Schicksalsstürme - Melanie Metzenthin - E-Book
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Melanie Metzenthin

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Beschreibung

Wer ist der Unbekannte, der vor der Küste Heiligenhafens Schiffbruch erlitten hat? Ein dänischer Spion? In Kriegszeiten zwischen dem Königreich und der Hanse eine lebenswichtige Frage. Brida, die heilkundige Tochter von Kapitän Dührsen, nimmt sich des geheimnisvollen Fremden an und unterstützt ihn in dem Bemühen, sein Gedächtnis wiederzufinden. Sie ahnt nicht, in welche Gefahr sie sich dadurch bringt ...

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Für meine Mutter

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage September 2012

ISBN 978-3-492-95584-3

© 2012 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung zweier Fotos von Yolande de Kort/Trevillion

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Heiligenhafen, April 1428

Ein letztes Mal flackerte das Signalfeuer auf der Fehmarner Seite der Bucht, dann verlosch sein Licht, und die Morgenröte vertrieb die Dunkelheit. Nichts erinnerte mehr an die aufgepeitschten Wellen der vergangenen Nacht.

Arne liebte die Tage nach dem Sturm, wenn das Meer wieder klar war und der Geruch von Seetang die Luft erfüllte. Ein guter Tag, um die Netze auszuwerfen.

Sein Boot lag am Strand, unmittelbar hinter den Dünen. Dort hatte es bislang jedem Unwetter getrotzt. Auch an diesem Morgen wartete es auf ihn, unversehrt und bereit, ihn hinauszutragen.

Eine dunkle Planke dümpelte zwischen dem Schlick. Arne stutzte. Dann sah er den leblosen Körper, der mit den Beinen noch halb im Wasser lag. Er rannte los, Muschelschalen und Sand knirschten unter seinen Stiefeln. Überall waren Trümmer an den Strand gespült worden. Neben einem zerbrochenen Fass nahe der Sandbank trieben weitere Körper, alle mit dem Gesicht nach unten. Ein bitterer Geschmack legte sich auf Arnes Zunge. Ein Jahr war es her, dass er zum letzten Mal Tote am Strand gefunden hatte. Doch damals war er darauf vorbereitet gewesen.

Er beugte sich zu dem Mann hinunter, berührte ihn. Ein leises Stöhnen.

»Hörst du mich?«

Der Verletzte murmelte etwas. Arne glaubte, »hvor« und »jeg« verstanden zu haben. War der Mann ein Däne? Vor einem Jahr waren es Deutsche gewesen, die er am Strand gefunden hatte. Opfer der dänischen Flotte. Er hatte einige Freunde verloren. Junge Männer, die dachten, auf den hanseatischen Kriegsschiffen schneller zu Ruhm und Reichtum zu gelangen als mit ihrem ehrlichen Handwerk. Arne atmete tief durch. Es war vorbei. Dies hier war ein unglückliches Opfer des gestrigen Sturms. Ein Mann, der seine Hilfe brauchte, ganz gleich, woher er kam.

Er versuchte, den Körper aus dem Wasser zu ziehen. Ein erstickter Schrei ließ ihn zurückzucken. Erst jetzt sah Arne das Blut, das aus einer Wunde in der Brust des Mannes gesickert war und seine Kleidung durchtränkt hatte. Das war kein Seemann. Solche feinen Hemden trugen nur reiche Leute, Patrizier aus den großen Hansestädten oder Adlige.

»Wer seid Ihr?«

Der Mann stöhnte, war kaum noch bei Bewusstsein. Arne betrachtete ihn genauer. Er war höchstens Mitte zwanzig, blondes Haar, glatt rasiert. Die Hände gepflegt und frei von den Spuren schwerer Arbeit. Vielleicht ein Kaufmann? Aber wobei hatte er sich diese Verletzung zugezogen? Sie sah aus wie ein Schwerthieb.

Einerlei. Er würde den Mann zu Brida bringen. Die würde schon wissen, wie dem Verwundeten zu helfen war. Und dann würde er zurückkommen und schauen, was das Meer sonst noch herzugeben bereit war. Vielleicht war es ja eine Kogge mit reicher Ladung gewesen. Auf jeden Fall schien die Suche danach lohnenswerter, als heute zum Fischen hinauszufahren.

1. Kapitel

Nun hilf mir schon, ihn auszuziehen!« Brida zerrte an einem der Stiefel des Bewusstlosen.

»Da hat uns das Meer aber mal was Hübsches beschert.« Marieke kicherte, während sie nach dem anderen Stiefel des Mannes griff und ihm das nasse Leder mit einem Ruck vom Fuß zog.

»Teures Schuhwerk, ist wohl ein feiner Herr.« Bewundernd strich die Magd über den weichen Schaft.

»Stopf sie nachher aus, und stell sie zum Trocknen vor den Kamin.« Brida reichte Marieke den zweiten Stiefel. »Halt, nicht jetzt, hilf mir erst, ihn ganz auszuziehen!« Sie machte sich daran, seine Hose zu öffnen.

»Fräulein Brida, soll ich nicht lieber Kalle holen? Ich meine, wegen der Schicklichkeit …«

»Bis du Kalle findest, ist der hier erfroren. Nun komm, ich werde von dem Anblick schon nicht erblinden.«

»Wäre ja auch schade.« Marieke lächelte verschmitzt. »Der ist mehr als einen Blick wert.«

Brida seufzte. So war Marieke. Redete von Schicklichkeit, aber ihre Gedanken waren sündig genug, dem Pfarrer bei der nächsten Beichte die Schamesröte ins Gesicht zu treiben.

Es erwies sich als schwierig, die eng anliegenden Hosen herunterzustreifen, die nass an den Beinen des Fremden klebten. Auch das blutverschmierte Hemd hatte im Wasser gelitten und war an mehr als einer Stelle zerrissen.

»Wasch das, und dann schau, ob du es flicken kannst.« Brida reichte der Magd die nassen Kleidungsstücke.

»Das Hemd etwa auch?« Marieke verzog das Gesicht. »Das ist doch völlig zerlumpt.«

»Versuch’s einfach. Es sieht aus, als wenn’s teuer war.«

»Ja eben, der wird doch nicht in geflickten Plünnen rumlaufen wollen. Arne meinte auch, das ist bestimmt so ’n reicher Pfeffersack.«

»Marieke, tu einfach, was ich dir sage.«

Die Magd murmelte etwas vor sich hin, hob auch die Stiefel auf und verließ die kleine Kammer, in der Bridas Vater für gewöhnlich seine Gäste beherbergte.

Brida deckte den Mann mit einer warmen Wolldecke zu und wandte sich dann seiner einzig sichtbaren Verletzung zu. Ein handbreiter Schnitt über der linken Brust. Auf den ersten Blick eine tiefe Wunde, aber beim zweiten Hinsehen erkannte Brida, dass sie ungefährlicher war, als sie befürchtet hatte. Vielleicht hatte er ein ledernes Wams getragen, das den Hieb abgemildert hatte. Im vergangenen Jahr hatte sie einige Verletzungen dieser Art behandelt. Zwei Wochen, dann wäre ihm davon nicht mehr viel anzumerken, sofern er sich von der Unterkühlung erholte.

Während sie die Wunde versorgte, betrachtete sie ihn. Er war wirklich ein ansehnlicher Bursche. Die Haare so blond wie reifer Weizen. Welche Farbe mochten seine Augen wohl haben? Blau? Braun?

Ich bin schon wie Marieke, schalt sie sich. Lasse mich von einem hübschen Gesicht in den Bann ziehen, ohne den Mann überhaupt zu kennen.

War er wirklich ein Opfer des Sturms, oder war sein Schiff von Piraten aufgebracht worden? Wie sonst hätte er sich diese Wunde zuziehen sollen? Andererseits, die Kaperfahrer wären bei dem gestrigen Sturm gewiss nicht ausgelaufen.

Ein Zittern durchlief seinen Leib. Er war noch immer eisig kalt. Sie zog ihm die Decke ganz über den Oberkörper, dann fachte sie die Glut im Kohlebecken neu an und stellte es unmittelbar neben seine Lagerstatt. Es würde dauern, bis es warm genug war. Besser, sie holte ihm noch eine zweite Decke.

Als sie zurückkam, war er wach. Seine Augen waren so grün wie die Ostsee an hellen Sommertagen.

»Hvor er jeg?« Das war Dänisch. Also hatte Arne recht.

Brida legte ihm die zweite Decke über. »Ihr seid in Sicherheit«, sagte sie. »Du er i sikkerhed.«

Er musterte sie auf eine seltsame Weise. Fragend, unsicher. Hatte er sie nicht verstanden? So schlecht war ihr Dänisch doch gar nicht.

»Wo genau bin ich?«, fragte er schließlich auf Deutsch. Bildete sie es sich ein, oder klang ein leichter lübscher Zungenschlag in seinen Worten mit?

»Ihr seid in Heiligenhafen, im Haus von Kapitän Hinrich Dührsen. Ich bin seine Tochter Brida.«

Sein Blick wanderte an ihr vorbei durch den Raum, blieb an dem Kohlebecken hängen. Fast kam es ihr so vor, als betrachte er gar nicht seine Umgebung, sondern schaue nach innen, versuche sich auf etwas zu besinnen, das ihm entfallen war.

»Wie ist Euer Name?«

Er sah ihr in die Augen, aber er schwieg. Ob er Angst hatte, wegen seiner Herkunft Schwierigkeiten zu bekommen? Einige hier trugen den Dänen die letzten Kämpfe nach, aber die meisten waren vernünftig genug, zwischen Kriegsschiffen und Kauffahrern zu unterscheiden. Und noch anderen war es schlichtweg gleichgültig, woher jemand kam.

