf lachte zufrieden.

Antonia betrat die Küche und sah ihren Vater Philip und ihre beiden Brüder bereits am Tisch sitzen.

»Guten Morgen«, grüßte sie und nahm Platz.

»Guten Morgen, Schwesterchen. Hast du von deinem tapferen Ritter geträumt?«

So viel zu der Frage, ob Rudolf gestern nur einen seiner üblichen Scherze gemacht hatte.

»Welcher tapfere Ritter?« Philip zog die Brauen hoch und musterte seine Tochter scheinbar streng, doch sie bemerkte sofort das belustigte Blitzen seiner Augen.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Rudolf spricht.« Sie griff nach dem Brot und brach ein Stück ab.

»Nein?« Rudolf grinste sie breit an. »Das pfeifen doch schon die Spatzen von den Dächern. Der arme Stephan.«

»Dir geht es wohl wieder etwas zu gut. Pass nur auf dein Gleichmaß auf!«, gab Antonia bissig zurück.

»Mit dem steht es zum Besten, Schwesterchen.«

»Stephan von Cattenstedt?«, fragte ihr Vater nach.

»Ich habe gestern nur ein paar Worte mit ihm gewechselt. So wie es unter höflichen Menschen üblich ist. Im Gegensatz zu Rudolf lässt Stephan auch andere zu Wort kommen.«

Philip sah seinen Sohn an. »Da hat sie recht, Rudolf.«

Alexander lachte. »Ich breche jetzt auf, den Bauern von Alvelingeroth den Pfingstochsen zu bringen. Kommst du mit, Rudolf?«

»Nur wenn wir auf dem Rückweg noch auf die Jagd gehen.«

Statt einer Antwort schlug Alexander ihm auf die Schulter. Rudolf erhob sich, und die beiden jungen Männer verließen die Küche. Antonia und ihr Vater blieben zurück.

»Und?« Philip sah Antonia auffordernd an.

»Was und?«, fragte sie zurück.

»Ist etwas dran?«

»An Rudolfs dummem Geschwätz?«

Ihr Vater lachte. »Pass nur auf, Antonia! Männer sind ungern die Beute. Sie wollen lieber selbst erobern.«

»Wo steckt eigentlich Mutter?«, wechselte Antonia schnell das Thema.

»Sie bereitet alles für Merets Rückkehr vor.«

»Schade, dass die Hohnsteiner das Pfingstfest nicht auch bei uns verbringen«, seufzte Antonia. Sie schätzte Gräfin Mechthild und Graf Johann von Hohnstein, bei denen sie ebenso wie zurzeit Meret als junges Mädchen mehrere Jahre verbracht hatte, um außerhalb der elterlichen Burg den letzten Schliff zum Erwachsenwerden zu erhalten.

»Ja«, bestätigte ihr Vater. »Aber sie haben sich um ihre eigenen Dörfer zu kümmern. Das Pfingstfest gehört den Bauern ebenso wie der Kirche.«

»Herr Graf!« Einer der Knechte stürzte atemlos in die Küche.

Philip fuhr herum. »Was gibt’s?«

»Herr Eberhard von Regenstein steht mit seinem Gefolge vor dem Tor und bittet um eine Unterredung mit Euch.«

»Mit mir?« Philip starrte den Knecht verblüfft an. »Bist du dir sicher, dass er sich nicht in der Burg geirrt hat?«

Antonia kicherte, doch dann erinnerte sie sich an ihre Begegnung mit dem Regensteiner vor einigen Wochen in Halberstadt.

»Vater, ich fürchte, er will um meine Hand anhalten.«

»Ist er verrückt geworden?«

Sie erzählte ihrem Vater von der Begebenheit in Halberstadt.

Philip wandte sich an den Knecht. »Bitte ihn, sich zu gedulden. Ich habe viel zu tun. Wer unangemeldet erscheint, muss so kurz vor dem Pfingstfest damit rechnen, dass er zu warten hat.«

»Jawohl, Herr Graf.«

Dann sah er seine Tochter an. »Wollen wir zuvor noch eine Partie Schach spielen?«

Sie nickte lächelnd. »Gern auch zwei.«

 2. Kapitel  

Eberhard von Regenstein wartete bereits ungeduldig, als Philip ihn endlich in den großen Kaminsaal bitten ließ. Antonia saß neben ihrem Vater und war gespannt, wie der wohl mit dem Regensteiner verfahren würde.

»Welch unerwarteter Besuch, Herr Eberhard!« Philip stand auf und begrüßte den Regensteiner mit Handschlag. »Verzeiht, dass Ihr so lange warten musstet, aber Ihr versteht gewiss – das nahende Pfingstfest stellt jede Grafschaft vor Herausforderungen. Vermutlich ist das auf Burg Regenstein nicht anders.«

Eberhard räusperte sich.

»Nehmt doch bitte Platz!« Philip wies auf den großen Lehnstuhl, der ihm gegenüber am Kamin stand. »Also, was führt Euch zu mir?«

Eberhard setzte sich. Sein Blick flog zwischen Antonia und ihrem Vater hin und her.

»Hat Eure Tochter Euch noch nichts … erzählt?«

»Meine Tochter? Was genau meint Ihr, Herr Eberhard?«, fragte Philip scheinbar arglos.

»Nun«, der Regensteiner räusperte sich erneut, »Fräulein Antonia hat mir zugesichert, dass sie ein gutes Wort bei Euch einlegen würde, wenn ich mich erkläre.«

»Wenn Ihr Euch erklärt?« Antonias Vater runzelte die Stirn. »Ach, ihr meint Euer seltsames Betragen am Osterfest in Halberstadt?«

»Mein seltsames Betragen?« Eberhards Gesicht verfärbte sich rot. »Ich habe mich Fräulein Antonia wie ein Ehrenmann genähert und sie in aller Form um ihre Hand gebeten. Sie ermunterte mich, bei Euch vorzusprechen.«

»Ich fürchte, Ihr habt meine Tochter missverstanden, Herr Eberhard. Sie wollte Euch gewiss nicht kränken, wusste aber nicht so recht, wie sie es in Worte fassen soll. Denn wisst Ihr, ich wünsche mir einen starken Schwiegersohn, der vom Alter her zu Antonia passt.«

»So bin ich Euch gar zu alt?«, brauste Eberhard auf.

»Ihr könntet ihr Vater sein«, bestätigte Philip. »Hättet Ihr einen erwachsenen Sohn und wäre meine Tochter ihm geneigt, dann hätten wir darüber reden können.«

»Die Kraft eines Mannes steigt mit den Jahren«, brüstete sich Eberhard. »Bedenkt, eines Tages werde ich der Graf von Regenstein sein. Regenstein und Birkenfeld sollten sich nicht länger feindlich gegenüberstehen. Eine Verbindung unserer Häuser ist längst überfällig.«

»In dem Fall wäre es vielleicht eher angemessen, wenn wir über eine Verbindung Eurer Tochter Sibylla mit einem meiner Söhne nachdenken.«

»Was?«

»Wir sollten doch in einer Generation bleiben, Herr Eberhard. Meint Ihr nicht?«

»Meine Tochter Sibylla stand nie zur Wahl. Sie wird keinen Birkenfelder heiraten!«

»Warum nicht?«

»Weil … verdammt, ich bin nicht hier, um über meine Tochter zu sprechen. Ich bin hier, Euch um Antonias Hand zu bitten. Ihr findet keinen besseren Gatten als mich. Männer sind wie Bäume, sie gewinnen mit dem Alter an Stärke«, wiederholte er seinen lächerlichen Vergleich, der Antonia bereits in Halberstadt erheitert hatte.

