Die Hafenschwester (2) - Melanie Metzenthin - E-Book

Die Hafenschwester (2) E-Book

Melanie Metzenthin

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hamburg, 1913: Mit ihrer großen Liebe Paul hat Krankenschwester Martha drei gesunde Kinder, eine schöne Wohnung und sogar eine Einladung nach Amerika, um ihre Freundin Milli zu besuchen. Doch die Stadt steht kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges und Marthas Träume von der Zukunft zerplatzen. Trotz seiner 41 Jahre wird Paul eingezogen und Martha muss sich in dieser schweren Zeit allein um das Überleben ihrer Familie kümmern. Als Paul nach einem Granatenangriff schwer entstellt zurückkehrt, wird ihre Ehe auf eine harte Probe gestellt. Martha tut alles für ihren Mann, Paul unterzieht sich aber nur unwillig den nötigen Operationen und scheint aufgegeben zu haben …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 631

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Hamburg, 1913: Mit ihrer großen Liebe Paul hat Krankenschwester Martha drei gesunde Kinder, eine schöne Wohnung und sogar eine Einladung nach Amerika, um ihre Freundin Milli zu besuchen. Doch die Stadt steht kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und Marthas Träume von der Zukunft zerplatzen. Trotz seiner einundvierzig Jahre wird Paul eingezogen, und Martha muss sich in dieser schweren Zeit allein um das Überleben ihrer Familie kümmern. Als Paul nach einem Granatenangriff schwer entstellt zurückkehrt, wird ihre Ehe auf eine harte Probe gestellt. Martha tut alles für ihren Mann, Paul unterzieht sich aber nur unwillig den nötigen Operationen und scheint aufgegeben zu haben …

Über die Autorin

Melanie Metzenthin lebt in Hamburg, arbeitet als Fachärztin für Psychiatrie und wurde mit dem DELIA-Literaturpreis ausgezeichnet. Mit der Vergangenheit ihrer Heimatstadt fühlt sie sich ebenso verbunden wie mit der Geschichte der Medizin, was in vielen ihrer Romane zum Ausdruck kommt. »Die Hafenschwester. Als wir wieder Hoffnung hatten« ist der zweite Band einer Serie um die Krankenschwester Martha.

MELANIE

METZENTHIN

Als wir wieder Hoffnung hatten

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Volknant

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Umschlagmotiv: © CollaborationJS/Trevillion Images,

© Look and Learn/Bridgeman Images,

© Arkivi UG All Rights Reserved/Bridgeman Images

Autorenfoto: © privat

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-26618-9V001

www.diana-verlag.de

Teil 1

Zeit der Träume

1

Hamburg, April 1913

Martha liebte die Sonntage, auch wenn die Zeiten, da sie und ihr Ehemann Paul ausschlafen konnten, seit der Geburt ihrer Kinder längst vorbei waren. Normalerweise war es die kleine Ella, die sich als Erste meldete, aber an diesem Morgen stand der achtjährige Rudolf in der Tür des Schlafzimmers, seinen sechsjährigen Bruder Alfred im Schlepptau, und rief: »Papa, wollen wir jetzt losgehen?«

Martha fuhr noch vor Paul aus dem Schlaf hoch und warf im Halbdunkel mühsam einen Blick auf den Wecker.

»Es ist doch erst halb sechs«, murmelte sie. »Das ist viel zu früh, Erich hat gesagt, ihr sollt um zehn kommen.«

»Geht wieder ins Bett, Kinder«, sagte Paul. »Mama und Papa wollen noch schlafen.«

Anstatt zu gehorchen, drehte Rudolf den Lichtschalter an der Wand, der die Gaszufuhr zur Deckenlampe regulierte. Im nächsten Moment war das Zimmer hell erleuchtet.

Martha stöhnte auf. »Rudi, mach sofort das Licht wieder …« Sie stockte. Konnte es tatsächlich sein, dass die beiden bereits ihre Sonntagskleidung, die dunkelblauen Matrosenanzüge, trugen? Sogar die Gesichter hatten sie sich gewaschen und die Haare ordentlich gekämmt.

»Ihr seid ja schon fix und fertig.«

»Ja, Mama, wir wollen doch nicht zu spät kommen.« Rudi nickte eifrig. »Papa, können wir jetzt losgehen?«

Paul musterte Rudi streng. »Mama hat doch gerade gesagt, dass Erich erst um zehn da ist. Ich werde doch nicht vier Stunden vor der Werft mit euch rumstehen und warten. Zieht sofort die Jacken wieder aus und geht in euer Zimmer, marsch. Um acht gibt’s Frühstück.«

»Aber Papa …«, maulte Rudi.

»Jetzt reicht’s aber. Wenn ihr nicht auf der Stelle verschwindet und hier wieder das Licht ausmacht, gehen wir heute gar nicht mehr weg, ist das klar?«

Sofort drehte Rudi das Licht aus. »Komm, Fredi«, raunte er seinem Bruder zu, »dann spielen wir eben noch mit den Schiffsmodellen, die uns Onkel Heinrich geschenkt hat.«

Paul atmete auf. »Zum Glück ist Ella nicht aufgewacht.«

Martha nickte, allerdings war ihre Müdigkeit verflogen. Stattdessen schweiften ihre Gedanken sehnsuchtsvoll zurück zu jenen Tagen, als die Sonntage noch ihnen allein gehört hatten. Tage, an denen sie ausgeschlafen und sich anschließend leidenschaftlich geliebt hatten. Sie hauchte Paul, der sich gerade wieder zum Schlafen umdrehen wollte, einen sanften Kuss auf die Wange. Er blinzelte.

»War es nicht der Prinz, der Dornröschen wach geküsst hat?«, neckte er sie.

»Wenn wir ohnehin schon wach sind, können wir die Zeit auch anderweitig nutzen«, gab sie keck zurück. »Oder bist du etwa zu müde?«

»Dazu bin ich nie zu müde.« Er zog sie in seine Arme und fing an, sie zu küssen. Im nächsten Augenblick wurde die Tür zum Schlafzimmer erneut geöffnet.

»Mama, ich habe Durst«, rief Ella.

»Ich frage mich, wie die Möllers von nebenan es geschafft haben, sieben Kinder zu zeugen«, murmelte Paul, während er Martha losließ. »Spätestens nach dem dritten kommt man ja zu nichts mehr.«

Martha lachte. »Na, dann bleibt mir wohl doch nichts anderes übrig, als aufzustehen«, sagte sie. »Komm, Ella, ich gebe dir gleich einen Becher Milch in der Küche.«

Die Küche war Marthas ganzer Stolz, denn sie besaß nicht nur einen Eisschrank für die verderblichen Lebensmittel, sondern auch einen hochmodernen Gasherd. Während andere noch Kohlen, Holz oder Torf verfeuern mussten, brauchte sie nur den Gashahn aufzudrehen. Es hatte seine Vorteile, mit einem gut verdienenden Maschinenbau-Ingenieur verheiratet zu sein.

Nachdem Martha ihrer Tochter ein Glas Milch gegeben hatte, ging sie ins Badezimmer und heizte den Badeofen an. Nur wenige Wohnungen in dieser Gegend verfügten über ein eigenes Bad mit Warmwasser und einer Spültoilette. Viele Mieter waren schon froh, wenn es auf jeder Etage eine eigene Toilette gab. Ihr Vater hatte sie kurz nach ihrem Einzug gefragt, ob es nicht unhygienisch sei, die Toilette direkt in der Wohnung zu haben. Sie hatte darüber nur den Kopf geschüttelt und ihm erklärt, dass die Spülung wesentlich hygienischer als jeder Nachttopf sei. Aber mit diesem Vorurteil hatte sie sich eine ganze Weile herumschlagen müssen. Eine Toilette direkt in der Wohnung – so etwas kannte man am Hafen nicht, das war dekadenter, neumodischer Firlefanz.

Martha öffnete den Heißwasserhahn und überprüfte, ob der Badeofen bereits sein Werk getan hatte. Ja, das genügte. Während das warme Wasser in die Wanne lief, gab sie einige Tropfen Lavendelöl hinzu, ein Luxus, den sie sich jeden Sonntag gönnte. Einfach nur im warmen Wasser zu liegen und vor sich hinzuträumen. Diese Zeit war ihr heilig, das wusste die Familie, und nicht einmal Ella störte sie, wenn sich der Lavendelduft in der ganzen Wohnung ausbreitete und allen verriet, dass Mama in der Wanne lag.

Um acht Uhr saß die Familie am Frühstückstisch.

Die beiden Jungs waren angesichts des geplanten Ausflugs zur Vulcan-Werft kaum zu bremsen.

»Papa, Rudi hat gesagt, es heißt nicht die Imperator, sondern der Imperator. Aber Onkel Heinrich hat gesagt, Schiffe sind alle weiblich.«

»Bei diesem Schiff ist das eine Ausnahme, Fredi«, erklärte Paul. »Der Kaiser meinte, das größte Schiff der Welt, das noch dazu den Titel Imperator trägt, darf nicht zu einer Frau werden. Deshalb heißt es ausnahmsweise der Imperator.«

»Da siehst du mal, wie wenig die Frauen dem Kaiser wert sind«, bemerkte Martha, während sie ihr Ei löffelte. »Selbst Schiffen wird jetzt der weibliche Artikel genommen.«

»Ach, ich denke, das ist nur sein Größenwahn«, erwiderte Paul.