»Ihr müsst keine Sorge haben. Bei uns genießt jeder Gastrecht. Sogar Piraten haben es schon versucht. Kennt Ihr die Geschichte, als sich vor acht Jahren Seeräuber in unseren Hafen flüchteten, um zu verhindern, dass sie den Lübeckern ausgeliefert wurden?«

Er deutete ein Kopfschütteln an. »Das ist es nicht. Ich …« Er schluckte. »… ich weiß nicht, was geschehen ist. Ich kann mich an nichts erinnern.«

»Nicht einmal an Euren Namen?« Wieder hatte sie das Gefühl, seine Augen blickten durch sie hindurch, starr nach innen gerichtet.

»Nicht einmal an meinen Namen.« Seine Stimme war leise geworden, kaum mehr als ein Flüstern.

»Und an das, was passiert ist? Arne hat Euch am Strand gefunden. Ihr wärt fast ertrunken, habt eine Wunde in der Brust.«

Bei der Erwähnung der Verletzung glitt seine Hand zur Brust, als müsse er sich davon überzeugen, dass sie die Wahrheit sagte.

»Ihr wisst nicht mehr, ob Ihr angegriffen wurdet oder ob es der Sturm war?«

Abermals ein Kopfschütteln.

»Auch nicht, wie Ihr verletzt wurdet?«

»Nein.«

»Aber es muss doch irgendetwas geben, auf das Ihr Euch besinnt. Irgendein Bild aus Eurer Vergangenheit. Denkt nach. Als Ihr zu Euch kamt, spracht Ihr Dänisch. Seid Ihr aus Dänemark?«

Er schloss die Augen. Diesmal hatte Brida nicht den Eindruck, er bemühe sich um eine deutlichere Erinnerung. Vielmehr schien er vor ihrem heftigen Ansturm die Flucht zu ergreifen. Sofort schämte sie sich für ihr Ungestüm.

»Verzeiht«, sagte sie leise. »Ich wollte Euch nicht bedrängen. Ihr braucht Ruhe, und die sollt Ihr haben. Wenn Ihr etwas braucht, so ruft nur.« Sie schickte sich an, zur Tür zu gehen.

»Wartet, Jungfer Brida! Ich müsste vielmehr Euch um Verzeihung bitten.«

Sie wandte sich um. Es war seltsam, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Vor allem, da er sie so formvollendet ansprach. Für alle anderen war sie einfach nur Brida. Außer für Marieke, die es sich nicht nehmen ließ, sie wie ein adliges Fräulein anzureden.

»Ihr mich? Warum?«

»Weil ich Euch keine bessere Auskunft geben kann.«

Sein Blick erinnerte sie an ein verwundetes Tier, das Schmerzen leidet, die Ursache dafür aber nicht kennt. Es musste schlimm sein für ihn, sich in einer fremden Umgebung wiederzufinden und nicht zu wissen, wer er war. Vermutlich quälten ihre Fragen ihn viel mehr, da er sie sich selbst auch stellte.

»Macht Euch darum keine Sorgen. Ruht Euch aus, vielleicht sieht es morgen schon anders aus. Ich schicke Marieke, damit sie Euch etwas heiße Milch mit Honig bringt und, wenn Ihr mögt, auch etwas zu essen. Habt Ihr Hunger?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich gehe zum Strand, vielleicht finde ich dort etwas, das uns Hinweise auf Eure Herkunft gibt«, sagte sie. Dann verließ sie die Kammer und rief nach Marieke.

Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, als Brida den Strand erreichte. Außer Arne waren inzwischen auch andere Männer in der Hoffnung auf Strandgut aufgetaucht, aber auch um die Leichen zu bergen. Viel hatte das Meer nicht hergegeben. Ein paar Fässer mit Pökelfleisch, keine große Ladung.

Es waren insgesamt acht Tote. Ihre Gesichter waren bläulich verfärbt, aber sie sah keine Wunden, die auf einen Kampf hindeuteten. Eigentlich sahen sie recht friedlich aus, beinahe wie Schlafende. Die See hatte sie rechtzeitig zurückgegeben. Als kleines Mädchen hatte sie einmal einen Toten gesehen, der tagelang im Wasser getrieben war. Die Haut hatte sich vom Körper gelöst, er war aufgedunsen gewesen und hatte eher an ein Monster aus der Tiefsee als an einen Menschen erinnert. Aber am schlimmsten war der Gestank gewesen. Sie schüttelte die alte Erinnerung ab.

»Hier kannste nicht mehr viel machen, Brida.« Der alte Knut legte ihr die Rechte auf die Schulter. »Die sind alle mausetot.«

»Ich weiß. Deshalb bin ich auch nicht gekommen. Wissen wir etwas über das Schiff?«

»War vermutlich nur’n Kraier, nix Großes.« Der alte Mann wies auf die Fässer mit dem Pökelfleisch. »Lohnt fast gar nicht den Aufwand.«

»Der Mann, den Arne mir gebracht hat, scheint ein Kaufmann zu sein. Könnte es sein, dass die Kaperfahrer den besten Teil der Ladung gestohlen haben?«

Knut zuckte die Achseln. »Er wird’s dir erzählen, wenn er zu sich kommt.«

»Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er kann sich an nichts erinnern. Nicht einmal an seinen Namen.«

Knut pfiff durch seine Zahnlücke. »Kann sich an nichts erinnern? Und glaubste ihm?«

»Warum sollte er mich belügen?«

»Och, dafür gibt’s schon manch Grund. Vielleicht hat er keine sauberen Geschäfte gemacht.«

»Ach, Knut, erzähl keinen Tüdelkram! Ich glaub ihm. Er war vollkommen verwirrt, hat noch gar nicht begriffen, was ihm widerfahren ist.«

Ganz in der Nähe der aufgestapelten Fässer sah Brida etwas in der Ostsee treiben. War es ein Lederbeutel? Sie ließ Knut stehen und ging zum Wasser.

Es war tatsächlich ein kleiner Beutel, der von den Wellen immer wieder vor- und zurückgetrieben wurde. Hastig schlüpfte sie aus den Schuhen, hob den Saum ihres Kleides und watete ins Wasser. Obwohl schon April war, kam ihr das Wasser eisig vor. Kein Wunder, dass ihr Pflegling völlig ausgekühlt und erschöpft gewesen war.

»Was hast du da?« Knut war ihr gefolgt.

»Nur irgendein Ledersäckchen.«

»Na, was Wertvolles wird kaum drinnen sein, sonst wär’s längst untergegangen.« Der alte Mann wandte sich gelangweilt ab.

Brida öffnete ihren Fund. Es waren wohl einmal Briefe oder irgendwelche Pergamente gewesen, aber die wenigen Stunden im Salzwasser hatten gereicht, die Schrift unleserlich zu machen. Lediglich ein zerbrochenes Siegel war erhalten geblieben. Ein Kreuz, auf dem ein Wappenschild mit drei Kronen prangte. Sie kannte das Zeichen nicht, aber ihr Vater würde schon wissen, zu welcher Familie es gehörte, oder zumindest, wo die Herkunft in Erfahrung zu bringen war.

Brida versuchte, den feuchten Sand von den Füßen zu streifen, bevor sie die Schuhe anzog, aber es blieben zahlreiche feine Körnchen zurück, die unangenehm scheuerten. Zu dumm, dass sie kein Kind mehr war, dem es niemand verargte, barfuß durch die Stadt zu laufen.

Ob ihr gedächtnisloser Gast das Siegel wohl erkannte? War es womöglich sein eigenes? Drei Kronen … Vielleicht war er ein Edelmann? Das Wappen des dänischen Königs zierten ebenfalls drei Kronen, allerdings wurden sie von drei Löwen getragen.

»Er schläft«, sagte Marieke, als Brida zurückkam.

»Hast du mit ihm gesprochen?«

Die Magd nickte. »Er ist nett, aber er kann sich ja an gar nichts erinnern.«

»Ich weiß.« Mit einem erleichterten Seufzer zog Brida ihre Schuhe von den Füßen und schüttelte den Sand aus. Marieke runzelte missbilligend die Stirn.

»Ist Vater schon zurück?«

»Nein.«

»Sag mir Bescheid, wenn er kommt.«

Sie ließ Marieke stehen und ging zu ihrer Kammer. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie die junge Magd kopfschüttelnd nach dem Besen griff, um den Sand aufzufegen.

Bridas Stube war nicht groß, enthielt ein Bett, eine Kleidertruhe, einen Schemel und ein Tischchen, das unter der Dachschräge stand. Aber sie liebte diesen kleinen Raum, der sie ein wenig an die engen Schiffskojen erinnerte, in denen sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Sie schob sich den Schemel zurecht und zog vorsichtig die aufgeweichten Pergamente aus dem Beutel.

Die Tinte war vollkommen zerlaufen, bildete nur noch Schlieren und schwarze Flecken. Sie breitete die Dokumente, soweit es möglich war, auf dem Tisch aus. Vielleicht war das eine oder andere Wort noch zu entziffern, wenn sie erst getrocknet waren.

Von unten hörte sie polternde Schritte. Nur einer ging so. Vater! Im Geist sah Brida Marieke erneut seufzen und zum Besen greifen. Sie wartete eine Weile, bis sie sicher war, dass ihr Vater sich in die Wohnstube zurückgezogen hatte, dann nahm sie das zerbrochene Siegel und stieg die Treppe hinunter.