»So? Dann verratet mir, was ein junger Rosenstrauch mit einer morschen Trauerweide anfangen soll«, gab Philip kühl zurück. »Ich werde meine Tochter niemals einem Mann geben, der ihr Vater sein könnte.«

»Das ist eine Unverschämtheit!«

»Wie auch immer, Ihr seid kein ernst zu nehmender Bewerber um die Hand meiner Tochter.« Philip erhob sich. »Und jetzt, da Ihr meine Antwort kennt, möchte ich Euch höflich bitten, meine Burg zu verlassen. Das Pfingstfest findet in drei Tagen statt, und vermutlich habt auch Ihr noch viel zu tun.«

»Das werdet Ihr noch bereuen! Niemand weist mich ungestraft ab.«

Philip blieb gelassen. »Ich würde es allenfalls bereuen, wenn Ihr mein Schwiegersohn wärt, Herr Eberhard. Ich erinnere mich noch allzu gut an unsere allererste Begegnung. Vielleicht wundert es Euch, aber ich lege keinen Wert darauf, einen Mann meinen Schwiegersohn zu nennen, der mich einstmals als dreckigen Bastard beschimpfte und vor mir ausspie. Gehabt Euch wohl, Herr Eberhard. Dort vorn ist die Tür.«

Eberhard schnaubte wütend und ging.

Antonia und ihr Vater tauschten einen zufriedenen Blick aus.

Eberhard schäumte vor Wut. Dieses kleine Miststück hatte ihn doch tatsächlich vorgeführt! Und ihr Vater erst recht. Das ließe er nicht auf sich sitzen. Zornig befahl er seinen wartenden Waffenknechten, auf die Pferde zu steigen und ihm zu folgen.

Kaum hatten sie den Burghügel hinter sich gelassen, trieb Eberhard sein Pferd zum scharfen Galopp an. Doch der frische Frühlingswind kühlte seine Wut nicht ab. In ihm brodelte es. Diese Demütigung durfte er nicht so einfach auf sich bewenden lassen. Unter keinen Umständen.

Während er sein Pferd grimmig in den breiten Hohlweg trieb, bemerkte er eine Gruppe von vier Reitern, die ihm und seinen Waffenknechten entgegenkamen. Es waren zwei Männer und zwei Weibsbilder, von denen das eine noch ein Kind zu sein schien. Eberhard zügelte sein Pferd. Den Anführer der Gruppe hatte er schon einmal gesehen. Das war doch dieses Narbengesicht, das der Graf von Birkenfeld vor einigen Monaten in seine Dienste genommen hatte. Dann erkannte er auch das Mädchen. Philips jüngste Tochter Meret. Welch ein Zufall! Welch überaus günstiger Zufall … In Eberhards Gedanken formte sich ein genialer Plan, es den Birkenfeldern heimzuzahlen. Er hatte sechs Waffenknechte bei sich, das Geleit, das einem Grafensohn zustand. Wenn der Graf von Birkenfeld seine Tochter nur zwei Männern anvertraute, war das mehr als leichtsinnig. So leichtsinnig, dass es geradezu nach Bestrafung schrie.

»Diethard«, raunte er seinem ersten Waffenknecht zu, »ich will das Mädchen haben!«

Der Angesprochene zuckte zusammen. »Ihr meint, wir sollen sie überfallen?«

»Ja.«

»Aber … aber wir haben doch keine Fehde mit den Birkenfeldern.«

»Hast du nicht gehört, was ich dir befohlen habe?« Eberhard maß seinen Untergebenen mit strengem Blick.

»Stephan von Cattenstedt führt sie an«, entgegnete Diethard. »Der wird sie nicht kampflos herausgeben. Ich kenne ihn von früher. Der zählt für drei Männer.«

»Wenn er damit rechnen würde. Aber noch sind wir harmlose Nachbarn.« Eberhard lachte. Die ganze Bitternis, der Ärger über seine Schmach fielen von ihm ab. »Pack ihn von hinten, sobald wir an ihnen vorüber sind! Aber dass ihr mir niemanden umbringt! Ich will keine Blutrache auf mein Haupt beschwören. Um das Mädchen kümmere ich mich selbst.«

Diethard murmelte irgendetwas in seinen Bart, das in Eberhards Ohren wie Widerspruch klang. Doch ein weiterer strenger Blick genügte, und Diethard kannte seinen Platz.

Inzwischen waren die Birkenfelder ihnen recht nahe gekommen. Man grüßte und nickte sich höflich zu, so wie es üblich war, wenn man bekannte Gesichter traf. Eberhard lenkte sein Pferd einige Schritte zur Seite und ließ Stephan von Cattenstedt passieren. Dann wandte er sich an das Mädchen, das ihm folgte. »Ich wünsche Euch einen wunderschönen Tag, Fräulein Meret.« Die Elfjährige errötete leicht, war sie es doch nicht gewohnt, wie eine Dame begrüßt zu werden. Überhaupt schien sie nicht viel mit ihrer feurigen Schwester Antonia gemein zu haben, sondern glich eher ihrer Mutter mit ihrem langen blonden Haar und den blauen Augen.

»Ich danke Euch, Herr Eberhard«, antwortete sie schüchtern. »Wart Ihr auf Burg Birkenfeld zu Gast?«

»So ist es«, erwiderte Eberhard noch immer freundlich, warf aber zugleich einen kurzen Blick zu Diethard hinüber. Der nickte kaum merklich.

»Fräulein Meret, wir müssen weiter«, mahnte Stephan von Cattenstedt.

»Ja, Herr Stephan.« Gehorsam trieb sie ihr Pferd an. Eberhard griff ihr in die Zügel. »Einen Augenblick, Fräulein Meret! Ich glaube, wir haben ein anderes Ziel.«

Stephan von Cattenstedt warf sich herum. »Was fällt Euch ein?«

Sofort riss Diethard Stephan aus dem Sattel. Zwei von Eberhards Männern stürzten sich auf den zweiten Waffenknecht und schlugen ihn nieder, während die alte Frau laut um Hilfe schrie. Eberhard hielt Merets Zügel fest in der Hand und galoppierte mit ihr davon. Das Mädchen starrte ihn entsetzt an, unfähig zu schreien. Hinter sich hörte Eberhard die Männer brüllen. Er warf einen kurzen Blick zurück. Stephan von Cattenstedt lag am Boden, Diethard und zwei weitere Männer schlugen auf ihn ein. Die alte Frau rief immer noch um Hilfe. Sollte sie ruhig. Bis man sie hörte, hätte er Meret längst sicher nach Burg Regenstein gebracht. Und dort würde sie bleiben, bis ihr Vater vor ihm zu Kreuze kröche …

 3. Kapitel  

Verdammt, er ist weg!«, zischte Rudolf und senkte den Bogen.

»Du kannst eben nicht jeden Tag Erfolg haben.« Alexander versetzte seinem Bruder einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Hättest du es wie ich gehalten, wärst du nun nicht gänzlich ohne Beute.« Er deutete auf die beiden Fasane, die an seinem Sattel hingen.

»Ja, du gibst dich immer gleich mit Niederwild zufrieden.«

»Und du hast danebengeschossen.« Alexander grinste. »Das Ziel war wohl etwas zu klein für dich.«

Rudolf ging nicht auf die Spöttelei ein, sondern hängte sich den Bogen über die Schulter. Was mochte den Hirsch gewarnt haben? Der Wind stand gut, sie waren leise gewesen. Dennoch war das Tier plötzlich aufgeschreckt und geflüchtet.

»Rudolf, hörst du das?« Alexander berührte ihn am Arm. »Da schreit jemand.«

Rudolf lauschte in den Wald hinein. Tatsächlich, ganz schwach, kaum mehr als das Wispern des Windes in den Zweigen, aber doch eindeutig der Schrei einer Frau.

»Du hast recht. Da ist eine Frau in Not!«

Keinen Augenblick später saßen die beiden im Sattel und folgten den Schreien. Plötzlich verstummten sie. Kamen sie zu spät? Rudolf trieb sein Pferd gnadenlos an. Die Schreie waren aus der Nähe der Burg gekommen. Wagte sich dort etwa Raubgesindel am helllichten Tag aus seinen Löchern? Oder war die Frau einem wilden Tier begegnet?

Ein reiterloses Pferd galoppierte ihnen entgegen.

»Das ist doch Stephans Hengst!« Noch im Galopp griff Rudolf nach den losen Zügeln des Falben und packte sie.

Alexander war blass geworden. »Meret«, flüsterte er und trieb sein Pferd in den Hohlweg hinunter.

An der Böschung graste ein zweites reiterloses Pferd. Das gehörte Caspar, dem Waffenknecht, der Stephan begleitet hatte. Hinter der nächsten Biegung entdeckten sie Stephan. Er lag regungslos am Boden, die Frau und Caspar knieten bei ihm und versuchten, ihn aufzurichten.

