Das Zeitalter der Fitness - Jürgen Martschukat - E-Book

Das Zeitalter der Fitness E-Book

Jürgen Martschukat

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Beschreibung

Die Geschichte des Körpers im Neoliberalismus – wie Fitness zur Signatur der Moderne wurde. Wer nicht fit ist, ist irgendwie außen vor. Und wer dick ist, erst recht. Unsere Körper sind unser Kapital. Fitness ist ein Statement. Der Historiker Jürgen Martschukat erzählt, wie wir dahin gekommen sind. Warum werden Manager zu Marathonläufern? Was hat es mit Michelle Obamas »Let's-Move«-Programm auf sich? Tatsächlich ist Fitness mehr als erfolgreich Sport zu treiben. Wer sich fit hält, übernimmt Verantwortung. Für sich und die Gesellschaft. Er zeigt sich leistungsfähig – ob in der Arbeitswelt, beim Militär oder beim Sex. Eine spannende Bilanz zum Verhältnis von Körper und Macht im neoliberalen Zeitalter – vielleicht ist das Leben als Couchpotato die moderne Form des Widerstands.

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Jürgen Martschukat

Das Zeitalter der Fitness

Wie der Körper zum Zeichen fürErfolg und Leistung wurde

FISCHER E-Books

Inhalt

Einleitung: Das Zeitalter der Fitness1 »Fit statt fett«? Fitness in Zeitgeschichte und GegenwartRadsport und Self-TrackingGesundheit, Fitness und Fatness in Zeiten des Neoliberalismus›Richtig‹ essen seit dem Jahrzehnt des ICHsDas »rechte Maß« an Bewegung seit dem Jahrzehnt des ICHs»Fit or Fat?«2 Fitness: Konjunkturen eines Konzepts seit dem 18. Jahrhundert»Die unveränderliche Zweckmäßigkeit der Dinge«?Fitness, Darwin und die Erfindung naturnotwendigen WettbewerbsFitness, Differenz und politische TeilhabeFitness in Zeiten von Krise und KriegFitness und Konsumkultur3 Arbeiten»Corporate Fitness«, oder: Trimmen für die Arbeit IFirmenfreizeit und Betriebssport in der Geschichte des KapitalismusDie neue Klasse der Angestellten»Corporate Fitness«, oder: Trimmen für die Arbeit IIAtemlosigkeit als Normalzustand4 Sex haben»Leistungs-Plus« durch »Phallus-Pille«Hart in jedem AlterDer »Impotenz-Boom«»Penis-Doping«Von Elektrogürteln, Verjüngungsoperationen und der Psychologisierung des Sexes im 19. und 20. JahrhundertDinge, die einen Unterschied ausmachenWie Viagra Männlichkeit machtSex im Zeitalter der Fitness5 KämpfenFitness Heroes IBürgersoldaten und nationale HeldenMomente des Umbruchs zu postheroischen Zeiten?Fitness Heroes II»Unsere Zukunft als Gattung«6 Produktiv, potent, kampfbereit?DankLiteraturAbbildungsnachweisRegister

Einleitung: Das Zeitalter der Fitness

Wir leben im Zeitalter der Fitness. Zehntausende starten bei Marathonläufen und Jedermann-Radrennen, Millionen joggen abends noch eine Runde im Park oder trainieren in Fitnessstudios, arbeiten dort mit Gewichten und Geräten oder machen Yoga, und Aktivurlaube aller Art sind so populär wie noch nie. 1970 war das so noch kaum denkbar. Wanderurlaube waren etwas für Rentner und das Windsurfen gerade erst erfunden, der Berlin-Marathon existierte noch gar nicht. Die wenigsten Erwachsenen besaßen ein Fahrrad, die Zahl der Fitnessstudios in Deutschland und selbst in den USA konnte man an einer Hand abzählen. Doch seitdem boomt Fitness. Führen wir uns nur die Dimensionen des Fitnessmarktes vor Augen. Allein in Deutschland haben Aktive (und solche, die aktiv erscheinen wollen oder sich zumindest vornehmen, aktiv zu sein) im Jahr 2015 über 50 Milliarden Euro für Fitnessartikel ausgegeben: für Laufschuhe und Funktionskleidung, Hanteln und Karbonfahrräder, Energiedrinks und Diätnahrung. Ebenso hoch im Kurs stehen Fitnesskurse und Aktivreisen, Trainingsmagazine und Bücher, Apps und Gadgets. Fitnessstars wie Kyla Itsines – um hier nur eine von vielen zu nennen – haben Millionen Follower auf Instagram; Bilder von austrainierten Körpern sind in den sozialen Medien ein Hit.[1]