Obwohl Kapitän Hinrich ein Mann war, der schon auf die sechzig zusteuerte, hatte er sich die Lebendigkeit der Jugend bewahrt. Manchmal glaubte Brida, dass er noch immer zur See führe, wenn sie nicht wäre. Sie war jetzt einundzwanzig, noch keine alte Jungfer, aber auf jeden Fall zu alt, um ihn weiterhin auf seinen Schiffsreisen zu begleiten, wie sie es während ihrer Kindheit und Jugend getan hatte.

So, wie sie seinen Schritt schon von Weitem erkannte, so kannte er auch den ihren.

»Na, Deern, hab gehört, du hast wieder einen Pflegling.«

Sie liebte sein väterliches Lächeln, wenn sein Gesicht in Hunderte von Fältchen zerfiel, würdevoll und schelmisch zugleich.

»Ja, Vater. Er war der einzige Überlebende.« Sie setzte sich ihm gegenüber auf den zweiten Lehnstuhl vor dem Kamin. »Aber etwas ist seltsam. Er kann sich an gar nichts erinnern. Nicht mal an seinen Namen.«

Der alte Kapitän zog die Brauen hoch. »Nicht mal an seinen Namen?«

Brida nickte. »Hast du so etwas schon mal erlebt?«

»Erlebt nicht, nur davon gehört, dass es so was geben soll.«

»Ich war am Strand und habe geschaut, ob ich noch etwas finde, das uns mehr über ihn verraten könnte. Dabei entdeckte ich das hier.«

Sie reichte ihrem Vater das zerbrochene Siegel. Hinrich nahm die beiden Teile in die Hand und betrachtete sie aufmerksam.

»Das ist seltsam, Deern. Bis auf die drei Löwen erinnert es an das dänische Königssiegel.«

»Du hast es also auch noch nie gesehen?«

Der Vater schüttelte den Kopf. »Vielleicht weiß Claas etwas. Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen.«

»Wie geht es seiner Frau?«

»Nicht gut. Die Ärzte haben nicht mehr für sie tun können als du, Deern. Die haben sich nur an seinem Geldbeutel gütlich getan.«

Brida senkte den Blick. Sie wusste um die Liebe, mit der Stadtrat Claas an seiner Frau hing. In zehn Ehejahren hatte Anna ihm nur ein lebendes Kind geschenkt, das kurz nach der Geburt verstorben war. Es folgten sieben Totgeburten, die letzte vor drei Monaten. Brida erinnerte sich lebhaft an die Schilderungen der alten Hebamme Hilde. Anna hatte nicht genügend Kraft, das tote Kind auszustoßen. Hilde hatte es im Leib der Schwangeren zerstückeln müssen. Tagelang hatte Anna danach mit dem Tod gerungen, bis sie ihn von ihrer Schwelle jagen konnte, aber sie blieb schwach und kränkelnd. Zuerst hatte Claas Brida um Hilfe gebeten, doch als ihre Mittel versagten, hatte er nach den besten Ärzten aus Lübeck geschickt und, als die auch nicht weiterwussten, einen berühmten Medikus aus Hamburg kommen lassen. Nichts war ihm für Anna zu teuer, und doch trat keine Linderung ein. Im Gegenteil, sie wurde immer schwächer, aber niemand brachte es übers Herz, Claas zu sagen, dass seiner Frau nicht mehr viel Zeit blieb.

»Weißt du, Deern, vielleicht erinnert der Mann sich ja selbst, wenn er das Siegel sieht.«

Der Gedanke an Anna hatte Brida für kurze Zeit von dem Rätsel um ihren unbekannten Pflegling abgelenkt. Umso dankbarer war sie ihrem Vater, dass er das Gespräch wieder in eine erträglichere Richtung lenkte.

»Vielleicht ist es sogar sein eigenes? Von seiner Kleidung her könnte es passen.«

»Ja, das hat der Arne schon überall rumgebracht. Meinte, das sei so ’n feiner Herr.«

»Fräulein Brida!« Marieke stürmte in die Stube. »Unser Meergeschenk ist wach.«

Hinrich lachte. »Na, ob der sich wohl freut, wenn du ihn so nennst?«

Die junge Magd blickte dem Hausherrn keck in die Augen, die Hände in die Hüften gestemmt. »Na ja, Herr Käpt’n, ist doch noch gar nicht so lang her, dass wir alles behalten durften, was uns das Meer bescherte, nicht wahr?«

»Ach, Marieke, verschreck den armen Jungen nicht.«

»Aber Herr Käpt’n, ich doch nicht.«

Brida grinste. »Ich sehe nach ihm.« Sie nahm das zerbrochene Siegel und begab sich zu der kleinen Gästekammer.

Der Unbekannte hatte sich wie ein Kind im Mutterleib zusammengekrümmt und fest in die Decken geschmiegt. Als Brida eintrat, hob er den Kopf. Erleichtert stellte sie fest, dass das Kohlebecken gute Arbeit geleistet hatte. Der Raum war inzwischen angenehm warm.

»Wie geht es Euch?«, fragte sie und schalt sich gleichzeitig, dass ihr keine bessere Begrüßung einfiel. Wie sollte es ihm schon gehen?

»Viel besser.« Er schenkte ihr ein Lächeln. Wenn er Marieke ebenso angestrahlt hatte, schien es kein Wunder, dass die Magd ihn beinahe als persönlichen Besitz ansah. »Ich fühle meine Zehen wieder.«

»Aber Ihr erinnert Euch nach wie vor an nichts?«

Das Lächeln schwand. »Nein«, sagte er leise.

»Ich war am Strand und habe dort einen Beutel mit Briefen gefunden. Die Dokumente sind verdorben, aber ein Siegel blieb erhalten. Erkennt Ihr es?«

Er richtete sich ein wenig auf, die wärmenden Decken fest umklammert, und musterte das zerbrochene Stück Siegelwachs in ihrer Hand.

Brida versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, zu erkennen, was in ihm vorging. Einmal schloss er kurz die Augen, dann starrte er wieder auf das Siegel.

»Erik«, flüsterte er.

»Ist das Euer Name?«

»Ich bin mir nicht sicher. Er ging mir auf einmal durch den Kopf.«

Da war er wieder, dieser gehetzte Blick, der sie an ein leidendes Tier gemahnte.

»Erik«, wiederholte Brida den Namen. »Er würde zu Euch passen. Der Klang des Nordens.«

Er sagte kein Wort.

»Darf ich Euch so nennen, solange Ihr Euch nicht sicher seid, wie Ihr wirklich heißt?«

»Wenn Ihr wollt.«

Sehr begeistert klang er nicht. Konnte es wirklich sein eigener Name sein, wenn er ihren Vorschlag mit dem gleichen Gesichtsausdruck hinnahm, mit dem ein Kind ein Hemd aus rauem Stoff duldet?

Eine Weile herrschte Schweigen. Schon wollte Brida fragen, ob sie ihn wieder allein lassen solle, als er fortfuhr. »Darf ich ein Gespräch mit Euch beginnen, Jungfer Brida? Für gewöhnlich tauschen Menschen, die sich noch nie begegnet sind, ihre Geschichten aus. Doch ich habe nichts zum Tausch zu bieten.«

Er zitterte. War es wirklich nur die Unterkühlung?

Brida zog einen Schemel heran und setzte sich neben die Bettstatt.

»Soll ich Euch von mir erzählen? Ganz ohne Tausch?« Sie lächelte ihn an.

»Ich würde mich freuen.«

»Nun, wo soll ich anfangen?«, fragte sie mehr sich selbst als ihn. »Vielleicht erkläre ich Euch, warum man Euch ausgerechnet zu mir brachte.«

Er nickte.

»Nun, ich habe Euch schon erzählt, dass Ihr Euch im Haus von Kapitän Hinrich Dührsen befindet. Er hat die Seefahrt erst vor knapp vier Jahren aufgegeben, weil er meinte, für eine Jungfer wie mich zieme es sich nicht mehr, immer nur auf Schiffen unter Männern zu leben.« Sie lachte über seinen erstaunten Gesichtsausdruck. »Ihr braucht gar nicht so zu schauen, es ist wahr, ich bin auf Schiffen aufgewachsen. Meine Mutter starb, als ich noch ein kleines Kind war. Ich habe keine deutlichen Erinnerungen mehr an sie. Mein Vater hätte mich zu einer Ziehmutter geben können, aber das brachte er nicht fertig, und so nahm er mich, kaum dass ich laufen konnte, mit an Bord. Ich wuchs unter Seeleuten auf, die mir wie Onkel oder große Brüder waren. Besonders gern ging ich dem Harald zur Hand, dem Knochenbrecher, der sich um größere und kleinere Verletzungen kümmerte. Von ihm habe ich viel über die Heilkunst gelernt. Manchmal gab es auch den einen oder anderen Messerstich zu versorgen, denn in den Hafentavernen kann es rau zugehen. Nun schaut nicht wieder so, ich selbst war nie in solchen Häusern. Die Männer hätten das nie zugelassen, die haben mich beschützt, so gut sie konnten, manchmal sogar so sehr, dass es mir zu arg wurde.«

»Ihr seid tatsächlich auf Schiffen groß geworden? Habt niemals in einem Haus gelebt?«

»Doch, hier in Heiligenhafen, wenn wir nicht auf Fahrt waren. Aber das war selten. Als Vater jünger war, unternahm er noch größere Reisen. Mehr als einmal sind wir bis nach Venedig gekommen. Aber meist waren es die üblichen Routen entlang der Hansestädte. Lübeck, Rostock, Stettin, Danzig. Manchmal auch Malmö oder Aalborg, aber seit den Kriegen mit den Dänen haben wir uns auf die heimischen Gewässer beschränkt. Vater hatte eine gute Nase. Wir sind nie von Kaperfahrern aufgebracht worden. Zweimal haben sie es versucht, aber unsere Kogge war schneller, wir haben sie jedes Mal abgehängt.«

»Ihr sprecht, als hättet Ihr gar keine Angst gehabt.«

»Ich war ein Kind, ich glaubte fest daran, dass mein Vater unbesiegbar war.«

Sie hielt einen Moment lang inne, als ihr ein Gedanke kam. »Sagt, könnt Ihr überhaupt etwas mit all den Orten anfangen, die ich nenne?«

Seine Antwort kam erstaunlich schnell. »Venedig ist eine Stadt in Italien, die anderen Orte, die Ihr nanntet, sind Hansestädte oder beliebte Handelspunkte.«

»Das wisst Ihr noch?«

»Ich habe nicht nachgedacht, einfach geantwortet.« Er schien selbst überrascht.