»Christina!«, rief Rudolf und sprang noch vor Alexander aus dem Sattel. Die alte Amme hob den Kopf. Er sah die Überraschung in ihren Augen, dann die Erleichterung. Mühsam erhob sie sich und fiel ihm in die Arme.

»Rudolf«, flüsterte sie, so als wäre sie vom Schreien heiser geworden. »Eberhard von Regenstein hat Meret geraubt!«

Rudolf zuckte zusammen. »Er hat Meret geraubt? Warum? Wir haben keine Fehde mit den Regensteinern.«

Christina schüttelte stumm den Kopf. Rudolf ließ sie los und beugte sich zu Stephan hinunter. Aus einer Platzwunde über seiner Stirn sickerte Blut. Alexander zog ein sauberes Tuch aus der Satteltasche und presste es auf die Wunde. Sie war zum Glück nicht tief, und der feste Druck genügte, die Blutung rasch zu stillen.

»Sie haben zu dritt auf ihn eingeprügelt«, berichtete Caspar. Er sah selbst zum Gotterbarmen aus – das rechte Auge war zugeschwollen und die Lippe blutverkrustet. »Ich konnte ihm nicht helfen, sie waren zu sechst.«

»Dieses Halunkenpack!«, zischte Rudolf.

Stephan stöhnte leise.

»Stephan?« Alexander berührte den Verletzten an der Schulter.

Der hob die Lider, blinzelte und kniff die Augen zusammen, so als müsse er die Unschärfe seines Blicks ausgleichen.

»Alexander?«

Der Angesprochene nickte. »Kannst du aufstehen?«

»Ich will’s versuchen«, murmelte Stephan. Doch erst als Alexander ihm die Hand reichte und ihn auf die Füße zog, gelang es ihm, sich zu erheben. Schwer atmend stützte er sich danach an einem Baum ab.

»Bist du schwer verletzt?«, fragte Rudolf.

»Glaub ich nicht. Ein paar Prellungen. Bin mit’m Kopf aufgeschlagen, als Diethard mich aus dem Sattel gerissen hat.«

»Christina sagt, Eberhard von Regenstein hätte euch überfallen.«

»Ja. Er sprach noch höflich mit Meret, ich mahnte zum Weiterreiten, da sind sie völlig unerwartet über uns hergefallen.«

»Dieser Dreckskerl!«, rief Rudolf. »Wir sollten ihm sofort nachsetzen!«

»Zu zweit?« Alexander runzelte die Stirn. »Du hast doch gehört, dass sie zu sechst waren.«

»Mit Eberhard sogar zu siebt«, ergänzte Caspar.

»Willst du sie etwa mit Meret entkommen lassen?« Rudolf funkelte seinen Bruder an. »Sie haben den Landesfrieden gebrochen!«

»Sie werden ihre Strafe noch bekommen«, entgegnete Alexander. »Jetzt kehren wir erst mal nach Birkenfeld zurück und erstatten Vater Bericht. Er wird wissen, was zu tun ist.«

»Sobald sie auf Burg Regenstein sind, kommen wir nicht mehr an sie heran«, beharrte Rudolf. »Verfolgen wir sie!«

»Damit sie uns auch zusammenschlagen? Nein, Rudolf, wir müssen Vater in Kenntnis setzen. Eberhard wird Meret nichts antun.«

»Nichts antun? Der Schurke hat sie entführt! Reicht das nicht?« Rudolfs Hände ballten sich zu Fäusten.

»Ich komme mit«, erklärte Stephan. »Mir geht es wieder gut.«

»Ach, wirklich?« Alexander versetzte Stephan einen Stoß zwischen die Rippen. Der stöhnte und hätte fast das Gleichgewicht verloren.

»Geht dir also wieder gut, was? Nein, wir reiten nach Birkenfeld. Das ist mein letztes Wort!«

Rudolf seufzte. Es brachte nichts, mit Alexander zu streiten. Ohne ihn hatte es keinen Sinn, den Regensteinern nachzusetzen, und Stephan war nicht in der Verfassung dazu. Und Caspar tat sowieso alles, was Alexander sagte.

»Also gut«, räumte er ein. »Aber das letzte Wort in der Angelegenheit ist noch nicht gesprochen. Ich werde die Regensteiner zur Verantwortung ziehen!«

Antonia und ihr Vater saßen im Kaminsaal und spielten eine weitere Partie Schach, als Antonias Mutter Lena hinzukam.

»Ihr seht so vergnügt aus«, stellte sie fest. »Und wie mir scheint, liegt das nicht nur daran, dass ihr Zeit zum Schachspielen gefunden habt oder dass Meret heute zurückkommt.«

Philip grinste. »Eberhard von Regenstein war vorhin hier und bat mich um Antonias Hand.«

»Ist er verrückt geworden?«

»Genau das war mein erster Gedanke«, bestätigte Philip. »Ich habe ihm zunächst sehr freundlich und dann etwas bestimmter erklärt, dass das nicht infrage kommt. Tja, und dann wurde er unhöflich, und ich wurde noch unhöflicher.«

»Du hast ihn also vor die Tür gesetzt?«

»So kann man sagen.«

Lena nahm neben ihrer Tochter Platz. »War es wirklich so klug, ihn zu reizen?«

»Soll ich mich auf meiner eigenen Burg von einem Besucher bedrohen lassen? Noch dazu von Eberhard? Lena, ich bitte dich!«

»Eberhard ist nicht der Hellste«, meinte sie. »Und du weißt selbst, dass zornige Dummköpfe gefährlich werden können.«

»Was soll er schon tun?«, entgegnete Philip leichthin. »Schach.«

Antonia schlug seinen Läufer, der ihren König bedrohte.

Ihr Vater machte seinen Zug. »Und matt«, sagte er. »Du fällst immer wieder darauf herein.«

Antonia runzelte die Stirn. »Beim nächsten Mal schlage ich dich, Vater. Bietest du mir eine Revanche?«

»Heute nicht mehr. Morgen.«

Vor der Tür des Kaminsaals hörten sie Schritte.

»Das wird Meret sein!«, rief Lena erfreut.

»Vater!« Mit zornrotem Gesicht riss Rudolf die Tür auf. Gleich hinter ihm betraten Alexander und Stephan den Saal. Bei Stephans Anblick erschrak Antonia. Ein blutiger Riss über der Stirn, eine aufgeschlagene Lippe und eine angeschwollene Augenbraue zierten sein Gesicht.

Philip sprang auf. »Was ist geschehen?«

»Eberhard von Regenstein hat Meret entführt! Er hat noch freundlich gegrüßt, und als Stephan und Caspar an ihm und seinen Männern vorbeiritten, griff er sie unvermittelt an und ließ sie zusammengeschlagen. Dann ritt er mit Meret auf und davon. Wir sollten ihnen sofort nachsetzen!«

»Das hat im Augenblick wenig Sinn«, widersprach Alexander. »Als wir dazukamen, waren sie schon über alle Berge und haben inzwischen vermutlich bereits Burg Regenstein erreicht.«

Lena war blass geworden. »Er hat Meret entführt? Er hat es wirklich gewagt, Meret zu entführen?« Antonia hörte das Beben in der Stimme ihrer Mutter, die immer mehr anschwoll. »Wie konnte er es wagen, sich an meinem Kind zu vergreifen?«, schrie sie. »Wir haben keine Fehde mit den Regensteinern!«

»Jetzt haben wir sie wohl«, meinte Rudolf bitter.

»Nein«, widersprach sein Vater energisch. Antonia sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten und wieder lösten. »Eine Fehde muss erklärt sein. Eberhard hat aus Wut gehandelt, weil ich ihm Antonias Hand verweigerte.«

»Antonias Hand?« Alexander starrte seinen Vater verblüfft an. »Ist er verrückt geworden?«

»Das haben wir uns auch alle gefragt«, gab Philip seufzend zu. »Wie auch immer, er will sich mit Merets Entführung für die Abfuhr rächen und uns demütigen.«

»Was gedenkst du zu tun?« Lena war zu ihrem Mann getreten. Die Entrüstung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Vermutlich fehlte nicht viel, und sie hätte sich selbst in den Sattel geschwungen, um Burg Regenstein ganz allein zu erobern.

