Die Hafenschwester (1) - Melanie Metzenthin - E-Book
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Die Hafenschwester (1) E-Book

Melanie Metzenthin

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Beschreibung

Hamburg, 1892: Die Cholera erschüttert die Stadt an der Elbe und fordert tausende Opfer. Als Marthas Mutter stirbt, muss sie das Überleben ihrer Familie sichern. Die junge Frau aus dem armen Gängeviertel ergattert eine Lehrstelle am Eppendorfer Krankenhaus und arbeitet sich bis zur OP-Schwester hoch. Während die Ärzte sich im Wettlauf gegen die Zeit befinden, ist Hamburg auch im politischen Umbruch: Die Hafenarbeiter streiken, die Frauen kämpfen ums Wahlrecht und für die Rechte von Prostituierten. Martha schließt sich der Frauenbewegung an und führt gleichzeitig ihren ganz persönlichen Kampf. Denn sie hat nicht nur die Liebe zur Medizin entdeckt, sondern – gegen die strengen Regeln am Krankenhaus – auch zu einem jungen Mann …

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Über dieses Buch

Hamburg 1892: Die Cholera erschüttert die Stadt an der Elbe und fordert Tausende Opfer. Als Marthas Mutter stirbt, muss sie das Überleben ihrer Familie sichern. Die junge Frau aus dem armen Gängeviertel ergattert eine Lehrstelle am Eppendorfer Krankenhaus und arbeitet sich hoch. Während den Ärzten die Zeit davonläuft, ist Hamburg im politischen Umbruch: Hafenarbeiter streiken, die Frauen kämpfen ums Wahlrecht und für die Rechte von Prostituierten. Martha schließt sich der Frauenbewegung an, doch gleichzeitig führt sie einen persönlichen Kampf. Denn sie hat nicht nur ihre Leidenschaft für die Medizin entdeckt, sondern auch die Liebe zu einem jungen Mann.

Über die Autorin

Melanie Metzenthin wurde 1969 in Hamburg geboren, wo sie heute noch lebt und als Fachärztin für Psychiatrie arbeitet. Mit der Geschichte ihrer Heimatstadt fühlt sie sich ebenso verbunden wie mit der Geschichte der Medizin, was in vielen ihrer Romane zum Ausdruck kommt. Die Hafenschwester. Als wir zu träumen wagten ist ihr erster Roman im Diana Verlag und der Auftakt zu einer großen Saga.

MELANIE

METZENTHIN

Die

Hafen

schwester

Als wir zu träumen wagten

ROMAN

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Copyright © 2019 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Volknant

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Umschlagmotiv: © SNY65497 Stephen Mulcahey/Trevillion Images

Autorenfoto: © privat

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24389-0 V002

www.diana-verlag.de

TEIL  1

Die Krankenschwester

1

Hamburg, 19. August 1892

Martha liebte es, über den Scharmarkt zu bummeln. Besonders heute, an ihrem vierzehnten Geburtstag, denn ihre Mutter hatte ihr in der Früh zwanzig Pfennige zugesteckt, damit sie sich nach der Schule einen Wunsch erfüllen konnte. Zwanzig Pfennige! Martha konnte sich nicht erinnern, jemals ein solches Vermögen besessen zu haben. Der Scharmarkt mit all den kleinen Läden und Handwerksbetrieben war das pulsierende Herz des Gängeviertels. Hier kannte Martha jeden Winkel, hier hatte sie bereits als Achtjährige die Näharbeiten ihrer Mutter in Frau Lembckes Weißwarengeschäft abgeliefert. Direkt nebenan hatte der Uhrmacher Härtel seinen Laden, an dessen Schaufenster sie sich niemals sattsehen konnte. Da gab es nicht nur Taschenuhren für Herren und feine Damenuhren, sondern auch große Standuhren, kleine Tischwecker und fein gearbeitete Spieluhren. Vermutlich würde sie sich niemals eine eigene Uhr leisten können, aber ihr elfjähriger Bruder Heinrich träumte davon, eine zu bekommen, wenn er im Herbst endlich auf die höhere Schule gehen dürfte.

»Das musst du dir nicht einbilden«, hatte Martha ihm wiederholt gesagt. »Die Mama spart schon genug für dein Schulgeld, die kann dir nicht auch noch eine Uhr schenken.«

»Aber ich brauch doch eine, damit ich pünktlich bin.«

»Ach was, der Papa ist ja auch immer pünktlich, obwohl er keine Taschenuhr hat. Der Wecker reicht doch für uns alle.«

Während sie an ihren Bruder dachte, läutete die Türglocke des Uhrmachergeschäfts und eine Mutter mit einem Sohn in Heinrichs Alter verließ den Laden. Der Junge trug eine Pennälermütze, die ihn als Schüler der Untertertia auswies. In seiner Hand hielt er stolz die Schachtel. Bestimmt war eine funkelnagelneue Taschenuhr darin.

Martha seufzte. Auf eine Uhr brauchte Heinrich weiß Gott nicht zu hoffen.

Sie ließ das Uhrmachergeschäft hinter sich und ging den Bürgersteig entlang, immer darauf bedacht, möglichst im Schatten der Markisen zu bleiben, die über den Schaufenstern aufgespannt waren und vor der Hitze der Hundstage Schutz bieten sollten. Um die Mittagszeit füllte sich der Bürgersteig langsam mit Leben, und neben dem üblichen Lieferverkehr sah man auf der Straße auch die eine oder andere vornehme Droschke. Vor der Silberwarenfabrik standen zwei gut gekleidete Damen und bewunderten die Auslage. Etwas weiter längs saßen drei Matrosen auf einer Bank vor dem Gasthof Zum Schwarzen Adler, wo ihr Vater immer seinen Lohn abholte. Und direkt nebenan lag die Süßwarenhandlung Trautmann.

Martha sah ins Schaufenster und zögerte eine Weile. Es gab so viele andere Dinge, die sie sich wünschte. Doch weder für eine Spieluhr vom Uhrmacher Härtel noch für ein Paar glänzende Knopfstiefel mit Absatz würde sie jemals das Geld zusammensparen können. Aber wollte sie ihr kleines Vermögen, für das die Mutter so hart gearbeitet hatte, wirklich in Pfefferminz und Karamell verwandeln, für einen kurzen Genuss? Wäre es nicht doch besser in zwei Knäueln Wolle angelegt, aus denen sie sich Strümpfe für den Winter stricken konnte?

Noch während sie durch die Scheibe die kunstvoll verzierten Zuckerrosen, Marzipanschweinchen und Bonbonnieren bewunderte, betrat eine Frau die Süßwarenhandlung, und durch die offene Tür strömte ein so verführerischer Duft, der Martha all ihre Selbstbeherrschung vergessen ließ. Sie ging in den Laden und ließ sich von der freundlichen Verkäuferin die größte Tüte mit gemischten Bonbons geben. Noch bevor sie hinausging, steckte sie sich den ersten Bonbon, einen Karamell, in den Mund und lutschte ihn ganz langsam und genüsslich. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Es war mittlerweile so heiß geworden, dass sich die Sonne in dem Kopfsteinpflaster auf der Straße spiegelte und kleine Pfützen vortäuschte. Ihr Vater hatte ihr erzählt, in der Wüste, wo es immer so heiß war, nenne man das Fata Morgana, und so eine Fata Morgana könne einem Verdurstenden eine ganze Oase vorgaukeln und ihn somit in den Tod locken. Vielleicht würde ihr Vater ihr und ihren Geschwistern heute Abend wieder eine spannende Geschichte erzählen, etwas von den Abenteuern, die er bei den Matrosen im Gasthof Zum Schwarzen Adler aufgeschnappt hatte. Mochten sie auch arm sein, aber wenn Martha an ihre Eltern dachte, an die Liebe und Fürsorge, die sie ihren drei Kindern stets entgegenbrachten, dann fühlte sie sich wie das reichste Mädchen der Welt.

Der Bleichergang, in dem sie mit ihrer Familie wohnte, lag direkt hinter dem Scharmarkt. Doch im Gegensatz zur prächtigen Einkaufsstraße war der Gang so eng, dass die Sonnenstrahlen die Fenster mancher Wohnungen nie erreichten. Im Hochsommer waberte zudem eine Wolke des Gestanks durch die Straßen, weil viele Bewohner ihre Nachttöpfe in den Abflussrinnen entsorgten. Es gab zu wenige Anstandsorte in ihrem Viertel. Marthas Mutter Louise litt sehr darunter und wünschte sich seit Jahren nichts sehnlicher, als zum Johannisbollwerk umzuziehen, wo die Schiffszimmerer, Lademeister und sogar einige Kapitäne lebten. Aber ihr Vater Karl war nur ein einfacher Schauermann, der täglich aufs Neue beim Hafenmeister anfragen musste, ob seine Dienste gebraucht wurden. Das Geld, das er heimbrachte, reichte gerade für die Miete im Bleichergang und das Nötigste zum Leben. Alles, was darüber hinausging, musste die Mutter als Näherin in Heimarbeit verdienen. Im nächsten Jahr, wenn Martha die Volksschule verließ, würde sie ihr zur Hand gehen müssen. Ihre Mutter hatte die große Hoffnung, dass sie Martha als Lehrmädchen beim Schneidermeister Helbinger unterbringen konnte, dessen Werkstatt in den Kellerräumen unter Frau Lembckes Weißwarengeschäft lag. Doch der Helbinger war kein besonders umgänglicher Mann, und Marthas Eltern hatten nicht genügend Geld, ihm ein ordentliches Lehrgeld zu zahlen, weshalb Martha ihn durch ihren Fleiß und ihre Leistungen überzeugen sollte. Aber Martha hatte so ihre Zweifel, ob ihr das gelingen würde. Zwar mangelte es ihr nicht am Fleiß, aber im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Anna fehlte es ihr an Talent für zierliche Nadelarbeiten.