»So was sagt man nicht über den Kaiser«, schalt Martha ihn. Wenn die Kinder weitererzählten, dass ihr Vater als bekennender Sozialdemokrat den Kaiser größenwahnsinnig nannte, konnte das großen Ärger bringen.

»Na ja, wie würdest du das denn nennen?«, fuhr Paul ungerührt fort. »Erich hat mir erzählt, kurz vorm Stapellauf hätten sie erfahren, dass in England ein Schiff gebaut wird, das dreißig Zentimeter länger werden soll als der Imperator. Daraufhin ließ der Kaiser einen goldenen Adler, der auf einer Weltkugel sitzt, wie eine Galionsfigur anbringen, und so würde der Imperator das größte Schiff der Welt bleiben.«

»Was für ein alberner Aufwand wegen dreißig Zentimetern«, meinte Martha kopfschüttelnd.

»Den meisten Männern kommt es auf jeden Zentimeter an«, bemerkte Paul mit einem Augenzwinkern, und Martha konnte sich das Lachen kaum verkneifen.

»Und das Schiff gucken wir uns heute an, ja, Papa?«

»Ja, Rudi. Und Erich hat mir versprochen, dass er uns drei auch an Bord lässt, weil da am Sonntag keiner ist, der’s ihm verbieten könnte. Dann dürfen wir sogar die großen Luxuskabinen der ersten Klasse besichtigen, die sonst nie jemand außer den ganz Reichen und dem Schiffspersonal zu sehen kriegt.«

Da Ella mit ihren drei Jahren noch kein Interesse an der Besichtigung eines Schiffes zeigte, hatte Martha sich vorgenommen, mit ihr an die Alster zu gehen, um die Schwäne zu füttern und später im Alsterpavillon ein Eis zu essen.

Um Viertel nach neun konnte Paul die Jungs nicht länger vertrösten. Sie wollten gerade die Wohnung verlassen, da klopfte es heftig an der Tür.

Es war Katrin Schwenke, das älteste von neun Kindern der Witwe Schwenke, die schon seit Langem leidend war.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich am Sonntag störe«, sagte das Mädchen, »aber meiner Mutter geht es so schlecht. Die ist kaum noch ansprechbar, die fühlt sich ganz glühend an vor lauter Fieber, und ich hab so Angst, dass sie stirbt.« Der flehende Blick der Dreizehnjährigen, die erst vor vier Monaten ihren Vater bei einem schweren Unfall am Hafen verloren hatte, zerschnitt Martha das Herz. Sie warf Paul einen Blick zu.

»Bringst du Ella auf dem Weg zur Werft zu meinem Vater?«, fragte sie. »Ich hol sie dann ab, wenn ich fertig bin.«

Paul nickte und nahm Ella bei der Hand. »Wir gehen dann schon mal los«, sagte er. »Zum Mittag sind wir wieder da.«

Marthas Vater Karl Westphal lebte noch immer in seiner alten Wohnung im Bleichergang, wo Martha aufgewachsen war. Er war bei den Kindern in der ganzen Gegend bekannt und beliebt, denn seit einem schweren Unfall, der ihm ein steifes Bein beschert hatte, bestritt er seinen Lebensunterhalt als Leierkastenmann und besaß zwei Äffchen. Koko, der Ältere, hatte mittlerweile das biblische Alter von neunzehn Jahren erreicht und schon lange nicht mehr die Kraft, drollige Sprünge zu vollbringen. Seit vier Jahren nahm der forsche Kapuzineraffe Maximilian ihm nun die Arbeit ab und sammelte die Münzen ein, während Koko in einem gemütlichen Körbchen auf dem Leierkasten saß.

Marthas Kinder liebten die beiden Äffchen und waren gern bei ihrem Großvater. Ella freute sich auch schon sehr, doch als sie die Wohnung erreichten, war die Tür verschlossen.

»Der Karl ist heute Morgen schon früh los nach Blankenese«, hörten sie von einer Nachbarin. »Da verdient er bei die feinen Leute im Sonntagsstaat gutes Geld, wenn er leiert.«

»Sonst spielt er sonntags doch immer ab zehn aufm Jungfernstieg«, sagte Paul.

»Ja, aber da sind inzwischen schon so viele andere von außerhalb, die dann extra nach Hamburg kommen, hat er mir gesagt, und dann bringt’s nicht mehr so viel. Blankenese ist zwar weiter weg, aber er meint, das lohnt sich mehr, da sind sie großzügiger.«

Paul zögerte kurz. Er hätte die Nachbarin fragen können, ob sie auf Ella aufpassen würde, bis Martha sie abholte, aber er hatte keine Ahnung, wie lange Martha unterwegs sein würde.

»Na schön«, sagte er dann. »Ella, wenn der Opa nicht da ist, dann kommst du heute eben doch mit uns mit und schaust dir auch das große Schiff an.«

»Essen wir dann auch Eis?«, fragte Ella. »Das hat Mama versprochen.«

»Schau’n wir mal, ob wir auf dem Nachhauseweg nachher noch einen Eismann finden«, sagte Paul.

Der Imperator lag seit dem Stapellauf vor der Werft und war schon weithin sichtbar. Nicht nur Paul und seine Kinder hatten den Sonntag genutzt, um das große Schiff zu bewundern. Im Schiffsinneren mussten noch die letzten Arbeiten vorgenommen werden, und sie waren die Einzigen, denen erlaubt wurde, das Schiff zu betreten. Und das auch nur, weil der Ingenieur Erich Nadler ein ehemaliger Kollege von Paul war. Früher hatten sie beide auf der Werft von Gustav Wolkau gearbeitet, doch vor ein paar Jahren war Erich zur Vulcan-Werft gewechselt.

»Ich dachte, du wolltest nur deine Jungs mitbringen«, begrüßte Erich ihn. »Ist Ella nicht noch etwas zu klein?«

»Martha hatte einen Notfall, und ich habe sonst niemanden, der auf sie aufpasst«, erklärte Paul. »Aber keine Sorge, meine kleine Prinzessin weiß sich zu benehmen, nicht wahr?« Er nahm Ella auf den Arm.

»Und ihr beide wollt also mal so ’n richtig großen Pott sehen, Jungs?«, wandte Erich sich nun Rudi und Fredi zu.

»Ja, das hat Papa uns schon beim Stapellauf im letzten Jahr versprochen«, sagte Rudi eifrig. »Als wir den Kaiser gesehen haben, wie er das Schiff getauft hat.«

»Na, dann kommt mal mit, aber fasst nix an, ohne vorher zu fragen.«

Schon das Betreten des Schiffes war ein Abenteuer, weil die einzige Gangway richtig steil nach oben führte.

»Ich kann unser Haus sehen!«, rief Fredi begeistert, als sie oben angekommen waren. »Dahinten ist es!«

»Ich will es auch sehen!«, rief Ella, die auf dem Arm ihres Vaters einen guten Ausblick hatte. Er stellte sich mit ihr neben seine Söhne und zeigte es ihr.

»Na, ihr seid ja leicht zufriedenzustellen.« Erich lachte. »Wartet nur, bis wir in der ersten Klasse sind. Da kommt so jemand wie wir sonst nie im Leben hin, denn die Kabinen sind so teuer, die kann sich kein Normalsterblicher leisten.«

Obwohl Paul als Maschinenbau-Ingenieur schon einige Schiffe gesehen hatte, war dieser Luxuspassagierdampfer auch für ihn etwas Neues, und er war Erich dankbar, dass der ihm und den Kindern diese Besichtigung ermöglichte.

»Das ist ein Schiff, was? Da können sich die Engländer gleich drei Scheiben von abschneiden«, meinte Erich. »Wir fangen am besten von unten an und arbeiten uns hoch. Ich zeig euch erst mal die Maschinenräume, dann die dritte Klasse, gefolgt von der zweiten, und die erste lassen wir uns als krönenden Abschluss.«

Paul und die Jungs nickten, während Ella alles mit großen Augen betrachtete.

Die großen Dampfkessel im Schiffsbauch beeindruckten die Jungs sehr, und sie löcherten Erich mit zahlreichen Fragen, zum Beispiel wie viel Kohle so ein Schiff brauchte und wie viele Männer schaufeln mussten, bis es über das Meer nach Amerika kam. Erich beantwortete alle Fragen ausführlich und freute sich über das Interesse der Knaben. Ella hingegen meinte nur: »Hier ist das so dunkel, Papa.«

»Oh, wenn die Kessel erst mal brennen, ist es nicht mehr dunkel, dann ist es hier so hell und warm wie in Afrika«, erklärte Erich. »Aber keine Angst, jetzt gehen wir gleich etwas höher, und da ist dann auch mehr Licht.«

Die Kabinen der dritten Klasse lagen tief im Schiffsbauch. In jeder Kabine befanden sich zwei Etagenbetten, es gab ein Waschbecken und für jedes Bett einen Spind. Paul war überrascht, wie gut die Kabinen ausgestattet waren. Er erinnerte sich da an ganz andere Löcher, die er in seiner Karriere bereits gesehen hatte.