»Ich werde bei Herzog Leopold Klage gegen ihn erheben.«

»Und Meret?«, fragte Lena. »Was soll aus ihr werden, bis du deine Klage erhoben hast?«

»Er wird ihr nichts antun. Er will sie nur als Geisel in seiner Gewalt haben.«

»Und sie für Wochen, vielleicht sogar für Monate allein auf seiner Burg festhalten?«, rief Rudolf entrüstet. »Sie ist doch erst elf!«

»Was sollte ich denn eurer Meinung nach sonst tun?« Philips Blick flog zwischen seiner Frau und seinem Ziehsohn hin und her, und zum ersten Mal bemerkte Antonia seine Hilflosigkeit. »Regenstein belagern? Oder auf Knien um Merets Herausgabe bitten? Wenn es Sinn hätte, täte ich es, aber Eberhard würde mich nur auslachen und unannehmbare Forderungen stellen. Nein, ich kann die Regensteiner damit nicht so einfach durchkommen lassen. Ich erhebe Klage. Die Regensteiner haben schuldhaft den Frieden gebrochen. Herzog Leopold als unser beider Lehnsherr muss entscheiden.«

»Und er wird in deinem Sinn entscheiden«, bestätigte Lena. »Das Recht ist auf unserer Seite, und Leopold ist dein Freund. Aber ich mache mir dennoch Sorgen um Meret. Es kann lange dauern, bis du recht bekommst.«

»Wie ich schon sagte – Eberhard wird ihr nichts antun. Meret ist ein verständiges Mädchen. Sie wird es überstehen und weiß, dass wir alles für sie tun.«

Lena atmete tief durch. »Du reitest morgen in aller Frühe nach Schlanstedt. Ich will, dass du sofort Klage erhebst!«

»Nichts anderes als dies hatte ich vor.«

»Darf ich dich begleiten, Vater?«, bat Antonia. Philip nickte.

»Was ist mit mir?«, fragte Alexander.

»Du hältst mit Rudolf die Stellung. Ihr beide kümmert euch darum, dass die Feierlichkeiten zum Pfingstfest wie geplant verlaufen. Die Bauern von Alvelingeroth vertrauen darauf.«

Alexander nickte, und Rudolf verdrehte die Augen. Stephan stand noch immer stumm zwischen den Brüdern, das Gesicht hart und verschlossen. Empfand er tatsächlich Zorn und Entschlossenheit? Antonia war sich nicht sicher. Sie hatte eher den Eindruck, dass er nur mit Mühe seine Scham über die Niederlage verbarg.

»Wenn damit alles geklärt ist, kann ich mich zurückziehen«, schnaubte Rudolf. »Kommst du mit, Stephan?«

Der nickte und folgte Rudolf.

Antonia sah den besorgten Blick, mit dem ihre Mutter Rudolf musterte.

»Brennt das Feuer wieder in ihm?«, raunte sie ihrer Mutter zu. Sie wusste um deren Fähigkeit, die Seelenflamme in den Augen der Menschen zu sehen, den Lebensfunken, der zeigte, ob die Menschen mit sich im Reinen waren.

»Ich weiß nicht recht«, antwortete ihre Mutter ebenso leise. »Es könnte gewöhnlicher Zorn über die Niedertracht der Regensteiner sein. Aber womöglich ist es mehr.«

Antonia erschrak. »Du meinst, er verliert wieder das Gleichmaß?«

Lena seufzte. »Ich hoffe nicht. Wir könnten im Augenblick nichts weniger gebrauchen.«

 4. Kapitel  

In Rudolf brodelte es noch immer. Mochten sein Vater und Alexander auch recht haben, er konnte es nicht ertragen, zum Nichtstun verdammt zu sein. Und ein Blick in Stephans Augen verriet, dass es ihm genauso erging. Die Schmach, die Stephan durch die Regensteiner erlitten hatte, schrie geradezu nach Rache.

»Ich habe einen Plan«, sagte er zu Stephan, kaum dass sie den Kaminsaal verlassen hatten. »Wirst du mir helfen, Meret zurückzuholen?«

»Was hast du vor?«

»Nicht hier. Komm! Ich will nicht, dass Alexander etwas mitbekommt.«

Stephan verzog das Gesicht, und einen Moment lang zweifelte Rudolf. Hatte er Stephan vielleicht doch falsch eingeschätzt? Er kannte ihn als einen Mann, der nicht lange fackelte, sondern tat, was er für richtig hielt. So wie vor sechs Jahren, als Stephan mit seinem Bruder Thomas voller Übermut ausgerückt war, um sich dem Kreuzzugsaufruf des französischen Königs Ludwig IX. anzuschließen, weil ihr Vater nicht genügend Geld hatte, um ihnen die Ausbildung zum Ritter zu ermöglichen.

»Gehen wir in meine Kammer! Dann erzähle ich dir alles.«

Stephan nickte und folgte ihm. Rudolf atmete auf.

»Ich will heute noch nach Burg Regenstein«, sagte er, als sie in der Stube saßen.

»Es wird bald dunkel«, warf Stephan ein. »Wir können nicht mehr viel ausrichten.«

»Ich will die Burg nicht erobern. Ich will mich Eberhard als Austauschgeisel für Meret anbieten.«

Stephan zog zweifelnd die Brauen hoch. »Und dann?«

»Du bringst Meret wohlbehalten zurück nach Birkenfeld. Wenn ich sie in Sicherheit weiß, wird mir schon etwas einfallen, Eberhard und seinem Vater ein Schnippchen zu schlagen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann lasse ich es mir auf Burg Regenstein gut gehen, bis Vaters Klage Erfolg hat. Mir macht das nichts aus. Aber ich will Meret in Sicherheit wissen.«

»Und wenn die Regensteiner nicht darauf eingehen?«

»Dann haben wir auch nichts verloren.«

»Denk daran – sie sind ehrlos.«

»Vater meint, Eberhard habe aus unüberlegter Wut gehandelt. Möglicherweise geht er auf meinen Handel ein, um ein bisschen Ehre zurückzugewinnen.«

Stephan runzelte die Stirn. »Ich halte nicht viel davon.«

»Dann wirst du mich nicht begleiten?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Du kommst also mit?«

»Ja.«

»Gut. Dann lass uns alle Vorbereitungen treffen. Ich brauche unter anderem ein langes Seil …«

Eine gute Stunde später verließen die beiden heimlich die Burg. Für einen Moment flammte das schlechte Gewissen in Rudolf auf, weil er sich nicht von seiner Familie verabschiedet hatte. Aber er fürchtete, dass sie ihn zurückgehalten hätte. Er hatte den Blick seiner Mutter bemerkt, als er zornig den Kaminsaal verlassen hatte. So sah sie ihn immer nur an, wenn sie um sein Gleichmaß fürchtete. Es war lange her, dass er zuletzt in die Dunkelheit gestürzt war, und noch länger, dass er auf den Wogen des Glücks geritten war und sich für unbesiegbar gehalten hatte. Rudolf seufzte. Dies war der Fluch, den er von seiner leiblichen Mutter geerbt hatte. Er war machtlos, selbst wenn er mit aller Kraft dagegen ankämpfte. Doch an diesem Tag war es anders. Ihn trieben lediglich die Sorge um Merets Wohlbefinden und der Zorn auf die Regensteiner an.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sie Burg Regenstein. Rudolf überlegte kurz, ob er es Stephan und Meret wirklich zumuten sollte, noch an diesem Abend nach Birkenfeld zurückzukehren. Nun, sollten die Regensteiner auf sein Angebot eingehen, käme es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. Und eigentlich gab es keinen Grund, sein Anerbieten abzulehnen. Geisel war schließlich Geisel, und es war nicht ehrenhaft, ein Kind festzuhalten.

Burg Regenstein lag auf einer Anhöhe, die jedem Angriff widerstand. Es führte ein einziger Pfad hinauf, die drei anderen Seiten gingen in steiles Felsgestein über. Die Burg thronte so hoch über den Wäldern, dass von dort aus die Kirchturmspitzen von Halberstadt und Blankenburg zu erkennen waren. Kein Wunder, dass die Regensteiner sich in ihrer Festung so sicher fühlten.

»Sie haben die Zugbrücke hochgezogen«, stellte Rudolf fest.