Die Wohnung ihrer Familie hatte zwei Zimmer und eine große Küche, in der die Mutter tagsüber nicht nur kochte, sondern auch ihre Näharbeiten erledigte. Für die Verhältnisse des Bleichergangs war es eine große, schöne Wohnung, und wenn der Gestank nicht gewesen wäre, hätte Martha sich kein besseres Zuhause vorstellen können. Sie hatten sogar fließendes Wasser, denn es gab im Hof neben den Anstandsorten einen eigenen Wasserhahn für die Hausgemeinschaft. Ein Luxus, den bei Weitem nicht alle Bewohner des Gängeviertels kannten. Die meisten holten sich ihr Trinkwasser direkt aus der Elbe, woher auch das Leitungswasser kam. Einmal war sogar ein junger Aal aus dem Wasserhahn direkt in den Eimer geflutscht, als Martha zusammen mit ihrer Schwester Wasser geholt hatte. Anna war damals noch klein gewesen und hatte laut um Hilfe geschrien, weil sie glaubte, es wäre eine Schlange. Die Mutter hatte laut gelacht, als sie die Bescherung gesehen hatte, und gemeint, so würde die Elbe also ihre Kinder füttern. Der Aal war noch am selben Abend in der Bratpfanne gelandet, und die Geschichte wurde seither immer wieder zum Besten gegeben.

Als Martha jetzt nach Hause kam, war ihre Mutter nicht, wie erwartet, in der Küche, sondern bei Anna, die auf ihrem Bett saß und sich immer wieder übergeben musste. Der Nachttopf war mit einem Deckel verschlossen, aber der Gestank verriet Martha sofort, dass er voll war. Hastig ließ sie die Tüte mit den Bonbons, die sie doch so gern mit ihren Geschwistern geteilt hätte, in ihrem Schrankfach verschwinden, denn Bonbons waren jetzt gewiss das Letzte, was Anna sehen wollte.

»Soll ich den Nachttopf ausleeren?«, fragte sie ihre Mutter diensteifrig.

»Nein«, wehrte die ab. »Hol uns lieber frisches Wasser rauf und lass die Anna in Ruhe. Den Brechdurchfall hatte sie bislang noch jeden Sommer.«

Martha nickte, holte den Eimer aus der Küche und ging nach draußen zum Wasserhahn. Das Wasser war braun und brackig. Sie musste es eine ganze Weile laufen lassen, bis es endlich etwas klarer wurde und sie ihren Eimer füllen konnte. Als sie wieder nach oben kam, fragte sie ihre Mutter, ob sie ihr anderweitig helfen könne, doch die schüttelte nur den Kopf.

»Geh ruhig noch ein bisschen raus an die frische Luft, du musst hier ja nicht ersticken«, riet sie ihr. »Genieß den Tag.«

»Dann schau ich bei Milli vorbei.«

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Ich seh’s nicht gern, wenn du zu den Steubners gehst. Das ist kein guter Umgang.«

»Aber Milli kann doch nichts dafür.«

»Ich weiß«, sagte ihre Mutter, während sie Anna sanft das Haar aus dem schweißnassen Gesicht strich. »Es tut mir ja auch in der Seele weh, dass wir Milli nicht helfen können, aber solange ihre Mutter Stein und Bein schwört, was für ’n guter Kerl ihr Hannes ist, kann ihr keiner helfen.« Sie seufzte. »Wir wissen doch alle, wo das arme Mädel noch mal enden wird.«

Martha schluckte schwer. Sie wusste genau, was ihre Mutter meinte. Niemand würde Milli bei dem Ruf, den ihre Familie genoss, als Lehrmädchen einstellen. Ihre einzige Hoffnung bestand in der Heirat mit einem anständigen Mann. Aber selbst das bot keine Sicherheit. Millis leiblicher Vater war auf See geblieben, während ihre Mutter mit ihr schwanger war, und konnte sein Eheversprechen nicht mehr einhalten. Millis Mutter war froh gewesen, dass der Hannes Steubner sie vor der Niederkunft geheiratet und dem Kind seinen Namen gegeben hatte. Vermutlich hing sie deshalb nach wie vor an ihm. Zudem war Hannes Steubner, als sie ihn kennenlernte, noch ein angesehener Lademeister gewesen, der eine schöne Wohnung am Johannisbollwerk hatte. Doch dann geriet er in die falschen Kreise. Warum er sich an einem groß organisierten Diebstahl beteiligt hatte, der ihn nicht nur seine Arbeit und sein Ansehen kostete, sondern ihn auch noch für zwei Jahre ins Zuchthaus brachte, wusste Martha nicht. Damals war Milli mit ihrer Mutter in den Bleichergang gezogen, weil sie die Miete im Johannisbollwerk nicht mehr aufbringen konnten. Und in dieser Zeit, so behaupteten die bösen Zungen, fing die Else Steubner auch mit dem Rumhuren an. Als Hannes Steubner aus dem Gefängnis entlassen wurde, bekam er nur noch schlecht bezahlte Hilfsarbeiten. Er fing an zu trinken, wurde gewalttätig und vermietete seine Frau an einen Hurenwirt im Rademachergang, um seinen Lebensstil zu finanzieren. Im Gasthof Zum Schwarzen Adler führte er regelmäßig das große Wort, umgab sich mit Halbweltgrößen und schmiss jeden Sonntag zum Frühschoppen für alle Anwesenden eine Runde. Dennoch wohnte die Familie weiterhin in der schäbigsten Ecke des Bleichergangs in einer Kellerwohnung, in der es nur im Sommer trocken war. Ab Oktober krochen mit der Kälte auch Feuchtigkeit und Schimmel in die düstere Bleibe, ganz egal, wie sehr die Familie dagegen anzuheizen versuchte.

Als Martha an diesem Tag an der Tür der Steubners klopfte, war niemand da.

»Die sind ausgeflogen«, hörte sie eine Frauenstimme. Sie sah nach oben und erkannte die alte Frau Hansen, die ihren neugierigen Kopf aus dem Fenster gestreckt hatte. »Und für dich wär’s auch besser, wenn du nicht mehr herkommst, Martha.«

»Was meinen Sie damit?«

»Na, was wohl?« Die Alte lachte spöttisch und entblößte ihr schadhaftes Gebiss. »Der alte Hurenbock konnte es nicht lassen, jetzt auch noch das Küken einzuführen. Die ist seit dieser Woche mit ihrer Mutter zusammen im Rademachergang zum Anschaffen. Eine verlorene Seele, mit der solltest du dich nicht länger abgeben, Martha. Du hast schließlich anständige Eltern, die wollen, dass was aus dir wird.«

Martha schluckte. Sie hatte immer gewusst, dass Milli dieses Schicksal drohte, aber sie hatte gehofft, sie hätten noch Zeit. Zeit, eine andere Lösung zu finden, Zeit, dass irgendjemand Milli helfen würde. Doch das schadenfrohe Lachen der Nachbarin war Antwort genug. Wie sollte Milli auf Hilfe hoffen, wenn alle Leute der Meinung waren, dass die Hurerei ihr vorbestimmtes Schicksal war? Und wie sollte sie selbst sich verhalten? Am besten, sie sprach erst einmal mit niemand darüber, denn sie war sich sehr sicher, dass ihre Mutter ihr sonst den Umgang verbieten würde.

»Stell dir vor, was der Helbinger sagen würde«, hörte sie sie regelrecht im Geiste sagen. »Der denkt nachher noch, du bist auch so eine, und dann wird er dich bestimmt nicht als Lehrmädchen nehmen.«

Als wenn es ansteckend wäre, dachte Martha bei sich. All die Freude, die sie am Vormittag noch durch den Tag getragen hatte, war erloschen. Ihre kleine Schwester litt am Durchfall und würde die folgenden Nächte nicht zur Ruhe kommen, was bedeutete, dass niemand von ihnen richtig schlafen konnte. Und Milli war in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten. Ein schwerer Kloß bildete sich in Marthas Hals. Zu gut erinnerte sie sich daran, wie sehr Milli das Gewerbe ihrer Mutter verabscheut hatte. Mehr als ein Mal war sie Hilfe suchend zu Marthas Familie geflohen, zuletzt vor drei Wochen, weil sie Angst hatte, der Stiefvater würde ihre Mutter totschlagen. Zwar war Marthas Vater sofort losgerannt, um Else Steubner zu helfen, doch die hatte trotz ihrer unübersehbaren Blessuren alles abgestritten, Milli stattdessen für ihre »Lügenmärchen« geohrfeigt und Marthas Vater wütend entgegengeschrien, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle. Ihr Hannes sei schließlich der beste Mann der Welt. Als Martha die Freundin ein paar Tage später wiedersah, hatte die ihre blauen Flecken schamvoll zu verbergen gesucht. Bei der Ohrfeige der Mutter war es nicht geblieben, und zum ersten Mal hatte Martha sich gewünscht, sie wäre ein Mann, der es dem Hannes Steubner mit eigener Münze heimzahlen und ihm die Bosheit aus dem Leib prügeln könnte. Und der Else Steubner gleich mit dazu, damit sie ihn nicht mehr schützte, sondern für ihre Tochter da war.