»Seid Ihr schon einmal in einer dieser Städte gewesen?«

»Ich nehme es an.«

»Als ich Euch das Siegel zeigte, ging Euch der Name Erik durch den Kopf. Was seht Ihr, wenn Ihr an … sagen wir mal an Lübeck denkt?«

»Häuser aus rotem Backstein neben schmalen Fachwerkbauten.«

»Was noch?«

Er schloss die Augen.

»Ihr sollt nicht lange nachdenken, sondern sagen, was Euch als Erstes einfällt.«

»Da ist nichts mehr.« Er atmete tief durch. »Bitte, erzählt weiter, vielleicht erwecken Eure Worte in meiner Seele Bilder zum Leben.«

Wie gewählt er sich ausdrücken konnte! Gar nicht so, wie sie es von einem Kaufmann erwartete. Sie brauchte eine Weile, um den Faden wieder aufzunehmen.

»Vor einigen Jahren starb Harald, und seitdem war ich diejenige, zu der die Männer kamen, wenn sie krank oder verletzt waren. So blieb es auch, als wir endgültig sesshaft wurden. Wenn jemand im Ort krank wird, kommt er als Erstes zu mir. Und meist kann ich helfen. Deshalb brachte Arne Euch her.«

»Vergebt mir, ich habe Euch noch gar nicht für Eure Hilfe gedankt. Dabei wäre ich ohne Eure und Arnes Hilfe nicht mehr am Leben.«

»Das war unsere Christenpflicht. Wir haben es gern getan.«

»Ich werde für immer in Eurer Schuld stehen.« Er richtete sich weiter auf und zog die Decke fester um die Schultern.

»Ich würde mich so gern erkenntlich zeigen. Wenn ich nur wüsste, wie.«

Auf einmal tat er ihr unsagbar leid, ein Mann, dem nichts geblieben war. Nicht einmal sein Name.

»Das könnt Ihr am besten, indem Ihr Euch schnell erholt. Wir finden schon noch heraus, wer Ihr seid. Irgendwer wird Euer Schiff gewiss erwarten und Erkundungen einziehen, wenn es ausbleibt.«

»Sicher«, sagte er, aber es klang nicht überzeugt.

»Ihr zweifelt?«

»Was ist, wenn Eure erste Vermutung zutrifft? Wenn meine Heimat Dänemark ist?«

»Ihr redet mit lübschem Zungenschlag.«

»Det slår mig så let, det danske.«

»Es fällt Euch ebenso leicht, Dänisch zu sprechen«, übersetzte Brida seine Worte. »Was hat das schon zu bedeuten? Viele Kaufleute beherrschen mehrere Sprachen.«

»Aber in welcher Sprache träumt Ihr, Jungfer Brida?«

Es war keine Frage. Es war eine Feststellung.

Am frühen Abend folgte Claas Wippermann Kapitän Hinrichs Einladung zum Abendessen. Brida hatte ihn nicht gesehen, seit sie das letzte Mal bei seiner Frau gewesen war. Sie hatte ihn als tatkräftigen, gut aussehenden Mann von Mitte dreißig in Erinnerung, doch in den letzten beiden Wochen schien er um Jahre gealtert. Ob er wohl die Nächte am Krankenlager seines Weibes gewacht hatte? Wie anders sollte sie sich sonst die tiefen Augenringe und die verhärmten Gesichtszüge erklären, die nur noch einen schwachen Abglanz seiner einstigen männlichen Schönheit boten?

Es gab Steinbutt im Kräuterbett, dazu köstliche Pasteten. Die alte Köchin Elsa hatte sich wieder selbst übertroffen.

Stadtrat Claas hob anerkennend die Brauen, als er den Fisch sah. »Das scheint mir einer der ersten guten Fänge des Jahres zu sein.«

»Denk ich mal.« Hinrich lachte. »Deshalb hab ich dich ja eingeladen.«

Marieke kredenzte ihnen noch den guten italienischen Wein, den der Kapitän für besondere Gelegenheiten aufhob.

»Ich habe gehört, einer der Schiffbrüchigen hat überlebt?«, fragte Claas, während er einen Schluck des schweren roten Weines kostete.

»Ja, Brida kümmert sich um ihn.« Hinrich warf seiner Tochter einen auffordernden Blick zu, und so erzählte sie von Erik, wie sie ihn jetzt nannte.

»Ein unbekanntes Siegel?«, fragte Claas, als sie geendet hatte. »Dürfte ich es sehen?«

»Darauf haben wir gehofft«, sagte Brida. »Wartet, ich hole es.«

Als sie zurückkam, schenkte ihr Vater seinem Gast gerade nach. Brida reichte Claas die beiden Teile Siegelwachs.

»Bemerkenswert. Es hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem dänischen Königssiegel.«

»Bis auf die drei Löwen«, bestätigte Hinrich. »Hast du es schon mal gesehen?«

»Nein, aber ich könnte es herausfinden, wenn du es mir überlässt.«

Der alte Kapitän nickte.

»Ob es wohl ein dänisches Siegel ist?«, fragte Brida.

»Möglicherweise«, antwortete Claas. »Du glaubst, dieser Erik – oder wie immer er heißen mag – könnte ein Däne sein?«

»Er sagte, er habe auf Dänisch geträumt. Und als er zu sich kam, sprach er zuerst Dänisch. Andererseits hat er den unverkennbaren lübschen Zungenschlag, wenn er Deutsch spricht.«

»Viele Lübecker Kaufleute sprechen Dänisch«, sagte Claas. »Vielleicht war er auf einem dänischen Schiff. Aber seltsam ist es schon. Ich würde ihn gern persönlich kennenlernen.«

»Er schläft schon. Ich habe mich heute lange mit ihm unterhalten. Er mag es nicht zugeben, aber er ist noch sehr geschwächt. Es ist nicht nur die Kälte. Ich erzählte doch von seiner Wunde. Er hat vermutlich ziemlich viel Blut verloren.«

»Sag mir Bescheid, wenn es ihm besser geht. Vielleicht kann ich ihm helfen, etwas über seine Herkunft herauszufinden.«

2. Kapitel

Wasser, so kalt, dass es ihm den Leib zerreißt. Wellen peitschen über seinen Kopf. Eine Planke, unmittelbar vor ihm. Glitschig. Mit aller Kraft muss er sich halten, klemmt sie zwischen Arm und Achsel fest. Versucht, mit den Wellen zu treiben. Auf einmal ist die Planke fort. Eine Frau hängt schlaff in seinen Armen, ihr nasses blondes Haar fällt ihm in die Augen, raubt ihm jede Sicht. Ich darf nicht loslassen! Niemals loslassen. Ihr Gewicht zieht ihn in die Tiefe. Eine Welle schwappt über ihn hinweg, Wasser dringt in Mund und Nase. Er hustet, ringt nach Luft. Versucht, mit seiner Last zu schwimmen. Ich werde dich niemals loslassen! Plötzlich ist sie fort. Er liegt wieder über der Planke, allein inmitten des Meeres.

In diesem Moment schreckte er aus seinem Traum auf. Das Kohlebecken neben seinem Lager glühte noch, warf einen schwachen Lichtschimmer in den Raum, aber draußen war alles dunkel. Wie lange mochte er geschlafen haben? Langsam richtete er sich auf, immer darauf bedacht, die wärmenden Decken nicht loszulassen. Die Wunde in seiner Brust pochte so wie schon während des ganzen Tages. Er versuchte, nicht daran zu denken. Es gab Wichtigeres. Er war also in Heiligenhafen. Ein Name, der keine Bilder in ihm hervorrief. Anders als Lübeck und anders als … Kopenhagen. Wieso kam ihm gerade jetzt die dänische Hauptstadt in den Sinn? Bunt verputzte Häuserfronten, ganz anders als der rote Lübecker Backstein.

Brida hatte vom Krieg zwischen Dänemark und der Hanse gesprochen. Verdammt, wenn er bloß gewusst hätte, wohin er selbst gehörte! Es fiel ihm ebenso leicht, Deutsch mit ihr zu sprechen wie Dänisch zu denken. Wenn er wirklich ein Däne war, konnte er nicht darauf hoffen, dass irgendjemand nach ihm suchte. Jedenfalls nicht hier.

Was war das eben für ein Traum gewesen? Die seltsame Frau, die so kurz aufgetaucht und dann verschwunden war. War sie eine wirkliche Erinnerung? Oder nur ein wirres Traumgespinst?

Irgendwer hatte die Fensterläden geschlossen, während er schlief. Vermutlich Marieke. Beim Gedanken an die Magd musste er lächeln. Ein scharfes Geschütz, hätte sein Bruder gesagt. Bruder? Er hatte also einen Bruder. Bruder … Name? Gesicht? Nein, da war nichts, nur eine Wand aus Nebel.