»Nicht schlecht, was?«, sagte Erich, der Pauls Blick richtig interpretiert hatte. »Das hier kann man sich noch gut leisten. Bequeme Betten und eine Ausstattung, wie man sie in einfachen Gasthäusern findet. Hier kann ein Arbeiter für einen halben Monatslohn die Überfahrt nach Amerika finanzieren. Vollpension inbegriffen.«

Da die Kabinen zu eng waren, um sich darin auch tagsüber aufzuhalten, spielte sich das alltägliche Leben auf den Decks und im großen Speisesaal ab. Die Möblierung des Speisesaals erinnerte Paul an die günstigen Hafenlokale. Mit einfachen Stühlen und Tischen aus Holz – funktionell und zweckmäßig – entsprach sie dem, was die Leute, die üblicherweise in der dritten Klasse reisten, gewohnt waren.

»Das hier ist das Sonnendeck der dritten Klasse«, sagte Erich, als sie den Speisesaal verließen. »Da kommen auch noch Liegestühle hin, wenn alles fertig ist. Die meisten Passagiere werden es hier an Bord besser haben als bei sich zu Hause.«

»Sind das dann alles Auswanderer?«, fragte Rudi.

»Was sonst?«, erwiderte Erich. »Glaubste, die armen Leute können sich eine Sommerfrische in Amerika leisten, wenn sie dafür acht Tage lang hinfahren müssen?«

»Acht Tage?«, fragte Fredi mit großen Augen. »So lange?«

»Das nennst du lange?« Erich lachte. »Die alten Segler brauchen noch vier Wochen. Hat euch das euer Onkel etwa nie erzählt? Der ist doch Kapitän auf einem Segelschiff.«

»Ja, aber der fährt ja nicht nur nach Amerika«, sagte Rudi. »Der fährt dann ja noch nach Brasilien und im Winter nach Ägypten. Einmal war er sogar in Indien.«

»Ich will auch mal Kapitän werden«, sagte Fredi. »Ich will auch die Welt sehen.«

»Aber du wirst dann bestimmt schon Kapitän von einem schnellen Dampfschiff, was?«, sagte Erich gutmütig und salutierte zum Spaß. Dann ging es weiter in die zweite Klasse. Wenn Paul es nicht besser gewusst hätte, hätte er das bereits für die erste Klasse gehalten. Die Kabinen waren von der Größe her zwar ähnlich wie die der dritten Klasse, aber die Ausstattung war deutlich besser. Es gab nicht nur Vierbettkabinen mit zwei Stockbetten, sondern auch Kabinen für zwei Personen. Einige davon verfügten neben den Betten zudem über ein Sofa und Verbindungstüren zur Nachbarkabine. Auf dem Boden lag rote Teppichauslegware.

In den Salons und im Speisesaal der zweiten Klasse fanden noch letzte Arbeiten an den Wandverkleidungen statt. Die Stühle und Tische standen übereinandergestapelt in den Ecken, aber Paul sah, dass es sich um teure Stühle mit Lederbezug handelte. Auch die Sonnendecks waren großzügiger als die der dritten Klasse. Es gab neben kleinen Geschäften sogar einen eigenen Friseursalon, in dem schon der Barbierstuhl stand. Zudem waren Plätze für Deckspiele eingerichtet, und auch hier lagen zahlreiche Sonnenliegen bereit.

»So lässt es sich reisen, nicht wahr?«, fragte Erich.

»Ja, auf jeden Fall«, bestätigte Paul. »Aber wie kann die erste Klasse da noch luxuriöser sein?«

»Wartet es ab.« Erich grinste. »Am 22. April muss hier alles fertig sein, damit das Schiff offiziell übergeben werden kann. Im Mai wird der Kaiser es dann selbst mit einer kurzen Probefahrt einweihen, und im Juni geht’s dann auf die Jungfernfahrt nach New York.«

Die erste Klasse war schier atemberaubend. Die Kinder, selbst Ella, waren von der großen Holztreppe im Foyer beeindruckt. Von der Wand blickte ein überlebensgroßes Ölgemälde des Kaisers auf sie herab.

»Ich habe noch nie so eine große Treppe gesehen«, sagte Rudi. »Das ist ja wie in einem Schloss.«

»Ja, so soll das auch sein, ne?« Erich lachte. »Hier reist der Hochadel zusammen mit dem höchsten Geldadel. Von dem, was die ganze Überfahrt in der dritten Klasse kostet, könntest du dir hier nicht mal ein Mittagessen leisten.«

Ella machte große Augen. »Essen die so viel?«

»Nein, nur so teure Sachen.«

»Und was ist so teuer?«, fragte Fredi.

»Wahrscheinlich Kaviar und Trüffel und irgendwelche uralten Weine«, erwiderte Paul. »Aber das schmeckt gar nicht so gut, die essen das nur, weil es sich sonst keiner leisten kann.«

»Dann sind die dumm«, sagte Rudi. »Ich ess doch lieber, was mir schmeckt, wenn ich mir alles leisten kann.«

»Ja, du bist ja auch ein plietscher Jung«, sagte Erich. »Kommt, ich zeig euch mal das Schwimmbad, das ist ein Traum.«

Natürlich war noch kein Wasser im Becken, aber es war trotzdem imposant mit seinen Säulen, die dem alten Rom nachempfunden waren und einem das Gefühl gaben, im wahrsten Sinne des Wortes in die Welt der Antike einzutauchen.

»Das ist ja fast so groß wie das Becken in der städtischen Badeanstalt«, rief Rudi begeistert.

»Ja, der Adel will auf nix verzichten, deshalb haben die hier sogar eine eigene Badeanstalt. Aber wie gesagt, Kinder, dafür zahlen die auch richtig viel Geld. Für eine einzige Überfahrt müssten euer Vater und ich ein volles Jahr arbeiten und alles Geld, das wir verdienen, weglegen. Da dürften wir uns dann nicht mal was zu essen kaufen. Und nach acht Tagen auf dem Schiff wär all das schöne Geld weg. Ist’s das wirklich wert?«

»Nein«, sagte Rudi. »Die Reichen sollten lieber in der zweiten Klasse reisen, die ist auch schön, und dann könnten sie das übrige Geld für die armen Leute spenden.«

»Gute Idee.« Erich grinste verschmitzt. »Paul, ich seh schon, du hast die Jungs zu richtigen Sozialisten erzogen.«

»Nur halb«, erwiderte Paul lachend. »Richtige Sozialisten hätten für alle die dritte Klasse gefordert.«

Nachdem sie mit der Schiffsbesichtigung fertig waren, ging Paul mit den Kindern noch in eine kleine Eisdiele am Hafen, die ein geschäftstüchtiger Italiener vor ein paar Jahren dort eröffnet hatte. Ella wirkte zufrieden, und während sie und Fredi ruhig ihr Eis löffelten, war Rudi in seinem Erzählfluss kaum zu bremsen, so sehr hatte ihn der Imperator beeindruckt.

Paul lächelte still vor sich hin. So fühlte es sich an, wenn man alles im Leben erreicht hatte. Er hatte eine Arbeit, die ihm gefiel, eine wunderbare Frau, drei gesunde Kinder und eine schöne Wohnung. Was wollte man mehr vom Leben? Mochten sich die Reichen auch luxuriöse Fahrten in der ersten Klasse eines riesigen Ozeandampfers leisten können, ihm genügte es, die Sonntage mit seinen Kindern zu genießen.

2

Während Martha Katrin Schwenke zu ihrer kranken Mutter begleitete, wurde sie von allen Seiten freundlich gegrüßt. Die Leute im Gängeviertel kannten sie und wussten, was sie an ihr hatten. Nach der Geburt ihrer Kinder hatte Martha ihre Arbeit als ehrenamtliche Hafenkrankenschwester wiederaufgenommen. Die Menschen hier brauchten sie, denn viele zögerten, einen Arzt zu konsultieren, weil sie das Geld nicht aufbringen konnten. Erst recht nicht, wenn Bedingungen wie bei den Schwenkes herrschten. Martha, die selbst im Gängeviertel groß geworden war, war für die Leute noch immer eine der ihren, und sie nahmen ihre Hilfe gern in Anspruch. Besonders weil sie nichts kostete. Martha war froh, dass sie keine Bezahlung verlangen musste, da Pauls Gehalt genügte, um die Familie zu unterhalten. Ganz uneigennützig war Marthas Einsatz allerdings nicht. Es war die einzige Möglichkeit für sie, als verheiratete Mutter weiterhin in ihrem Beruf als Krankenschwester arbeiten zu können, denn die Regeln in den Krankenhäusern waren streng. Nur ledige Frauen oder Witwen wurden als Schwestern ausgebildet und eingestellt. Eine Regel, die Martha nie verstanden hatte, zumal sich auch Witwen um eigene Kinder zu kümmern hatten. Aber denen wurde es nachgesehen, schließlich hatten sie für ihre Kinder zu sorgen. Eine verheiratete Mutter, die arbeiten ging, obwohl ihr Mann gut verdiente, war dem Bürgertum suspekt. Wenn sie jedoch ehrenamtlich die gleiche Arbeit verrichtete, galt das als hochgeachtete Wohltätigkeit. Diese Doppelmoral hatte Martha nie begriffen.

Katrins Familie wohnte im Schaarsteinweg in einer feuchten Kellerwohnung, in der es niemals richtig hell wurde. Zwar war der Senat bereits seit Jahren fleißig dabei, die schäbigsten Gebäude im Gängeviertel abzureißen und durch moderne Häuser zu ersetzen, aber viele Bewohner fürchteten sich davor, denn sie konnten sich die Mieterhöhungen, die mit dem Neubau einhergingen, nur selten leisten. Mochten ihre alten Wohnungen auch feuchte Löcher sein, es war immer noch besser, ein marodes Dach über dem Kopf zu haben als gar keines.