Niedergeschlagen ging sie zum Hafen, in der Hoffnung, ihre Stimmung würde sich bessern. Sie liebte es, dem Treiben im Hafen zuzusehen, wo Schiffe aus aller Welt entladen wurden. Doch heute hatte sie keinen Blick für die großen Viermaster und die riesigen Dampfschiffe aus Übersee. Es war ihr vierzehnter Geburtstag, und ihre Kindheit mit unschuldigen Träumen und der Hoffnung, dass sie alles erreichen könnte, was sie sich wünschte, war endgültig vorbei. Sie konnte Milli nicht mehr helfen. Die einzige Hoffnung war, dass sie irgendeinen Weg finden würde, weiterhin ihre Freundin zu bleiben, ohne selbst als Aussätzige betrachtet zu werden und ihre Eltern zu verärgern.

Auf einmal entdeckte sie ihren Vater, der gerade seine Schicht beendet hatte.

»Was sehe ich denn hier?«, rief er ihr fröhlich zu. »Mein großes Mädchen verbringt ihren Ehrentag am Hafen beim Träumen? Oder hast du auf mich gewartet?«

»Beides«, log Martha, denn sie brachte es nicht über sich, ihrem Vater von ihren Sorgen zu erzählen.

»Na, dann komm. Und weil du jetzt kein Kind mehr bist, gönnen wir uns noch einen Schluck aus der Kaffeeklappe.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und führte sie in die entsprechende Richtung.

»Mensch, Karl, lässte dich von hübschen jungen Dingern abholen?«, rief ihm einer seiner Kollegen lachend hinterher.

»Von wegen hübsche junge Dinger«, gab ihr Vater zurück und drohte spaßhaft mit dem Finger. »Für dich ist meine Tochter Fräulein Westphal, merk dir das, Jochen.«

Martha kicherte.

»Oh, jetzt wird er vornehm, der Karl.« Jochen grinste. »Ich wünsch euch noch ’n schönen Abend.«

»Danke, dir auch. Und sieh zu, dass du deinem Mariechen keine Schande machst, so ’ne Frau kriegst du nie wieder.«

»Ich doch nicht.« Jochen lachte.

Die Kaffeeklappe war ein preiswertes Lokal für Hafenarbeiter und Seeleute, in dem keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt wurden. Es gab keine Tischbedienung, sondern es wurde alles durch eine Klappe gereicht. Marthas Vater bestellte zwei Becher Kaffee, dann setzten sie sich an einen der Tische.

»Und hast du dir was Schönes für die zwanzig Pfennige gekauft?«, fragte er und pustete über den heißen Kaffee, bevor er einen Schluck nahm.

»Ich war bei Trautmanns«, sagte sie etwas verlegen.

Ihr Vater lachte. »Da wäre ich an deiner Stelle auch gewesen. Aber du gibst Anna und Heinrich was ab, ja?«

»Ja, das wollte ich vorhin schon, aber die Anna hat wieder mal Durchfall, und da hat Mama mich an die frische Luft geschickt.«

»Das war richtig so. Es wird bestimmt eine unruhige Nacht. Und das bei der verdammten Hitze der Hundstage.« Er seufzte und strich sich nachdenklich über den Schnurrbart. Dabei sah er seine Tochter aufmerksam an. »Mir scheint, da gibt es noch etwas, das dich bedrückt.«

»Wie meinst du das, Papa?«, fragte sie unsicher. Waren ihr die Sorgen um Milli wirklich so sehr anzusehen?

»Willst du es mir nicht sagen, Martha? Du weißt doch, Vater und Tochter halten zusammen.« Er zwinkerte ihr gutmütig zu.

Sie atmete tief durch.

»Ich wollte Milli besuchen«, sagte sie leise. »Aber sie war nicht da. Und dann … dann hat die alte Hansen behauptet, sie würde ihre Mutter seit einer Woche in den Rademachergang begleiten.«

Ihr Vater senkte den Blick. »Das arme Mädel, wir haben es ja alle kommen sehen, aber sie wollte ja ihre Mutter nicht allein lassen, aus Angst, der Steubner schlägt die irgendwann ganz tot.«

»Papa, Milli ist trotzdem meine Freundin, und sie kann doch nichts dafür.«

»Du hast deinen Kaffee noch gar nicht probiert«, sagte er ausweichend.

Gehorsam trank sie einen Schluck. »Papa, was soll ich tun? Es ist doch nicht richtig, wenn ich sie deshalb meiden soll. Freundschaft bedeutet doch, dass man zu jemandem steht, egal was kommt.«

»Leider ist das Leben nicht so einfach, Martha. Du hast ja vollkommen recht. Aber wir leben in einer Welt, wo die Moral der meisten Leute eine andere ist. Das mag verlogen sein, aber wenn du dich gegen diese Menschen stellst, selbst mit den besten Absichten, werden sie dich verstoßen, und dann hast du kein Auskommen mehr. Du brauchst diese Gesellschaft zum Überleben, Martha. Wenn du Milli weiterhin besuchst, riskierst du deinen Ruf.«

»Dann soll ich ihr also aus dem Weg gehen?«

»Du sollst sie nicht mehr zu Hause besuchen, wo dich jeder kennt«, sagte ihr Vater. »Die alte Hansen ist doch die größte Tratschtante der Gegend. Wenn die dich da weiterhin sieht, wird sie allen erzählen, du wärst auch so eine. Aber wer hindert dich daran, dich mit Milli am Hafen zu treffen, wo euch niemand kennt? Manchmal muss man Kompromisse schließen.«

»Dann hast du also nichts dagegen, wenn ich mich weiterhin mit ihr treffe, Papa?«

»Nein. Nur nicht bei ihr daheim.«

»Wie sollen wir uns dann verabreden?«

»Ich werde schon Wege finden, ihr eine Nachricht von dir zukommen zu lassen. Und dann verabredet ihr euch irgendwo hier.«

»Danke, Papa! Du bist der beste Vater von der ganzen Welt!« Martha sprang auf und küsste ihn auf beide Wangen.

Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatten, machten sie sich gemeinsam auf den Heimweg. Als sie ihre Wohnung erreichten, sahen sie Heinrich trübsinnig auf der Treppe sitzen.

»Was ist denn los?«, fragte sein Vater. »Hat die Mama dich vor die Tür geschickt, weil du was ausgefressen hast?«

Heinrich schüttelte den Kopf. »Mama hat gesagt, ich soll ihr nicht ständig vor die Füße rennen, der Anna geht’s so schlecht.«

Martha und ihr Vater tauschten einen kurzen Blick aus.

»Na, dann schau’n wir mal, wie’s ihr jetzt geht«, sagte der Vater und öffnete die Wohnungstür.

»Louise, wir sind da«, rief er in die Wohnung. »Wie geht’s Anna?«

Statt einer Antwort hörten sie nur ein unterdrücktes Schluchzen. Sofort lief er ins Kinderzimmer. Martha folgte ihm, während Heinrich auf der Treppe sitzen blieb.

Als Erstes bemerkten sie den üblen Geruch der Ausscheidungen, der noch schlimmer geworden war, als Martha ihn vom Mittag in Erinnerung hatte. Zwar übergab Anna sich nicht mehr, aber sie wurde von heftigen Bauchkrämpfen geschüttelt und krümmte sich vor Schmerzen. In den vergangenen Stunden war ihr Gesicht merklich eingefallen, ihre Wangen wirkten hohl, ihre kleine Stupsnase kam Martha auf einmal ungewöhnlich spitz vor, und Annas Augen lagen in tiefen, dunkel umrandeten Höhlen.

»Es wird immer schlimmer«, sagte die Mutter leise, das Gesicht beinahe ebenso eingefallen wie das ihrer Jüngsten, vor lauter Sorge und Schmerz. »Ich habe ihren Nachttopf schon viermal geleert, das bricht wie ein brauner Wasserfall aus ihr heraus, und ich habe das Gefühl, sie trocknet innerlich aus. Karl, wir sollten den Arzt holen, ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich habe solche Angst!«

»Ist gut.« Karl legte seiner Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. Dann sah er Martha an. »Lauf schnell zu Doktor Hartmann und sag ihm, wie dringlich es ist.«

Martha nickte und hastete aus der Wohnung, ohne Heinrich zu beachten, der noch immer auf der Treppe saß und ihr hinterherrief, wohin sie so eilig wolle.

Doktor Hartmann hatte seine Praxis im Scharmarkt 25 und war einer der wenigen Ärzte, die auch Ratenzahlungen akzeptierten und mit der Krankenkasse der Hafenarbeiter einen Vertrag abgeschlossen hatten. Obwohl er mehr als genug Patienten hatte und seine Praxis immer voll war, befanden sich die Praxisräume im Keller des Hauses. Vom Reichtum, der den Ärzten nachgesagt wurde, war bei dem freundlichen alten Mann mit dem großen Kaiser-Wilhelm-Bart nichts zu spüren.

Als Martha die Praxis erreichte, war die Sprechstunde bereits vorbei und der Zugang zum Keller abgesperrt. Zum Glück wohnte Doktor Hartmann nur zwei Stockwerke höher. Im Treppenhaus roch es nach Essen, Martha hoffte, dass der Geruch nicht aus der Wohnung des Doktors stammte und er sie womöglich vertrösten würde. Als sie an der Wohnungstür klopfte, hörte sie zunächst nichts und befürchtete schon, dass er ausgegangen war. Doch dann hörte sie ein Scharren, als wenn ein Stuhl bewegt würde, und Schritte. Kurz darauf öffnete ihr die Frau des Doktors die Tür.

