Die Sündenheilerin - Melanie Metzenthin - E-Book
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Die Sündenheilerin E-Book

Melanie Metzenthin

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Beschreibung

Nach einem schweren Schicksalsschlag lebt Lena zurückgezogen im Kloster. Als Dietmar von Birkenfeld die junge Frau auf seine Burg ruft, damit sie seiner kranken Gemahlin hilft, muss Lena ihre Zufluchtsstätte jedoch verlassen. Denn sie hat eine seltene Gabe: Sie erspürt die tiefen seelischen Leiden der Menschen und vermag sie auf wundersame Weise zu heilen. Während ihres Aufenthalts auf Burg Birkenfeld begegnet Lena noch anderen Gästen: Philip Aegypticus ist zusammen mit seinem arabischen Freund Said in den Harz gereist, um die Heimat seines Vaters kennenzulernen. Der ebenso attraktive wie kluge Philip bemerkt schon bald, dass auf der Burg manch düsteres Geheimnis gehütet wird. Und er entdeckt, dass die feinfühlige Lena sich in Gefahr befindet.

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www.piper.de

Für meinen Vater,

der immer daran geglaubt hat.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Juli 2011

ISBN 978-3-492-95223-1

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Trevillion Images

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

 Prolog 

Regungslos verharrte der Reiter zwischen den Bäumen. Nur sein Pferd schnaubte und scharrte ungeduldig mit den Hufen. Von der nahen Straße trug der Wind den Klang zahlreicher Glöckchen herüber. Er hörte das fröhliche Gelächter, die Hochrufe auf das Brautpaar.

Dann sah er sie. Es war ein prächtiger Hochzeitszug, an der Spitze die Musikanten, dahinter hoch zu Ross die Frischvermählten. Der Bräutigam auf einem kräftigen Fuchs, seine junge Frau auf einem zierlichen Schimmel. Die Braut strahlte. Ihr helles Haar leuchtete, als würde die Sonne darin baden.

Er seufzte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er selbst auf solchen Festen willkommen gewesen. Er stellte sich vor, wie die Dienerschaft schon seit Tagen das Hochzeitsmahl vorbereitet haben mochte. Gebratene Kapaune, Fasane, vielleicht sogar ein ganzer Ochse, dazu Berge von Pasteten, frisches Brot und natürlich nur der beste Wein. Ohne dass er es wollte, stieg eine alte Sehnsucht in ihm auf.

Die Braut lachte. Ein fröhliches, unbeschwertes Lachen, das sich mit dem Klingeln der Glöckchen mischte. Sie war ein schönes Mädchen, so lebendig, so voller Kraft.

Für einen Moment spürte er tatsächlich so etwas wie Bedauern, doch sofort schüttelte er das lästige Gefühl ab. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass seine Männer bereit waren.

Soeben bogen die Musikanten in das kleine Waldstück ein. Sein Pferd warf unruhig den Kopf hoch.

»Jetzt!« Sein Schrei ging im Kampfgebrüll seiner Männer unter. Brutaler Abschaum, genau dafür schätzte er sie. Wild trieb er sein Pferd an, ritt einen halbwüchsigen Knaben nieder, hörte ihn schreien, als die Knochen knackten. Er galoppierte vorbei an kreischenden Frauen, die durch einen einzigen Schwerthieb für immer verstummten. Ringsum ließen seine Männer Äxte und Schwerter tanzen, warfen sich über die Ahnungslosen, erdrückten den Widerstand allein durch ihre bloße Übermacht.

Die junge Braut starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Gatte versuchte noch, das Schwert zu ziehen, doch er ließ ihm keine Zeit dazu. Ein einziger, gut gezielter Hieb trennte ihm den Kopf von den Schultern. Hellrotes Blut spritzte auf die Braut, durchnässte ihr Hochzeitsgewand, während sie sich hilflos an der Mähne ihres Pferdes festkrallte. Er hätte erwartet, dass sie schreien würde, doch sie blickte ihn immer noch fassungslos an, ganz so, als könne sie nicht glauben, was hier geschah. Hinter sich hörte er das Sirren eines Schwertes, das aus der Scheide gezogen wurde. Sofort fuhr er herum. Fing mühelos den Streich ab. Ah, Ritter Sigmund, der Vater der Braut. Das gute Leben hatte den gefürchteten Kämpen fett und träge gemacht. Kein Gegner für ihn. Er lachte.

Der Schimmel der Braut scheute. Die junge Frau wurde rücklings zu Boden geschleudert.

»Lauf!«, schrie der alte Ritter seiner Tochter zu. Es war sein letztes Wort.

Als er das blutige Schwert aus Sigmunds Leib zog, rappelte das Mädchen sich gerade auf, wäre fast über den Saum ihres Kleides gestolpert. Sie rannte tiefer in den Wald hinein. Ihr Brautkranz verfing sich an einem Gesträuch, rutschte ihr vom Kopf. Nicht dumm, die Kleine, hoffte wohl, er könne ihr dorthin nicht zu Pferde folgen. Zwei Galoppsprünge, dann hatte er sie erreicht, sprang aus dem Sattel und riss sie zu Boden. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, doch noch immer schrie sie nicht. Das blutige Kleid klebte nass an ihrem Leib, betonte ihren wohlgeformten Körper. Er atmete tief durch. Er könnte sie nehmen und später töten. Einen Augenblick lang zögerte er. Nein, das würde nur Ärger geben, besser, er erledigte es sofort.

Mit aller Kraft stieß er ihr das Schwert in die Brust und zog es erst zurück, als er den Widerstand ihrer brechenden Rippen überwunden glaubte.

 1. Kapitel 

Er sieht mich an, als wäre ich eine Heilige. Lena strich mehrfach über den dunkelblauen Stoff ihrer Suckenie. Sie schämte sich für ihre feuchten Hände, die ihre Scheu zu verraten drohten. Niemals würde sie sich an die Ehrfurcht gewöhnen, mit der die Menschen außerhalb des Klosters sie betrachteten. Der Stoff wurde warm unter ihren Händen. Hör auf!, mahnte sie sich und ließ ihr Kleid los.

Der Mann vor ihr trug die einfache Bekleidung der Landarbeiter, der graue Kittel war vielfach geflickt, aber sauber. Gewiss hatte er erst kurz zuvor die Badestube aufgesucht. Er stand so aufrecht vor ihr, wie er es mit Hilfe seiner Krücke auf seinem verbliebenen linken Bein vermochte. Dabei bereitete ihm das Stehen sichtlich Mühe. Sie lächelte ihn freundlich an. »Sei mir willkommen, Ortwin vom Mühltal.« Seinen Namen hatte ihr Schwester Ludovika genannt, ehe sie den Mann in den Besucherraum des Klosters vorgelassen hatte.

»Ich danke Euch, ehrwürdige Schwester.« Er wagte kaum, ihr ins Gesicht zu sehen. Lenas Hände wurden wieder feucht. Sie war keine Schwester, auch wenn man ihre dunkle Kleidung leicht mit einem Ordenshabit verwechseln konnte.

»Setz dich bitte. Und sag mir, welches Leid führt dich hierher?« In ihrem Innersten hoffte sie, er möge kein Wunder von ihr erwarten.

Ortwin schob seine Krücke etwas umständlich nach vorn, sorgsam darauf bedacht, das Gleichgewicht zu halten, und ließ sich auf der schmalen Holzbank nieder. Sein Blick strahlte noch immer diese seltsame Mischung aus Hoffnung und Furcht aus. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass er saß, während sie noch stand. Lena lächelte ihm aufmunternd zu, zog ihren kleinen Schemel heran und nahm ihm gegenüber Platz, anstatt, wie es unter den Schwestern üblich war, auf der Bankreihe an der anderen Seite des kahlen Besucherraumes.

Es dauerte eine Weile, ehe Ortwin den Mut fand, auf Lenas Frage zu antworten.

»Mir ist, als wäre das Bein noch da und würde mich von früh bis spät grausam zwacken.« Seine Stimme klang zaghaft, fast so, als hätte er Furcht, sie mit seinem Leid zu belästigen. Vorsichtig hob er den Oberschenkelstumpf an, den er sorgsam in einen umgeschlagenen Beinling gehüllt hatte. Doch es war nicht das Bein, dem Lenas Aufmerksamkeit galt. Sie blickte in sein Gesicht. Wind und Wetter hatten ihre Spuren hinterlassen, tiefe Furchen umgaben Ortwins Mund, machten ihn älter, als er wahrscheinlich war. Und doch zeigten sie, dass er früher oft gelacht hatte. Früher … allzu lange konnte es nicht her sein, denn sein tiefdunkles Haar verriet, dass er noch keine dreißig war. Sie forschte in seinen Augen, suchte nach der Seelenflamme, jenem Funken, der die Menschen zum Strahlen brachte und ihre Einheit mit Gott bezeugte. Ortwins Flamme war fast verloschen, ein letztes Aufglimmen alter Glut.

»Beschreibe mir deinen Schmerz«, forderte sie ihn auf.

Er senkte die Lider, denn er war es nicht gewohnt, einer hochgestellten Dame unverwandt in die Augen zu sehen.

»Die Zehen brennen und treiben das Feuer in den Unterschenkel, obwohl da doch nichts mehr ist. Man könnt glauben, der Brand wär noch im Bein, dabei ist’s schon drei Jahre her.«

»Und bislang vermochte nichts, die Pein zu lindern?«

Ortwin schüttelte den Kopf. »Der Bader sagte, der Schmerz würde vergehen, wenn die Wunde ausgeheilt ist.« Er seufzte. »Danach war’s aber noch ärger.«

»Gott ist groß in seiner Gnade.« Sie beugte sich vor und legte die Hände behutsam auf den Beinstumpf des Mannes. Die breiten Narbenwülste ließen sich sogar durch den Stoff ertasten. Er zuckte kurz zurück, doch dann atmete er tief durch, als verschaffe ihm allein ihre Berührung Linderung. Sie hatte das schon oft erlebt. Je fester der Glaube eines Menschen, umso wirksamer die Hilfe.

»Lass die Erinnerung fahren, gib sie in Gottes Hand. Solange du in der Vergangenheit lebst, wird dein Bein schmerzen, als wäre es noch ein Teil deiner selbst.«

»Wie kann ich das?« Für einen Moment glaubte Lena das Glitzern von Tränen in seinen Augen zu erkennen. War es Trauer? Zorn? Oder gar beides?