Die Wohnung der Schwenkes war ein besonders abschreckendes Beispiel. Sie verfügte neben der Küche nur über drei winzige Zimmer, die an Abstellkammern erinnerten. Zwar gab es in jedem Zimmer kleine Kellerfenster, doch die waren so hoch oben angebracht, dass die kleineren Kinder nicht einmal hinaussehen konnten. Allerdings hätten sie ohnehin nur das schmutzige Straßenpflaster und die Beine vorbeieilender Passanten gesehen.

Eines dieser winzigen Zimmer diente der Mutter als Schlafzimmer, die beiden anderen waren das Jungen- und das Mädchenschlafzimmer. Neben den Stockbetten war für nichts anderes mehr Platz. Das gesamte Familienleben spielte sich deshalb in der Küche rund um den verrußten alten Ofen ab, der nicht nur zum Kochen, sondern auch zum Heizen diente. Überall an den Wänden blühten bunte Schimmelflecke, und die Holzdielen waren nicht nur abgetreten, sondern in den Ecken, wo sich das von den Wänden laufende Kondenswasser sammelte, durchgefault.

Der Küchentisch bot nur Platz für sechs Stühle, sodass es unmöglich war, die zehnköpfige Familie gemeinsam um den Tisch zu versammeln. Martha hatte nie begriffen, warum gerade die ärmsten Leute die meisten Kinder hatten. Schließlich gab es Mittel und Wege, die Empfängnis zu verhüten, und sie sah es von jeher als ihre Aufgabe, Frauen zu diesem pikanten Thema zu beraten. Aber nicht alle Frauen hörten auf sie. Martha kannte Frau Schwenke, seit die mit ihrem dritten Kind schwanger gewesen war. Nach der Geburt des Kleinen hatte Martha erstmals versucht, das Gespräch vorsichtig auf die Verhütung zu lenken, doch Frau Schwenke hatte nichts davon hören wollen. Über so etwas zu sprechen war ihr peinlich, und Kinder waren gottgewollt. Nach jeder weiteren Geburt hatte Martha das Thema erneut angeschnitten – jedoch ohne Erfolg. Von der Geburt ihres neunten Kindes vor einem Jahr hatte Frau Schwenke sich nicht mehr richtig erholt. Der Tod ihres Mannes hatte ihr dann die letzte Kraft genommen, und seither war sie bettlägerig, auch wenn Martha nicht genau wusste, welches körperliche Leiden die allgemeine Schwäche begründete. Organisch hatte sie zunächst nichts feststellen können. Ihr kam es so vor, als wäre der Lebenswille der Frau erloschen, obwohl sie doch die Verantwortung für ihre Kinder zu tragen hatte.

Als Martha an diesem Tag mit Katrin in die Schlafstube der Mutter trat, erschrak sie beim Anblick der Kranken, so sehr war die in den Wochen, seit sie sie zuletzt gesehen hatte, gealtert. Hätte Martha nicht genau gewusst, dass Frau Schwenke erst zweiunddreißig Jahre alt war, hätte sie sie für Mitte fünfzig gehalten. Die ungesunde gelbe Färbung der Haut ließ auf eine Lebererkrankung schließen.

Zudem war Frau Schwenke nicht richtig ansprechbar, was ihre Tochter auf das Fieber geschoben hatte. Martha ging näher an die Leidende, sah in deren Augen und fand ihren Verdacht bestätigt. Es war die Leber, denn das Weiße in den Augen war gelb verfärbt. Sie fragte Frau Schwenke, ob sie sie weiter untersuchen dürfe, doch statt einer Antwort hörte sie nur ein Röcheln. Martha schob das Nachthemd höher. Der Körper der neunfachen Mutter war so ausgezehrt, dass es aussah, als würde sich die gelbliche Haut wie altes Pergament um die Rippen eines Skeletts schlagen. Sie tastete nach der Leber unter dem rechten Rippenbogen. Sie war deutlich vergrößert.

»Deine Mutter hat eine schwere Gelbsucht«, sagte sie schließlich zu Katrin. »Das kann viele Ursachen haben. Die harmloseste wäre eine Infektion, die nach ein paar Tagen wieder abklingt. Hat sie in letzter Zeit Muscheln gegessen?«

Katrin schüttelte den Kopf. »Nein, nur Haferbrei. Sie sagt, was anderes bleibt nicht mehr drinnen, weil ihr Magen kaputt ist.«

»Aber deine Geschwister sind allesamt gesund?«

Katrin nickte.

»Dann ist es keine infektiöse Gelbsucht. Ich fürchte, das ist eine ernste Lebererkrankung. Da kann ich nicht viel tun, diese Symptome müssen im Krankenhaus abgeklärt werden.«

»Aber wie soll es denn weitergehen, wenn Mama im Krankenhaus ist?«, fragte Katrin hilflos. »Das Geld reicht doch jetzt schon nicht mehr. Wir haben schon ganz viele Schulden vom Anschreiben bei Lehmanns, der will uns bald nicht mal mehr die Milch für Zacharias geben, aber der Zachy braucht doch seine Milch, die Mama kann ihn ja schon lange nicht mehr stillen.«

»Ich weiß, Katrin. Aber wenn deine Mutter nicht behandelt wird, könnte sie sterben, und dann wird alles noch schlimmer. Ich werde nach einem Krankenwagen schicken, und morgen stellst du dich bei meiner Freundin Fräulein Heymann in der Beratungsstelle vor und fragst nach Gutscheinen für Lebensmittel und Milch. Wir haben eine Spendenkasse für Notfälle.«

»Bekommen wir da auch Geld?«

»Nein, nur Gutscheine.«

»Warum?«

»Wir haben das nach einigen schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit so festgelegt. Früher ist es immer wieder vorgekommen, dass das Geld nicht für die notwendigen Lebensmittel, sondern für andere Dinge ausgegeben wurde. Aber uns geht es darum, dass ihr etwas zu essen habt. Alles andere kann man später klären.«

Katrin nickte.

»Soll ich auch gleich mal nach deinen Geschwistern schauen, ob da wirklich alles in Ordnung ist?«

»Ja, aber es sind nicht alle da. Die meisten spielen irgendwo draußen. Es sind nur Beate und Zachy da.«

»Dann zeig mir die Kleinen mal.«

Die kleine Beate war sechs Wochen vor Marthas eigener Tochter Ella geboren worden, aber während Ella wie ein munterer Wasserfall plauderte und schon sehr genau sagen konnte, was sie wollte und was nicht, brachte Beate nur einfache Zwei-Wort-Sätze hervor. Sie war zudem deutlich kleiner und leichter als Ella und wies Zeichen einer Mangelernährung auf. Und der kleine Zacharias lag in seiner Wiege und war, obwohl schon ein Jahr alt, nicht in der Lage, sich aufrecht hinzusetzen. Auch er schien für sein Alter zu klein und zu leicht. Martha seufzte. Jetzt begriff sie, warum Frau Schwenke immer so ablehnend gewesen war, wenn Martha ihr in besseren Tagen vorgeschlagen hatte, die Kinder zu untersuchen. Sie hatte sich für die Unterernährung geschämt. Aber warum? Jeder wusste, wie arm sie waren, sie hätte um Hilfe bitten können. Warum hatte sie das nicht getan?

Auf einmal kam Martha ein schlimmer Verdacht.

»Sag mal, Katrin, hat deine Mutter ab und zu mal ein Gläschen getrunken?«

»Was für ein Gläschen?«, fragte Katrin.

»Schnaps oder Korn?«

Katrin biss sich auf die Lippen und senkte den Blick.

»Also hat sie?«, bohrte Martha energisch nach. Katrin nickte stumm.

»Auch als sie mit Beate und Zacharias schwanger war?«

»Ich … weiß nicht.«

»Katrin, so leid es mir tut, aber es geht Beate und Zachy nicht gut, die müssten auch ins Krankenhaus. Die sind viel zu klein und schwach für ihr Alter. Im Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf wird man sie auf der Kinderstation wieder aufpäppeln. Wenn sie nicht sofort versorgt werden, bleiben sie immer kränklich und schwach, und wer weiß, ob sie den nächsten Winter überleben.«

Diesmal war Katrin erstaunlich schnell einverstanden. »Ist mir ganz recht, wenn ich nicht mehr ständig nach den beiden sehen muss«, sagte sie. »Ist mir ohnehin schon alles zu viel geworden mit den ganzen Kleinen, seit Papa tot ist und Mama nur noch im Bett liegt.«

»Das kann ich gut verstehen, Katrin. Du musst auch an dich denken. Und künftig wartest du nicht mehr so lange, wenn du Hilfe brauchst, sondern wendest dich gleich an mich oder an die Beratungsstelle von Fräulein Heymann.«

»Mach ich, Frau Studt. Bringen wir Mama und die Kleinen denn jetzt gleich ins Krankenhaus?«

»Ja, ich werde im Büro der Hafenmeisterei fragen, ob ich das Telefon benutzen darf, um einen Krankenwagen zu ordern. Die kennen das schon und sind immer sehr hilfsbereit, selbst am Sonntag.« Martha zwinkerte Katrin aufmunternd zu, allerdings fragte sie sich, ob sie Ella nun tatsächlich noch rechtzeitig vor dem Mittagessen für den vereinbarten Ausflug an die Alster würde abholen können. Es dauerte oft mehrere Stunden, bis einer der wenigen Krankenwagen kam, und so lange musste sie bei der Familie bleiben, damit sie sich sicher sein konnte, dass die Übergabe korrekt vonstattenging. Außerdem sah sie es als ihre Pflicht an, die Versorgung der übrigen Kinder zu gewährleisten, solange die Mutter im Krankenhaus war. Der dreizehnjährigen Katrin konnte sie das nicht zumuten, und die nächste Verwandte war eine Tante, die im entfernten Hamburger Umland lebte. Natürlich hätte sie veranlassen können, die Kinder vorübergehend in einem Heim unterzubringen, aber dann hätte man die Geschwister getrennt, und die Zustände in den Kinderheimen waren zum Teil erbärmlicher als in dieser schrecklichen Wohnung. Martha seufzte – dieser Sonntag stellte sie vor ganz besondere Herausforderungen.