»Martha, was führt dich denn um diese Zeit hierher?«

»Meine Eltern schicken mich«, sagte Martha. »Der Anna geht es sehr schlecht, die hat seit Stunden reißenden Brechdurchfall, und die Mama sagt, sie weiß nicht mehr weiter, und die Anna trocknet langsam aus.«

»Braucht sie Kohletabletten?«

»Nein, die Mama meint, der Doktor müsse kommen, es ist so schlimm, wir haben große Angst.«

Frau Hartmann runzelte die Stirn und sah so aus, als wollte sie eine abschlägige Antwort geben, als ihr Mann neben ihr in der Tür auftauchte.

»Du sagst, deine Schwester habe reiswasserartige Durchfälle?«

Martha nickte.

»Seit wann?«

»Als ich heute aus der Schule kam, ging es ihr schon schlecht, aber als ich heute Abend wiederkam, war es richtig schlimm. Ich habe meine Mutter noch nie so ängstlich gesehen wie jetzt an Annas Bett.«

»Beschreib mir die Symptome mal ganz genau.«

Martha gehorchte, und noch während sie redete, machte Doktor Hartmann seiner Frau ein Zeichen, ihm seine Tasche zu holen, und griff nach seinem Hut.

»Ist es ernst?«, fragte seine Frau.

»Es könnte sein. Du weißt doch, was Doktor Simon aus Altona uns gestern erzählte. Aber die Behörden haben ihm untersagt, die Verdachtsdiagnose zu äußern, solange sie noch nicht bestätigt ist.«

Martha hatte keine Ahnung, worüber das Ehepaar sprach, aber es beunruhigte sie, dass Frau Hartmann blass wurde und ihrem Mann zum Abschied mit den Worten »Dann pass gut auf dich auf« liebevoll über die Schulter strich. Es erinnerte sie an die Abschiedsszenen, die sie so oft am Hafen beobachtet hatte, wenn jemand auf eine weite oder gefährliche Reise ging. Etliche Fragen brannten ihr auf der Seele, aber sie traute sich nicht, auch nur eine einzige zu stellen. Stattdessen ging sie schweigend an der Seite des Doktors und hatte Mühe, seinem schnellen Schritt zu folgen.

Als sie die Wohnung erreichten, saß Heinrich noch immer auf der Treppe, und der Vater erwartete sie schon ungeduldig an der Tür.

»Die Anna ist kaum noch ansprechbar«, sagte er, nachdem er den Doktor begrüßt hatte. Doktor Hartmann nickte nur und ging ins Kinderzimmer. Er warf einen Blick in den vollen Nachttopf, dessen Inhalt wie braunes Wasser aussah, dann untersuchte er Anna mit ernster Miene.

»Es war richtig, nach mir zu schicken«, sagte er schließlich. »Sie muss ins Krankenhaus. Das ist kein gewöhnlicher Brechdurchfall. Sie hat sehr viel Flüssigkeit verloren.«

»Was fehlt ihr?«, fragte Marthas Mutter unsicher. »Ist es die Cholera? Ich habe Gerüchte gehört, dass es in den letzten Tagen ein paar Fälle gab.«

Der Arzt runzelte die Stirn. »Das kann man erst wissen, wenn der Erreger nachgewiesen wird. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Westphal: Derzeit wird seitens der Behörden großer Druck auf uns Ärzte ausgeübt. Wir dürfen die Cholera nicht als Verdachtsdiagnose stellen, sondern haben Anweisung, von gewöhnlichem sommerlichem Brechdurchfall auszugehen, bis die Diagnose bestätigt ist.«

»Warum?«, fragte Marthas Vater.

»Ich dachte, das wüssten Sie als Hafenarbeiter am besten«, erwiderte der Arzt. »Die Behörden fürchten Quarantänemaßnahmen gegen die Hansestadt, wenn bekannt wird, dass hier die Cholera ausgebrochen ist. Bislang sind es nur wenige Erkrankte. Ein Kollege aus Altona erzählte mir von einunddreißig Verdachtsfällen, aber noch ist keiner bestätigt worden. Es wurden Proben an den berühmten Doktor Robert Koch nach Berlin geschickt. Man will erst auf seine Expertise warten.« Der Arzt seufzte. »Aber ich rate Ihnen, schon jetzt alle Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, als wäre es wirklich die Cholera. Sie dürfen nur noch abgekochtes Wasser trinken und waschen Sie auch Ihre Lebensmittel nur mit abgekochtem Wasser.«

»Sie glauben, es kommt aus der Leitung?«, fragte die Mutter. »Die Anna könnte sich doch auch in der Schule angesteckt haben.«

»Ja«, bestätigte der Arzt. »Aber es schadet nicht, auf die Hygiene zu achten. Regelmäßiges Händewaschen und das Abkochen des Wassers können unter Umständen Leben retten.«

Marthas Mutter nickte.

»Und die Anna?«, fragte der Vater. »Wird sie wieder gesund?«

»Das liegt in Gottes Hand.« Der Arzt seufzte erneut. »Aber jetzt sollten wir das Kind schleunigst ins Krankenhaus bringen. Am besten, Sie schicken den Heinrich los. Der Junge sieht mir ziemlich trübsinnig aus, wie er da auf der Treppe hockt. Dem tut es gewiss gut, sich nützlich zu machen. Im Allgemeinen Krankenhaus in St. Georg haben sie zwei Krankenwagen für solche Fälle. Ich schreibe ihm eben die Verordnung aus, die soll er dem Pförtner geben und sagen, dass es dringlich ist.«

Martha sah, wie ihre Mutter in sich zusammensackte, ganz so, als hätten alle Kraft und jeder Mut sie verlassen. Der Vater schickte indes Heinrich auf den Weg, um den Krankenwagen zu holen, während Doktor Hartmann sich verabschiedete und der Familie alles Gute wünschte.

Es vergingen zwei Stunden, ehe der Krankenwagen endlich eintraf. Heinrich saß auf dem Bock neben dem Kutscher, dem er den Weg gewiesen hatte. Als die Kutsche vor dem Wohnhaus hielt, sprang er ab, und trotz der Sorge um Anna sprudelte es nur so aus ihm heraus: »Hast du so etwas schon mal gesehen, Martha? Es gibt in ganz Hamburg nur vier solche Wagen, und Anna darf damit jetzt fahren.«

Auf den ersten Blick wirkte das Fahrzeug wie eine normale zweispännige Kutsche, aber es gab keine Türen. Stattdessen ließen sich die Außenseiten wie bei einer Jahrmarktsbude nach oben klappen, damit die Trage mit dem Kranken bequem hineingeschoben und auf einer vorgefertigten Halterung befestigt werden konnte.

Der Vater trug Anna nach unten und legte sie in den Krankentransportwagen. Mittlerweile hatten sich zahlreiche neugierige Nachbarn um die Kutsche versammelt und versuchten, die Geschwister auszufragen. Während Heinrich lediglich antwortete, die Anna sei krank, erklärte Martha, dass der schwere Durchfall wohl vom Wasser komme und sie es deshalb lieber abkochen und sich regelmäßig die Hände waschen sollten.

»Nun hört euch das an«, lachte Frau Sperling, die in der Wohnung unter ihnen lebte. »Das Küken will uns hier gute Ratschläge geben, als wäre sie selbst der Doktor. Hast du überhaupt eine Ahnung, was die Kohle für das Herdfeuer kostet? Und die sollen wir zum Abkochen von Wasser verbrauchen?«

Marthas Mutter hatte den Wortwechsel verfolgt und kam ihrer Tochter zu Hilfe.

»Sie gibt nur das weiter, was Doktor Hartmann uns riet. Wenn Sie schlau sind, halten Sie sich auch daran. Wir werden es jedenfalls tun.«

»Es heißt, in Altona sei einer an der Cholera gestorben«, mischte sich eine zweite Nachbarin ein. »Das hat mein Herbert auf Schicht gehört. So ’n junger Sielarbeiter, der auf’m Grasbrook gearbeitet hat.«

»Das habe ich auch gehört«, bestätigte die Sperling. »Aber der Amtmann Petersen, den mein Mann regelmäßig im Schwarzen Adler trifft, der hat gesagt, dass das nicht stimmt und dass die Ärzte sich hüten sollten, hier falsche Gerüchte zu verbreiten. Der Doktor Hartmann ist ja dafür bekannt, dass er einem lieber zu viel als zu wenig anschnackt.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Marthas Mutter energisch. »Der Doktor Hartmann ist ein guter Arzt. Dem können Sie ganz gewiss nicht vorwerfen, dass der sich an seinen Patienten bereichert. Der ist ein Arzt, wie man es sich besser nicht wünschen kann, und behandelt jeden. Ganz anders als die feinen Eppendorfer Ärzte, die erst mal die Hand aufhalten.«

»Von wegen. Anschreiben lassen ist ja schön und gut, aber was nützt es, wenn er einem dafür teure Medizin aufschwatzt, ums hintenrum wieder reinzukriegen?« Die Sperling machte eine geringschätzige Handbewegung. »Der Hartmann behauptet allen Ernstes, dass das Besprechen von Warzen nichts bringt, und will einem stattdessen Silbernitratlösung verkaufen. Dabei weiß ich’s von meiner Oma; die konnte nicht nur Warzen besprechen, sondern auch die Gürtelrose, und das hat jedem geholfen.«

Marthas Mutter verzichtete auf eine Antwort und wandte sich ihrer kranken Tochter zu, um sich von ihr zu verabschieden. Doch Anna bekam nichts mehr von ihrer Umgebung mit, nicht einmal, wie ihre Mutter ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte, ehe die Klappe geschlossen wurde und der Kutscher die Pferde antrieb.