»Sie haben ihre Gründe«, entgegnete sein Gefährte schwer atmend. Auch wenn er es verbergen wollte, litt Stephan ganz offenkundig Schmerzen. Die Folgen des Überfalls waren schwerwiegender, als er zugab. Einen Augenblick lang fragte Rudolf sich, ob er nicht zu viel von Stephan gefordert hatte. Andererseits war Stephan ein erfahrener Krieger. Er wusste, was er konnte und was nicht.

»Heda!«, rief Rudolf zu den Wachtposten hinauf. »Wir verlangen, den Burgherrn zu sprechen.«

»Wer seid Ihr?«, fragte einer der Männer zurück.

»Rudolf von Birkenfeld. Ich verlange, auf der Stelle vorgelassen zu werden!«

Eine Weile tat sich gar nichts.

Stephan lehnte sich im Sattel vor und schätzte die Umgebung mit seinen Blicken ab.

»Wonach suchst du?«, fragte Rudolf.

»Nach Schwachstellen.«

»Und hast du welche entdeckt?«

Stephan schüttelte den Kopf. »Fluchtwege gibt es hier kaum.«

»Solange Meret in Sicherheit ist, ist mir das gleich.«

Nach geraumer Weile wurde das kleine Manntor neben der Zugbrücke geöffnet. Es war so schmal, dass die Reiter absteigen und die Pferde führen mussten.

Im Hof wurden sie von fünf Waffenknechten erwartet.

»Gebt uns Eure Waffen!«

Rudolf und Stephan tauschten einen raschen Blick aus. Die Waffen zu fordern war eine Beleidigung.

»Ist das hier so üblich?«, fragte Rudolf.

»Nur für Birkenfelder.« Der Mann grinste dreckig.

»Aha. Nun, die Regensteiner werden schon wissen, warum sie uns fürchten«, entgegnete Rudolf gelassen. Dann öffnete er seinen Waffengurt und übergab ihn samt Schwert und Dolch.

»Hoffentlich bekommen wir unsere Waffen unversehrt zurück, wenn wir gehen.«

»Sicher, wir sind keine Diebe.«

Stephan zögerte einen Augenblick lang, dann löste auch er seinen Waffengurt.

Man führte sie ins Innere der Burg. Rudolf war noch nie auf Regenstein gewesen. Verwundert stellte er fest, dass ein Teil der Burg unmittelbar in den Fels geschlagen war. Ganz so, als hätte man alte Höhlen in die rechte Form gebracht und Fenster und Türöffnungen hineingemeißelt. Die Besucher wurden in einen jener absonderlichen Höhlenräume geführt. In die rohen Wände hatte man eiserne Halterungen geschlagen, in denen Talglichter steckten und ein schwaches Licht spendeten. Hirschfelle verdeckten notdürftig den kalten Stein. Rudolf runzelte die Stirn. Sollte dieser rustikale Wandbehang von den Jagdkünsten der Regensteiner zeugen? Dafür sprach auch das große Bärenfell, dem man den Kopf belassen hatte und das in der Mitte des Raums auf dem Boden lag. Die einzigen Möbelstücke bestanden aus vier Scherenstühlen. Obwohl bereits Juni, war es in diesem Raum empfindlich kühl.

Stephan setzte sich so lässig auf einen der Stühle, als wolle er den Waffenknecht herausfordern, der sie begleitete. Rudolf jedoch wusste, dass es Stephan schwerfiel, länger zu stehen. Er folgte Stephans Beispiel und nahm ebenfalls Platz.

Der Waffenknecht blieb mit unbewegter Miene am Eingang stehen.

Wieder verging einige Zeit. Niemand sagte ein Wort.

Natürlich ließ Eberhard sie warten. Er wollte sich für seine Zurückweisung rächen. Rudolf hatte nichts anderes erwartet. Und er begriff, warum sein Vater nicht sofort nach Burg Regenstein aufgebrochen war. Eberhard hätte die Situation genossen und ihn nur gedemütigt. Womöglich hätte er ihm erlaubt, Meret zu sehen, ihr zugleich aber klargemacht, dass ihr Vater nichts für sie tun konnte. Nein, es war schon besser, dass Vater Klage gegen die Regensteiner erheben wollte.

Rudolf atmete tief durch. Er hingegen hatte jede Freiheit. Er konnte sich als Austauschgeisel anbieten. Er verlor dabei nicht sein Gesicht, ganz gleich, was geschah. Der Einzige, der seine Ehre verlieren konnte, war Eberhard. Wenn er nicht auf den Austausch einging.

Endlich betrat ein Mann den düsteren Raum. Er kam Rudolf irgendwie bekannt vor, auch wenn er nicht sagen konnte, ob er ihm tatsächlich schon einmal begegnet war. Der Mann mochte um die dreißig sein, war schlank, hatte breite Schultern, dunkelbraunes Haar und einen sorgsam gestutzten Vollbart. Sein dunkelblauer Bliaut war schlicht, aber aus gutem Stoff.

Rudolf warf Stephan einen kurzen Blick zu. Zwischen dessen Brauen hatte sich eine tiefe Falte gegraben.

»Sieh an, Herr Rudolf von Birkenfeld.« Der Mann grinste selbstgefällig und erinnerte Rudolf an Eberhard. »Und wie ich sehe, seid Ihr nicht allein gekommen.« Sein Blick blieb auf Stephan hängen, aber er sagte nichts weiter.

Rudolf erhob sich. »Ich verlange mit Graf Ulf von Regenstein zu sprechen.«

»Verlangt Ihr. So, so. Nur leider habt Ihr hier nichts zu verlangen. Ihr könnt höchstens bitten.«

In Rudolf brodelte es erneut, doch er beherrschte sich. »Nun gut. Dann bitte ich eben in aller Form darum, dem wohledlen Grafen von Regenstein vorgestellt zu werden, um mit ihm über Geschäfte zu sprechen.«

»Seid Ihr dazu befugt?«

»Natürlich ist er das«, bemerkte Stephan. Rudolf warf ihm einen erstaunten Blick zu. Gewöhnlich ergriff Stephan nie von sich aus das Wort. »Er ist schließlich kein Bastard, Herr Meinolf.«

Meinolf! Rudolf horchte auf. War das etwa Meinolf von Brack, der illegitime Halbbruder von Eberhard? Rudolf hatte schon einiges über ihn gehört.

Meinolfs Züge verhärteten sich. »Noch so ein Wort, Narbengesicht, und ich sorge dafür, dass deine Fresse wieder symmetrisch wird.«

Stephan erhob sich und trat auf Meinolf zu. »Versuch es, wenn du unbedingt sterben willst.«

Unwillkürlich wich Meinolf zurück. Rudolf konnte diesen Schritt gut verstehen, klang Stephans Stimme doch so kalt, dass auch ihm ein Schauer über den Rücken lief. Einen Augenblick lang schien es, als liege ein Kampf in der Luft. Rudolf beobachtete, wie sich die Muskeln beider Männer anspannten.

»Wartet hier!«, knurrte Meinolf schließlich und ging.

Stephan setzte sich wieder.

»Du kennst ihn?«, fragte Rudolf.

Stephan nickte.

»Gut?«

»Nein.«

»Aber gut genug, um ihn zum Schweigen zu bringen?«

»Ja.«

Jeder andere Mann hätte triumphierend gelächelt, doch Stephans Miene blieb unbewegt.

Wieder verstrich Zeit. Rudolf wurde ungeduldig, aber er verbarg seine Gefühle hinter einer gleichmütigen Maske. Dabei dachte er darüber nach, wann und wo Stephan Meinolf von Brack wohl schon einmal begegnet sein mochte. War es vor seinem Aufbruch ins Heilige Land geschehen? Oder nach seiner Rückkehr? Er hätte ihn gern gefragt, aber zum einen stand da immer noch der Regensteiner Waffenknecht wie eine reglose Statue, zum anderen war Rudolf sich ziemlich sicher, dass Stephan ihm ohnehin nicht viel erzählt hätte.

Endlich kehrte Meinolf von Brack zurück.

»Der Burgherr ist bereit, Euch zu empfangen«, sagte er kühl. Rudolf und Stephan erhoben sich.