Der Krankenwagen für Frau Schwenke und die beiden Kleinkinder kam schneller als erwartet, was auch Marthas gutem Ruf in den Allgemeinen Krankenhäusern zu verdanken war. Man hatte ihr sogar einen motorisierten Krankentransportwagen geschickt, ein Automobil mit aufklappbarer Heckklappe, durch die die Krankentrage ins Innere des Fahrzeugs geschoben und fest verzurrt werden konnte.

Katrin machte große Augen. Auch wenn man immer öfter Automobile im Straßenbild sah, so war es doch nach wie vor ein großer Luxus, und dass ausgerechnet ihre Mutter und Geschwister mit einem richtigen Auto fahren durften, beeindruckte sie tief.

»Aber können wir uns das überhaupt leisten?«, fragte sie unsicher.

»Mach dir darum mal keine Sorgen, das werden wir schon regeln«, sagte Martha und erklärte dem Sanitäter kurz, was sie vermutete – eine schwere Lebererkrankung bei der Mutter, die dringend abgeklärt werden musste, sowie schwere Mangelernährung bei den Kleinkindern. Dass sie zudem den Verdacht hegte, Frau Schwenke hätte dem Alkohol schon während ihrer Schwangerschaften zu heftig zugesprochen, behielt sie allerdings für sich. Mit einer kranken Mutter hatten alle Mitleid, aber wenn Alkohol im Spiel war, verwandelte sich das Mitleid schnell in Verachtung, und womöglich hätte man Frau Schwenke gleich in eine Trinkerheilanstalt geschickt, anstatt der Ursache ihres Leidens auf den Grund zu gehen. Dabei gab es noch zahlreiche andere Ursachen für eine erkrankte Leber. Parasiten waren sehr häufig, und manchmal mussten die dicken Kapseln, die Hundebandwürmer in der Leber hinterließen, in blutigen Operationen mühevoll entfernt werden.

Nachdem Frau Schwenke und ihre beiden Jüngsten auf dem Weg ins Krankenhaus waren, überlegte Martha, wie sie die Versorgung der übrigen Kinder sicherstellen konnte.

Möglicherweise konnte der Kindergarten des Frauenvereins helfen. Der Kindergarten war von jeher eines von Marthas Herzensprojekten gewesen. Als ihr Großer, Rudolf, 1905 geboren wurde, hatte sie keinen Grund gesehen, sich nun gänzlich auf das Leben als Ehefrau und Mutter zu beschränken, aber mit einem Säugling war es schwierig, weiterhin als Hafenschwester zu arbeiten. Zwar verdiente Paul gut, aber ein Gutteil seines Gehaltes ging für die teure Miete ihrer schönen Wohnung drauf, und was nach Abzug der Lebenshaltungskosten blieb, sparten sie für die Zukunft ihres Sohnes. Geld für ein Kindermädchen war da nicht mehr übrig.

Nachdem Martha das Problem damals mit ihrer Freundin Lida Heymann erörtert hatte, kamen die beiden Frauen zu dem Schluss, dass ein Kindergarten die Lösung wäre. Und so nutzten sie nicht nur ihren Einfluss im Hamburger Frauenverein, sondern auch Lidas finanzielle Mittel, um einen Kindergarten nach ihren eigenen Vorstellungen zu gründen. Sie hatten einige gute Vorbilder, denn Kindergärten kamen immer mehr in Mode, allerdings nicht, um den Müttern eine eigene Berufstätigkeit zu ermöglichen, sondern um Kindern Erziehung und Erbauung zu bieten, ehe sie in die Schule kamen. Natürlich gab es auch kritische Stimmen, die es für verwerflich hielten, wenn eine Mutter ihre kleinen Kinder täglich für mehrere Stunden in fremde Obhut gab. Doch das störte Martha nicht. Sie wusste, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen musste, wenn sie ein Vorbild sein wollte. Als zwei Jahre später Alfred geboren wurde, hatte sich der Kindergarten bereits zu einer allgemein anerkannten Institution entwickelt, und viele Mütter, die für den Unterhalt ihrer Familien sorgen mussten, nahmen die Hilfe gern in Anspruch. Allerdings bemerkte Martha auch hier einen Unterschied. Der Kindergarten wurde meist von jenen Frauen genutzt, die sich auch darum kümmerten, die Zahl ihrer Kinder zu beschränken, weil sie jedem einzelnen eine gute Zukunft bieten wollten. Frauen wie Frau Schwenke überließen die Aufsicht über ihre Kinderschar lieber den Ältesten, wie Katrin.

»Katrin, ich möchte, dass du dich morgen früh mit deinen Geschwistern in der Mühlenstraße 8 beim Kindergarten einfindest. Man wird euch dort weitere Unterstützung zukommen lassen, solange eure Mutter im Krankenhaus ist.«

»Im Kindergarten? Aber da sind doch nur die ganz Kleinen«, sagte Katrin. »Zachy und Beate sind doch jetzt im Krankenhaus. Das wäre dann höchstens noch was für Benjamin und Traudi, aber wir anderen gehen doch schon in die Schule.«

»Das weiß ich, aber stellt euch vor der Schule einfach mal dort vor, dann können Benjamin und Traudi bleiben, und ihr anderen habt nach der Schule, wenn ihr die Kleinen abholt, freundliche Erzieherinnen, die euch bei Problemen unterstützen können. Ich denke, bis du die Gutscheine von Fräulein Heymann bekommen und eingelöst hast, könnt ihr dort auch eine warme Mahlzeit kriegen. Ich werde euch ankündigen, wenn ich morgen früh Ella und Fredi dort abgebe. Habt ihr für heute Abend noch genug zu essen im Haus?«

»Ich denke schon.«

Nachdem Martha alles getan hatte, was in ihrer Macht stand, machte sie sich auf den Weg zum Bleichergang, um Ella abzuholen. Allerdings erfuhr sie dort von einer Nachbarin, dass ihr Vater gar nicht zu Hause war und Paul die Kleine mit zum Ausflug genommen hatte.

Als Martha begriff, dass sie dadurch auf einmal den unerwarteten Luxus freier Zeit hatte, wusste sie zunächst gar nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Sie hatte sich oft nach einigen Stunden nur für sich selbst gesehnt, aber jetzt war sie unsicher, wie sie die Zeit verbringen wollte. Am Sonntagvormittag erwartete niemand Besuch, also fielen spontane Treffen mit ihren Freundinnen von vornherein weg, zumal Schwester Carola heute womöglich arbeiten musste und Lida Heymann vielleicht mit ihrer Gefährtin einen Ausflug plante. Bei dem Gedanken an Lidas Lebensstil, der nur deshalb seit Jahren unbemerkt blieb, weil die moralische Gesellschaft sich keine weibliche Homosexualität vorzustellen vermochte, musste sie unwillkürlich an ihre Freundin Milli denken. Fast auf den Tag genau fünfzehn Jahre war es her, seit Milli Hamburg verlassen hatte, um sich zusammen mit ihrer Tochter Anna eine neue Zukunft in Amerika aufzubauen. Sie hatte einen einflussreichen New Yorker Bankier mit politischen Ambitionen geheiratet, aber es war eine Scheinehe, die lediglich dazu diente, seine Homosexualität vor der Welt zu verbergen. Aus diesem Grund hatte er auch Anna als sein leibliches Kind anerkannt. Die Ehe schien trotz allem glücklich zu sein, wie die vielen Briefe, die sie regelmäßig von Milli erhielt, bezeugten. Zudem hatte Milli noch zwei weitere Kinder bekommen. In ihren Briefen schrieb sie stets von »unseren Kindern«, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass Lawrence der Vater war. Aber war dem wirklich so? Obwohl es sie nichts anging, beschäftigte dieser Gedanke Martha, seit Milli sie von der Geburt ihres ersten Sohnes Marcus unterrichtet hatte und zwei Jahre später von der ihrer Tochter Octavia. Natürlich konnte sie solche Fragen keinem Brief anvertrauen. Sie vermisste Milli noch immer so sehr. In all den Jahren war kaum ein Tag vergangen, an dem sie nicht an ihre Freundin gedacht hatte.

Und auf einmal wusste sie, wie sie ihre freie Zeit nutzen wollte. Sie würde sich in Ruhe zu Hause in die gute Stube setzen und sämtliche Briefe, die Milli ihr in all den Jahren geschrieben hatte, noch einmal durchlesen und dabei die vielen Fotos betrachten, die ihre Freundin beigelegt hatte. Anschließend würde sie ihr selbst endlich wieder einmal schreiben. Durch ihre Briefe hatten sie etwas von der alten Vertrautheit und Wärme bewahrt, und Martha hoffte, dass sie nicht zu lange auf eine Antwort warten musste.