Erik … War das sein Name? Das Wort fühlte sich fremd an. Keine vertraute Wärme, nicht der Drang zu antworten, wenn er so gerufen wurde. Nichts. Andererseits - er hatte anfangs nicht einmal bemerkt, dass er verwundet war, bis Brida es ihm gesagt hatte. Und jetzt konnte er den pochenden Schmerz in der Brust kaum mehr verdrängen. Das Gespür für seinen Körper war zurückgekehrt. Vielleicht brauchte seine Erinnerung nur ein bisschen länger?

Immer wieder fischte er in seinem Gedächtnis nach bekannten Bildfetzen, aber er vermochte nichts wirklich zu fassen.

Ob sein Körper ihm wohl schon wieder ganz gehorchte? Er schob die Beine aus dem Bett. Die hölzernen Dielenbretter fühlten sich unter seinen nackten Füßen wärmer an als erwartet. Das Kohlebecken erfüllte seinen Zweck vortrefflich, obwohl es nicht besonders groß war. Ganz anders als … ja, als was? Das Bild eines silberfarbenen Beckens flackerte auf, ein massiger Löwenkopf war in das Metall getrieben, die Füße glichen Löwenpranken. Er versuchte, die Vorstellung festzuhalten, zu betrachten, doch schon verschwand sie wieder.

Immerhin fühlten seine Beine sich nicht mehr an, als wären sie abgestorben, und das unangenehme Kribbeln hatte auch nachgelassen. Doch kaum versuchte er, sich aufzustellen, schoss ihm der Schmerz durch die Unterschenkel. Kraftlos ließ er sich zurücksinken, atmete tief durch, wollte sich auf etwas anderes als das Brennen in den Beinen und das Pochen in der Brust besinnen.

Brida … Sie war keine dieser scheuen Jungfern, die mit schüchternem Augenaufschlag aus ihrem lieblichen Puppengesicht schauten. Keine wie … verdammt, eben war da doch noch ein Gesicht gewesen, ein Name. Aber schon war beides wieder entschwunden.

Er blickte sich weiter um. Eine kleine Kammer, das hatte er schon bemerkt, sauber und gepflegt. Auf einem winzigen Tisch stand eine Waschschüssel aus Steingut, daneben ein Schemel.

Die Wände der Stube waren mit Holz vertäfelt. Schlicht und zweckmäßig. Nicht so aufwendig wie … Wieder riss der Gedanke ab, kurz bevor er ihn fassen konnte.

Warum unterschied er, ob etwas kostbar oder gewöhnlich war, während er nicht einmal mehr seinen Namen wusste? Nun gut, er war kein neugeborenes Kind, er hatte in der Welt gelebt, er hatte Erfahrungen gesammelt. Anscheinend konnte er darauf zurückgreifen, um sich zurechtzufinden. Nur seine persönliche Vergangenheit hatte das Schicksal ihm geraubt. Warum?

Er legte sich wieder hin, schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Er zitterte noch immer, aber nicht vor Kälte. Zwar hatte er es sich nicht eingestehen wollen, aber er hatte Angst. Das Gefühl der Hilflosigkeit wurde unerträglich. Sein Körper war zu schwach, sich zu erheben, und sein Gedächtnis hatte ihn verlassen. Wie sollte er sich wehren? Wie erkennen, wer Freund oder wer Feind war?

Er dachte an Brida. Ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt, die so viel Selbstsicherheit ausstrahlte. Ihre dunkelblauen Augen, die ihn trotz eines kecken Blitzens voller Mitgefühl betrachtet hatten. Ihre Fürsorge war echt. Seine Sorgen schienen unnötig. Trotzdem blieb die Angst. Gerade weil er nicht wusste, wovor er sich zu fürchten hatte.

»Guten Morgen, junger Herr.«

Mariekes Stimme riss ihn aus dem Schlaf, und er fuhr auf. Sofort meldete sich der Schmerz in der Brust. Er zuckte zusammen.

»Immer mit der Ruhe.« Die Magd lächelte ihn freundlich an, in ihren Händen ein Tablett mit Brot, Käse und einem Krug Milch. »Das Frühstück läuft nicht weg.«

Sie zog den Schemel neben sein Bett und stellte das Tablett darauf ab. Dann warf sie einen Blick in das Kohlebecken. »Soll ich noch einmal anheizen?«

Er nickte.

»Ich bin gleich wieder da.« Mit geübtem Griff hob Marieke das Becken vom Ständer und trug es hinaus. Er stellte sich vor, wie sie die Asche ausleerte und neue Kohlen auflegte. Wie sie die Glut entfachte und in die Kohlen blies.

Ein neues Bild. Wieder Kohlen, doch nicht in einem Becken. Ein Blasebalg. Funken stieben aus dem Kohlebett, der Schmied fasst das lang gezogene, glühende Eisen mit einer Zange, legt es auf den Amboss. Schläge zwingen es in eine neue Form. Eine Klinge wird geboren …

Unwillkürlich griff er nach seiner Wunde. Ein Schwerthieb, hatte Brida gesagt.

»Geht es Euch nicht gut?« Marieke war zurückgekehrt und stellte das Becken zurück auf das Gestell. »Habt Ihr Schmerzen?«

Er ließ die Hand sinken. »Nicht der Rede wert, ich danke Euch.«

»Man kann’s mit der Höflichkeit auch übertreiben. Und ich bin nu wirklich kein vornehmes Fräulein, das mit Ihr angeredet wird. Also, keine falsche Scham. Zwackt’s Euch arg? Ich werd’s Fräulein Brida sagen, die weiß schon, was zu tun ist.«

»Ist schon in Ordnung«, wehrte er ab.

Marieke blieb unmittelbar vor ihm stehen und verschränkte die Arme vor dem üppigen Busen. »So sind sie, die Mannsbilder. Die einen tun noch im Sterben so, als könnte sie nichts dahinraffen, und die andern sterben schon an einem kleinen Schnupfen. Aber ich hab noch keinen getroffen, der verständig genug war, ehrlich zu sagen, wo’s fehlt.«

»Wenn ich es recht bedenke, ich glaube, ich kriege doch einen Schnupfen.« Er grinste sie breit an.

Marieke lachte. »Ihr seid mir ja ein Schelm. Ich hoffe, das Frühstück schmeckt Euch. Falls nicht, meldet Euch, dann schau ich, was ich sonst noch finde.« Sie verließ die Kammer.

An dem Frühstück war nichts auszusetzen. Das Brot schien gerade erst aus dem Ofen gezogen worden zu sein. Der Käse war herzhaft und würzig, erinnerte ihn an satte grüne Wiesen unter einem blauen Himmel. Seltsam, dass ein Geschmack solche Bilder bewirken konnte.

Nachdem er gegessen hatte, ließ er sich ins Kissen zurücksinken und versuchte, seine Erinnerungsfetzen zu ordnen.

Er hatte einen Bruder. Doch es gab keinen Namen, kein Gesicht, kein Alter. War er der Ältere oder der Jüngere?

Seine Familie musste wohlhabend sein. Aber waren es Dänen oder Deutsche? Er hatte zuletzt Dänisch geträumt, seine Gedanken waren immer wieder ins Dänische geglitten, wenn er allein war, doch kaum standen ihm Brida oder Marieke gegenüber, war es für ihn selbstverständlich, Deutsch zu sprechen und zu denken. So, als würden beide Sprachen zu ihm gehören. Vermutlich hatte er in beiden Ländern viel Zeit verbracht.

Er hatte schon einmal gesehen, wie ein Schwert geschmiedet wurde. Ein Schwert hatte ihn verletzt. Konnte er mit einer solchen Waffe umgehen? Unwillkürlich krümmten sich die Finger seiner rechten Hand, als würde er einen unsichtbaren Schwertgriff umfassen. Seine Muskeln zuckten, als wüssten sie, was zu tun war, während in seinem Kopf nur weißer Nebel trieb.

Das Klappen der Tür riss ihn aus seinen Betrachtungen. Es war Brida.

»Guten Morgen.« Sie lächelte ihn an. »Marieke meinte, ich sollte unbedingt nach Euch schauen.«

»Marieke übertreibt, aber ich freue mich, Euch zu sehen, Jungfer Brida.«

Sie nahm das Tablett vom Schemel, um sich setzen zu können. Bildete er es sich ein, oder war es tatsächlich eine Geste der Verlegenheit, als sie sich eine Strähne ihres langen braunen Haars aus dem Gesicht strich?

»Habt Ihr Schmerzen?«, fragte sie.

»Ein Pochen in der Brust, aber es ist auszuhalten. Heute Nacht wurde ich wach und wollte mich hinstellen. Es gelang mir nicht.«

»Weil Ihr zu schwach wart?«

»Womöglich. Aber es war ein heftiger Schmerz, der mir durch die Unterschenkel zuckte.«

»So, als hättet Ihr einen Krampf?«

Er nickte. Das traf es ziemlich genau.

»Das wird vergehen. Ich habe es schon des Öfteren bei Männern erlebt, die lange im kalten Wasser getrieben sind. Mehr Sorgen macht mir das Pochen in Eurer Brustwunde. Ich dachte zunächst, sie sei nicht so schwer.«

»Es ist nicht schlimm«, wehrte er ab.