Martha sah, wie ihre Mutter sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln wischte.

»Wie gut, dass morgen Sonnabend ist«, sagte sie dann zu Martha. »Sobald der Papa morgen zur Schicht raus ist, gehen wir beide zum Allgemeinen Krankenhaus in St. Georg und besuchen die Anna.«

Martha nickte stumm und sah der Kutsche nach, bis sie vom Bleichergang in den Scharmarkt abbog und nicht mehr zu sehen war. So hatte sie sich den Abend ihres vierzehnten Geburtstags nicht vorgestellt. Die beißende Sorge um ihre kleine Schwester ließ sie eine Weile sogar ihren Kummer wegen Milli vergessen. Wie konnte ein Tag, der so schön begonnen hatte, nur so schrecklich enden?

2

Bevor sie am nächsten Morgen ins Allgemeine Krankenhaus aufbrachen, setzte die Mutter einen Kessel mit Wasser auf, damit Heinrich nicht auf die Idee kam, direkt aus der Leitung zu trinken, wenn er Durst hatte. Anschließend suchte sie ihr gutes Kleid heraus und forderte auch Martha auf, ihr Sonntagskleid anzuziehen.

»Aber heute ist doch erst Sonnabend.«

»Ja, aber ich will nicht, dass wir da vor den Ärzten wie arme Leute dastehen. Also nun mach schon. Und steck dir das Haar hoch, du bist schließlich jetzt ein junges Fräulein, da sind blonde Zöpfe nicht mehr angemessen.«

»Auch nicht in der Schule?«

»In der Schule ist das was anderes, aber jetzt will ich, dass wir beide was hermachen. Die sollen nicht denken, die Anna kommt aus der Gosse, sonst kümmern sie sich nachher nicht gut um sie.«

Martha seufzte, dann ging sie in ihr Zimmer und machte sich das Haar. Heinrich saß auf dem Bett und sah ihr zu.

»Sollst du dich hübsch machen, damit Mama dich gleich an einen Arzt verheiraten kann?« Er grinste sie frech an.

»Blödmann!«, rief Martha und warf ihren Kamm nach ihm. Heinrich wich lachend aus, war aber so nett, den Kamm aufzuheben und ihr zurückzugeben. Dann wurde er wieder ernst.

»Meinst du, die Anna wird wieder gesund?«

»Natürlich wird sie wieder gesund. Deshalb ist sie ja im Krankenhaus.«

»Hmm«, murmelte Heinrich und starrte auf seine Füße.

»Martha, bist du bald fertig?«, hörte sie die Mutter rufen.

»Ja, ich komme!«

Auf dem Weg nach unten begegneten sie der Sperling.

»Die Anna wird sich schon wieder erholen«, meinte die Nachbarin heute deutlich versöhnlicher. »Machen Sie sich da nur keine Sorgen, Frau Westphal.«

»So Gott will«, erwiderte Marthas Mutter. Sie wirkte blass und verhärmt, und in ihrem Gesicht fand Martha nichts mehr von der lebenslustigen Frau, die ihr am Vortag mit blitzenden Augen zwanzig Pfennige geschenkt hatte. In der Nacht war Martha kaum zur Ruhe gekommen. Immer wieder hatte sie die Eltern flüstern gehört, bis der Vater um vier Uhr früh zu seiner Schicht aufgebrochen war. Danach hatte sie ihre Mutter in der Küche werkeln gehört, die vermutlich all die liegen gebliebenen Nähereien aufarbeitete. Martha war noch im Bett geblieben, aber während Heinrich tief und fest bis sieben durchgeschlafen hatte, war sie selbst von unruhigen Träumen gequält worden, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte.

Das Allgemeine Krankenhaus im Stadtteil St. Georg war rund vier Kilometer vom Bleichergang entfernt, und sie brauchten eine gute Dreiviertelstunde, um den Weg zu Fuß zurückzulegen. Jahrelang war es das einzige allgemeine Krankenhaus Hamburgs gewesen, bis vor ein paar Jahren im vornehmen Eppendorf ein neues, modernes Krankenhaus errichtet worden war. Das Eppendorfer Krankenhaus stand zwar allen offen, dennoch ließen sich dort überwiegend Mitglieder der besseren Gesellschaft behandeln, die das alte Allgemeine Krankenhaus wegen seiner ständigen Überfüllung und der einfachen Baracken tunlichst mieden.

Auch Anna lag in einer dieser schlichten Krankenbaracken, die weit entfernt vom Hauptgebäude standen. Sie erinnerte mit ihren hohen Deckenbalken, an denen Stalllaternen hingen, an eine Scheune. Dicht an dicht standen die Betten, gezimmerten Holzkisten gleich, an denen ein hoher Leistenrahmen befestigt war, vermutlich, um bei Bedarf Vorhänge vorzuziehen. Doch hier gab es keine Bettvorhänge. Als sie die Baracke betraten, kam ihnen sofort eine Matrone in der weißen Kleidung der Krankenwärterinnen entgegen.

»Jetzt ist keine Besuchszeit«, herrschte sie Marthas Mutter an.

»Bitte verzeihen Sie, aber der Pförtner hat uns hierhergeschickt. Meine kleine Tochter wurde gestern eingeliefert, Anna Westphal, und wir machen uns große Sorgen um sie. Hätten Sie zumindest die Güte, mir zu sagen, wie es ihr geht?«

Die Matrone seufzte, und Martha hatte das Gefühl, dass sie nach Alkohol roch. Aber das konnte nicht sein, oder? Das waren bestimmt die Desinfektionsmittel.

»Die ist da hinten. Meinetwegen, gehen Sie zu ihr, sieht nicht gut aus für die Kleine. Der Doktor hat ihr Kochsalzlösung infundiert, weil ihr Blut zähflüssig wie Teer ist und sie nichts bei sich behalten kann.«

»Was heißt das, infundiert?«, fragte Marthas Mutter unsicher.

»Er hat’s ihr direkt in die Adern gespritzt, um das Blut zu verdünnen.«

Die Mutter sog hörbar die Luft ein. Marthas Blick schweifte indes über die zahlreichen anderen Patientinnen in der Baracke. Sie zählte vierzig Betten, die bis auf zwei alle belegt waren. Eine alte Frau mit schlohweißem Haar und pergamentdünner Haut sah so aus, als würde ihr von Falten übersätes Gesicht gleich zerfallen und sich in nichts auflösen. Sie atmete schwer keuchend. Daneben war eine ausgemergelte Frau, die sich die Seele aus dem Leib hustete. Anna lag ganz am Ende der Baracke. Martha eilte auf das Bett zu. Als sie ihre Schwester dort liegen sah, zuckte sie zusammen. Annas Gesicht war noch weiter eingefallen, ihre Augen waren geschlossen, der Mund stand leicht offen, und die Ellenbeuge war dick verbunden. Ein Blutfleck zeichnete sich unter dem Verband ab. Hatte der Arzt ihr dort die Salzlösung gespritzt?

Auch die Mutter war inzwischen näher getreten, dicht gefolgt von der Krankenwärterin.

»Anna, hörst du mich? Hier ist Mama.« Sie berührte das Gesicht ihrer Tochter. »Sie ist ganz kalt.«

»Das ist doch besser als Fieber«, sagte die Wärterin gleichmütig. Die Mutter runzelte die Stirn und versuchte erneut, Anna ein Lebenszeichen zu entlocken, doch die rührte sich nicht. Als die Mutter sie sanft rüttelte, fiel Annas Kopf schlaff zur Seite.

»Anna?«, fragte die Mutter zaghaft, und in ihrer Stimme lag so viel Verunsicherung und Angst, dass es Martha das Herz zuschnürte.

»Anna, Mädchen, wach auf, hier ist Mama!« Als die Mutter sie erneut rüttelte, diesmal deutlich energischer, schlackerte Annas Kopf wie der einer Lumpenpuppe hin und her. Jetzt schien auch die Krankenwärterin alarmiert, drängte die Mutter unsanft beiseite und griff nach dem Handgelenk des Mädchens.