»Dich nicht.« Meinolf trat Stephan in den Weg. »Der Graf von Regenstein pflegt nur mit seinesgleichen zu sprechen.«

»Ah, deshalb schickt er dich also wie einen Botenjungen«, entgegnete Stephan trocken. Rudolf verbiss sich ein Grinsen, als er hörte, wie Meinolf mit den Zähnen knirschte. Er hatte gar nicht gewusst, dass Stephan so schlagfertig sein konnte.

»Du kannst dankbar sein, dass ich dich nicht sofort aus der Burg jagen lasse«, zischte Meinolf. »Jeder weiß doch, dass die Cattenstedts ein Haufen von Habenichtsen sind, für die sich jeder anständige Ritter schämen muss.«

»Auch die, deren Mütter Leibeigene waren?«

Ein Zucken lief durch Meinolfs Körper. Schon hob er die Fäuste, um Stephan anzugreifen, doch dann begnügte er sich mit einem verächtlichen Schnauben.

»Folgt mir!«, sagte er zu Rudolf und ging.

Meinolf führte Rudolf über enge Treppen, die anscheinend ebenfalls in den Fels geschlagen worden waren, bis sie in einen Bereich kamen, in dem gemauerte Wände und hölzerne Stiegen ein wohnlicheres Gefühl vermittelten. Der Gang wurde breiter, und Meinolf öffnete eine Tür, die in den Kaminsaal führte. Obwohl der Kamin unbeheizt war, war es in diesem Raum deutlich wärmer als in der seltsamen Höhle, in der sie gewartet hatten. Statt Tierfellen hingen Wandteppiche über den weiß verputzten Mauern, und in den Leuchtern, die an den Wänden befestigt waren, steckten echte Wachskerzen.

Eberhard und sein Vater Ulf, der Graf von Regenstein, saßen an einem massiven Eichentisch, auf dem eine Karaffe Wein und mehrere Pokale standen.

»Sieh an«, sagte Eberhard. »Ich hätte nicht gedacht, dass Herr Philip ausgerechnet Euch schickt.«

»So? Warum nicht?«

»Ich hätte erwartet, dass er selbst kommt.«

Rudolf verschränkte die Arme vor der Brust und blieb vor dem Tisch stehen. »Ihr habt den Landesfrieden gebrochen, indem Ihr meine Schwester geraubt habt.«

»Eigentlich habe ich ihr nur die Gastfreundschaft der Regensteiner angeboten, nachdem Euer Vater sie unfähigen Männern anvertraute. Aber wollt Ihr Euch nicht setzen?«

Zögernd nahm Rudolf Platz.

»Mögt Ihr Wein?«, fragte Eberhard übertrieben liebenswürdig. Ohne auf Rudolfs Antwort zu warten, schenkte er ihm ein.

Rudolf rührte den Pokal nicht an. Sein Blick wanderte zwischen Eberhard und dessen Vater hin und her. Er kannte die alte Feindschaft, die seinen Vater mit Ulf von Regenstein verband. Doch seit er denken konnte, war es zu keinerlei Übergriffen gekommen. Rudolf erinnerte sich an drei Turniere, in denen sie aneinandergeraten waren, aber die Zerwürfnisse waren in der Turnierbahn ausgetragen worden. Zweimal erfolgreich gegen Ulf, einmal gegen Eberhard.

»Ich möchte Euch bitten, meine Schwester freizugeben. Sie ist noch ein Kind, und es steht einem Ehrenmann nicht an, Streitigkeiten auf Kosten einer Elfjährigen auszutragen.«

»Warum sollten wir auf einen Vorteil verzichten?«

»Weil es ehrlos ist, Kinder festzuhalten.«

»Ehrlos?«, donnerte Ulfs Stimme durch den Saal. »Ihr maßt Euch an, das Verhalten meines Sohns als ehrlos zu bezeichnen?«

»Das tue ich.«

»Für einen Bittsteller seid Ihr recht vorlaut«, bemerkte Eberhard und trank einen Schluck Wein. »Wollt Ihr nicht kosten? Ich glaube kaum, dass Ihr auf Burg Birkenfeld so guten Wein habt.«

»Glaubt Ihr wirklich, ein Unrecht wird zum Recht, nur weil Ihr mir einen Becher Wein anbietet?«

Eberhard und Ulf lachten.

»Nun, wenn Ihr nicht wollt. Meinolf sagte, Ihr wolltet uns ein Geschäft vorschlagen. Was ist Euer Vater bereit, für die Rückkehr seiner Tochter zu zahlen?«

»Wenn Ihr sie noch heute freigebt, ist er bereit, auf eine Klage gegen Euch zu verzichten.«

»Er will also Klage gegen uns erheben?« Ulf musterte Rudolf mit verächtlichem Blick. »Nun, da bin ich aber gespannt, wie er die Klage durchsetzen will. Womöglich will er unsere Burg belagern?«

»Ich bin mir sicher, Herr Rudolf wird uns noch etwas Besseres anbieten«, war Meinolfs Stimme aus dem Hintergrund zu hören.

Rudolf wandte sich um und wunderte sich, warum Meinolf mit einem zufriedenen Grinsen an der Wand lehnte, anstatt sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.

»Ist das so?«, fragte Ulf. »Dann heraus damit!«

»Es geht mir vor allem um meine Schwester«, erwiderte Rudolf. »Sie ist noch ein Kind. Ich bitte Euch, sie freizugeben. Ich bin bereit, an ihrer Stelle als Geisel zu bleiben, bis Ihr Eure Streitigkeiten mit meinem Vater geklärt habt.«

»Wie überaus großmütig«, sagte Eberhard. »Da gibt es nur eine Schwierigkeit.«

»Die wäre?«

»Wir haben mit Eurem Vater gar keinen Streit.«

»Was?«

Eberhard grinste. »Euer Vater ist tot. Ich meine, Euer richtiger Vater. Und ich bin mir nicht so sicher, ob wir wirklich einen guten Tausch machen. Ein leibliches Kind gegen einen Ziehsohn.«

»Mein Vater hat nie einen Unterschied gemacht. Ich bin als Geisel ebenso wertvoll wie meine Schwester.«

»Warum schickte er dann Euch und nicht Alexander, seinen Erben?«

»Er hat mich nicht geschickt. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.«

»So? Das heißt, er weiß gar nicht, dass Ihr hier seid?«

»Geht Ihr nun auf meinen Vorschlag ein oder nicht?«

Eberhard und sein Vater tauschten einen Blick.

»Wir kommen Euch entgegen«, sagte Eberhard schließlich. »Wir nehmen Euer Angebot an.«

»Dann lasst meine Schwester gehen. Stephan von Cattenstedt wird sie nach Hause bringen.«

»Davon war nicht die Rede. Ich sagte, wir nehmen Euer Angebot an, uns als Geisel zu dienen. Eure Schwester behalten wir trotzdem.«

»Was?« Rudolf sprang auf. »Ihr wagt es …«

Auch Eberhard und Ulf waren aufgesprungen, und plötzlich spürte Rudolf den Druck einer Klinge im Rücken. »Schön ruhig bleiben.« Meinolf! Deshalb war der Halunke stehen geblieben. »Wir wollen doch nicht, dass jemand verletzt wird, oder?«

Rudolf atmete tief durch, dann setzte er sich wieder.

»So ist es gut«, lobte Meinolf, und der Druck der Klinge ließ nach.

»Ihr seid ehrloser, als ich dachte«, zischte Rudolf.

»Wollt Ihr nicht doch einen Schluck Wein zur Beruhigung trinken?« Eberhard hielt ihm den Pokal auffordernd hin. Am liebsten hätte Rudolf ihm das Gefäß aus der Hand gerissen und den Inhalt über den Kopf gegossen, doch er riss sich zusammen.

»Also gut«, sagte er, nahm den Pokal und trank einen Schluck. »Habt Ihr wenigstens genügend Anstand, dass ich meine Schwester sehen darf?«

»Wir sind keine Unmenschen«, sagte Ulf. »Meinolf, bring ihn in den Turm zu seiner Schwester!«

»Nach Euch«, sagte Meinolf, das Schwert noch immer in der Hand.