»Das mag sein«, antwortete Brida. »Aber wenn es pocht, weist es auf den Beginn einer Entzündung hin, und im schlimmsten Fall wird daraus ein hässliches Wundfieber.«

Als er nichts sagte, sprach sie weiter. »Keine Angst, dagegen kann ich etwas tun. Es gibt Salben, die ziehen die Gifte aus dem Fleisch. Ich hole sie gleich.«

Sie hatte die Kammer kaum verlassen, da kehrte sie auch schon mit einem Tiegel und einem Körbchen mit frischem Verbandszeug zurück. Er spürte kaum, wie ihre geschickten Finger den Verband lösten, nur einmal einen kurzen ziehenden Schmerz, weil die unterste Lage auf der Wunde klebte.

Die Wundränder waren gerötet und leicht geschwollen.

Er sah ihren prüfenden Blick.

»Ist es schlimm?«, fragte er.

»Das bereitet mir weniger Kopfzerbrechen.« Sie musterte ihn forschend. »Ihr könnt Euch noch immer nicht daran erinnern, wie Ihr verwundet wurdet?«

Er schüttelte den Kopf.

»Gestern dachte ich, es sei eine frische Verletzung. Heute sieht sie aus, als sei sie schon einige Tage alt.«

»Und was schließt Ihr daraus, Jungfer Brida?«

Sie öffnete den Tiegel und strich behutsam die kühle Salbe auf die Wundränder. Sofort ließ der Schmerz merklich nach.

»Ich weiß es nicht … Erik.« Zum ersten Mal nannte sie ihn bei dem Namen, den sie bislang vermieden hatte. »Womöglich seid Ihr schon mit dieser Verletzung an Bord Eures Schiffs gegangen. Aber vielleicht habt Ihr auch nur ungewöhnlich gutes Heilfleisch.«

»Heute Nacht sind mir einige flüchtige Erinnerungen gekommen. Aber sie verraten mir nichts über meine Herkunft oder das Geschehen der vorletzten Nacht.«

Er erzählte ihr, was er sich bislang zusammengereimt hatte. Erwähnte sogar das Bild des Schmiedefeuers.

»Das passt«, antwortete Brida, während sie den Rest der Salbe einmassierte und die Wunde neu verband. »Ihr wart vornehm gekleidet. Ich habe Marieke gebeten, Eure Kleidung zu waschen und zu flicken. Allerdings befürchte ich, dass sie auch danach nicht mehr viel vom einstigen Glanz zeigen wird.«

»Das ist mir gleich«, erwiderte er. »Ich stehe ohnehin schon viel zu tief in Eurer Schuld. Ich hoffe, ich kann sie irgendwann begleichen.«

»Wisst Ihr noch, ob Ihr lesen und schreiben könnt?«

Vor seinem inneren Auge tauchten Buchstaben auf. Ein Pergament und eine Feder. Endlose Reihen von Zahlen.

»Ja, das kann ich. Und das Addieren und Subtrahieren beherrsche ich auch.« Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln.

»Also doch ein Kaufmann.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Einer, der seine Ware notfalls auch mit dem Schwert verteidigen kann.«

»Wenn ich es denn kann«, murmelte er mit Blick auf ihre Hände, die gerade den letzten Knoten in den Verband knüpften. »Mir scheint es eher, als hätte mein Gegner gewonnen.«

»Glaubt Ihr, dann würdet Ihr noch leben?«

Eine gute Frage. Er schloss die Augen, versuchte, nur auf seinen Körper zu achten, auf das Zucken der Muskeln im rechten Arm. Hochreißen, Ausfall, Parade, das Geräusch, wenn Metall über Metall schrammt. Eine schnelle Drehung. Verdammt, er ist nicht schnell genug …

Bevor er die Erinnerung fassen konnte, war sie schon wieder verblasst. Er öffnete die Augen. Sah die Frage in Bridas Gesicht.

»Ich muss wohl gekämpft haben«, sagte er leise. »Aber ich weiß nicht, mit wem und warum. Nicht einmal, wie es ausgegangen ist.«

»Ihr habt überlebt. Das ist das Wichtigste.«

Er nickte schwach.

»Gestern war der Stadtrat Claas in unserem Haus. Ihr habt schon geschlafen, aber er würde Euch gern kennenlernen. Er will auch herausfinden, zu wem das Siegel gehört.«

»Ihr gebt Euch sehr viel Mühe, dafür danke ich Euch.«

»Das klingt aber nicht so, als würdet Ihr Euch freuen. Was geht Euch im Kopf herum?«

Sie blickte ihn offen und freundlich an.

»Was ist, wenn sich herausstellt, dass ich tatsächlich Däne bin? Ihr spracht vom Krieg Dänemarks gegen die Hanse.«

»Das spielt keine Rolle. Ich habe Euch schon einmal versichert, dass hier jeder Gastfreundschaft genießt. Die der Stadt, aber auch die unseres Hauses. Die Zeiten, da Schiffbrüchige als Beute angesehen wurden, sind vorbei. Und außerdem – Stadtrat Claas hätte überhaupt keinen Grund, Euch wegen einer möglichen dänischen Herkunft gram zu sein. Seine Frau ist selbst zur Hälfte Dänin.«

Ihre Worte waren so aufrichtig wie alles, was sie bislang gesagt hatte. Und doch blieb die Angst. Eine Angst, die er nicht greifen konnte, die ihn aber niemals losließ. Die besagte, es würde etwas Furchtbares geschehen, wenn jemand herausfände, wer er war. Andererseits, was konnte ihm schon widerfahren, wenn er es nüchtern betrachtete? Wenn er ein Deutscher war, war alles in Ordnung. Man würde seine Herkunft ergründen, seine Familie würde seine Retter großzügig entlohnen, und er könnte nach Hause zurückkehren. Wenn er ein Däne war, gäbe es schlimmstenfalls eine Lösegeldforderung, die so hoch wäre, dass sich beide Seiten auf monatelanges Verhandeln einstellen würden. Auch in dem Fall würde er irgendwann unversehrt heimkehren.

Wovor um alles in der Welt fürchtete er sich dann?

Ein neues Bild. Ein dunkles Gewölbe. Wasser läuft am rauen Mauerstein hinab, an den Wänden hängen Ketten. Es riecht nach Moder, Fäulnis und Angst. Irgendwo schreit jemand. Ein Schrei, der ihn nie mehr loslassen wird …

»Was ist mit Euch? Ihr seid blass, als hättet Ihr gerade den Tod erblickt.«

Bridas Stimme riss ihn zurück in die Wirklichkeit.

»Ich … ich weiß nicht. Manchmal sehe ich seltsame Bilder.«

»Was habt Ihr gesehen?«

Bislang hatte er ihr nichts verschwiegen, ihr alles offenbart, da er ihre aufrechte Gesinnung spürte, ihre Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Doch irgendetwas mahnte ihn, ihr nichts von diesem letzten Bild zu sagen.

»Ich hatte heute Nacht einen seltsamen Traum. Sagt, Jungfer Brida, war eine Frau unter den Toten, die das Meer zurückgab?«

»Eine Frau?« Sie starrte ihn verblüfft an. »Nein, es waren acht Seeleute. Keiner von ihnen zeigte äußere Verletzungen. Sie sind vermutlich allesamt ertrunken.«

Er nickte schwach.

»Was habt Ihr geträumt?«

»Wirres Zeug«, wich er aus. »Ich war wieder im Wasser, hielt mich an einer Planke fest. Plötzlich war die Planke verschwunden, und ich hielt stattdessen eine leblose Frau in den Armen, versuchte sie zu retten. Dann war sie fort, und ich lag wieder auf der Planke.«

»Habt Ihr sie erkannt?«

Er schüttelte den Kopf. »Vermutlich klammere ich mich an die absurdesten Hirngespinste, um etwas über mich selbst zu erfahren.«

Sie drang nicht weiter in ihn, und dafür war er ihr dankbar.

Am frühen Nachmittag kam Marieke wieder, ein Bündel Kleidungsstücke und ein Paar Stiefel vor der Brust.

»Ich habe mich um Eure Sachen gekümmert«, sagte sie. »Die Stiefel sind trocken und gefettet.« Sie ließ sie vor dem Bett zu Boden fallen und legte die Wäsche auf den Schemel.

»Vielen Dank.«

»Gern geschehen. Ich habe auch versucht, das Hemd zu flicken, aber ich fürchte, viel macht’s nicht mehr her. Das Blut ist nicht ganz rausgegangen.« Sie nahm es vom Stapel, faltete es auf und zeigte es ihm. Der weiße Stoff sah sauber aus. An der Brust war eine Stelle geflickt, genau dort, wo ihn der Schwerthieb getroffen hatte, und ringsum waren einige kaum sichtbare gelbliche Ränder geblieben, die sich jedem noch so hartnäckigen Schrubben entzogen hatten.

»Danke, Marieke, das ist tadellos. Du bist eine wahre Perle.«

»Nu aber nicht übertreiben!« Sie zwinkerte ihm zu und legte das Hemd zurück auf den Stapel. »Wenn Ihr später Hilfe beim Ankleiden braucht, ruft nur.«

Nachdem sie die Kammer verlassen hatte, richtete er sich auf. In der Nacht war es unmöglich gewesen, auch nur einen Atemzug lang auf den eigenen Füßen zu stehen. Wie mochte es jetzt sein?

Er schwang die Beine aus dem Bett. Der Dielenboden kam ihm immer noch erstaunlich warm vor unter den nackten Sohlen. Vorsichtig verstärkte er den Druck seiner Füße. Kein Schmerz. Ein Ruck, dann stand er. Wackelig, aber immerhin. Zwei Schritte bis zu dem Tischchen mit der Waschschüssel. Mühelos. Er griff nach seiner Kleidung und zog sich an. Seltsam, dass er es heute zum ersten Mal so bewusst tat, als wäre ihm jede der bekannten Bewegungen neu. Zuletzt zwängte er sich in die Stiefel. Zwar war er immer noch nicht ganz sicher auf den Beinen, aber um sich ein wenig im Haus umzusehen, würde es schon reichen.