»Kämpf nicht länger gegen die Beschwernis. Nimm sie an als Bürde, damit in dir das Werk Gottes offenbar werden kann.«

»Das Werk Gottes? In mir?« Der Zweifel in seiner Stimme war unüberhörbar, doch Lena ließ sich nicht beirren.

»Mildtätig sei der Mensch, duldsam in seinem Leid. Die Pflicht, Almosen zu geben, geht Hand in Hand mit dem Gebot, sein Schicksal anzunehmen. Sei anderen Leidenden ein Vorbild, hilf denen, die schwächer sind, und nimm die Güte derer an, die stärker sind. Nur dann wird sich an jedem Tag deines Lebens die Güte Gottes offenbaren. Dein Schmerz ist eine Mahnung, deine Bürde anzunehmen. Wenn du dieser Mahnung folgst, verliert der Schmerz seinen Sinn und wird vergehen.«

»Ist das wirklich wahr?« Ein leiser Hoffnungsfunke ließ seine Seelenflamme heller strahlen und vertrieb die ungeweinten Tränen aus seinen Augen.

»Es ist wahr«, bestätigte Lena. »Gott wird dir deinen Schmerz nehmen, wenn du lernst, dein Los als gegeben hinzunehmen.«

So wie er ihn mir nahm, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie strich noch einige Male sanft über den Stumpf seines Beines, mehr, um ihm das Gefühl zu geben, sie tue etwas gegen sein Leid, als dass es tatsächlich einen heilenden Nutzen gehabt hätte. Seine Züge entspannten sich merklich.

»Gott wird dir dein Leiden nehmen, wenn du es ihm wohlgefällig als Opfer darbietest. Bring dem heiligen Fridolin von Säckingen eine Gabe in Form eines geschnitzten kleinen Beines dar, gefertigt von deinen eigenen Händen, und der Schmerz wird vergehen.«

Nachdem der Einbeinige fort war, lugte Lena aus der Tür des Besucherraumes. Schwester Ludovika schüttelte kaum merklich den Kopf. Für heute warteten keine Leidenden mehr. Lena wollte das kleine Gemach gerade verlassen, als die äußere Tür aufflog und eine stattliche Nonne mit der Gewalt eines Herbststurmes in den Vorraum rauschte. Ludovikas Schleier wehte, als die massige Schwester an ihr vorüberstürmte und geradewegs auf Lena zuhielt.

»Helena, die ehrwürdige Mutter wünscht dich umgehend zu sprechen.«

Lena lächelte. Das war Schwester Margarita, wie sie leibte und lebte, ihre geliebte Großtante, die selbst nach dreißig Jahren im Kloster jedem Marktweib im Feilschen überlegen war und sich nicht scheute, im Namen des Herrn mit Pferdemist nach Lausbuben zu werfen, die es wagten, im Klostergarten Äpfel zu stehlen.

»Was wünscht die Mutter Oberin von mir?«

»Wenn ich das wüsste.« Ratlos schlug Margarita die Hände zusammen.

»Wenn du es nicht weißt, verehrte Tante, so muss es in der Tat ein großes Geheimnis sein.«

Schwester Ludovika verbiss sich das Lachen.

»Komm, Kind, wir wollen die ehrwürdige Mutter Clara nicht warten lassen.« Die alte Nonne zerrte an Lenas Hand, ganz so, als fürchte sie, Lena könne ihr davonlaufen. Vermutlich ging es Margarita weniger um die ehrwürdige Mutter als um die eigene Neugier. Dazu passte ihr aufgeregter Wortschwall, während sie Lena durch die weiten Gänge des Klosters begleitete.

»Gewiss will sie von dir wissen, ob du dich endlich für ein dauerhaftes Leben in der Gemeinschaft entschieden hast. Es ist jetzt ein Jahr her.«

»Das glaube ich nicht. Sie würde keine Entscheidung fordern, die ich noch nicht zu treffen bereit bin.«

»Aber wie soll es dann mit dir weitergehen, Kind? Du kannst dich hier nicht für alle Zeiten vor der Welt verstecken.«

»Ich verstecke mich vor niemandem.«

»Und doch hast du das Kloster seit damals nicht mehr verlassen. Warum willst du kein Gelübde ablegen? Den Menschen könntest du genauso gut helfen, wenn du dem Orden beitrittst.«

Lena schwieg. Das Gespräch nahm eine Wendung, die ihr nicht behagte. Sie war dankbar, in Sankt Michaelis eine Zuflucht gefunden zu haben, aber tief im Innern widerstrebte es ihr, den Schleier zu nehmen. Sie hatte nie eine Berufung verspürt. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie niemals den Weg ins Kloster gefunden.

Schwester Margaritas Gedanken waren glücklicherweise längst in eine andere Richtung gewandert. »Möglicherweise braucht die ehrwürdige Mutter wieder deine Hilfe. Es heißt zwar, du hättest ihre Krankheit geheilt, aber wer weiß … Ob sich ein solches Leiden wirklich jemals ganz kurieren lässt?«

Lena war das anzügliche Augenrollen ihrer Großtante nicht entgangen. »Aber verehrte Tante, muss ich dich an die Worte des Herrn erinnern? Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«

»Habe ich je einen Stein geworfen?« Schwester Margarita hielt in ihrem schnellen Schritt inne und stemmte die Hände wie ein Marktweib in die breiten Hüften. »Nein, ich hatte stets das Wohl der Mutter Oberin im Sinn. Und sei ehrlich, Kind, hättest du ihr helfen können, wenn nicht an die Oberfläche gekommen wäre, was die Seele unserer ehrwürdigen Mutter bedrückte?«

Gegen ihren Willen musste Lena lächeln. Ihre Tante hatte eine ganz eigene Art, ihre Klatschsucht als Werkzeug Gottes darzustellen. Wirklich böse konnte ihr niemand sein, wenngleich Margarita zuweilen recht peinliche Einzelheiten aus dem Leben anderer preisgab.

Die Mutter Oberin erwartete Lena in ihren Räumlichkeiten. Es war nicht das erste Mal, dass Lena die Wohnung der Äbtissin betrat, aber sie war jedes Mal aufs Neue fasziniert, in welcher Weise die ehrwürdige Mutter das Gebot der Armut und Besitzlosigkeit auslegte. Den Boden bedeckten kostbare orientalische Teppiche, Geschenke ihres ältesten Bruders, der am vorletzten Kreuzzug teilgenommen hatte. Die Möbel aus poliertem Nussbaumholz waren fein gedrechselt, das Schreibpult der Oberin zeugte von großer Handwerkskunst. Doch vermutlich war all dies nichts gegen den Luxus, in dem die Äbtissin als Tochter eines Herzogs einst aufgewachsen war.

»Benedicte, ehrwürdige Mutter.« Lena verneigte sich leicht.

»Dominus, meine Tochter.« Die Äbtissin lächelte Lena gütig zu.

»Benedicte, ehrwürdige Mutter«, sagte auch Margarita.

»Dominus, meine Tochter«, wiederholte die Oberin, diesmal allerdings ohne zu lächeln. »Ich danke dir, Margarita. Du kannst uns jetzt allein lassen.«

Für einen Moment schien der Leib der Tante vor Trotz zu erbeben. Doch statt ein Wort des Widerspruchs zu verlieren, verneigte sie sich und verließ die Wohnung der Oberin. Nicht ohne Lena zuvor eindringlich anzusehen und stumm an ihre familiären Verpflichtungen zu gemahnen.

Die Äbtissin bot Lena auf einem der kostbaren Stühle einen Platz an, nicht anders als in den vielen Stunden, die sie hier verbracht hatte, um ihre heilkundige Gabe in den Dienst der ehrwürdigen Mutter zu stellen. Doch längst hatte die Äbtissin zu ihrer früheren Stärke zurückgefunden, mit der sie das Kloster so trefflich zu leiten verstand, und wenngleich Mutter Clara keine junge Frau mehr war, so strahlte sie doch eine alterslose Anmut aus. Nach wie vor schlank und beweglich, war jede ihrer Bewegungen von einer ganz eigenen Feinheit.

»Ich habe deinen Weg in den letzten Monaten mit Wohlgefallen verfolgt«, begann die Oberin. »Du stellst deine große Gabe in den Dienst der Menschen, und dein Ruf ist weit über die Mauern unseres Klosters hinausgedrungen.«

Warum sagte sie ihr das? Ob Tante Margarita vielleicht doch recht hatte? Wünschte die ehrwürdige Mutter eine Entscheidung von ihr? Unsicher suchte Lena den Blick der Äbtissin. Doch in deren Augen lag keine unausgesprochene Forderung.

»Heute früh erreichte mich eine Botschaft von Graf Dietmar von Birkenfeld«, fuhr die Oberin fort.

»Graf von Birkenfeld?« Lena erinnerte sich an eine Burg dieses Namens, die etwa eine Tagesreise vom Kloster entfernt lag, in den rauen Wäldern am Ufer der wilden Bode. Räuberland nannten die Bauern jene Gegend.

Die ehrwürdige Mutter nickte. »Graf Dietmar hat von deiner seltenen Gabe gehört und bittet um deine Hilfe. Seine Gemahlin ist seit der Geburt ihres bislang einzigen Kindes vor vier Monaten leidend. Weder die besten Ärzte noch der Beistand eines Priesters vermochten ihr zu helfen. Deine Kunst ist seine letzte Hoffnung.«

»Welche Erkrankung hat die Gräfin denn befallen?« Dass Ärzte oft nicht weiterwussten, war für Lena nichts Neues, aber die Erwähnung des Priesters machte sie stutzig.

Die Äbtissin wiegte nachdenklich den Kopf. »So genau weiß es niemand. Die Ärzte behaupten, die Säfte ihres Körpers seien nach der Geburt des Kindes ins Ungleichgewicht geraten. Der Priester fürchtet, ihre Anfälle könnten ein Zeichen der Besessenheit sein.«

»Ein Dämon?« Lenas Augen weiteten sich. Vor der Schwarzen Kunst fürchtete sie sich, und Höllenwesen hatte sie nichts entgegenzusetzen. Ihre Kraft entsprang einer anderen Quelle.