3

Am Montag war Rudi immer noch ganz aufgedreht von der Besichtigung des Imperator. Immer wieder erzählte er von den großen Dampfkesseln und dem prächtigen Schwimmbad. Martha war froh, dass er sich auf den Weg zur Schule machte, bevor er zum dritten Mal erzählen konnte, wie riesig das Schwimmbecken war.

Nachdem sie Fredi und Ella in die Obhut der Kindergärtnerin Fräulein Bach gegeben hatte, kündigte sie noch die Schwenke-Kinder an.

»Keine Sorge«, sagte Fräulein Bach mit der ihr eigenen Munterkeit. »Die bekommen wir auch noch satt, so lange, wie ihre Mutter im Krankenhaus ist. Die Kleinen können hierbleiben, bis sie von ihrer großen Schwester abgeholt werden.«

»Aber vergessen Sie nicht, der Katrin zu sagen, wann der Kindergarten zumacht. Ich hatte so ein bisschen den Eindruck, sie wäre ganz froh, wenn sie die Sorge für die Kleinen vollständig abgeben könnte. Nicht, dass sie vergisst, sie rechtzeitig abzuholen.«

Fräulein Bach nickte. »Ich werde es ihr sagen.«

Martha verabschiedete sich und machte sich dann auf den Weg zur Hauptpost, die in der Nähe des neuen Hauptbahnhofs lag. Viel hatte sich in den letzten Jahren zum Besseren verändert. Sie erinnerte sich noch gut an die weiten Fußwege, die sie in ihrer Jugend auf sich nehmen musste. Inzwischen war nicht nur das Straßenbahnnetz weiter ausgebaut worden, sondern vor sieben Jahren hatte man auch mit dem Bau der Hamburger Hochbahn begonnen, die mittlerweile direkt an den Landungsbrücken vorbeiführte. Und im Zentrum von allem lag der moderne Hauptbahnhof, ein riesiger, lichtdurchfluteter Kuppelbau, der die alten Kopfbahnhöfe ersetzte. Ein wenig bedauerte Martha es, dass der alte Berliner Bahnhof dafür abgerissen worden war. Wie oft hatte dieses prächtige Gebäude mit seinen beiden Türmen sie früher zum Träumen verleitet. Immer wieder hatte sie sich ausgemalt, wie wundervoll es sein musste, einfach in einen Zug einzusteigen und bis Berlin zu fahren. Doch er war für immer verschwunden, wie so vieles andere aus ihrer Jugend. Inzwischen wurde hier die neue Markthalle erbaut. Die Arbeiten waren schon sehr weit fortgeschritten, sodass man gut erkennen konnte, dass die künftige Deichtorhalle den Stil des neuen Hauptbahnhofs aufgriff. Und obwohl Martha den alten Bahnhof als Wahrzeichen vermisste, gefiel es ihr dennoch, wie die neuen Gebäude das Gesicht der Stadt langsam veränderten. Sie standen für die Zukunft, von der sie träumte – von einer Zukunft, in der das Leben für die Menschen dank der modernen Technik viel leichter und angenehmer sein würde.

Das Hamburger Hauptpostamt war sehr groß und wirkte auf Fremde recht unpersönlich, aber Martha kannte die meisten der Schalterbeamten mit Namen. Heute saß Herr Schneider hinter dem Postschalter und nahm ihren Brief nach Amerika entgegen.

»Da haben Sie Glück«, meinte der junge Mann, der von Alter und Statur her eher an den Hafen gepasst hätte als hinter einen Postschalter. »Heute wird noch ein Schiff mit Post aus Übersee erwartet, und das kann Ihren Brief dann auf der Rückfahrt gleich mitnehmen.«

»Sie sind der reinste wandelnde Fahrplan.«

»In der Tat«, bestätigte Herr Schneider nicht ohne Stolz. »Wenn es nach mir gegangen wäre, würde ich heute ganz sicher zur See fahren, aber meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich als Beamter in den Staatsdienst gehe.« Er seufzte. »Wissen Sie eigentlich, wie sehr ich Ihren Bruder beneide, Frau Studt? Als Kapitän auf einem Segelschiff die Ozeane zu bereisen … Das ist doch der Traum eines jeden Jungen, nicht wahr?«

»Ja, mein Bruder hat sich immer seine Träume erfüllt«, erwiderte Martha, während sie das Porto bezahlte. »Allerdings hat alles seinen Preis – wer ständig frei ist, wird nicht sesshaft.«

»Ist nicht das Schiff die wahre Heimat eines Kapitäns?«, fragte Herr Schneider.

»Und die See seine Braut, ich weiß. Allerdings ist die Familiengründung mit einer derart nassen und kalten Braut recht schwierig«, bemerkte Martha mit einem Augenzwinkern, ehe sie sich verabschiedete. Herr Schneider lachte nur.

Nachdem Martha die Post verlassen hatte, blieben ihre Gedanken noch eine Weile bei ihrem Bruder, denn die Worte des Schalterbeamten hatten einen wunden Punkt in Marthas Herzen berührt. Heinrich war jetzt dreiunddreißig Jahre alt und eigentlich im besten Alter, eine eigene Familie zu gründen, aber daran hatte er bislang nie einen Gedanken verschwendet. Anfangs war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich einen guten Ruf zu erarbeiten. Aber seit er vor fünf Jahren das Kapitänspatent erworben hatte und ein eigenes Schiff, einen prächtigen Viermaster namens Fortuna, kommandierte, war er noch weniger in Hamburg. Er besaß nicht einmal eine eigene Wohnung, sondern kam nach wie vor bei seinem Vater unter, wenn er in seiner Heimatstadt weilte. Für eine Familiengründung wahrlich keine guten Voraussetzungen. Aber als Martha ihn einmal sehr direkt darauf angesprochen hatte, hatte Heinrich nur die Schultern gehoben. »Falls ich einmal heiraten sollte, dann nur eine Frau, die bereit ist, mich auf meinen Reisen zu begleiten. Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, dass ich Kapitän bin«, hatte er augenzwinkernd argumentiert, denn es gab einige Kapitäne, die ihre Ehefrauen und manchmal sogar die Kinder regelmäßig mit auf die große Fahrt nahmen. »Wie soll ich sonst einen guten Ehemann und Vater abgeben, wenn ich ständig auf den Weltmeeren unterwegs bin?«

Martha sah auf ihre Uhr. Es war an der Zeit, sich auf den Weg ins Eppendorfer Krankenhaus zu machen. Sie ging zum Rathausmarkt und hatte Glück, dass gerade eine Straßenbahn kam, die nach kurzer Fahrt vorbei am Dammtorbahnhof und den vornehmen Häusern am Eppendorfer Baum direkt vor dem Eingang des Krankenhauses hielt.

Während sie durch das Hauptgebäude ging und den eigentlichen Krankenhaustrakt betrat, musste sie unwillkürlich daran zurückdenken, wie sie als fünfzehnjähriges Mädchen zum ersten Mal hierhergekommen war. Damals, als sie noch das arme Gossenkind aus dem Gängeviertel war, das man hier, in der Welt der elitären Mittelschicht, mit Argwohn betrachtet hatte. Schon seltsam, dass ausgerechnet heute diese alten Gefühle in ihr hochstiegen. Ob es daran lag, dass Katrin Schwenke sie an sich selbst als Kind erinnert hatte? Trotz aller Hoffnungen, die man in die Moderne setzen konnte, gab es nach wie vor viel zu viele Kinder, denen das Schicksal keine unbeschwerte Jugend gönnte. Sie selbst hatte noch Glück gehabt, ganz anders als ihre Freundin Milli. Milli … vermutlich dachte sie auch deshalb so viel an die alten Zeiten. Es waren die Briefe, die sie gestern gelesen hatte, die alten Erinnerungen an die traurige Kindheit von Milli, selbst wenn die das Elend längst hinter sich gelassen hatte.

Frau Schwenke befand sich auf der Station für Innere Medizin, und obwohl der Montag kein Besuchstag war, kam Martha nicht nur ihr guter Ruf als Hafenschwester zugute, sondern auch die Tatsache, dass sie die meisten Schwestern und sämtliche Ärzte persönlich kannte.

Schwester Veronika führte heute die Aufsicht über den Wachsaal. Martha mochte die junge Schwester, die erst im letzten Jahr ihr Examen abgelegt hatte. Veronika war immer fröhlich, und ihr größtes Problem lag darin, ihre widerspenstigen dunklen Locken so zu bändigen, dass das Schwesternhäubchen fest und sicher auf ihrem Haupt verblieb.

»Sie wollen bestimmt wissen, wie es Frau Schwenke geht«, sagte sie. »Doktor Schlüter hat sie heute Morgen untersucht und meinte, es wär höchste Zeit gewesen.«

»Doktor Schlüter hat sich selbst um den Fall gekümmert?«, fragte Martha überrascht. Sie kannte den Oberarzt seit vielen Jahren. Er hatte sie stets gefördert, und mit seiner Frau, die ein führender Kopf des Frauenvereins war, verband sie eine tiefe Freundschaft. Er war erst vor einigen Jahren vom Allgemeinen Krankenhaus in St. Georg in das moderne Eppendorfer Krankenhaus gewechselt und hatte dort maßgeblich am weiteren Ausbau der Abteilung für Innere Medizin mitgewirkt.