»Was ist mit ihr?«

»Ich fürchte …«, die Matrone holte tief Luft, »… ich fürchte, die Kleine ist von uns gegangen. Mein aufrichtiges Beileid.«

»Was?«, schrie Marthas Mutter. »Nein, das kann nicht sein! Das ist völlig unmöglich, sie war doch auf dem Weg der Besserung, Sie haben doch gesagt … Anna, meine kleine Anna!« Sie riss den schlaffen Leib des Mädchens an sich, hielt ihn fest, küsste das tote Gesicht und brach schließlich in hemmungsloses Schluchzen aus. Martha stand wie versteinert neben ihr. Sie sah, was geschah, sie hörte es, aber sie war unfähig, die grauenvolle Wahrheit an sich heranzulassen. Nein, das hier musste ein Traum sein, einer dieser furchtbaren Albträume, die sie in der vergangenen Nacht heimgesucht hatten. Anna konnte nicht tot sein, das war völlig unmöglich. Ich muss aufwachen, endlich aufwachen, mahnte sie sich immer wieder. Verdammt, warum wache ich nicht endlich auf? Der schwache Windzug, der durch die geöffneten Oberlichter zog, strich über ihre Wangen, und da begriff sie endlich, dass sie wach war, dass dies kein Traum war, dass der Geruch aus Desinfektionsmitteln, Exkrementen und schwitzenden Leibern echt war. Sie stand hier, sah, wie ihre Mutter ihre kleine Schwester weinend im Arm hielt, ihre Schwester, die gestern um diese Zeit noch lebendig gewesen war. Es würde kein gnädiges Erwachen geben, diesmal war der Albtraum mitten in ihr Leben gefahren. Anna würde niemals einen der köstlichen Bonbons probieren können, die noch immer in Marthas Schrankfach lagen. Anna würde nie mehr irgendetwas fühlen, sie war tot. Tot. Sie würde ihre kleine Schwester niemals wieder lachen hören, sie würde nicht miterleben, wie sie aufwuchs und erwachsen wurde. Anna war tot! Tot! Sie war tot! Immer wieder hämmerte sich das Wort in Marthas Seele und durchstieß ihre innere Erstarrung, die sie nun nicht länger schützte. Wie ihre Mutter brach sie nun in hemmungsloses Schluchzen aus.

3

Anna wurde am Dienstag, dem 23. August 1892, auf dem Friedhof Ohlsdorf beigesetzt. Die Bestattungskosten rissen ein großes Loch in die Familienkasse, aber Anna sollte ein anständiges Grab bekommen. Offiziell war Marthas Schwester an der schweren Verlaufsform eines Eingeweidekatarrhs verschieden, und noch am Montagmorgen war im Altonaer Generalanzeiger vermeldet worden, dass es keinerlei Hinweis auf einen Ausbruch der Cholera in Hamburg gebe.

Im Bleichergang waren am Wochenende hingegen zahlreiche weitere Menschen erkrankt, darunter auch die vorwitzige Frau Sperling, die das Abkochen des Wassers für einen überflüssigen Luxus gehalten hatte. War Anna noch von einem Krankenwagen abgeholt worden, so wurde Frau Sperling bereits zusammen mit drei anderen Erkrankten auf einem einfachen Leiterwagen ins Krankenhaus transportiert. Mit Grausen erinnerte sich Martha daran, wie die Nachbarin kaum noch ansprechbar und, von ihrem eigenen Kot beschmutzt, aus der Wohnung getragen und mit gleichgültiger Grobheit auf den Wagen zwischen die anderen Kranken gelegt worden war. Fast so, als wäre der Leiterwagen kein Krankentransport, sondern ein Leichenkarren, der die sterblichen Überreste einsammelte. Dieser Anblick hatte sich fest in Marthas Gedächtnis eingebrannt und ließ sie nicht mehr los. Er war noch schlimmer als das letzte Bild von Anna, als deren Kopf schlaff zur Seite fiel. Aber Anna hatte trotz allem noch ein Mensch bleiben dürfen, selbst im Tod. Frau Sperling hatte diese Würde bereits zu Lebzeiten eingebüßt …

Die Stimme von Pastor Gebhard holte Martha in die Gegenwart zurück. Er sprach von dem schrecklichen, viel zu frühen Verlust eines so jungen Lebens. Ihre Mutter schluchzte herzzerreißend, und Martha musste selbst gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Seit Annas Tod war ihre Mutter eine gebrochene Frau. Sie sah blass und kränklich aus, und ihre Hände zitterten ständig, sodass sie kaum noch die Nähnadel führen konnten. Sie war mit der Arbeit für Frau Lembckes Weißwarengeschäft in Verzug, aber Frau Lembcke war verständnisvoll gewesen und hatte ihr Beileid zu Annas Tod bekundet.

Während der Pastor weitersprach, fiel Marthas Blick auf eine junge Frau, die etwas abseits bei den Büschen stand, ganz so, als traute sie sich nicht näher an die Gruppe der Trauernden. Sie trug einen dunklen Hut mit feinem Gesichtsschleier, ein dunkles Kleid und elegante schwarze Knopfstiefel, wie Martha sie sich immer gewünscht hatte. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie ihre Freundin Milli. Wie anders sie aussah in diesen feinen Kleidern. Fast wie eine Dame, auch wenn sie in den Augen der Leute das Gegenteil einer Dame war. Niemand hätte Milli in dieser Aufmachung angesehen, dass sie noch keine sechzehn war.

Milli hatte Marthas Blick aufgefangen und kam langsam näher.

»Mein herzliches Beileid«, flüsterte sie der Freundin zu. »Es ist schrecklich, dass es gerade Anna treffen musste. Da hätte es genügend andere gegeben, die den Tod statt ihrer verdient hätten.«

Martha nickte. Sie wusste, dass Milli ihren Stiefvater meinte.

»Und wie geht es dir, Milli?«

»Ganz gut. Wie du siehst, konnte ich mir die Stiefel leisten, die wir beide so sehr bewundert haben.«

»Sie sind wunderschön«, sagte Martha. »Aber sind sie es wirklich wert?«

Milli senkte den Blick. »Man gewöhnt sich an alles«, sagte sie schließlich. »Treffen wir uns morgen Mittag an der Kaffeeklappe? Da können wir reden.«

Martha nickte. Die Aussicht, dass sie wenigstens ihre Freundschaft zu Milli bewahren konnte, tröstete sie ein bisschen.

»Ich zieh mich jetzt lieber zurück, ehe ich noch Annas Andenken mit meiner Anwesenheit beschmutze«, raunte sie Martha zu. »Wir sehen uns morgen um zwölf.«

Bevor Martha antworten konnte, war Milli schon verschwunden. Der Pastor hatte seine Rede indes beendet, und die Anwesenden begannen damit, jeder eine Schippe Erde auf Annas Sarg zu werfen. Das Geräusch der trockenen Erde, die auf das Holz des Sarges rieselte, war unerträglich. Es würde kein Wunder geben. Es würde kein Arzt einen schrecklichen Irrtum einräumen und hastig den Sarg aufbrechen, um das scheintote Mädchen zu retten. So etwas geschah nur in Schauerromanen. Die Auferstehung von den Toten war nicht von dieser Welt. Anna war fort, für alle Zeiten. Man hatte sie der Erde zum Verrotten übergeben. Die Mutter schien ebenso zu empfinden, denn bei jeder Schippe Erde, die auf den Sarg fiel, schluchzte sie erneut auf. So hört sich die Musik des Todes an, dachte Martha und konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.

Am folgenden Tag ging sie nach der Schule direkt zur Kaffeeklappe am Hafen, um Milli zu treffen. Milli trug wieder ihre eleganten Knopfstiefel, aber statt des schwarzen Kleides einen braunen Rock und eine weiße Bluse. Niemand, der sie in dieser Kleidung gesehen hätte, hätte sie für ein leichtes Mädchen gehalten.

Milli deutete Marthas Blick richtig und meinte, als sie ihr eine Tasse Kaffee aus der Kaffeeklappe reichte: »Die Frauen im Gewerbe, die etwas auf sich halten, ziehen sich wie anständige Frauen an. Ordinäre Schlampen ziehen ordinäre Freier an, elegante Frauen hingegen die besser gestellten Kunden. Noch ist meine Jugend mein bestes Kapital, und ich kann wählen. Ich habe sogar einen Arzt unter meinen Kunden, der mich immer Fräulein nennt und mir zusätzlich gutes Trinkgeld zahlt.«

Martha senkte den Blick. Auf der einen Seite war es ungehörig, über solche Dinge zu sprechen, andererseits brannte sie vor Neugier. Sie wusste mehr als die meisten anderen Mädchen über diese Dinge, denn Milli hatte nie ein Geheimnis aus dem gemacht, was ihre Mutter trieb, aber vor allem wollte sie wissen, wie ihre Freundin mit diesem Schicksal zurechtkam.

»Schämst du dich nicht zu Tode?«, fragte sie und pustete über den heißen Kaffee, bevor sie einen Schluck trank.

»Nein, ich lebe ja noch.« Milli zwinkerte Martha aufmunternd zu, aber dann wurde sie ernst.

»Ich frage mich vielmehr, warum wir Frauen uns schämen müssen. Warum müssen sich nicht die Männer schämen, die zu uns kommen und uns bezahlen? Wir treiben Unzucht, aber zur Unzucht gehören zwei. Und wer verführt hier wen? Die Frau, die keine andere Möglichkeit hat, Geld zu verdienen, weil sie als gefallen gilt, oder der Mann, der seine Brieftasche öffnet?«

»Es heißt doch, eine anständige Frau lässt sich nicht bezahlen, sondern spart sich für ihren Ehemann auf.«

»Und warum spart sich der Ehemann dann nicht für seine Frau auf?«, gab Milli zurück.