Die ehrwürdige Mutter lächelte nachsichtig. »Ich glaube nicht an einen Teufel, der in den Körper der Gräfin gefahren ist. Ich vermute vielmehr die eigenen Dämonen, die in unserer Seele wachsen, wenn wir ihnen nicht stark genug entgegentreten. Das hast du mich gelehrt, Helena. Willst du diesmal vor deiner eigenen Kraft zurückschrecken?«

Die Gelassenheit der Äbtissin beschämte Lena.

»Nein, gewiss nicht. Ich werde mein Bestes versuchen.«

»Sehr gut. Der Graf hat einen Wagen und eine angemessene Abordnung seiner Dienerschaft geschickt, damit du morgen früh aufbrechen kannst.«

»Aufbrechen? Ich soll das Kloster verlassen?« Eine eisige Faust griff nach Lenas Herzen. Das Kloster schenkte ihr Sicherheit, hier hatte sie endlich Frieden gefunden.

Die Äbtissin nickte. »Es ist der Gräfin derzeit nicht zuzumuten, sich den Unwägbarkeiten einer Reise auszusetzen. Du wirst dich ihrer auf Burg Birkenfeld annehmen.«

»Aber …«, begann Lena, doch die Oberin ließ keinen Widerspruch zu.

»Schwester Ludovika wird dich begleiten.«

»Schwester Ludovika?« Nichts hätte Lena in noch größeres Erstaunen versetzen können als dieser Name. Sie mochte Ludovika sehr, doch die Nonne war erst sechzehn. Es war nicht üblich, so jungen Ordensfrauen eine Reise außerhalb des Klosters zu gewähren, zumal Lena selbst erst neunzehn war.

Die Äbtissin missdeutete Lenas Überraschung. »Ludovika ist die beste Wahl«, sagte sie. »Natürlich, sie ist noch sehr jung, hat aber bereits eine beachtliche Frömmigkeit und Unanfechtbarkeit bewiesen, die sie mehr als manch andere für eine Aufgabe außerhalb unserer Mauern befähigt. Ich habe niemals ein Mädchen kennengelernt, das mehr von seiner Berufung durchdrungen war.« Die ehrwürdige Mutter lächelte. »Zudem wird es für dich einfacher sein, wenn du dich auf ihre vertraute Stärke verlassen kannst.«

Lena nickte. Trotz der Gewissheit, eine Freundin zur Seite zu haben, rumorte es in ihren Eingeweiden. Die bevorstehende Reise erfüllte sie mit einer kaum fassbaren Angst. Auf einmal begriff sie, dass ihre Tante recht gehabt hatte. Sie versteckte sich in diesem Kloster, weil sie die Welt da draußen fürchtete.

»Die Mutter Oberin hat was gesagt?« Schwester Margarita starrte Lena mit weit aufgerissenen Augen an.

»Der Graf von Birkenfeld hat um meine Hilfe nachgesu…«

»Nein, nicht das«, unterbrach Margarita sie ungehalten. »Wieso soll ausgerechnet Ludovika dich begleiten? Dieses unreife Küken, das erst vor drei Monaten die Profess abgelegt hat?« Die alte Nonne schnaubte verächtlich. »Wie soll dieses Kind sich in der Welt zurechtfinden und dir eine Hilfe sein? Mich hätte die Mutter Oberin erwählen sollen, ich würde schon gut auf dich achtgeben.«

»Vielleicht ist es Ludovikas Verschwiegenheit, die unsere ehrwürdige Mutter Oberin schätzt.« Kaum waren ihr die Worte entschlüpft, hätte Lena sich für ihre unbedachte Äußerung ohrfeigen mögen. Schwester Margarita sog empört die Luft ein. »Da beginnt die Sünde schon. Kein Respekt mehr vor den Älteren.« Ohne ein weiteres Wort rauschte sie davon. Lena seufzte. Es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen, ihre Tante zu kränken, aber manchmal ging die Zunge mit ihr durch. Es war nur tröstlich, dass Schwester Margarita nicht zu den Menschen gehörte, die lange grollten oder nachtragend waren.

Schwester Ludovika nahm die Neuigkeit mit erstaunlicher Gelassenheit auf. Nach den Anzeichen von Überraschung, Vorfreude oder gar Furcht suchte Lena vergebens. Ludovikas dunkelblaue Augen waren wie ein ruhender See, den seine eigene Tiefe vor den Unbilden aller Stürme bewahrte.

»Du wirst der Gräfin Frieden schenken«, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel an Lenas Fähigkeiten zuließ. Manchmal hatte Lena das Gefühl, erst das Vertrauen der anderen bringe ihre Gabe zum Erblühen und Ludovikas Zuversicht sei der Nährboden, aus dem sie ihre Kraft zog. Ob das der wahre Grund war, warum die Äbtissin ausgerechnet die jüngste Ordensschwester zu ihrer Begleitung bestimmt hatte?

»Weshalb bist du dir so sicher?«

Ein leises Lächeln umspielte Ludovikas Lippen. »Weil Gott durch dich wirkt. Er hat dich geprüft und auserwählt.«

In dieser Nacht fand Lena kaum Schlaf. Unruhige Traumgebilde umschlangen sie, ohne erkennbare Gestalt anzunehmen. Mehrfach erwachte sie, das Laken schweißnass, doch nie vermochte sie zu sagen, welcher Alb sie in seinen Klauen gehalten hatte. Erst als das Zwielicht des nahenden Morgens seinen schwachen Schimmer in ihre Zelle warf und die Laudes ankündigte, fand sie zu ihrer inneren Ruhe zurück. Das kühle Wasser der Waschschüssel schwemmte den letzten Albdruck hinfort und gab ihr die Kraft zurück, für die sie bekannt war. Hastig warf sie die Suckenie über, flocht ihr langes dunkelblondes Haar zu einem dicken Zopf und verbarg es mit geübter Hand unter dem Gebände. Dann schloss sie sich den Schwestern zur Morgenandacht an.

Bereits eine Stunde später saß sie mit Ludovika in dem Gefährt, das der Graf ihnen geschickt hatte. Auf den ersten Blick ein einfacher Leiterwagen, dessen Sprossen mit Weidenzweigen verflochten waren. Über zwei hohen Gurtbögen spannte sich eine Wagendecke aus dünnem Rindsleder, die sowohl vor Sonne als auch vor Regen schützen sollte. Doch die hölzernen Bänke waren mit Hirschfellen bezogen, und darauf lagen weiche Kissen. Das Rascheln verriet die Daunenfüllung.

Zwei Mägde hatten sie mit einem schwankenden Knicks begrüßt und sich dann stumm im hinteren Teil vor Körben mit Brot und Krügen auf den Boden gesetzt. Als sollten sie ihnen aufwarten und gleichzeitig der Schicklichkeit Genüge tun. Draußen riefen Männer Befehle, Hufe schlugen aufs Pflaster, als sich das Tor öffnete. Die Leibwache. Der Graf war ein aufmerksamer Gastgeber. Trotzdem spürte Lena das Rütteln im ganzen Leib, als die Ochsen unter dem Gebrüll ihres Treibers den schweren Wagen anzogen. Dabei war der Hof des Klosters gut gepflastert. Wie mochte es erst auf den Landstraßen werden? Ein Blick zu Ludovika hinüber verriet ihr, dass die Schwester die Unannehmlichkeiten der Reise mit der ihr eigenen Ergebenheit hinnahm. Lena seufzte. Nicht zum ersten Mal beneidete sie Ludovika um ihre Demut. Spielerisch ließ sie die Finger über das Geflecht des Wagens gleiten und spähte aus einer der Öffnungen, die sich neben den Gurtbögen auftaten. Blankes Metall spiegelte die Sonne in den Wagen. Lena wandte den Kopf. Auch auf der anderen Seite ein Arm im Kettenhemd, ein Stückchen Satteldecke. Zu beiden Seiten des Wagens hatten sich die Waffenknechte auf ihre kräftigen Pferde geschwungen. Sie zählte vierzehn Reiter, ein stattliches Geleit. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Welche Gefahr fürchtete der Graf, dass er so viele Männer schickte?

Unwillkürlich musste sie wieder daran denken, wie man die Gegend nannte. Räuberland. Eine winzige Sorgenfalte grub sich in ihre Stirn. Ludovika bemerkte es nicht. Die junge Nonne schaute mit einem leisen Lächeln auf die vorüberziehende Landschaft, ganz so, als genieße sie es, die engen Klostermauern für eine Weile hinter sich zu lassen.

Zum ersten Mal in diesem Jahr lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Bald wäre der April vorüber, das Osterfest lag bereits zwei Wochen zurück, doch erst langsam sprossen Knospen und Blätter dem Sommer entgegen. Das Singen der Vögel mischte sich mit dem Schnauben der Pferde und dem Rattern der Wagenräder. Wie gern hätte Lena sich ebenso vom Zauber des Frühlings verführen lassen wie Ludovika oder zumindest auf einem der Pferde gesessen, statt sich in dem rumpelnden Wagen durchschaukeln zu lassen. Aber nicht nur der Anstand hielt sie davon ab, dem Wunsch nachzugeben, sondern vor allem der Gedanke an die Welt, die dann so nahe gewesen wäre. Die Bäume, deren Äste sie streiften, die Männer, die aus dem Dickicht hervorbrechen konnten. Denk nicht mehr daran, wie man diese Wälder nennt!, mahnte sie sich immer wieder. Vergebens.

Die beiden Mägde waren anfangs noch sehr zurückhaltend, nur langsam fassten sie Mut für ein Schwätzchen. Gerda, die ältere, eine stämmige Matrone, erzählte von der jungen Gräfin Elise, der das Mitleid aller gehörte. Nach sieben kinderlosen Jahren hatte Gott sich endlich erbarmt, ihr ein Söhnchen zu schenken, doch zugleich sei die schwere Krankheit über sie gekommen.

»Welcher Art ist diese Erkrankung?«, fragte Lena, froh über die Ablenkung von den eigenen Gedanken.

Gerda seufzte. »Schauerlich ist’s anzusehen. Sie stürzt zu Boden, windet sich unter tausend Qualen. Dazu stößt sie die erbarmungswürdigsten Schreie aus.« Sie bekreuzigte sich. »Und wenn es endlich vorüber ist, dann fällt sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie tagelang kaum erwacht.«

»Es ist der Teufel, der sie quält«, flüsterte Hanne und bekreuzigte sich ebenfalls.