»Ja, als er gehört hat, dass Sie sie eingewiesen haben, meinte er, dann müsse es wohl wichtig sein, und wollte sich selbst ein Bild von ihr machen.«

»Und, was hat er gesagt? Ist es eine ansteckende Gelbsucht, oder vermutet er andere Ursachen?«

»Er wollte heute noch mal mit Ihnen sprechen und bat mich, Sie in sein Büro zu bringen, sobald Sie da sind. Er meinte, Sie würden heute auf jeden Fall kommen, um nach Frau Schwenke zu sehen.«

Martha lächelte. Doktor Schlüter kannte sie einfach zu gut. Noch vor ein paar Jahren wäre es im Eppendorfer Krankenhaus undenkbar gewesen, dass eine ehrenamtliche Krankenschwester von einem Oberarzt empfangen wurde. Aber seit Doktor Schlüter hier arbeitete, hatte sich einiges geändert – vor allem, was Martha anging. Die gemeinsamen Erlebnisse in den Zeiten der Cholera und des großen Streiks hatten Marthas Familie fest mit der des Arztes zusammengeschweißt.

Doktor Schlüters Gesicht hellte sich auf, als Schwester Veronika mit Martha ins Zimmer trat.

»Martha, schön, dich zu sehen.« Er reichte ihr die Hand.

»Ich freue mich auch, Friedrich«, erwiderte sie. Es war schon einige Jahre her, dass er ihr das Du angeboten hatte. Anfangs war es ihr schwergefallen, ihn beim Vornamen zu nennen. Zu sehr hatte sie in ihm den väterlichen Freund und die Respektsperson gesehen. Da sie sich aber damals bereits mit seiner Frau duzte, hatte der Doktor darauf bestanden: »Sonst komme ich mir ja vor wie ein alter Mann, ihr wollt mich doch nicht etwa ausschließen?«

Schwester Veronika verabschiedete sich, und Doktor Schlüter bot Martha den Stuhl an, der vor seinem Schreibtisch stand. Im Gegensatz zu seinem bescheidenen Büro im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg wäre dieses selbst einem ärztlichen Direktor angemessen gewesen. Die Einrichtung war aus dunklem Holz, überall standen gut gefüllte Bücherschränke, der massive Schreibtisch war mit zahlreichen verzierten Schubladen versehen. Es stand sogar ein schwarzes Telefon darauf.

»Diese Frau Schwenke bereitet mir ernste Sorgen«, kam Doktor Schlüter gleich zum Punkt. »Sie hat eine fortgeschrittene Leberzirrhose.«

»Soll das heißen, ihre Lebenserwartung ist begrenzt?«, fragte Martha erschüttert. »Aber sie ist erst zweiunddreißig und hat neun Kinder!«

Doktor Schlüter nickte. »Und genau darüber müssen wir uns nun Gedanken machen. Martha, ich nehme an, du ahnst, was die Ursache der Zirrhose ist, nicht wahr? Sonst hättest du die beiden unterernährten Jüngsten nicht auch hierherbringen lassen.«

»Sie trinkt heimlich«, sagte Martha leise. »Schon lange. Auch während sie mit den beiden Jüngsten schwanger war. Das hat mir ihre Älteste anvertraut. Frau Schwenke hat es lange Zeit geheim gehalten, aber man merkt es den Kleinen an. Die Kinder von Alkoholikerinnen sind oft kleiner und zurückgeblieben.« Sie atmete tief durch. »Wie viel Zeit bleibt ihr noch?«

»Wenn sie die akute Krise übersteht und den Alkohol künftig meidet, durchaus noch ein paar Jahre, dann wären die Kinder zumindest aus dem Gröbsten heraus. Allerdings glaube ich nicht, dass sie in ihrem Umfeld trocken werden kann. Wir müssen sie jetzt erst einmal durch den Entzug bringen und sie dann mit Infusionen und nahrhaftem Essen aufpäppeln. Aber das allein reicht nicht, denn ich fürchte, sobald es ihr besser geht, greift sie erneut zum Alkohol. Eigentlich wäre sie ein Fall für die Trinkerheilanstalt.«

»Aber was soll dann aus den Kindern werden?«, fragte Martha.

»Was soll aus ihnen werden, wenn sie stirbt?«, hielt er dagegen.

Martha blickte den Doktor an. »Ich glaube nicht, dass Frau Schwenke freiwillig in eine Trinkerheilanstalt gehen wird.«

»Nein, das glaube ich auch nicht. Und deshalb müssen wir jetzt überlegen, welche Schritte wir einleiten. Ihr Zustand und auch der ihrer Kinder ist gravierend genug, um eine Entmündigung und Zwangsunterbringung in einer Trinkerheilanstalt zu veranlassen. Die Kinder müssten dann allerdings ins Heim.«

»Genau das würde ich gern vermeiden«, erwiderte Martha. »Du weißt selbst, wie diese Kinderheime sind. Die größeren Kinder mögen sich durchbeißen, aber was soll aus den Kleinen werden?«

Doktor Schlüter nickte. »Ja, und das macht es nicht leichter. Vielleicht wäre es auch möglich, Frau Schwenke zur Abstinenz zu bewegen, wenn wir ihr sehr deutlich die Konsequenzen vor Augen führen.«

Martha seufzte. »Ich habe das zwei Jahre lang mit meinem Vater durchexerziert. Er konnte erst vom Alkohol lassen, als er ein neues Lebensziel fand. Ich frage mich allerdings, welches Ziel Frau Schwenke finden könnte. Sie hat sich seit dem Tod ihres Mannes vollständig aufgegeben.«

»Immerhin ist sie noch in der Lage, sich Schnaps zu besorgen.«

»Ich vermute, den lässt sie sich von den Kindern bringen. Da spielt sie die Kleinen ganz sicher auch gegeneinander aus. Wer hat Mama lieb genug, ihr einen Gefallen zu tun? Und wie sollen sich die Kinder dagegen schon wehren?«

»Und wenn wir die Heilsarmee einschalten?«, fragte Doktor Schlüter. »Dann hätte noch jemand anders ein Auge auf die Familie.«

Martha überlegte kurz. »Warum nicht?«, sagte sie dann. »Ich kenne da einige sehr durchsetzungsfähige Damen, aber natürlich besteht die Gefahr, dass Frau Schwenke denen die Tür vor der Nase zuschlägt.«

»Ach, ich glaube, mit meiner oberärztlichen Autorität werde ich ihr das schon schmackhaft machen. Würdest du für mich einen Kontakt zur Heilsarmee herstellen? Vielleicht könnte ja schon jetzt eine der Damen vorbeikommen und Frau Schwenke ins Gewissen reden. Und wenn wir ihr aufzeigen, dass ihr Entmündigung, Trinkerheilanstalt und Heimaufenthalt für die Kinder drohen, falls sie nicht abstinent bleibt, hört sie vielleicht auf uns.«

»Das werde ich gern tun«, versprach Martha. Dann verabschiedete sie sich von Doktor Schlüter und ging anschließend noch einmal zu Frau Schwenke. Allerdings bemerkte die neunfache Mutter kaum etwas von ihrem Besuch, denn sie war nicht ansprechbar und litt sichtlich unter dem Alkoholentzug. Martha begnügte sich damit, ihr eine Weile die Hand zu halten und zu erzählen, dass für ihre Kinder gut gesorgt sei. Sie hatte jedoch keine Ahnung, ob Frau Schwenke irgendetwas davon mitbekam.

Während Martha auf dem Weg zum Ausgang war, beschloss sie, gleich Nägel mit Köpfen zu machen. Sie nahm die Straßenbahn nach Altona, wo sie die Strandmission aufsuchen wollte, die so hieß, weil sie sich um Gestrandete kümmerte. Nun war Frau Schwenke zwar nicht gerade das, was man als »gestrandet« bezeichnen konnte, aber Martha kannte eine der dort tätigen Schwestern. Bertha Keyser würde ihr bestimmt weiterhelfen. Denn auch wenn Doktor Schlüters Vorschlag mit der Heilsarmee gut war, so glaubte sie, dass Schwester Bertha in diesem Fall weitaus besser geeignet wäre als die resoluten Offizierinnen der Heilsarmee, die sich eher mit trinkenden Familienvätern auseinandersetzten. Schwester Bertha betätigte sich als Straßenmissionarin und hatte ein großes Herz für Frauen und Kinder in Not. Sie war zehn Jahre älter als Martha und hatte viele Jahre in England und Frankreich gelebt, ehe es sie nach Hamburg verschlug. Obwohl sie erst kurz in Hamburg war, hatte sie bereits ein großes Netz an Kontakten geknüpft, um bedürftigen Familien zu helfen.

Leider war die Schwester gerade unterwegs, als Martha eintraf, und so konnte sie nur eine Nachricht hinterlassen. Sie schilderte kurz, worum es ging, und schrieb auch Doktor Schlüters Telefonnummer auf, damit Bertha sich direkt an den Oberarzt wenden konnte, um weitere Schritte zu besprechen. Anschließend machte Martha sich auf den Weg nach Hause, denn sie musste sich noch um ihre eigenen Pflichten kümmern, ehe sie die Kinder vom Kindergarten abholen musste und Paul von der Arbeit kam.