 5. Kapitel  

Seit Meinolf aufgetaucht war, spürte Stephan ein Grummeln im Bauch. Meinolf war hinterhältig. Hinterhältiger als jeder andere aus der Regensteiner Brut. Von Anfang an hatte Stephan Rudolfs Plan für gewagt gehalten, aber darin die einzige Möglichkeit gesehen, Meret möglichst schnell nach Hause zu bringen. Deshalb war er Rudolf gefolgt, auch wenn er jeden Knochen im Leib spürte. Er kannte diesen Schmerz bereits. Bei der Eroberung von Damiette vor fünf Jahren war er von einer Mauer gestürzt und hatte sich zwei Rippen gebrochen. Aber genau wie damals unterdrückte er den Schmerz. Es gab Wichtigeres.

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und beobachtete aus halb geschlossenen Lidern den Waffenknecht, der auch nach Rudolfs Fortgang weiterhin am Eingang wachte. Was befürchteten die Regensteiner? Dass zwei unbewaffnete Männer im Handstreich ihre Burg übernahmen?

Schritte vor der Tür. Der Waffenknecht wandte sich um. Meinolf von Brack kehrte zurück. Ohne Rudolf und ohne Meret.

»Es wird Zeit, dass du verschwindest«, sagte er zu Stephan.

Stephan blieb ungerührt sitzen.

»Hast du nicht gehört?

»Wo ist Rudolf?«

»Der bleibt hier.«

»Wo ist Fräulein Meret?«

»Die bleibt auch hier.« Meinolf grinste bösartig.

Hätte Stephan keine Schmerzen gehabt, wäre er wütend aufgefahren, aber so blieb er einfach sitzen. »Ist das so?«

Zufrieden stellte er fest, dass sein Verhalten Meinolf verwirrte.

»Richte dem Grafen von Birkenfeld aus, dass seine Tochter und sein Ziehsohn so lange hierbleiben, bis er ein anständiges Lösegeld zahlt.«

Stephan erhob sich. »Das werde ich ihm ausrichten.«

»So fügsam? Mir scheint, du hast deinen Biss verloren.«

»Ein Ritter streitet nicht mit den Kindern von Leibeigenen.«

Meinolfs Gesicht verfärbte sich rot. »Du …«

»Ja?«, schnitt Stephan ihm das Wort ab. »Hast du mir noch etwas zu sagen?«

»Du hast Glück, dass mein Vater dich als Boten braucht. Sonst würdest du Burg Regenstein nicht mehr lebend verlassen.«

»Natürlich.«

»Ich warne dich, Stephan von Cattenstedt, du solltest meine Worte lieber ernst nehmen.«

»Selbstverständlich.«

»Bring ihn zu seinem verdammten Gaul!«, brüllte Meinolf dem wartenden Waffenknecht zu.

Stephan folgte dem Mann, doch in der Tür wandte er sich noch einmal um. »Auf Wiedersehen, Herr Meinolf.«

Mittlerweile war es dunkel geworden. Hätte Stephan Meret bei sich gehabt, hätte er die Nacht bei seinem Vater auf Gut Cattenstedt verbracht, das auf halbem Weg zwischen Regenstein und Birkenfeld lag. Aber er war allein und wollte Graf Philip so rasch wie möglich über die jüngsten Ereignisse in Kenntnis setzen. Auch wenn es ihn mit tiefer Scham erfüllte, erneut versagt zu haben.

Die Pechfackel spendete gerade genügend Licht, dass er den Pfad erkannte. Zum Glück hatte er noch zwei weitere Fackeln in seiner Satteltasche. Unter diesen Bedingungen würde er wohl gut zwei Stunden brauchen, um Birkenfeld zu erreichen.

Allerlei Nachtfalter umschwirrten sein Licht, in der Ferne hörte er einen Wolf heulen. Das störte ihn nicht weiter. Zu oft war er durch die Hölle geschritten, um noch Angst zu kennen. Dennoch kostete es ihn einige Überwindung, nicht den Pfad nach Cattenstedt einzuschlagen, sondern auf dem Weg nach Birkenfeld zu bleiben. Jeder Atemzug schmerzte – er war sich sicher, dass mindestens eine Rippe gebrochen war. Sein Pferd schnaubte. Mit der freien Hand tätschelte er ihm den Hals. Ein arabisches Vollblut, nicht so stämmig wie die einheimischen Pferde, dafür überaus schnell und wendig. Einen Moment lang schweiften seine Gedanken ab, zurück in jene Zeit, da es ihn zum ersten Mal aus Todesgefahr getragen hatte. Doch sofort unterdrückte er die alten Erinnerungen. Es gab Erlebnisse, an die wollte er nie mehr denken.

Er lauschte in die Nacht hinaus. Dem Heulen des ersten Wolfs hatte sich ein zweiter angeschlossen. Irgendwo bellte ein Hund. Vermutlich gehörte er zu einer der Köhler- oder Holzfällerhütten, die überall im Wald verstreut lagen.

Auf einmal war er froh, dass er Meret diesen Ritt nicht zumuten musste. Gewiss, für ein elfjähriges Mädchen war sie ausgesprochen verständig, sie hatte nicht einmal geschrien, als Eberhard sie entführt hatte. Aber der dunkle Wald übte eine Macht aus, die jeden in Angst und Schrecken versetzte. Jeden außer ihn. Das war der einzige Vorteil, wenn die eigene Seele von dunklen Dämonen beherrscht wurde. Kein äußerer Schrecken konnte schlimmer sein.

Endlich tauchten vor ihm die Lichter von Burg Birkenfeld auf. Er unterdrückte den Wunsch, sein Pferd zu schnellerer Gangart anzutreiben. Zu leicht konnte es bei Dunkelheit einen Fehltritt tun und sich ein Bein brechen.

Das Tor war längst geschlossen, doch auf sein Rufen hin wurde ihm das kleine Manntor geöffnet.

»Stephan?« Nikolaus, der um diese Zeit zur Wache eingeteilt war, starrte den Ankömmling an, als wäre er ein nächtliches Gespenst. »Wo warst du?«

»Unterwegs.«

»Herr Philip hat nach Rudolf und dir gesucht. Weißt du, wo Rudolf ist?«

»Ja.«

»Wo?«

Stephan reichte Nikolaus die Fackel und stieg vom Pferd.

»Bring ihn in den Stall!«, verlangte er, während er Nikolaus auch die Zügel übergab. »Ich muss mit Herrn Philip sprechen.«

»Wegen Rudolf?«

»Bring das Pferd in den Stall!«, wiederholte Stephan. Dann machte er sich auf den Weg zur Hauptburg.

Aus dem Kaminsaal drang noch Licht. Stephan wollte tief durchatmen, doch der Schmerz war kaum erträglich. Verfluchte Rippe! Er fasste sich ein Herz und klopfte an.

Graf Philip und sein Sohn Alexander saßen am Tisch vor dem Kamin und musterten ihn schweigend.

»Ich bringe keine guten Neuigkeiten«, sagte er. Lange Ausflüchte waren nie sein Fall gewesen. »Rudolf und ich waren auf Burg Regenstein.«

»Auf Burg Regenstein?« Die Gesichtszüge des Grafen verhärteten sich. Das versteckte Lächeln, das seinen Blick sonst immer umspielte, war gänzlich verschwunden. »Was hattet ihr dort zu suchen?«

Stephan schluckte. »Rudolf hatte gehofft, Meret freizubekommen, wenn er sich an ihrer Stelle als Austauschgeisel anböte.«

»Und?«

Stephan senkte den Blick. »Sie haben Rudolf zum Bleiben gezwungen, aber Meret nicht freigegeben. Ich soll Euch ausrichten, dass sie die beiden so lange festhalten werden, bis Ihr bereit seid, ein anständiges Lösegeld zu zahlen.«

»Diese ehrlosen Schurken!« Alexander sprang auf. »Wie können sie es wagen?«

Sein Vater schüttelte nur den Kopf. »Alles andere hätte mich überrascht. Die Regensteiner kennen keine Ehre.«

»Wie lauten Eure Anordnungen?«, fragte Stephan.