»Ach, sei doch still!«, fuhr Gerda der jungen Magd über den Mund. »Herr Ewald sagt, der Teufel könne nicht in den Leib eines gottgefälligen Menschen fahren. Und der wird’s besser wissen als du dummes Ding.«

»Aber Pater Leonhardt hat gesagt…«

»Nichts hat er mehr gesagt, nachdem Herr Ewald bei ihm war.«

Hanne schwieg, doch ihr war deutlich anzusehen, dass sie weiter an den Satan im Leib der Gräfin glaubte.

»Wer ist Herr Ewald?«, fragte Lena.

»Der Hauskaplan von Birkenfeld. Er war schon der Beichtiger des seligen Herrn Grafen und besorgt nicht nur das Seelenheil. Er führt auch die Bücher des Herrn Dietmar.«

»Und er verehrt die Gräfin«, fügte Hanne flüsternd hinzu. »Man sagt, er habe dem alten Herrn Grafen zugeraten, die Frau Elise als Schwiegertochter ins Haus zu holen, obwohl der junge Herr Graf…«

»Halt dein Schandmaul, du freches Mensch!«, schnitt Gerda ihr barsch das Wort ab. »Was willst du schon wissen? Als Herr Dietmar heiratete, hast du noch drunten im Dorf die Gänse gehütet.«

Hanne schob die Unterlippe vor, sagte aber kein Wort mehr.

Um die Mittagsstunde legten sie eine kurze Rast ein. Lena fühlte sich steif und ungelenk, die Füße waren ihr eingeschlafen und kribbelten, als sie aus dem Wagen kletterte. Ludovika sprang mit beneidenswerter Leichtigkeit hinterher. Ihr war noch immer nichts von der Mühsal der Reise anzumerken. Hanne und Gerda trugen auf, was sie in ihren Vorratskörben hatten. Köstliche Pasteten, weiches helles Brot und sogar Würste. Schwester Ludovika vergaß für einen Moment ihre übliche Mäßigung und langte kräftig zu. Sie lagerten auf einer breiten Lichtung inmitten des finsteren Waldes. Die Reiter stiegen ab, ließen die Pferde grasen und sich ebenfalls von Gerdas guten Gaben verwöhnen. Die Männer scherzten, die Mägde lachten, nur Lena hatte das Gefühl, ihr Magen sei wie zugeschnürt. Viel zu lange kaute sie auf einer der Pasteten herum, nur um nicht aufzufallen. Sie versuchte, sich einzureden, ihre Unruhe liege in der Erwartung begründet, die alle in sie setzten. Doch zugleich wusste sie, dass sie sich selbst belog. Es war der Wald, der sie ängstigte. Und die Aussicht auf die Bode machte es nicht besser. Hohlwege, am Fluss entlang, Stromschnellen und Felsen, die menschlichen wie tierischen Bestien Deckung boten.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie Burg Birkenfeld. Mit der Sonne war auch die Wärme verschwunden, doch nicht nur deshalb fröstelte Lena. Der schmale Burgweg führte unmittelbar an der Bode entlang. Ihr wildes Rauschen mischte sich mit dem Poltern der Räder. Mehr als einmal neigte der Wagen sich bedenklich, doch außer ihr schien es niemand zu bemerken. Was wäre, wenn die Räder aus der Spur gerieten? Würden sie in die Bode stürzen?

Die Zugochsen schnauften angestrengt, als sie den Wagen den steilen Hügel hinaufzogen. Da erst wagte Lena den Blick vom Fluss abzuwenden und sah zur Burg hinauf, die sich hoch über ihr erhob. Sie hatte sich Birkenfeld größer vorgestellt, dennoch löste der Anblick des Gebäudes ein eigenartiges Unbehagen aus. War es der Turm, der alles überragte? Waren es die hohen Mauern? Eigentlich gab es keinen Grund zur Furcht, im Gegenteil, die Festung bot ihr Schutz. Gleichwohl zogen sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen.

Die Pferde trabten eilig durch das äußere Tor in den Vorhof, auch die Ochsen zogen noch einmal kräftig an. Lena wurde nach vorn geworfen und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Diesmal war auch Ludovika zusammengeschreckt, nur die beiden Mägde blieben unbeeindruckt. Rasch ging es vorbei an den Unterkünften des Gesindes und den Wirtschaftsgebäuden. Aus einigen der Fachwerkhäuschen drang ein schwacher Lichtschein hervor, war aber nicht stark genug, um mehr als einen Schatten sichtbar zu machen. Erst als sie das innere Tor erreichten, wurde es heller; zu beiden Seiten des Durchlasses steckten brennende Fackeln in eisernen Wandhalterungen. Ob sie wohl jede Nacht brannten oder nur heute, da sie erwartet wurden? Die tanzenden Flammen zauberten seltsame Gestalten auf die rauen Mauersteine. Rotbärtige Teufelsfratzen. Hastig schüttelte Lena den Gedanken ab. Welch ein Unsinn. Was war nur los mit ihr?

Dies war keine Burg mit großem Palas, so wie sie es auf den feinen Buchmalereien gesehen hatte, die ihr Vater einst als kostbaren Schatz gehütet hatte. Das Herz der Festung bildete der viereckige große Wohnturm. Schlicht und finster ragte er in den Himmel, ohne jede Zier. Nur aus zwei Fenstern fiel Licht in den Hof herab. Ringsum gruppierten sich kleinere Nebengebäude aus Fachwerk, deren Zweck Lena in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Die Hufe der Pferde und Ochsen klapperten über den gepflasterten Innenhof und verstummten schließlich. Sie waren am Ziel. Lenas Knie knackten wie trockenes Holz, als sie sich von der gepolsterten Bank erhob und aus dem Wagen kletterte, wenigstens waren ihr die Füße nicht wieder eingeschlafen. Als ersten Burgbewohner entdeckte sie einen alten Mann in einer seltsamen Kutte, die Lena keinem Orden zuordnen konnte. Aber sein freundliches, beinahe väterliches Lächeln milderte ihre Beklommenheit.

»Seid willkommen, Schwester. Ich bin Ewald, der Hauskaplan.«

»Ich danke Euch«, antwortete sie. »Doch verzeiht, der Titel Schwester steht mir nicht zu. Ich habe kein Gelübde abgelegt.«

»Nicht?« Er musterte sie erstaunt.

Heißes Blut stieg ihr in die Wangen, dabei gab es gar keinen Grund zu erröten.

Ludovika sprang ihr bei. »Benedicte, Herr Kaplan. Frau Helena zog sich ins Kloster zurück, um den Menschen mit ihrer großen Gabe zu helfen. Doch ihre Bescheidenheit verbietet ihr, viele Worte über sich selbst zu verlieren. Ich bin Schwester Ludovika.«

Selten hatte Lena Ludovika so forsch erlebt.

»Bescheidenheit ist eine Tugend, an der ich nicht rühren will. Ihr seid uns willkommen.« Herr Ewald geleitete sie zum großen Turm. Mit einem Seitenblick sah Lena, wie die beiden Mägde in der Dunkelheit verschwanden.

»Wir sind sehr froh, dass Ihr die Beschwerlichkeiten der Reise auf Euch genommen habt.« Der Kaplan zog einen brennenden Kienspan aus der Halterung neben dem Eingang zum Turm. »Euer Ruf ist Euch weit vorausgeeilt. Die Bauern verehren Euch wie eine Heilige.«

Wieder glühten Lenas Wangen. »Bitte sagt so etwas nicht.«

Ewald wandte sich um und betrachtete sie voller Wohlgefallen, woraufhin sie noch tiefer errötete. Dann lächelte er gütiger als der Beichtvater nach dem Mittagessen. »Verzeiht einem alten Narren, er wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen.«

Der Kaplan führte Lena und Ludovika über eine schmale Stiege ins erste Stockwerk. Selbst im spärlichen Licht konnte Lena die Seile ausmachen, die notfalls gekappt werden konnten, um den Turm vor Angreifern zu sichern.

Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen, als Ewald die Tür zum Prunkgemach des Grafen öffnete. Selten zuvor hatte Lena einen so schönen Kamin gesehen. Seine Einfassung war mit steinernen Ornamenten in Form von Blütenranken verziert, die kunstfertige Hände lebensnah bemalt hatten. Das Prasseln des Feuers mischte sich mit dem Knacken der brennenden Scheite. Zum ersten Mal, seit sie Burg Birkenfeld erblickt hatte, fühlte sie so etwas wie Geborgenheit. Der Graf war nicht nur ein guter Gastgeber, sondern ein reicher noch dazu. Lüster an Wänden und Decken, in denen Kerzen brannten. Wachskerzen, keine billigen Talglichter. Am Fenster stand ein mächtiger Tisch aus dunklem Holz, unter dem ein großer Hund mit grauem Fell und Schlappohren schlief. Vor dem Kamin lag das Fell eines Braunbären, dem man den Kopf belassen hatte. Daneben standen zwei hohe Lehnstühle aus dunklem Holz, deren Sitzflächen mit Lammfellen belegt waren. Der eine war leer, vom anderen erhob sich bei ihrem Eintreten ein hochgewachsener Mann mit hellblonden Haaren, die sich im Nacken kringelten. Der allgemeinen Gepflogenheit entsprechend war er glatt rasiert.

»Willkommen auf Burg Birkenfeld, ehrwürdige Schwestern. Ich bin Graf Dietmar.«

Soeben wollte Lena das Missverständnis aufklären, doch der Kaplan kam ihr hilfreich zuvor. »Frau Helena ist keine Nonne, sie lebt nur in der Zurückgezogenheit des Klosters.«

Graf Dietmar sah sie forschend an. »Frau Helena? So seid Ihr verheiratet?«

Wie ungewöhnlich blau seine Augen waren! Sie atmete tief durch.

»Die ehrwürdige Mutter Oberin hat mich geschickt, da Ihr um Hilfe für Eure Gemahlin ersucht habt. Sagt, wie ich Euch dienlich sein kann, Herr Dietmar.«

Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte ihr Ausweichen sehr wohl bemerkt, doch bewies er genügend Takt, es dabei zu belassen. Dann wurde er wieder ernst.