Den frühen Nachmittag verbrachte Martha damit, die Wäsche zu sortieren, denn der Botenjunge der Wäscherei Berlitz holte sie jeden Dienstagmorgen ab, um sie am Donnerstag sauber und gebügelt zurückzubringen. Während sie noch sortierte, klingelte es an der Tür. Seufzend unterbrach sie ihre Arbeit und hoffte, dass es kein weiterer Notfall war. Sie öffnete die Tür und zuckte vor Überraschung zusammen.

»Heinrich! Du bist in Hamburg? Warum hast du nicht geschrieben?«

Lachend nahm ihr Bruder sie noch im Türrahmen in die Arme und drückte sie fest an sich. Die Zeiten, da sie den muskulösen Mann mit dem blonden Vollbart, der sie um zwei Köpfe überragte, kleiner Bruder genannt hatte, waren längst vorbei.

»Ich hatte keine Gelegenheit. Aber dafür sollst du die Erste sein, der ich meine frischgebackene Ehefrau vorstelle.« Er ließ sie los, und erst jetzt fiel Martha die zierliche dunkelhaarige Frau mit den mandelförmigen Augen auf.

»Martha, das ist Li-Ming, ich habe sie vor einem Monat geheiratet. Sei etwas nachsichtig mit ihr, sie spricht noch kaum Deutsch.«

Dann sagte er etwas auf Chinesisch zu ihr, und Li-Ming reichte ihr lächelnd die Hand. »Seh’ e’f’eut.«

Martha ergriff die Hand, war aber unfähig, etwas zu erwidern. Heinrich hatte geheiratet! Still und heimlich. Und dann auch noch eine Chinesin? Sie wusste, dass ihr Bruder auf seinen Fahrten etliche Sprachen gelernt hatte. Er sprach fließend Englisch, Französisch und Spanisch. Aber dass auch Chinesisch dazugehörte, war ihr neu. Seit wann reiste er denn nach China? Und wie hatte er Li-Ming kennengelernt? War es eine spontane Hochzeit gewesen, oder kannten sie sich schon länger? Dafür sprach die Tatsache, dass Heinrich allem Anschein nach ziemlich gut Chinesisch sprach. Martha musterte ihre Schwägerin genauer. Li-Ming war hübsch wie eine der Porzellanpuppen, die man in der Spielzeugabteilung des großen neuen Warenhauses Hermann Tietz an der Alster kaufen konnte. Ihr Gesicht war dezent geschminkt und das lange dunkle Haar zu einem Knoten geschlungen, der von einer Perlmuttspange gehalten wurde. Sie trug ein dunkelblaues Seidenkleid, dessen Schnitt für europäische Augen ungewohnt war und ihr fremdländisches Aussehen auf raffinierte und zugleich elegante Weise betonte. Während sie ihre Schwägerin anstarrte, wurde Martha bewusst, dass Li-Ming die allererste Chinesin war, der sie jemals persönlich begegnet war. Ab und an hatte sie zwar männliche Asiaten am Hafen gesehen, aber das waren Seeleute, zu denen sie keinen näheren Kontakt gepflegt hatte.

Heinrich räusperte sich. »Ähm, willst du uns nicht hineinbitten?«

Martha spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen schoss. »O ja, entschuldige bitte. Li-Ming, ich bin auch sehr erfreut, dich kennenzulernen, wenngleich ich sehr überrascht bin, dass mein Bruder geheiratet hat, ohne uns zu informieren.«

Heinrich übersetzte Marthas Worte. Li-Ming lächelte scheu. Als sie die Wohnung betrat, bemerkte Martha Li-Mings kleinen Trippelschritt. Sie wusste, dass chinesische Mütter ihren Töchtern von klein auf die Füße banden, damit die winzig blieben, und sie fragte sich, ob das Gehen auf so kleinen Füßchen wohl schmerzhaft oder lediglich anstrengend war.

Sie führte Li-Ming und ihren Bruder ins Wohnzimmer.

»Bevorzugt Li-Ming Kaffee oder Tee?«, fragte sie, eingedenk ihres Wissens, dass die Chinesen eine reichhaltige Teekultur pflegten.

»Oh, da passt meine Frau perfekt zu mir.« Heinrich grinste. »Li-Ming schätzt Kaffee und ab und zu ein Bier.«

»Dann werde ich eben eine Kanne Kaffee für uns kochen. Wenn ihr nicht so überraschend hier eingetroffen wärt, hätte ich euch auch einen Kuchen gebacken.«

»Genau deshalb sind wir unangemeldet gekommen.« Heinrich zwinkerte ihr zu. »Wir wollten dich nicht dazu nötigen, einen großen Empfang zu geben.«

»Und warum hast du uns nichts von deiner geplanten Hochzeit geschrieben und stellst uns einfach vor vollendete Tatsachen?«

»Das erzähle ich dir, wenn der Kaffee fertig ist.« Heinrich, der Li-Mings Hand hielt, grinste noch immer. Martha fiel der liebevolle Blick auf, mit dem seine Frau ihn bedachte, und hoffte, dass diese Eheschließung keine unüberlegte Reaktion auf eine Verliebtheit war. Immerhin kamen sie aus ganz unterschiedlichen Welten, und selbst wenn Li-Ming Heinrich auf seinen Fahrten begleiten würde, mussten sie sich irgendwann für eine gemeinsame Welt entscheiden, in der sie ihre Kinder großziehen wollten.

Nachdem Martha mit dem Kaffee zurückgekehrt war und ihrem Bruder und Li-Ming eingeschenkt hatte, wartete sie gespannt auf Heinrichs Erzählung. Doch ihr Bruder machte es wie immer spannend. Erst einmal trank er einen Schluck Kaffee und lobte das Aroma, während er aus den Augenwinkeln Marthas ungeduldige Stirnfalte mit einem schalkhaften Blick bedachte. Doch endlich hatte er ein Einsehen mit ihrer Neugier, und so begann er zu erzählen.

4

New York, 1910

Heinrich liebte die See und die Einsamkeit auf dem Meer, aber noch mehr genoss er den Trubel der zahlreichen Hafenstädte, die er regelmäßig anlief. Im Sommer waren es vor allem die großen Häfen auf dem amerikanischen Kontinent, während er im Winter das Mittelmeer bereiste. So hatte er es schon als Schiffsjunge gelernt, und so hatte er es beibehalten, als er selbst Kapitän geworden war. Vor zwei Jahren hatte sich sein größter Traum erfüllt, als er das Kommando über den stolzen Viermaster Fortuna erhalten hatte. Doch mit dem Erfolg kam die Ernüchterung, denn inzwischen war es deutlich schwieriger geworden, mit einem Segelschiff im Überseehandel zu bestehen. Die großen Dampfschiffe verdrängten die Segler immer mehr. Sie konnten mehr Ladung aufnehmen und waren trotzdem schneller. Viele Handelsgesellschaften schlossen von vornherein Verträge mit den großen Dampfschiffreedereien und griffen auf Segelschiffe nur im äußersten Notfall zurück. Für Schiffe wie Heinrichs Fortuna blieben da nur kleine Handelshäuser übrig, die im Kampf um die Kapazitäten der Dampfschifffahrtsgesellschaften ins Hintertreffen gerieten. Immerhin konnte Heinrich auf einen festen Kundenstamm vertrauen und wurde für seine Zuverlässigkeit geschätzt.

Am Freitag, dem 17. Juni 1910, lief er wieder einmal im Hafen von New York ein. Nachdem er die üblichen Formalitäten erledigt hatte, überließ er seinem Ersten Maat Olaf die Aufsicht über das Entladen und machte sich auf den Weg nach Chinatown. Schon als Schiffsjunge hatte er eine Vorliebe für diesen exotischen Stadtteil entwickelt und sich stets gefreut, wenn die Vollmatrosen ihn mitgenommen hatten.

Die große Vielfalt, die sich in New York bot, faszinierte Heinrich jedes Mal aufs Neue. Dieser Mikrokosmos, der die Welt abbildete. Und Chinatown war in seinen Augen das exotischste Juwel in dieser Stadt. Er kannte die einschlägigen Etablissements, die kleinen Spelunken und Opiumhöhlen ebenso wie die gehobenen Touristenlokale und die großen Vergnügungspaläste, die vorwiegend auf gut zahlende, westliche Flaneure aus waren.

An diesem Abend führte ihn sein Weg Zum Goldenen Lotos. Eine Mischung aus Speiselokal und Animierbetrieb, wo sich chinesisches mit westlichem Brauchtum mischte und das gern von Gästen aufgesucht wurde, die das exotische Flair liebten, aber nicht auf die gewohnten Getränke verzichten wollten. Die meisten Chinesen in Chinatown sprachen kein Englisch, aber hier hatte Heinrich schon einige interessante Bekanntschaften geschlossen und sogar etwas Chinesisch gelernt, das er immer wieder gern mit den Animierdamen verbesserte. Manche der Mädchen boten neben Gesprächen auch andere Dienste an, waren dabei aber deutlich diskreter als die Huren in den gewöhnlichen Hafenkneipen. Sie gaben dem Mann stets das Gefühl, dass es ihnen nur um ihn selbst ging und nicht um sein Geld. Und sie waren darin so gut, dass Heinrich trotz seiner Abgeklärtheit manchmal unsicher wurde, was nun echt und was geschauspielert war.