Martha wusste darauf nichts zu sagen, aber Milli hatte auch gar keine Antwort erwartet. »Ich bin noch nicht lange dabei, Martha, aber ich habe schon einiges über die Männer gelernt. Da gibt es die, die unverheiratet sind und keine Möglichkeit haben, ihre Bedürfnisse anderweitig zu stillen. Aber es gibt auch die, die nach außen hin scheinheilig und moralisch sind, die alles verteufeln, aber im Freudenhaus, da leben sie ihre schmutzigen Fantasien aus. Gelüste, die sie ihrer eigenen Ehefrau nicht zumuten wollen, weil sie Angst haben, ihre Frau könnte sich angewidert von ihnen abwenden.«

Martha sah Milli mit großen Augen an. »Ist es so schlimm?«

Milli seufzte. »Manchmal. Es ist schlimm, wenn ich mich vor dem Geruch eines Mannes ekle und trotzdem verführerisch und liebreizend sein muss, auch wenn er mich grob anpackt. Aber viel schlimmer ist die Verlogenheit. Dieser junge Arzt, der zweimal in der Woche zu mir kommt. Im Rademachergang ist er freundlich, er ist nicht grob, er riecht gut, und er verlangt nichts Perverses. Die anderen Mädchen beneiden mich um ihn und necken mich gern damit, dass ich ihn mir warmhalten solle, dann würde ich vielleicht bald Frau Doktor.« Sie lachte bitter auf. »Aber wenn wir uns auf der Straße begegnen, sieht er an mir vorbei, als würde er mich nicht kennen. Ich bin sein schmutziges kleines Geheimnis, für das er sich schämt.« Milli trank einen Schluck Kaffee. »Nun ja«, sagte sie dann. »Die vornehmen Herren haben ja auch keine Augen für ihre Hausangestellten. Für die schämen sie sich zwar nicht, aber wenn sie die an ihrem freien Tag auf der Straße treffen, ignorieren sie sie ebenfalls geflissentlich. Das weiß ich von der Jolante, die war Dienstmädchen, ehe es sie in den Rademachergang verschlagen hat. Und gelandet ist sie da, weil sie vom Sohn ihrer Herrschaft geschwängert wurde. Da hat man sie dann ratzfatz vor die Tür gesetzt, ehe der dicke Bauch auffällig wurde. Dass das Kind der eigene Enkel war, hat keinen von der vornehmen Bagage geschert, und ein anständiges Zeugnis haben sie ihr wegen unmoralischen Benehmens auch verweigert. Was blieb ihr also übrig? Der Kleine ist jetzt zwei Jahre alt und wird als Hurensohn nie aus der Gosse kommen, obwohl sein Großvater ein einflussreicher Senator ist.«

Milli trank noch einen Schluck Kaffee. »Es ist so leicht, uns die Schuld an aller Unmoral zu geben. Dabei stinkt der Fisch doch vom Kopf, nicht wahr?«

Martha nickte schwach.

»Aber ich werde das nicht mein Lebtag machen«, sagte Milli mit fester Stimme. »Irgendwann lass ich all das hinter mir und fange ganz neu an.«

»Und wie?«

»Ich spare die Trinkgelder. Von denen weiß mein Stiefvater nichts, die kann ich verstecken. Und in ein paar Jahren habe ich dann genug Geld zusammen, um nach Amerika auszuwandern. Da kennt mich keiner, und da kann ich mir eine anständige Arbeit suchen, ganz neu anfangen. Außerdem sind Frauen im Westen Mangelware, da kann ich unter den anständigen Männern wählen.«

»Du willst nach Amerika?«

»Vielleicht auch nach Argentinien. Wusstest du, dass reiche Rinderzüchter dort über Zeitungsinserate Ehefrauen suchen?«

Martha schüttelte den Kopf. »Nein. Und woher weißt du das?«

»Das wissen alle Frauen im Rademachergang, seit die Hilde auf diese Weise einen Mann in Argentinien gefunden hat und nun regelmäßig Briefe schickt und von ihrem großartigen Leben auf der Rinderfarm ihres Mannes berichtet. Die hat ihr persönliches Glück gefunden, und das will ich auch. Spätestens wenn ich volljährig bin, bin ich weg. Und bis dahin habe ich genug Geld für den Anfang zusammengespart.«

Was Milli ihr da erzählte, stimmte Martha nachdenklich. Womöglich war das Leben ihrer Freundin ja gar nicht so trostlos und düster, wie sie sich das ausmalte.

Als sie sich zwei Stunden später auf den Heimweg machte, hoffte sie, dass es ihrer Mutter wieder besser ging und sie endlich wieder die Kraft zum Nähen fand. Das Nähen war immer ihr Leben gewesen, und vielleicht würde es ihr helfen, Annas Tod zu verkraften.

Doch als sie sich dem Haus näherte, lief ihr Heinrich bereits aufgelöst entgegen.

»Martha, komm schnell, der Mama geht es schlecht. Das ist wie bei der Anna! Ich hab so große Angst, dass sie auch stirbt!«

4

Wann immer Martha sich später an die folgenden Tage erinnerte, blieben sie undeutlich, eingehüllt in einen Mantel aus Düsternis.

Heinrich hatte jede männliche Tapferkeit verloren, auf die er als Junge so stolz gewesen war, und weinte viel, während der Vater seinen Kummer mit Alkohol betäubte.

Die Angst, die Martha um ihre Mutter ausstand, war indes so gewaltig, dass sie ihren Geist lähmte. Es fühlte sich an, als wäre ihr Schädel mit Verbandswatte ausgestopft, die all ihre Gefühle aufsaugte und jeden klaren Gedanken verhinderte. Doch anders als ihr Vater, der diesen Zustand durch Alkohol zu erreichen suchte, bis er schließlich besinnungslos in der Ecke lag, arbeitete Marthas Körper einwandfrei. Sie pflegte die Mutter, sorgte peinlich genau für die Hygiene und kochte das Wasser für ihren Bruder und Vater ab. Außerdem hatte sie sich von Doktor Hartmann Carbolseife und Lysol geben lassen, um sich die Hände zu desinfizieren, sobald sie mit der täglichen Pflege ihrer Mutter fertig war.

Es waren mittlerweile so viele Menschen erkrankt, dass die Krankenhäuser nur noch die schwersten Fälle aufnahmen. Immerhin hatte der Hamburger Senat inzwischen offiziell den Ausbruch der Cholera bestätigt und ließ Flugblätter mit Hygieneanweisungen verteilen. So wurde nun eindringlich darauf hingewiesen, ausschließlich abgekochtes Leitungswasser zu verwenden, was Marthas Familie längst wusste. Zudem fuhren Wasserwagen durch die Straßen, die die Bewohner mit sauberem Trinkwasser versorgen sollten. Dennoch erkrankten weiterhin jeden Tag Hunderte von Menschen.

Louise Westphal flehte ihre Tochter an, sie nicht ins Krankenhaus zu bringen. Sie meinte, wenn Gott sie zu sich holen wolle, werde es überall geschehen, und sie wolle lieber zu Hause sterben. Auf keinen Fall wollte sie im Krankenhaus wie Frau Sperling dahinsiechen, die wenige Tage nach Annas Beisetzung verstorben war. Martha nickte nur, unfähig zu entscheiden, was richtig und was falsch war. Aber wenn sie an die üblen Gerüchte über die Desinfektionskolonnen dachte, die der Senat damit beauftragt hatte, betroffene Wohnungen zu sterilisieren, war es besser, die Erkrankung geheim zu halten. Anna war offiziell an einem Eingeweidekatarrh gestorben, und wenn sie keinen Fall von Cholera meldeten, blieben sie vom Besuch der Desinfektionskolonne verschont. Es hieß, diese Kolonnen bestünden überwiegend aus zwielichtigen Gestalten, aus Vorbestraften und ehemaligen Zuchthäuslern, weil sonst niemand diese gefährliche Arbeit tun wollte. Und die würden ihre Tätigkeit dazu nutzen, das letzte Hab und Gut der Kranken zu stehlen. Außerdem habe sie niemand in der Kunst der Desinfektion ausgebildet, und so würden sie ohne Sinn und Verstand alles sorglos mit Carbolsäure und Lysol bespritzen. Martha kannte betroffene Familien, die empört von ruinierten Möbeln und verdorbenem Bettzeug berichteten. Die Not war so groß, dass der Senat Strohsäcke austeilen ließ, damit die Menschen nicht auf dem nackten Boden schlafen mussten, wenn ihre Betten der Desinfektion zum Opfer gefallen waren. Zudem gab es Geschichten über ganze Wohnungseinrichtungen, die von den Mitgliedern der Kolonnen verhökert wurden, anstatt sie in den Desinfektionsanstalten abzuliefern. Aber selbst wenn man seine Möbel irgendwann zurückbekam, waren sie meist beschädigt und stanken erbärmlich nach Chemikalien. Nein, das konnten sie weiß Gott nicht auch noch brauchen, zumal Annas Beisetzung bereits ein kaum zu stopfendes Loch in die Haushaltskasse gerissen hatte.

Und so pflegte Martha ihre Mutter daheim in Annas verwaistem Bett, damit der Vater sich nicht ansteckte, und bemühte sich nach Kräften, selbst für ausreichende Hygiene zu sorgen. Zwei Tage lang schien es so, als würde sich die Mutter erholen, doch dann, in der dritten Nacht, verschlechterte sich ihr Zustand, und am Morgen des 28. August 1892 schloss Louise Westphal für immer die Augen. Immerhin war Doktor Hartmann so freundlich, als Todesursache, ebenso wie bei Anna, einen Eingeweidekatarrh festzustellen, damit sie nicht noch ihr letztes Hab und Gut durch die Desinfektion verloren. Ein schlechtes Gewissen hatte der Arzt deswegen nicht, vielmehr lobte er Martha für ihre konsequente Umsetzung seiner Anweisungen und die Sauberkeit, die in der Wohnung herrschte.