»Die Gräfin wird seit der Geburt unseres Sohnes von seltsamen Zuständen heimgesucht. Eure Kunst ist unsere letzte Hoffnung.« Er hielt kurz inne. »Ihr seid gewiss hungrig. Wir speisen in einer Stunde zu Abend, dann werdet Ihr auch mein Weib kennenlernen. Ewald, hättet Ihr die Güte, unseren Gästen ihre Räumlichkeiten zu zeigen?« Beinahe entschuldigend fügte er hinzu: »Verzeiht, dass erst eine der Kammern hergerichtet ist. Ich ahnte nicht, dass Ihr in Begleitung kämt. Die Mägde werden sich sogleich darum kümmern.«

»Ihr müsst Euch keine Umstände machen. Schwester Ludovika und ich werden uns die Kammer teilen.«

»Es ist kein Umstand«, widersprach der Graf. »Von außen mag die Burg nicht groß erscheinen, doch an warmen Stuben herrscht kein Mangel.«

Er lächelte sie freundlich an, und plötzlich war ihr so, als kenne sie ihn schon seit Jahren. Irgendetwas in seinem Blick nahm ihr jede Angst, und zum ersten Mal, seit sie in der Frühe das Kloster verlassen hatte, kam ihr der Gedanke, dass es gut war, in die Welt zurückzukehren.

Die Gästestuben lagen hoch oben im Turm. Es waren schlichte Kammern, doch gab es neben einer bequemen Bettstatt mit besten Leinenlaken eine Kleidertruhe, einen Tisch und zwei Schemel aus Eichenholz. Auf dem Tisch standen eine Kanne aus Steingut und eine Waschschüssel. Den blank gescheuerten Boden bedeckten weiche Schaffelle, und unter dem Bett entdeckte Lena ein Nachtgeschirr. Über der Truhe hing ein schlichtes kleines Holzkreuz, der einzige Schmuck an den rauen Wänden, wenn man von den Kerzenhaltern absah.

Die hölzernen Fensterläden waren um diese Zeit schon verschlossen. Der Blick von hier oben musste beeindruckend sein – auf die Hügel, die grünen Frühlingswälder und die ungezähmte Bode. Auf einmal verspürte Lena eine wilde Vorfreude auf den nächsten Tag. Wie herrlich musste es sein, die aufgehende Sonne von hier oben zu begrüßen.

Schwester Ludovikas Stube unterschied sich in nichts von der ihrigen. Entgegen der Aussage des Grafen gab es für die Magd nicht viel zu tun. Sie erneuerte nur die Kerzen und zog frische Laken auf das Bett. Wieder fiel Lena auf, wie selbstverständlich hier mit teuren Wachskerzen umgegangen wurde.

Sie nutzte die Zeit bis zum Nachtmahl, um ihre wenigen Habseligkeiten in der Kleidertruhe zu verstauen. Unwillkürlich flogen ihre Gedanken zurück in jene Zeit, da sie helle Kleider getragen hatte, leuchtende Farben, vorwiegend Grün und Rot. In einer Zeit, als sie ihr Haar noch offen getragen hatte, stolz auf seine Fülle, die einzig vom Schapel gebändigt worden war. Damals hatte sie zahlreiche der kostbaren Haarreifen besessen.

Mit einem energischen Ruck klappte sie die Truhe zu, ganz so, als könne der harte Laut des aufschlagenden Holzes auch die Erinnerungen tilgen.

Zur gegebenen Zeit betraten sie gemeinsam das Prunkgemach. Ludovika gab sich ganz ergeben in der Rolle der frommen Schwester, dennoch entgingen Lena nicht die bewundernden Blicke, mit denen die junge Nonne die geschmückte Tafel bedachte. Ein bodenlanges Tischtuch aus weißem Leinen, darauf drapiert silberne Kerzenleuchter, Pokale und Schenkkannen aus Zinn. Fast fühlte Lena sich zurückversetzt in die Erzählungen, die ihr Vater so gern am abendlichen Kaminfeuer zum Besten gegeben hatte. Geschichten seiner Jugend, da er an fürstlichen Höfen bewirtet worden war.

Der Graf stand vor dem Kamin und starrte in die Flammen. Bei ihrem Eintreten wandte er sich um. Sein Lächeln trieb Lena zum wiederholten Male das Blut in die Wangen.

»Sind wir zu früh?« Sie sah ihn unsicher an.

Bevor er antworten konnte, öffnete sich die Tür abermals. Es war der Kaplan, an seiner Seite eine zierliche junge Frau von Anfang zwanzig. Ihre Züge waren rein und nahezu vollkommen, fast wie die der Madonna von Sankt Michaelis. Sie stützte sich auf den Arm des Kaplans, ganz so, als fürchte sie, ohne seinen Beistand keinen Schritt tun zu können. Trotz ihrer Jugend wirkte sie auf Lena wie eine Greisin, und das nicht nur deshalb, weil sie gebeugt ging, als laste die Mühsal eines längst verblühten Lebens auf ihr. Dabei war sie durchaus elegant gekleidet. Ihr Kleid, ein teurer fränkischer Surcot in hellem Grün, schmiegte sich eng um ihren schlanken Leib. Darunter schimmerten die Ärmel ihres Unterkleides weiß wie frischer Rahm hervor. Sie trug kein Gebände, sondern eine hellgrüne Haube, die von einem goldenen Netz überzogen und mit Goldborten verziert war.

Wie eine gebrochene Frühlingsblume, dachte Lena. Eine seltsame Anteilnahme ergriff Besitz von ihr, Mitleid, in das sich Neugier mischte. Was war dieser schönen Frau geschehen, die doch mit allem so überreich gesegnet schien?

Graf Dietmar trat seiner Frau entgegen, bot ihr sogleich seine Hand. Sie ließ den Arm des Kaplans los und ergriff die Rechte ihres Gatten. Wie eine Braut, die vom Vater in die Obhut des Bräutigams gegeben wird, schoss es Lena durch den Kopf. Doch die Art, wie Elise Dietmars Hand umschloss, war alles andere als zögernd. Ihre Finger verhakten sich fest in den seinen, lebhaft und voller Zuneigung. Für einen Augenblick erschien der Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht, das ihr Gatte umso herzlicher erwiderte. Dann führte er Elise an die Tafel, wo sie ihren Platz an seiner Seite einnahm. Doch sie sprach kein Wort, schien Lena und Ludovika kaum wahrzunehmen, nicht einmal als Dietmar sie einander vorstellte. Es war, als lebte sie in einer anderen Welt, getrennt durch einen unsichtbaren Vorhang von der Wirklichkeit.

Die Speisenfolge stand dem Tafelschmuck in nichts nach. Zuerst Mandelmus mit Weißbrot, dann folgten gebratene Hühner, in Rosinen gesottener Hammel und in Wein eingelegte Feigen. Zum wiederholten Male fragte Lena sich, ob es in diesem Haus wohl immer so zuging oder nur heute, um ihre Ankunft zu würdigen. Mandeln und Feigen waren teure Delikatessen, die sie selbst nur äußerst selten gegessen hatte.

Ein lautes Klirren riss sie aus ihren Betrachtungen. Sofort flog ihr Blick zur Gräfin, die hilflos zitternd einen Pokal umgestoßen hatte. Ehe der Graf sie halten konnte, war sie zuckend zu Boden gesunken. Die Hände zu Fäusten verkrampft, schienen ihre Beine ein Eigenleben zu führen und richteten ihren Leib in einer merkwürdig verkrümmten Lage auf. Rücklings mit verdrehten Augen lag sie halb unter dem Tisch, die Kappe auf ihrem Kopf war verrutscht und gab den Blick auf ihre vollen goldbraunen Haare frei.

Dietmar war sofort bei ihr, versuchte sie zu halten, dabei riss er das Tischtuch halb herunter. Pokale und Schüsseln fielen zu Boden. Ein Krug Wein landete vor Ludovikas Füßen und hinterließ dunkle Flecken auf ihrem Habit. Lena sprang auf und wollte dem Grafen helfen, seine Frau zu halten. Da hörte sie die Schreie, von denen Gerda berichtet hatte, und plötzlich begriff sie, warum die alte Magd sich bekreuzigt hatte. Nie zuvor hatte sie so viel Qual in der Stimme eines Menschen gehört. Mit keinem anderen Laut hätte sie dieses Wehklagen vergleichen können. So mussten die gepeinigten Seelen in der Hölle brüllen.

Endlich gelang es Graf Dietmar, Elises wild schlagende Arme zu bändigen und sie an sich zu ziehen. In den Armen ihres Gatten verebbten ihre Schreie, und ihr Körper wurde ruhiger, bis sie plötzlich schlaff und reglos am Boden liegen blieb. Wie ein zartes, zerbrechliches Kind hob der Graf sie vorsichtig hoch. Er war blass geworden. Ohne jede Erklärung trug er sie aus dem Saal.

Lena wusste nicht, ob sie ihm folgen oder bleiben sollte. Ewald war ihr hilfloser Blick nicht entgangen.

»So ist es jedes Mal«, seufzte der Kaplan und wischte sich ungeschickt die Reste der eingelegten Feigen von der Kleidung. Er hatte am meisten abbekommen, als der Graf das Tischtuch heruntergerissen hatte.

»Das war schrecklich«, flüsterte Ludovika. »Die arme Frau. Wie oft ereilt sie dieses Schicksal?«

»Manchmal zweimal in der Woche, oft seltener. Aber es ist immer grausam, und Herr Dietmar leidet fast so sehr wie sie.«

Der Blick des Kaplans traf Lena bis ins Innerste. So viel Hoffnung lag darin. Es war der gleiche Blick, mit dem der einbeinige Ortwin sie bedacht hatte. Und alle anderen, die glaubten, sie könne Wunder vollbringen. Lenas Magen zog sich schmerzhafter als sonst zusammen. Nie zuvor hatte sie ein solches Leiden gesehen, geschweige denn gelindert. Die Worte der ehrwürdigen Mutter fielen ihr wieder ein. Ärzte und Priester waren hier gescheitert. Im Geiste hörte sie wieder die Stimme des Grafen. Ihre Kunst sei seine letzte Hoffnung.

Niemand bemerkte ihr stummes Gebet an die Mutter Gottes, in das sie ihr ganzes Vertrauen legte: Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin.

Da hörte sie Schwester Ludovikas Stimme, so voller Kraft und Zuversicht. »Frau Helena wird der Gräfin Frieden schenken. Gott wirkt durch sie.«

Der Stein in Lenas Magen wurde noch schwerer. Zum ersten Mal kam ihr Ludovikas Zuversicht wie eine Bürde vor.