Von seiner Kammer aus trat er in eine schmale Diele. Am hinteren Ende entdeckte er eine ebenso schmale Treppe, die nach oben führte. Links und rechts gingen weitere Räumlichkeiten ab, doch die Türen waren geschlossen. Nur eine stand offen. Die zur Küche, die sich unmittelbar neben der Eingangstür befand.

»Na, da schau her!« Marieke trat aus der Küche und musterte ihn mit in die Hüften gestemmten Händen. »Da bringt man dem jungen Herrn bloß seine Sachen, und schon glaubt er, er müsse das Bett verlassen und überall rumspazieren.«

»Keine Sorge, ich glaube nicht, dass ich es muss. Ich wollte es einfach nur tun.« Sein Lächeln zeigte die erhoffte Wirkung.

»Schon wieder Schelm, was?« Sie drohte ihm spaßhaft mit dem Finger. »Na, dann kommt und setzt Euch her. Fräulein Brida und ihr Vater sind beide aus.«

Die Küche war einfach ausgestattet, aber sie strahlte eine Wärme aus, die ihm eine Geborgenheit vermittelte, die er lange nicht gespürt hatte. Neben der Herdstelle stand ein großer Eichentisch. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte er den kleinen Knaben von etwa fünf Jahren, der unter dem Tisch spielte.

»Das ist der Hans«, sagte Marieke. »Elsas Enkel.«

»Elsa?«

»Die Köchin vom Herrn Käpt’n. Sie wohnt drei Straßen weiter, kümmert sich nebenher noch um den Haushalt ihres Schwiegersohns. Na, und ich pass manchmal auf den Kleinen auf.«

»Und seine Mutter?«

»Die hat der Herrgott letztes Jahr heimgerufen. Und der Peter, ihr Mann, der ist meist auf See. Der wird sich so bald wohl auch kein neues Weib ins Haus holen, der hat nämlich an der Agnes gehangen. Na, was bleibt der Elsa da anders übrig, als sich um den Lütten zu kümmern.«

Der kleine Junge war auf ihn aufmerksam geworden und kletterte unter dem Tisch hervor.

»Wer bist du?«

Wie schnell ihn doch die unschuldige Frage eines Kindes in Verlegenheit bringen konnte! Zum Glück sprang Marieke ihm bei.

»Das ist der Herr Erik. Und du solltest nicht so neugierig sein, das ziemt sich nicht.«

»Aber meine Pferde kann ich ihm zeigen, oder?« Ohne die Antwort abzuwarten, verschwand der Junge wieder unter dem Tisch und kam mit drei kunstvoll geschnitzten Holzpferdchen zurück.

»Die hat mir mein Papa geschenkt«, sagte er stolz und stellte die Figuren auf den Tisch. Einen Rappen, einen Braunen und einen Schimmel.

»Hast du schon mal so schöne Pferde gesehen?«

»Nein, so schöne habe ich noch nie gesehen.«

»Wart mal, ich habe auch Reiter dafür.« Hans kroch wieder unter den Tisch und holte drei bemalte Gliederpuppen hervor, die wie Ritter aussahen.

»Guck mal, Erik, die haben alle ein Wappen.« Der Junge hielt sie ihm vor die Nase. »Der ist aus Lübeck, der ist aus Hamburg, und den da … das vergess ich immer, das ist so’n komischer Name.«

Eine stilisierte Burg mit einem Turm, die über Wellen stand.

»Vordingborg«, entfuhr es ihm, noch ehe er nachgedacht hatte.

»Ja, genau, Vordings … burg«, jubelte Hans. »Das ist einer von den Dänen, deshalb ist er auch der schwarze Ritter.«

»Hans, jetzt ist gut«, mischte sich Marieke ein. »Du hast deine Pferdchen gezeigt, nu spiel mal schön wieder allein.«

Er hörte kaum, wie Hans quengelte und Marieke unerbittlich blieb. Irgendetwas an diesem Wappen war ihm so unendlich vertraut vorgekommen, doch wieder gelang es ihm nicht, das Bild zu fassen.

3. Kapitel

Brida war froh, dass der Besuch bei Anna nicht zu lange gedauert hatte. Die Zeiten, da Claas’ Frau sich auf den neuesten Klatsch gefreut hatte, waren vorbei. Ganz gleich, was Brida auch erzählte, Anna hatte Mühe, ihr zu folgen. Mehr als einmal fielen der Kranken die Lider zu. Nicht aus Langeweile, sondern vor Schwäche. Nichts erinnerte an die tatkräftige Frau, die den großen Haushalt und die Bücher mit dem Geschick eines Handelsherrn geführt hatte. Ihr Gesicht war schmal geworden, bleicher als das Laken, auf dem sie ruhte, mit eingefallenen Augen, aus denen schon der Tod leuchtete. Brida hasste dieses Siechtum, aus dem es keine Rückkehr gab. Das langsame Sterben, das den Tod nur hinauszögerte, der als Feind oder als Erlöser kommen mochte. Sie sehnte sich nach der Ruhe ihres eigenen Heims, nach einem Becher warmer Milch mit Honig, fernab der Verzweiflung, die sie in Claas’ Haus verspürte. Kein Wunder, dass der Stadtrat in den letzten Tagen so gealtert war.

»… nein, der ist der Schnellere«, hörte sie Hans’ helle Kinderstimme, als sie das Haus betrat. »Der Weiße ist immer schneller.«

»Aber jetzt ist Nacht, und der Schwarze hat sich hier versteckt.« Das war Vaters Stimme. Brida lächelte. Sie wusste, wie gern ihr Vater den kleinen Hans mochte.

»Ha, aber ihr habt nicht mit mir gerechnet!« Ein seltsames Klappern ging über den Tisch. »Jetzt schlagen wir den schwarzen Ritter!« Brida zuckte zusammen. Das war doch Eriks Stimme!

Marieke kam ihr entgegen und nahm ihr den Umhang ab.

»Mannsvolk«, seufzte die Magd und verdrehte die Augen. »Hans hat zwei Spielgefährten gefunden.«

»Vater und Erik?«

Marieke nickte. »Der junge Herr wollte unbedingt aufstehen, und ich war so dumm, ihn in die Küche zu bitten. Seither hat Hans ihn in Beschlag genommen. Und als der Herr Käpt’n kam, hat er gleich mitgemacht.«

So war ihr Vater. Er liebte Kinder und begegnete ihnen mit der gleichen Zuneigung, die er ihr schon immer geschenkt hatte.

Dass Erik ihm darin ähnlich war, erfüllte Brida mit einer unerklärlichen Freude.

»Und ich muss drunter leiden.« Marieke seufzte. »Seit einer Stunde höre ich mir Geschichten von Raubrittern und Helden an, die mit ihren Holzpferden über den Tisch galoppieren.«

»Du weißt, dass Vater den Kleinen liebt.«

»Ich weiß. Alte Männer werden wieder wie Kinder. Aber der Erik ist ja nun weiß Gott nicht alt. So ’n hübscher junger Kerl, und dann spielt er wie ein Kind, anstatt dahin zu schauen, wohin ein ordentliches Mannsbild schauen sollte.«

Brida lachte. »Das spricht doch eher für ihn, dass er sich auch mit den Früchten derartiger Blicke zu beschäftigen weiß.«

»Aber Fräulein Brida!«, kam es empört aus Mariekes Mund. »An solche Dinge habe ich nun wirklich nicht gedacht.«

»An die Früchte?« Brida zwinkerte ihrer Magd zu und ging in die Küche.

Ihr Vater hob den Kopf. »Ah, Deern, du bist schon zurück?«

»Ja, Anna hatte nicht so viel Kraft. Und ihr macht hier die Marieke wirr?«

»Ja, wir müssen doch den schwarzen Ritter besiegen!«, rief Hans. »Der Käpt’n ist der schwarze Ritter.«

»Aha. Und wer ist der Herr Erik?«

Der Genannte grinste sie breit an. »Zu Gast beim weißen Ritter Hans.«

Bei aller Unbeschwertheit waren Erik die Strapazen der letzten Tage deutlich anzusehen. Brida war sich sicher, dass er nach wie vor Schwierigkeiten hatte, fest auf den Beinen zu stehen, auch wenn er alles tat, sich nichts anmerken zu lassen.

Die Haustür klappte. Elsa kam, und ihr Erscheinen war so machtvoll, dass der weiße Ritter widerspruchslos den Kampf für diesen Tag beendete. Bridas Vater lud Erik ein, ihm und seiner Tochter in die gute Stube zu folgen. Als Erik sich vom Tisch erhob, sah Brida, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Er musste sich abstützen, und seinen Bewegungen fehlte noch die Geschmeidigkeit, die sie eigentlich von ihm erwartet hätte.

Im Kamin in der Stube flackerte ein munteres Feuer und verströmte einen angenehmen Duft nach Wald und Freiheit. Marieke hatte wohl etwas Lavendel ins Feuer geworfen.

Brida folgte Eriks Blick, der durch den Raum wanderte und die Borde aus Eichenholz musterte, in denen sich im Laufe der Jahre allerlei Kram angesammelt hatte, den der Kapitän von seinen Reisen mitgebracht hatte. Besonders lang betrachtete er das geschnitzte Modell einer Kogge, das auf dem Kaminsims stand.