Mittlerweile war der Leichenkarren, der die Choleratoten jeden Morgen abholte, ein gewohnter Anblick, aber Martha wollte nicht, dass ihre Mutter in einem der Massengräber bei der schwarzen Bude auf dem Ohlsdorfer Friedhof verscharrt wurde.

Und so nahm sie einen Teil von Heinrichs angespartem Schulgeld, um die Grabstätte neben Anna zu bezahlen. Die Schulen waren wegen der Seuche ohnehin auf unbestimmte Zeit geschlossen worden. Choleraferien nannten sie es, doch niemand freute sich darüber. Wer es sich leisten konnte, verließ die Stadt. Sogar öffentliche Tanzveranstaltungen waren aus Angst vor Ansteckungen verboten worden. Viele Geschäfte und Handwerksbetriebe waren wegen Krankheit geschlossen. Im Gängeviertel stank es nicht mehr nach Fäkalien und Abwässern; stattdessen verriet der scharfe, beißende Geruch von Lysol, Chlorkalk und Carbolsäure, wo die Desinfektionskolonnen ihr Werk verrichtet hatten. Mancherorts dunsteten die Chemikalien so stark aus den Häusern, dass einem schon beim bloßen Vorbeigehen die Augen tränten. Es gab Geschichten über Hausmädchen, die von ihrer Herrschaft nur deshalb entlassen worden waren, weil sie Verwandte in Hammerbrook oder dem Gängeviertel besucht hatten. Man warf ihnen vor, sie würden ihre Herrschaft in Gefahr bringen, wenn sie die Arbeiterviertel aufsuchten. Angst und Panik beherrschten die Stadt, aber Martha fühlte nichts. Weder Angst noch Trauer, sie tat ohne nachzudenken das, was von ihr erwartet wurde, denn hätte sie all das Grauen an sich herangelassen, wäre sie zerbrochen. Bei Annas Tod hatte sie noch bitterlich geweint, aber bei der Beisetzung ihrer Mutter waren ihre Tränen versiegt. Vielleicht waren sie auch einfach nur von der Schockstarre eingefroren. Diese innere Erstarrung war ihr bester Schutz und ermöglichte es ihr, so zu tun, als gäbe es noch eine Normalität in all dem grauenhaften Chaos.

Alles wäre nur halb so schlimm gewesen, wenn ihr Vater stark geblieben wäre, doch Karl Westphal kam über den Tod seiner Frau und seiner Tochter nicht hinweg. Er war ständig betrunken, verschlief seine Schichten und brachte keinen Lohn mehr heim. Martha versuchte, die Näharbeiten ihrer Mutter zu vollenden, um bei Frau Lembcke wenigstens das dafür vereinbarte Geld zu bekommen, doch Frau Lembcke weigerte sich, die Weißwäsche anzunehmen.

»Nimm das wieder mit!«, herrschte sie Martha an. »Bei euch im Bleichergang wütet doch die Cholera, da will ich mir meine guten Waren doch nicht von deiner verseuchten Arbeit verderben lassen. Das gehört doch alles verbrannt!« Dann schlug sie ihr einfach die Tür vor der Nase zu.

Martha überlegte, ob sie die Weißwäsche vielleicht an den Plünnhöker verkaufen könnte, aber die Lumpenhandlung war wegen Krankheit geschlossen, und sonst fiel ihr niemand ein, der in diesen Tagen Wäsche aus dem Bleichergang kaufen würde.

Anfang September gerieten sie mit dem Mietzins in Verzug, und Martha mahnte ihren Vater, endlich mit dem Trinken aufzuhören. Als sie dann beschloss, die Miete von Heinrichs verbliebenem Schulgeld zu bezahlen, musste sie feststellen, dass der Vater das letzte Geld auf den Kopf gehauen hatte.

»Wie konntest du das nur tun, Papa?«, fuhr sie ihn an.

»Ach, min Deern«, lallte er. »Es tut mir ja so leid. Ich weiß, ich bin ein schlechter Vater. Aber ich versprech dir, bis die Schulen wieder öffnen, habe ich das Geld zurückgelegt. Der Heinrich soll ja mal was Besseres werden. Morgen früh geh ich gleich zum Hafenmeister und lass mich für eine Doppelschicht einteilen.«

In diesen Tagen musste Martha die bittere Erfahrung machen, dass das Wort ihres Vaters im Gegensatz zu früher nichts mehr galt. Ungeachtet aller guten Vorsätze, verbrachte er die Vormittage im Bett, ganz gleich, wie oft Martha ihn morgens weckte. Erst am späten Nachmittag raffte er sich auf und verließ die Wohnung. Doch nicht, um sich um Arbeit zu kümmern, sondern um Branntwein aufzutreiben. Martha befürchtete, dass er in etlichen Kneipen anschreiben ließ und den Schuldenberg der Familie weiter vergrößerte, aber wenn sie ihn darauf ansprach, stritt er alles ab und versuchte, sie mit lächerlichen Ausreden zu beruhigen.

In ihrer Verzweiflung ging sie schließlich zu Doktor Hartmann, um ihn zu fragen, wie der Vater endlich wieder nüchtern und arbeitsfähig werden könnte. Doch Doktor Hartmann schüttelte traurig den Kopf.

»Wenn es einen Mann so aus den Schuhen gehauen hat wie deinen Vater, nützen weder gutes Zureden noch strenge Maßnahmen. Es wird wohl an dir hängen bleiben, für die Familie zu sorgen.«

»Aber wie? Frau Lembcke weigert sich, die Weißwäsche anzunehmen. Was kann ich denn noch tun?«

Der Arzt musterte Martha nachdenklich. »Du bist jetzt vierzehn, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Ich wüsste da etwas«, sagte er schließlich. »Im Allgemeinen Krankenhaus suchen sie wegen der Cholera händeringend Krankenwärterinnen. Mit vierzehn bist du gerade alt genug dafür. Außerdem bist du ein kluges Mädchen, Martha. Du hast deine Mutter zu Hause besser gepflegt, als man es im Krankenhaus getan hätte. Du wusstest die Desinfektionsmittel gut einzusetzen, und dein Vater und Bruder sind, genau wie du, gesund geblieben. Stell dich im Allgemeinen Krankenhaus vor. Solltest du Referenzen brauchen, darfst du dich auf mich berufen. Und dein Lohn wird hoffentlich für euren Mietzins reichen. Zudem tust du etwas Sinnvolles. Deiner Schwester und deiner Mutter konntest du nicht helfen, aber womöglich anderen Menschen. Und so kann aus all dem Unglück vielleicht doch noch etwas Gutes erwachsen. Sowohl für dich, weil du auf ehrbare Weise Geld verdienen kannst, als auch für die Menschen, die deiner Fürsorge anvertraut werden, denn ich bin mir sicher, dass du dich besser um sie kümmern wirst als die meisten Krankenwärterinnen.«

Über diese Worte dachte Martha auf dem Heimweg lange nach. Wollte sie sich all dem Elend, das die Cholera über die Menschen brachte, tatsächlich dauerhaft stellen? Ständig daran erinnert werden, wie Annas Kopf schlaff zur Seite gefallen war? Zurückkehren an den Ort ihres Todes? Andererseits, auch ihr Zuhause war ein Ort des Todes, dort war ihre Mutter verstorben, obwohl sie sie aufopfernd gepflegt hatte.

Dem Tod kann man nicht entgehen, dachte sie. Aber vielleicht hat Doktor Hartmann recht, und ich kann für das Leben kämpfen.

Eine große Wahl hatte sie ohnehin nicht. Krankenwärterin war zwar kein besonders angesehener Beruf, aber es war immer noch besser, als im Rademachergang zu enden wie Milli. Bei dem Gedanken an ihre Freundin wurde ihr zum ersten Mal siedend heiß bewusst, dass sie in ihrer gegenwärtigen Lage vermutlich gar nicht mehr so viel von Millis Schicksal trennte.

Als Martha ihrem Vater von Doktor Hartmanns Vorschlag erzählte, war er immerhin klar genug im Kopf, um ihr zuzuhören.

»Ich weiß nicht so recht«, nuschelte er. »Der Mama wär’s nicht recht gewesen, wenn du vor der Zeit von der Schule gehst. Die wollte doch, dass ihr was Ordentliches lernen sollt.«

Der Mama wär’s auch nicht recht gewesen, dass du das Fell versäufst, dachte Martha, hütete sich aber, den Gedanken laut auszusprechen.

»Ob ich nun noch ein Jahr länger zur Schule gehe oder nicht, was macht das für einen Unterschied? Du weißt doch, dass wir das Geld brauchen.«

»Das Geldverdienen ist meine Aufgabe.« Ihr Vater schnäuzte in sein Taschentuch.

»Hast du denn für morgen eine Schicht bekommen?«, bohrte Martha nach. »Warst du überhaupt beim Hafenmeister?«

»Kind, natürlich war ich beim Hafenmeister, ich hatte es dir doch versprochen«, verteidigte er sich. »Aber er hatte keine Arbeit für mich. Wegen der Cholera laufen kaum noch Schiffe Hamburg an.«

»Der Henning Wilke von gegenüber erzählt da aber was ganz anderes. Der sagt, dass sie bis zum Umfallen arbeiten müssen, weil sie zu wenig Schauerleute wegen der Cholera haben. Gerade gestern sind wieder zwei große Viermaster aus Übersee eingelaufen. Sei ehrlich, Papa. Der Hafenmeister hat dich wieder weggeschickt, weil du zu betrunken warst, nicht wahr?«