Verschmähe nicht unser Gebet in unsern Nöten, sondern erlöse uns jederzeit von allen Gefahren, o du glorreiche und gebenedeite Jungfrau.

 2. Kapitel 

Was für ein Land!« Said schüttelte sich. »Kalt und unfreundlich, voll von Menschen, die noch nie einen Rechtgläubigen gesehen haben. Ja, nicht einmal dich betrachten sie frei von Misstrauen, und dabei bist du doch zur Hälfte einer von ihnen. Und schmutzig ist es hier. Da glaubt man noch, sie seien sauber bei den vielen Badestuben. Aber was finden wir? Verschimmelte Zuber, an denen man sich Splitter in die edelsten Körperteile reißt.«

Philip lachte. »Du übertreibst wieder einmal maßlos.« Er kannte Saids Tiraden zur Genüge. Seit sie vor vier Monaten in Alexandria aufgebrochen waren, verging kaum ein Tag, an dem Said nicht irgendetwas zu beklagen hatte. Natürlich hatte der kleine Araber recht. Es war ein kaltes, unfreundliches Land, vor allem für einen Menschen, den eine Reise nie weiter als bis nach Sizilien geführt hatte. Nach und nach begriff Philip, warum sein Vater in Ägypten geblieben war. Wenn es nach ihm selbst gegangen wäre, hätte er Alexandria auch nie verlassen. Leider hatte das Schicksal es anders entschieden.

»Ich übertreibe?« Said beugte sich auf seinem Fuchs vor und starrte Philip unverwandt in die Augen. »Seit Tagen reiten wir durch diese finsteren Wälder, nur selten gewährt uns jemand außerhalb der Dörfer Gastfreundschaft. Und wenn, dann dürfen wir für alles den doppelten Preis bezahlen.«

»Ich meinte die Bäder. Ich habe gesehen, wie du der hübschen Bademagd nachgeschaut hast. Das sah nicht so aus, als seist du besonders gepeinigt.«

Said schnaufte. »Weil ich kaum glauben mochte, wie unsittlich sie sich gebärdete. Aber ich blieb standhaft. Im Gegensatz zu dir.«

»Was sollte ich tun? Ich konnte das schöne Kind doch nicht enttäuschen.« Philip tätschelte seinem Rappen den Hals. »Vielleicht wäre deine Laune besser, wenn du nicht immer so standhaft wärst.«

Mit Blick zum Himmel hob Said beide Hände. »Davor sei Allah! Lose Frauenzimmer bringen einem Mann nur Unglück. Erst umgarnen sie dich, dann weben sie aus eben jenem Garn ihr Netz, und ehe du dich versiehst, zappelst du darin wie ein Fisch, der in der Sonne hilflos nach Luft schnappt.«

»Hast du mich schon einmal hilflos nach Luft schnappen sehen?«

»Nein«, gestand Said. »Aber ich sehe, wohin es uns geführt hat. In kalte, dunkle Wälder, denen jeder Hauch von Schönheit fehlt. Wo wachsen hier Zypressen oder Sykomoren? Wo ist die Wärme? Und was leben hier für Menschen! Groß und grobschlächtig, am ganzen Körper behaart wie wilde Affen.«

»Wahrscheinlich weil es hier so kalt ist.«

»Ich sehne den Tag herbei, da dir der Spott vergeht. O Allah, warum habe ich ihn nur hierher begleitet? Warum bin ich nicht in Alexandria geblieben, wo alles hell und schön ist, wo die Jungfrauen noch wissen, was sich geziemt, und alle, zumindest fast alle«, fügte er mit einem Seitenblick auf Philip hinzu, »dem rechten Glauben angehören.«

»Vermutlich weil ich dir jeden Monat an meiner Seite versilbere.«

Said fuhr herum. »Und jetzt beleidigst du mich auch noch, sprichst von Versilbern, als wäre ich ein Knecht, der dir nur um des Lohnes willen folgt? Von der Freundschaft, die uns seit Kindheit verbindet, sprichst du gar nicht mehr?«

»Ah, die Freundschaft, ja, du hast recht. Wie konnte ich überhaupt auf den Gedanken kommen, du nähmst auch nur einen Silberdenar aus meiner Hand entgegen. Ich danke dir, mein Freund.«

»Moment.« Auf einmal überschlug Saids Stimme sich. »Ich redete von der Freundschaft, die mich daran hindert, mehr als dieses kaum erwähnenswerte Almosen anzunehmen, das du mir ab und an auszahlst, um deiner christlichen Seele zum Heil zu verhelfen.«

»Wie überaus fürsorglich von dir.« Philip deutete eine spöttische Verbeugung an. »Aber sag, warum zahlst du mir dann kein Almosen? Gebietet der Koran nicht ebenso, der Armen zu gedenken?«

»Sehr richtig, aber seit wann bist du arm?«

»Wenn du so weitermachst, dauert es nicht mehr lange.«

Da schreckte sie ein gellender Schrei aus ihrem Geplänkel auf. Said zuckte so heftig zusammen, dass ihm fast der Turban vom Kopf gerutscht wäre. Philip riss sein Pferd herum. »Das kam von da vorn!« Er trieb seinen Rappen an, geradewegs in die Richtung des Gebrülls und Waffengeklirrs, in dem der erste Schrei verklungen war. Said folgte ihm. »Hältst du es wirklich für klug, wenn wir uns in fremde Händel einmischen? Du weißt doch, wie das ist. Am Ende sind wir diejenigen, denen man den Schädel einschlägt.«

»Dein Schädel ist doch gut gepolstert.« Philip warf Said einen amüsierten Blick zu. Wie oft hatte er vergeblich versucht, seinem Freund eine etwas unauffälligere Kleidung anzudienen, aber da war der kleine Araber sehr eigen. Um nichts in der Welt hätte er die Gewandung der Abendländer angelegt.

Obgleich der Lärm den Eindruck erweckte, der Überfall finde unmittelbar vor ihrer Nase statt, brauchten sie doch einige Zeit, bis sie den Hohlweg erreichten, an dem die Angreifer ihren Opfern aufgelauert hatten. Philip konnte gerade noch sehen, wie sich mehrere dunkle Gestalten auf zwei schwer beladene Wagen stürzten und die Zugochsen antrieben. Weitere Räuber griffen nach den ledigen Pferden. Ringsum lagen Tote, die meisten von ihnen trugen einen rot-weißen Waffenrock. Philip kannte das Wappen. Es gehörte den Halberstädtern.

Dann fiel sein Blick auf einen Reiter, der oberhalb des Hohlwegs auf einem Schimmel saß und den Räubern Befehle erteilte. Er musste zweimal hinschauen, um zu glauben, was er sah. Das war kein Jüngling. Das war eine Frau in Männerkleidung! Ihre vollen Brüste zeichneten sich deutlich unter dem grauen Stoff ab, und ihr langes Haar war rot wie Höllenfeuer. Sie trug sogar ein Schwert um die Hüfte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann wendete sie ihr Pferd und galoppierte davon. Fast hätte er aus einer schnellen Regung heraus seinen Rappen angetrieben und wäre ihr gefolgt, doch da hörte er Saids Stimme.

»Hier ist noch einer am Leben.« Der kleine Araber war vom Pferd gestiegen und beugte sich über einen der Halberstädter. Auch Philip sprang aus dem Sattel. Der Mann hatte einen Schwerthieb in die Seite erhalten, doch die Verletzung war nicht so tief, wie es zunächst den Anschein hatte. Erstaunen und Erschrecken lagen in seinen Augen; vor allem Saids Kleidung, der Turban und der Burnus, schienen ihn zu verunsichern. Als sein Blick jedoch auf das kleine goldene Kreuz fiel, das Philip um den Hals trug, entspannten sich seine Züge ein wenig.

»Keine Sorge, wir gehören nicht zu den Räubern«, sagte Philip. »Mein Freund ist in der Heilkunst erfahren, er wird Euch helfen.«

»Wer seid Ihr?« Die Stimme des Halberstädters klang erstaunlich kraftvoll. Wie die eines Mannes, der es gewohnt ist, Befehle zu erteilen. Er mochte um die dreißig sein, vermutlich der Anführer dieses Zuges.

»Mein Name ist Philip, mein Begleiter heißt Said al-Musawar. Wir kommen aus Ägypten.«

»Aus Ägypten? Dafür sprecht Ihr unsere Sprache aber gut.«

»Ihr solltet nicht so viel reden«, sagte Said. »Lasst mich lieber Eure Wunde versorgen.«

Der Mann musterte Said noch immer misstrauisch.

»Bei ihm seid Ihr in den besten Händen«, beruhigte Philip ihn. »Verratet Ihr mir auch Euren Namen?«

»Hartwig vom Thal.«

Plötzlich hörten sie ein Stöhnen. Am Rand des Hohlwegs regte sich noch jemand. Philip tauschte einen kurzen Blick mit Said. Beide hatten sie gesehen, dass dieser Verletzte nicht das Halberstädter Wappen trug.

»Bleib du hier, ich werde gehen.« Philip griff nach seinem Dolch im Waffengurt, ohne ihn aus der Scheide zu ziehen. In einem Land, in dem rothaarige Schönheiten in Männerkleidern Schwerter trugen, wollte er auf alles gefasst sein.

Als er den Mann erblickte, ließ er seine Waffe los. Der Räuber hatte versucht, sich aufzurichten, doch dann war er vor Schmerzen zurückgesunken, die Hände tief im Waldboden verkrallt.

Philip hatte schon manch schwere Wunde gesehen, geglaubt, ihn könne nichts mehr erschüttern, aber als er vor dem Sterbenden stand, fühlte er sich dennoch betroffen. Blutiges Gedärm quoll aus der Wunde, es roch nach Blut und Kot. Seine Nase war empfindlicher als seine Augen. Für einen Moment musste er gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfen.

»Im Namen des Barmherzigen«, flüsterte der Schwerverletzte. Er versuchte abermals hochzukommen, den Blick auf das kleine goldene Kreuz gerichtet, das um Philips Hals hing. Vergeblich. Hilflos stöhnend sank er zurück. Alles in Philip drängte danach, diesen Ort zu fliehen, weg von Blut und Gestank. Der Mann war ein Räuber und Meuchelmörder, es war nur gerecht, wenn er schon im Sterben einen Vorgeschmack auf die Qualen der Hölle bekam. Doch irgendetwas hielt ihn. War es der schmerzverzerrte Blick des Mannes? Die Qual, die sich in jedem Atemzug offenbarte und die Darmschlingen auf dem Waldboden zittern ließ?