»Die Adela«, erklärte ihr Vater, der Eriks Blick ebenfalls gefolgt war. »Mein Schiff.«

»Fährt sie noch für Euch?«

»Nehmt doch Platz.« Hinrich wies auf einen der beiden Lehnstühle vor dem Kamin. Auch ihm war aufgefallen, dass es Erik schwerfiel, längere Zeit zu stehen. Brida zog sich einen kleineren Stuhl heran, und auch ihr Vater setzte sich.

»Ja, die Adela fährt noch. Ich habe sie vor einigen Jahren an einen jüngeren Mann übergeben. Kapitän Cunard ist mir empfohlen worden, und er ist seinem Ruf gerecht geworden. Die Adela bringt uns weiterhin gute Erträge ein.«

»So seid Ihr Anteilseigner?«

Ob die Erzählung ihres Vaters wohl wieder Erinnerungen in Erik wachrief?

Der Kapitän nickte. »Früher fuhr ich für ein Viertel, jetzt ist’s ein Achtel, aber es reicht, um es mir an Land behaglich zu machen.«

Erik nickte.

»Ihr kennt Euch aus mit der Seefahrt?«, fragte Hinrich.

»Ich nehme es an, denn was Ihr berichtet, ist mir nicht fremd, auch wenn ich mich nicht erinnere, wo ich es gelernt habe.«

»Wirklich sonderbar. Ihr wisst nicht mehr, wer Ihr seid, aber Eure Persönlichkeit und Eure Fähigkeiten habt Ihr nicht eingebüßt.«

»Nur meine Vergangenheit und meinen Namen«, ergänzte Erik leise.

»Glaubt Ihr, irgendetwas geschieht auf Gottes Erden ohne Sinn?« Der alte Kapitän schaute Erik tief in die Augen. »Wovor mag das Schicksal Euch wohl bewahren wollen? Oder wohin mag es Euch führen?«

»Wie Ihr das sagt, klingt es so, als sei es ein Vorteil, nicht mehr zu wissen, wohin man gehört.« Brida nahm die Bitterkeit in Eriks Stimme wahr.

»Kein Vorteil, aber vielleicht eine Möglichkeit, das Leben mit anderen Augen zu sehen. Ganz ohne die Zwänge Eurer Herkunft.«

In Eriks Gesicht schien Überraschung mit Verärgerung zu kämpfen. Nicht jeder konnte Vaters Weisheiten folgen. Ob Erik es wohl vermochte? Bridas Gedanken schweiften zurück. Zurück in eine Zeit, da Vater ihr auf seine Art die Welt erklärt hatte.

Auf dem Meer bist du so frei wie nirgendwo sonst, aber doch bist du auch die Gefangene deines Schiffs, pflegte er zu sagen. Hier zählt der Mensch, nicht der Stand. Und dann hatte er ihr erlaubt, wie ein Schiffsjunge in die Takelage zu klettern, auch wenn es sich nirgendwo sonst auf der Welt für ein Mädchen geziemt hätte.

»Habt Ihr eine Ahnung, wie quälend es ist, wenn man nicht einmal weiß, welchem Volk man angehört?« Sie hörte die Verzweiflung aus Eriks Stimme heraus. »Vor allem, wenn es Kriegszeiten sind?«

»Der Krieg hat nichts mit den Menschen zu tun«, antwortete Bridas Vater. »Da geht’s nur um Gewinn, Steuern und Zölle. Eigentlich nichts, wofür sich das Sterben lohnt.«

»Nur wenn es um Heimat und Familie geht, sollte sich ein Mann bereitwillig dem Tod stellen«, führte Erik den Gedanken zu Ende. »Heimat und Familie.«

Seine Worte schnitten Brida ins Herz. Der Toten und der verlorenen Heimat konnte man gedenken. Um wie vieles grausamer mochte es indes sein, nicht mehr zu wissen, wen man liebte und zu wem man gehörte.

»Herr Käpt’n!« Marieke stürmte in die Stube. »Der Seyfried steht vor der Tür und meint, er wolle wieder gut mit Fräulein Brida werden. Hat irgendso ’n lächerliches Gedöns dabei, das er ihr schenken will. Soll ich ihn reinlassen?«

»Sag ihm, er soll verschwinden, sonst hol ich wieder die Bratpfanne!«, rief Brida, ehe ihr Vater antworten konnte.

Kapitän Hinrich grinste. »Das sind klare Worte, Deern. Aber ich fürchte, Elsa braucht die Pfanne gerade. Hat der Seyfried wohl gerochen.«

»Dann nehm ich eben den Besen! Und nun jag ihn dahin, wohin er gehört, Marieke. Samt seinem Gedöns.«

»Ist gut, dann schau ich, dass ich ihn loswerd.« Gemessenen Schrittes ging Marieke ihrer Aufgabe entgegen.

Bridas Blick fiel auf Erik. Umspielte da etwa ein Schmunzeln seine Lippen? Sie spürte, wie ihr das heiße Blut in die Wangen schoss. Was mochte er von ihr denken?

»Der Seyfried verdient’s nicht besser«, sagte sie. »Wenn Ihr ihn kennen würdet, wüsstet Ihr’s.«

»Das bezweifle ich nicht«, antwortete Erik. Jetzt war das Lächeln unübersehbar. »Wolltet Ihr ihn in die Pfanne hauen?«

»Das hat sie schon getan«, bestätigte Hinrich. »Als er allzu dreist um ihre Hand anhielt. Seither hat die Pfanne eine Beule.« Brida sah, wie ihr Vater sich mühsam das Lachen verbiss.

»Dann hätte er Euch statt Gedöns doch lieber eine neue Pfanne verehren sollen, Jungfer Brida.« Erik machte sich nicht die Mühe, seine Erheiterung zu verbergen.

»Ach, hättet Ihr so gehandelt, wenn Ihr die erste Pfanne an Eurem Schädel gespürt hättet?«, ging sie auf das Spiel ein. Ihre Verlegenheit war verflogen. Erik schien ihrem Vater nicht nur in seiner Kinderliebe ähnlich. Sie teilten auch den gleichen Humor.

»Ich hoffe, dass mein Benehmen stets so tadellos sein wird, dass Ihr es nicht nötig habt, Jungfer Brida. Aber sollte dem nicht so sein, würde ich mich selbstverständlich bemühen, für den Schaden aufzukommen.«

Bridas Vater lachte laut los.

»Erik, Ihr gefallt mir immer besser.«

Ein Poltern in der Diele.

»Du kannst hier nicht einfach reinstürmen!«, schrie Marieke. »Sie will dich nicht sehen!«

»Verschwinde in deine Küche, alte Giftzunge!«, brüllte Seyfried und betrat die Stube, gefolgt von einer zornesblitzenden Marieke. Es hätte Brida nicht gewundert, wenn ihre Magd nach dem Schürhaken gegriffen und ihn dem Eindringling über den Kopf gezogen hätte.

»Verzeih, Hinrich, aber ich muss da was mit der Brida klären.« Seyfried riss sich die Mütze vom Kopf und stopfte sie unter sein Wams. Immerhin hatte er sich Mühe gegeben, in sauberem Hemd zu erscheinen. Nicht so verdreckt wie beim letzten Mal, als er ihr in betrunkenem Zustand seine Aufwartung gemacht hatte und seine klebrigen Finger nicht bei sich hatte behalten können.

Brida stand auf. »Ich habe nichts mit dir zu klären, Seyfried. Bitte geh!«

»Ach, nu sei mal wieder gut, Brida. Ich weiß, bist ’ne kleine Kratzbürste, aber kannst deine Krallen gleich wieder einfahren. Hier guck, ich hab dir was mitgebracht.« Er hielt ihr ein Kästchen entgegen. »Das ist feines Nähgarn. Kannst du fein die Aussteuer nähen. Wie sich’s für ’ne gute Braut geziemt. So feine Hemdchen und so, für die Brautnacht, ne?« Er grinste anzüglich.

»Sag mal, hast du den Verstand ganz und gar versoffen? Glaubst du wirklich, ich würd so’n Rindviech wie dich heiraten?«

»Warum nicht? Meinste, du findest mit deiner kodderigen Schnauze noch ’n andern? Bist ja auch nicht mehr die Jüngste.«

»Scher dich aus unserem Haus!«

Seyfried beachtete sie nicht, sondern wandte sich ihrem Vater zu. »Mensch, Hinrich, nu sag doch auch mal was. Wird doch Zeit, die Brida unter die Haube und an ’nen Mann zu bringen.«

»Aber wohl kaum an jemanden, der’s an den Ohren hat, ne? Haste nicht gehört, was die Deern gesagt hat?«

»Ach, wenn’s Weibsvolk Nein sagt, meint’s doch Ja.«

»Jetzt versteh ich!«, hörte Brida Eriks Stimme. »Dann bedeutet Rindviech also, dass Ihr ein besonders lendenstarker, begehrenswerter Stier seid. Großartig. Ich dachte immer, ein Rindviech sei so was Ähnliches wie ein Hornochse. Nur ein bisschen dümmer.« Er zwinkerte ihr zu.

»Wer bist’n du?«, knurrte Seyfried. »Ach, ich weiß schon, das dänische Strandgut, das Brida aufpäppelt.« Er stieß verächtlich die Luft aus den Nasenlöchern. »Hat Arne ja überall rumerzählt. Ich frag mich, warum er dich überhaupt aufgesammelt hat. So was wie dich sollte man gleich verrecken lassen oder mit’m Knüppel totschlagen.«

»Seyfried, es reicht.« Kapitän Hinrich war aufgestanden. »Geh!«

Für einen Moment schien es, als wolle Seyfried noch etwas sagen, aber dann drehte er sich um und verließ wortlos die Stube.