»Meine Anordnungen?« Philip musterte ihn. »Wie wäre es, wenn du zu Bett gehst?«

»Zu Bett?«

»Es ist schon spät.«

»Ja, aber …«

»Du siehst so aus, als hättest du es nötig.«

»Ja, aber …«

»Schon gut. Ihr hattet nur Merets Wohl im Sinn, du und Rudolf. Ihr konntet nicht mit der Hinterlist der Regensteiner rechnen.«

»Ihr habt damit gerechnet«, gab Stephan kleinlaut zu.

Philip nickte. »Das habe ich. Doch ich hätte mich irren können. Einen Versuch war es wohl wert. Geh zu Bett, Stephan!«

Stephan hob die Schultern, nickte und zog sich zurück. Er wusste nicht so recht, was er erwartet hatte. Vorwürfe? Vielleicht. Aber auf keinen Fall diesen niedergeschlagenen Blick des Grafen, der ihn trotz allem so verständnisvoll zu Bett schickte. Das machte die Scham über sein Versagen nur noch schlimmer. Hätte er Rudolf zurückhalten können? Gewiss, wenn er dem Gefährten nicht so bereitwillig gefolgt wäre. Aber dann hätte er sich vorgeworfen, nicht alles versucht zu haben.

Seine Kammer lag in einem der Fachwerkhäuser der Vorburg. Anders als die Waffenknechte, die sich zu viert einen Raum teilten, genoss er als ritterlicher Vasall den Vorzug einer eigenen Schlafstube im Haus des Burghauptmanns Witold.

Witold war noch wach. »Wir haben uns Sorgen gemacht«, sagte er.

»Aha.«

»Der Graf hat nach dir und Rudolf gesucht.«

»Ich weiß.«

»Und?«

»Gute Nacht, Witold.« Stephan schritt an ihm vorbei in seine Kammer. Einen Moment lang flammte tatsächlich so etwas wie ein schlechtes Gewissen auf, weil er den alten Burghauptmann einfach stehen ließ. Der war stets freundlich zu ihm, hatte ihn wie den Sohn, den er nie gehabt hatte, in seinem Haus aufgenommen. Drei Töchter hatte Witold, zwei von ihnen waren längst verheiratet, nur die jüngste lebte noch bei ihm und seinem Weib. Aber ganz gleich, was Witold dachte, Stephan war nicht in der Stimmung, ein weiteres Wort mit wem auch immer zu wechseln.

 6. Kapitel  

Rudolf, bitte tu’s nicht!« Meret sah ihren Bruder mit großen, flehenden Augen an. »Du wirst in den Tod stürzen!«

»Unsinn.« Er lächelte seiner kleinen Schwester aufmunternd zu und verknotete das Seil am Fensterkreuz. Es hatte sich gelohnt, ein Seil mit in die Burg zu schmuggeln, das er sich um den bloßen Oberkörper gewunden und unter der Kleidung verborgen hatte. Die Länge reichte aus, um sich von einem Fenster in das daruntergelegene zu hangeln. Wären die Regensteiner auf seinen Vorschlag eingegangen, dann wäre er inzwischen vermutlich schon auf dem Weg in die Freiheit gewesen.

»Und was versprichst du dir davon?« Die Elfjährige sah ihn vorwurfsvoll an. Den Blick hatte sie zweifellos von ihrer Mutter, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten war.

»Ich will mich ein wenig in der Burg umsehen. Vielleicht entdecke ich einen Fluchtweg.«

»Und wenn du abstürzt, bin ich ganz allein.«

»Ich stürze nicht ab. Vertrau mir!« Er strich ihr über das Haar. Meret verdrehte die Augen und setzte sich auf ihre Bettstatt. Rudolf hatte nicht erwartet, dass man ihn tatsächlich zu seiner Schwester sperren würde. Ihm war es vor allem darum gegangen, sie zu sehen und ihr Mut zuzusprechen. Doch Meinolf hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn zu verhöhnen. »Jemand, der sich so blauäugig gefangen nehmen lässt, gehört in die Mädchenkemenate«, hatte er gesagt und spöttisch gelacht. Rudolf hatte ihn nur gleichmütig angesehen, aber innerlich triumphiert. Wenn er mit Meret zusammen war, vereinfachte das vieles. Zwar war die Tür zum Turmzimmer verschlossen, aber darin sah Rudolf kein Hindernis, solange es ein Fenster gab und er das Seil besaß. Meret konnte ihm auf diesem Weg zwar nicht folgen, aber darum ging es nicht. Er hatte Zeit. Er wollte wissen, wo er war. Und die Nächte waren wie geschaffen für heimliche Rundgänge.

Ein letztes Mal prüfte er den Knoten und die Festigkeit des Seils, dann stieg er aus dem Fenster. Meret hielt sich entsetzt die Augen zu.

»Du übertreibst«, sagte er kopfschüttelnd.

Die Nacht war sternenklar. Rudolf ließ den Blick über die finsteren Wälder schweifen, die den Berggrat umgaben. In der Ferne sah er vereinzelte Lichter blitzen. Halberstadt. Dann warf er einen Blick auf das Fenster unter sich. Es war dunkel, vermutlich ein leerer Raum. Möglicherweise unverschlossen. Ein idealer Ausgangspunkt für seine Erkundungsgänge.

Er stützte sich mit den Füßen an der Mauer ab, während er sich langsam an dem Seil hinunterließ, den Blick auf die Mauer vor sich gerichtet. Endlich hatte er das Sims des nächsten Fensters erreicht. Erst jetzt erkannte er, dass ein hölzerner Laden die Fensteröffnung verschloss. Vorsichtig stieß er dagegen. Nichts rührte sich. Der Fensterladen war von innen verriegelt. Mit der linken Hand angelte Rudolf sein kleines Messer aus dem Stiefel. Die Regensteiner waren dumm. Sie hatten geglaubt, ihn zu übertölpeln, und hatten versäumt, ihn nach versteckten Waffen zu durchsuchen.

Behutsam schob er die Messerklinge durch die Ritze des Ladens, fasste den Riegel, schob ihn hoch und öffnete das Fenster. Zu seiner großen Überraschung brannte ein Licht in dem Raum. Er überlegte kurz, ob er sich wieder zurückziehen sollte, doch es war zu spät.

»Wer seid Ihr?«, rief eine wütende Frauenstimme. »Und was wollt Ihr hier?«

Rudolf schluckte. Eine blonde Jungfer mit zornblitzenden Augen stürmte ihm so heftig entgegen, dass er befürchtete, gleich rückwärts vom Sims zu stürzen.

»Ähm …«, er räusperte sich. »Guten Abend.«

»Guten Abend?«, fuhr sie ihn an. »Ist das alles? Ich verlange eine Erklärung.« Dann erst bemerkte er den Schürhaken in ihrer Hand, den sie drohend erhoben hatte. Unwillkürlich packte Rudolf das Seil fester, um ihr im Notfall ausweichen zu können.

»Ich dachte, dieses Gemach sei unbewohnt.«

»Und dann wagt Ihr es, durchs Fenster zu kommen? Dafür gibt es eine andere Öffnung, mein Herr.« Sie wies auf die Tür.

»Darf ich vielleicht trotzdem hineinkommen, bevor ich hier draußen das Gleichgewicht verliere?«

»Das wäre ja noch schöner.«

»Dass ich das Gleichgewicht verliere?«

»Dass Ihr meine Kemenate betretet! Ich sollte die Wächter rufen! Mein Vater wird Euch dafür zur Rechenschaft ziehen.«

Rudolf musterte die Jungfer eingehend. Sie war recht hübsch, wenngleich sehr zornig. Die tiefe Falte auf ihrer Stirn erinnerte ihn an Eberhard. War sie Eberhards Tochter Sibylla? Er war ihr nie begegnet.

»Falls Euer Vater Herr Eberhard ist, ruft ruhig die Wachen. Wisst Ihr, meine Familie hatte heute schon genügend Ärger mit ihm, da erschüttert mich nichts mehr.«

»Wer seid Ihr?« Die Zornesfalte auf ihrer Stirn glättete sich ein wenig.

»Gestattet, Rudolf von Birkenfeld. Ich wohne derzeit ein Stockwerk über Euch. Nur leider hat man mir keinen Schlüssel für die Stube hinterlegt, sodass ich nach anderweitigen Wegen suche.«

»Rudolf von Birkenfeld«, wiederholte sie und senkte den Schürhaken. »Ich habe von Euch gehört.«