»Bitte!«, flehte der Räuber. »Zeigt Erbarmen!« Er hustete. Blutiger Schaum lief ihm aus dem Mund. »Lasst mich … nicht ohne letzte … Beichte vor … den Richter treten.«

»Ich bin kein Priester.« Trotzdem trat Philip näher und ging neben dem Sterbenden in die Hocke. Der Räuber hörte ihn nicht, seine Lippen bewegten sich weiter, doch nur dann und wann wurden Laute daraus. Philip unterdrückte seinen Ekel und beugte sich tief hinunter. Was er hörte, war schlimmer als alles, was er sah und roch.

Erst als das letzte Wort des Räubers verklungen und dessen Seele in die Hölle gefahren war, wusste Philip, weshalb Gott seinen Schritt hierhergelenkt hatte. Langsam erhob er sich, die Hände zu Fäusten geballt. Die Fingernägel gruben sich tief in seine Daumenballen, doch er bemerkte es kaum. Sein Mund wurde trocken. Welchen Grund hätte ein Mann an der Schwelle des Todes gehabt, sich mit einer letzten Sünde zu beflecken? Warum hätte er lügen sollen?

Vielleicht weil er es immer getan hat?, dachte Philip. Wie gern hätte er an eine Lüge geglaubt, doch tief in seiner Seele kannte er die Antwort.

Saids Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte gar nicht gehört, wie der kleine Araber näher gekommen war.

»Was ist mit dir? Du bist bleich, als hätte der Tod nicht ihn, sondern dich ereilt.«

»Nichts.« Philip atmete tief durch. Solange er sich nicht sicher war, würde er schweigen. Sogar Said gegenüber. »Wie geht es Hartwig vom Thal?«

»Allein wird er kaum fortkommen.«

»Was ist sein Ziel? Halberstadt?«

Said schüttelte den Kopf. »Er untersteht zwar Fürst Leopold von Halberstadt, doch weilt der Fürst derzeit auf seinem Jagdsitz, der Burg Königshof, die nur wenige Reitstunden von hier entfernt liegen soll.«

»Dann bringen wir ihn dorthin.«

Philip warf einen letzten Blick auf den Toten, dann schüttelte er sein Unbehagen ab und kehrte mit Said zurück zu den Pferden, wo Hartwig wartete.

»Gib mir deine Packtaschen!«, forderte er Said auf. »Dann hast du Platz, Hartwig bei dir aufsitzen zu lassen.«

Said löste die Gurte und reichte Philip die reich verzierten Lederbeutel, der sie hinter seiner eigenen Habe fest verzurrte.

Derweil schien Hartwig sich an die beiden Reisenden gewöhnt zu haben; das Misstrauen war gänzlich verschwunden.

»Was ist mit meinen Männern? Wollt Ihr sie der Wildnis überlassen?«

»Im Augenblick können wir gar nichts tun«, antwortete Philip, während er sein Pferd bestieg. »Gewiss wird Euer Fürst nach unserer Ankunft Männer schicken, die sie heimholen und einer würdigen Bestattung zukommen lassen.«

Said half Hartwig beim Aufsteigen, dann schwang er sich selbst in den Sattel.

Der Halberstädter wies ihnen den Weg. Trotz seiner Verletzung wirkte er recht munter, und so nutzte Philip die Gelegenheit, etwas mehr zu erfahren. Bereitwillig gab Hartwig Auskunft.

»Wir waren unterwegs, zwei Fuhren Eisenerz einzuholen und zur Verhüttung zu bringen. Es gibt hier sehr reiche Eisenerzminen, ein großer Teil davon gehört zum Besitz des Grafen von Birkenfeld. Fürst Leopold ist sein Lehnsherr, und zwischen beiden gibt es ein Abkommen, demzufolge Graf Dietmar seine Vasallenpflichten durch die Lieferung von Eisenerz abgilt. Bislang gab es auch nie Schwierigkeiten, aber seit einiger Zeit häufen sich die Überfälle auf die Lieferungen. Dies war schon der dritte Zug, der den Räubern in die Hände fiel.«

»Habt Ihr die rothaarige Frau gesehen, die den Räubern Befehle erteilte?«

Hartwig schüttelte den Kopf. »Ich sah nur die wilde Horde, die dafür bekannt ist, alles niederzumetzeln. Man sagt, ihr Hauptmann sei der Teufel selbst.« Hartwig atmete tief durch und griff nach seiner Wunde.

»Eine Frau?« Said horchte auf. »Bei den Räubern war ein Weib?«

Philip nickte. »Ganz eindeutig ein Weib, und was für eines. Feuriges Haar, ein Körper, wohlgeformt wie die Sünde. Nur die Kleidung war nicht passend. Sie gab sich wie ein Mann.«

»Was für ein Land!« Said seufzte. »In Alexandria hätte es das nicht gegeben, ein Weib, das sich wie ein Mann gebärdet und über Räuberbanden herrscht.«

Philip schwieg.

Said beäugte ihn misstrauisch. »Du hegst doch wohl nicht wieder die falschen Gedanken?«

»Was für Gedanken?«

Der kleine Araber machte ein pfiffiges Gesicht. »Ich sag nur Garn und Netz.«

»Jetzt übertreibst du aber.«

»Der Vater von Berenice hätte das sicher anders gesehen.«

»Noch ein Wort, und ich kürze dir deinen Lohn.«

Said hatte den Mund schon zum Widerspruch geöffnet, doch schloss er ihn sofort wieder.

Am frühen Nachmittag erreichten sie den Jagdsitz des Fürsten. Königshof war zwar nur eine kleine Burg, aber die Einfriedungen waren beachtlich. Hinter dicken Mauern verbargen sich Vor- und Wirtschaftshof, dahinter, in der inneren Ringmauer, lag der mächtige Palas. Von der Nordseite her war die Burg durch einen Steilhang nahezu uneinnehmbar. Zahlreiches Gesinde ging im Hof seiner Arbeit nach. Der Backofen war gut befeuert, der Duft frischen Brotes hing in der Luft. Philip knurrte der Magen. Zuletzt hatten Said und er in der Frühe eine karge Mahlzeit zu sich genommen.

Während sie in den Hof ritten, hielten die Menschen in ihrem Tagewerk inne und starrten ihnen hinterher. Vor allem Said wurde von allen Seiten begafft und bestaunt. Ob man sie überhaupt eingelassen hätte, wenn die Männer auf der Mauer nicht Hartwig in ihrer Begleitung gesehen hätten?

Als sie von den Pferden stiegen, hatte sich schon ein ganzer Ring aus Neugierigen um sie geschart. Said half Hartwig beim Absteigen, und erst da fiel den meisten Gaffern das Blut auf dessen Kleidung auf. Ein Mann der Burgwache löste sich aus der Menge.

»Was ist geschehen?«

»Ein Überfall«, antwortete Hartwig. »Sie haben alle niedergemetzelt. Die Erzfuhren sind verloren.«

Ein Aufschrei lief durch Menge. Eine junge Frau stürzte auf Hartwig zu, packte ihn so heftig bei den Oberarmen, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte.

»Was ist mit Gerhard?«

»Es tut mir leid.« Betroffen schüttelte Hartwig den Kopf. Das Gesicht der Frau wurde erst blass, dann verzerrten sich ihre Züge, als versuche sie mit aller Kraft die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Langsam lösten sich ihre Hände von Hartwigs Armen, und sie trat einen Schritt zurück. Zwei andere Frauen nahmen sie tröstend in ihre Mitte und führten sie fort. Philip holte tief Luft. Er hatte die Wölbung ihres Leibes gesehen.

»Und wer seid Ihr?« Der Mann der Burgwache musterte Philip und Said misstrauisch.

»Lass gut sein, Thomas. Ohne die beiden wäre ich vielleicht schon tot. Es sind Reisende aus Ägypten. Herr Philip und sein Diener Said al-Mu…«

»Musawar«, sprang Said ihm hilfreich bei.

Thomas starrte auf das Kreuz um Philips Hals. »Ihr seid Christ?«

»In Ägypten leben viele Christen. Mein Vater war ein deutscher Ritter, meine Mutter gehört einer angesehenen ägyptischen Familie an. Ebenfalls Christen, falls Euch das beruhigt.«

»Und er?« Thomas warf einen abschätzigen Blick auf Said. »Er sieht aus wie ein Muselman.«

»Das mag schon sein. Doch ungeachtet seines Äußeren ist er mehr als mein Diener. Er ist mein Freund, und wer ihn verächtlich anschaut, beleidigt damit auch mich.« Philips Stimme war hart geworden. Unwillkürlich wich Thomas einen Schritt zurück. Doch Philip setzte nach. »Wir gehörten zum Gefolge von Kaiser Friedrich, als er vor drei Jahren den Kreuzzug mit einem Friedensvertrag mit dem Sultan von Kairo beendete. Wir weilten sogar in Sizilien, wo der Kaiser seinen Hof hält und die gelehrtesten Männer aus aller Welt versammelt, ganz ungeachtet ihres Glaubens.«

»Also seid Ihr auch Gelehrte?« Auf einmal klang Thomas’ Stimme sehr viel weicher.

»Gewiss.«

»Und was führt Euch hierher?«

»Wir haben viel von dieser Gegend gehört, in der tapfere Männer leben, sich Burgen aneinanderreihen wie Perlen am Hals einer schönen Frau und die Wälder so dicht sind, dass man tagelang reiten kann, ohne einen Menschen zu treffen. In jedem Flecken dieser Welt gibt es Wunder, und sie zu schauen, sind wir aufgebrochen.«

Philip hörte das Raunen und Tuscheln des Gesindes hinter seinem Rücken. Sie waren beeindruckt.

Thomas hatte sich wohl entschieden, dass sie es wert waren, dem Fürsten höchstselbst vorgestellt zu werden, und so erhielten sie Einlass in den inneren Ring der Burg.

»Wie du es sagst, klingt es, als seien wir wichtige Leute«, raunte Said Philip auf Arabisch zu. »Dabei hast du in Sizilien doch nur die Geschäfte deines Großvaters abgewickelt.«

»Wir waren am Hof des Kaisers.«

»Ja, um die Pferde zu übergeben.«

»Muss ich mich für unsere Vollblutstuten schämen? Der Kaiser weiß schon, warum er bei meinem Großvater kauft.«

»Und wann waren wir im Gefolge des Kaisers in Kairo?«

»Vor drei Jahren.«

»Da waren wir in Kairo auf dem Pferdemarkt und mussten schleunigst verschwinden, weil du dich mit der Tochter eines Tuchhändlers eingelassen hattest.«

»Wenn du dich schon so genau erinnerst, solltest du noch wissen, dass wir im Gefolge des Kaisers untertauchten, damit ihre Brüder uns nicht fanden.«

Said seufzte. »Du bist und bleibst ein Pferdehändler.«

Philip grinste.

Fürst Leopold war ein Mann jenseits der vierzig, doch zeigte er noch immer die Kraft der Jugend. Nur die grauen Schläfen verrieten sein wahres Alter.

»Aus Ägypten stammt Ihr also?« Der Fürst hatte es sich nicht nehmen lassen, den beiden Besuchern einen Platz an seiner Tafel anzubieten. In seinen Augen las Philip aufrichtige Anteilnahme und Neugier.

»So ist es«, antwortete er und griff nach dem Becher Wein, den ihm eine Magd reichte.

»Und jetzt reist Ihr um der Gelehrsamkeit willen durch die Welt?«

»Nicht nur deshalb. Mein Vater stammte aus diesem Land. Er starb vor einem Jahr und wünschte, dass ich seine Heimat kennenlerne. Aber natürlich sind es auch unsere Studien, die uns vorantreiben. Mein Freund Said hat an der berühmten Madrasa Al-Azhar in Kairo die Heilkunst studiert.«

Fast im selben Moment trat Said ihm unterhalb des Tisches kräftig gegen das Schienbein. Philip funkelte ihn verärgert an. Warum musste der kleine Araber nur so ehrlich sein? Immerhin hatte Said den anatomischen Vorlesungen zwei Tage lang gelauscht, ehe sie Kairo Hals über Kopf verlassen mussten, weil der Tuchhändler hinter die Affäre seiner Tochter gekommen war.

Fürst Leopold bemerkte nichts von der Uneinigkeit seiner beiden Gäste. Gespannt lauschte er Philips weiteren Erzählungen vom reichen Alexandria, in dem sein Großvater Mikhail ein angesehener Geschäftsmann und berühmter Pferdezüchter war.

»Es ist uns nicht leichtgefallen, auf unsere edlen Rosse zu verzichten«, gestand Philip. »Doch wären sie für die Überquerung der Alpen kaum geeignet gewesen. Habt Ihr jemals ein arabisches Vollblut gesehen?«

Leopold schüttelte den Kopf. »Nur davon gehört.«

»Sie sind wundervoll«, bestätigte Said. »Man könnte sie besingen. Wer auf ihrem Rücken sitzt, glaubt, die Flügel der Engel trügen einen geradewegs ins Paradies.«

»Ein sehr poetischer Vergleich.« Gedankenverloren betrachtete Leopold seinen Weinpokal aus feinstem Silber, ganz so, als könne er die edlen Tiere in den feinen Ziselierungen erkennen. Philip nutzte die Gelegenheit, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

»Hartwig vom Thal berichtete, dies sei schon der dritte Überfall gewesen. Wie kommt es, dass eine Räuberbande sich auf Eisenerzfuhren stürzt?«, fragte er.

Der Fürst musterte Philip aufmerksam. »Ihr meint, weil ihnen die Wege zur Verhüttung fehlen?«

Philip nickte.

»So einfach ist das nicht«, antwortete Leopold. »Die Erzlieferungen kommen zum Teil von weit her, um gemeinsam verhüttet zu werden. Die Zeiten, da jede Mine eine eigene Eisenschmelze betrieb, sind längst vorbei. Vieles läuft über Zwischenhändler und Mittelsmänner. Manche kennt man seit Jahren, andere wechseln regelmäßig.«

»Und wenn sie im Auftrag von irgendwem handeln?«, beharrte Philip. »Es ist doch seltsam, dass diese Überfälle erst kürzlich begannen.«

»Die Überfälle selbst plagen uns schon lange. Und es geht nicht nur ums Erz, das ist nur die neueste Spielart. Vielleicht weil sich kaum noch Reisende durch die Wälder wagen und Händler oft große Umwege in Kauf nehmen, um Barbarossa nicht zu begegnen.«

»Barbarossa?« Bei der Nennung des berühmten Kaisers horchte Philip auf. Doch der war vierzig Jahre zuvor im Saleph ertrunken.

Leopold belächelte Philips Erstaunen. »Unser Barbarossa ist ein wahrer Teufel. Niemand weiß, woher er kommt, manche halten ihn für den Satan persönlich. Sein Bart ist so rot wie das Blut derer, die er erschlug. Seit mehr als fünf Jahren machen er und seine Bande die Wälder unsicher. Kein Verbrechen ist ihnen zu abscheulich, Mitleid kennen sie nicht. Vor gut einem Jahr hat seine Bande einen kompletten Hochzeitszug niedergemetzelt, das war nahe Quedlinburg. Sie haben nicht einmal die Kinder verschont, obwohl ihre Beute nur aus ein paar Pferden und blutigen Gewändern bestand.« Leopolds Hände ballten sich zu Fäusten, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Zwei Monate später traf es eine Gruppe von Händlern. Man fand nur noch ihre nackten Leichen, so grauenvoll entstellt, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Kurz darauf fiel den Räubern die erste Eisenerzfuhre in die Hände.«

Für einen Moment herrschte Schweigen. Said senkte betreten den Blick. Philip atmete tief durch. Vor seinem inneren Auge sah er wieder die rothaarige Reiterin.

»Die Räuber, die ich sah, wurden von einer Frau angeführt.«

Er berichtete, was er gesehen hatte.

»Eine Frau in Männerkleidung?« Die Überraschung des Fürsten war echt. Philip nickte. »Ihr habt noch nie von ihr gehört?«

»Ich habe schon einiges gehört, selbst von Geistern, die in den Wäldern und Felsenhöhlen ihr Unwesen treiben und Sterbliche zum Tanze auffordern, aber noch nie von einer rothaarigen Räuberbraut.«

»In zwei Wochen ist Walpurgisnacht.« Ein Lächeln umspielte Philips Züge. »Vielleicht sehen wir sie dann ja tanzen, die rote Sünde.«

Said verdrehte nur die Augen.

Zur Gastlichkeit des Fürsten gehörte auch ein Nachtquartier.

»So gut sind wir lange nicht untergekommen. Was will man mehr als ein gutes Mahl und eine warme Stube?« Said streckte sich wohlig rekelnd auf seiner Bettstatt aus. »Willst du den Fensterladen nicht bald schließen? Die Kälte kriecht mir schon in die Glieder.«

Philip antwortete nicht. Er blickte aus dem Fenster des Turmzimmers. Kühle Nachtluft streichelte ihm über das Gesicht wie die zarten Finger einer Frau. Der Duft der Wälder mischte sich mit dem Geruch der Stallungen und Feuerstellen im Hof. Sein Blick schweifte über die Mauern der Burg hinweg, über die bewaldete Ebene bis hin zum Brocken, dem höchsten Berg der Gegend.

Im fahlen Licht des Mondes konnte er nicht viel erkennen, doch plötzlich war ihm, als würde im Wald der Schein eines Feuers aufleuchten. Ein Feuer, so lodernd wie das Haar der Räuberbraut. Warum verfolgte sie ihn nur bis in seine tiefsten Gedanken? War es sein alter Jagdinstinkt, der so lange verloren schien? Ein schwerer Atemzug entrang sich seiner Brust. An Leopolds Tafel hatte er erstmals seit langer Zeit wieder einen Abglanz dessen verspürt, was sein Leben früher ausgemacht hatte. Sehnsuchtsvoll dachte er an die Wärme seiner Heimat, das ungezwungene Lachen, die Leichtigkeit, mit der er das Leben dort genossen hatte. War es wirklich richtig gewesen, Alexandria zu verlassen? Doch zugleich wusste er, dass er niemals eine Wahl gehabt hatte. Die Zeit der Unbeschwertheit war längst vorbei. Leise schloss er den Fensterladen und ging zu Bett.

Am folgenden Morgen verließen sie Burg Königshof. Philip bemerkte Leopolds Enttäuschung. Vermutlich hätte der Fürst ihnen gern noch länger Gastfreundschaft gewährt, doch begnügte er sich damit, ihnen ein Empfehlungsschreiben auszuhändigen, damit sie auch auf anderen Burgen freundliche Aufnahme fänden.

Said war mindestens ebenso enttäuscht wie Fürst Leopold.

»Da haben wir endlich eine warme, angenehme Unterkunft gefunden, aber dich treibt es weiter. Warum können wir nicht noch ein paar Tage bleiben?«

»Das weißt du ganz genau.« Philip zurrte seine Packtaschen hinter dem Sattel seines Wallachs fest.

»Ach, weiß ich das?«

Die Bissigkeit in Saids Stimme war unüberhörbar. Philip ging nicht darauf ein. Wortlos führte er sein Pferd aus dem Stall. Said folgte widerwillig.

Im Hof begegneten sie ein letztes Mal dem Fürsten.

»Ihr wollt uns wirklich schon verlassen? Wir haben für heute einen Jagdritt geplant, Ihr wärt uns willkommen.«

»Ich danke Euch, aber es ist besser, wir brechen beizeiten auf, ehe es uns hier zu gut geht. Ihr wisst doch, mit Gästen ist es wie mit Fischen. Nach spätestens drei Tagen fangen sie an zu stinken.«

»Ihr seid wirklich um keine Antwort verlegen.« Leopold tätschelte den Hals von Philips Rappen. »Ich habe Euer Pferd schon bewundert. Zwar kein arabisches Vollblut, aber es macht auf mich den Eindruck eines gut ausgebildeten Schlachtrosses. Stark und wendig. Es könnte sicher stundenlang einen Mann in voller Rüstung tragen.«

»Ich habe einen guten Preis für ihn bezahlt«, sagte Philip. »Man sagte mir, der Wallach sei robust genug für unsere Reise.«

»Und doch trägt er Euch nicht auf Engelsflügeln ins Paradies.« Leopold lächelte. »Sagt, habt Ihr ihn je in einem Turnier geritten?«

»Wie kommt Ihr darauf, ich sei ein Ritter?«