All den »fittenden« Menschen ist gemein, dass sie aktiv sind, sich aber nur selten in Vereinen oder Clubs organisieren. Sie spielen nicht in einer bestimmten Klasse oder Liga, und es geht ihnen fast nie ums Gewinnen, und trotzdem wollen sie sich alle irgendwie verbessern. Sie betreiben keinen Sport im Sinne eines organisierten Wettbewerbssports, wie er sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von England aus in modernen Gesellschaften verbreitet hat.[2] Wer Fitnesstraining betreibt, will keine Medaille gewinnen. Fitnesstraining zielt vielmehr auf einen fitten Körper. Der wiederum steht für verschiedene, sich teilweise überlagernde Kräfte, Fähigkeiten und Ideale, die weit über das Sporttreiben hinausweisen. Da sind Gesundheit und Leistungsfähigkeit in Alltag und Job zu nennen, Produktivität und Kampfbereitschaft, Potenz, Schlankheit und normschönes Aussehen. Es geht außerdem darum, »das Richtige« und sich »etwas Gutes« zu tun, »das Beste« aus sich rauszuholen und dafür Anerkennung zu erhalten. Manchmal geht es auch um die Freude an Bewegung und Aktivität, wobei die verschiedenen Antriebskräfte einander nicht ausschließen.

Das Streben nach Fitness[3] ist Teil einer Kultur und Gesellschaft, in der zugleich über zunehmend dicke Körper geklagt wird. Im 21. Jahrhundert wird Dicksein sogar als epidemisch bezeichnet, und Gesundheitsprobleme wie Diabetes Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind ein Dauerthema. Vor allem in westlichen Gesellschaften, aber mittlerweile auch weltweit habe der Bewegungsmangel »erschreckende Ausmaße«[4] angenommen, ist ständig zu vernehmen. Der sogenannte sitzende Lebensstil sowie ungesunde, kalorisch dichte Ernährung gelten als Hauptursachen zunehmenden Dickseins. Es gibt also einerseits eine Kultur der Fitness, andererseits den sorgenvollen Blick auf Bewegungsmangel und um sich greifende Fatness. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinschauen als Teil einer einzigen gesellschaftlichen Formation. In deren Zentrum steht das selbstverantwortliche, leistungsbereite und leistungsfähige Individuum. Beide Seiten dieser Medaille (die Kultur der Fitness wie die Furcht vor dem Fett) kreisen um das erfolgreiche Selbst, das sich in der Ermächtigung über den eigenen Körper als erfolgreich zeigt (oder eben nicht). Mangelnde Fitness ist das Menetekel (post)moderner Gesellschaften.

Um unser Zeitalter der Fitness genau zu verstehen, wird in diesem Buch auf die Geschichte geschaut. Die Frage nach dem Heute historisch zu stellen heißt, die Geschichte als Raum zu begreifen, »in dem die Gegenwart geformt wurde«.[5] Wir müssen die Geschichte bemühen, um die eigene Gegenwart greifen, ihre Probleme und Paradigmen identifizieren und kritisch an ihren Kontroversen teilhaben zu können.

Dies bedeutet, das Thema Fitness mit dem Projekt des freien, selbstverantwortlichen Individuums und seiner Geschichte zu verknüpfen. Denn Fitness, das zeigt sich in diesem Buch, steht für gelebte Selbstverantwortung und trägt dazu bei, diese als Ideal zu festigen. Eine Geschichte der Fitness zu schreiben bedeutet auch, den historischen Konjunkturen von Wettbewerb und Leistung nachzugehen und nach ihrer Bedeutung für moderne Gesellschaften, für deren Organisation und für die Teilhabe verschiedener Menschen zu fragen. Dabei sind Körperform und Gesundheit sowie deren Verhältnis zueinander wichtige Parameter. Vor allem aber ist eine Geschichte der Fitness eine Geschichte des Körpers als Gesellschaftsgeschichte: eine Geschichte der Werte und Normen, der Wissens- und Diskursordnungen, der Repräsentationen und Figurationen, der Technologien und Praktiken des Körpers. Eine solche Körpergeschichte zeigt, wie Menschen über ihre Körper zur Gesellschaft ins Verhältnis gesetzt werden und wie sie dies auch selber tun.[6]

Meine Beobachtungen konzentrieren sich auf die jüngste Geschichte seit den 1970er Jahren. Das letzte halbe Jahrhundert kann als das Zeitalter der Fitness gelten, das keineswegs zufällig mit dem Zeitalter des Neoliberalismus zusammenfällt. Neoliberalismus dient hier nicht als pauschalisierender Kampfbegriff, sondern vielmehr als Bezeichnung einer Epoche, die sich vor allem am Modell des Marktes ausrichtet, jede Lebenslage als Wettbewerbssituation deutet und Menschen dazu auffordert, ihre Freiheit erfolgreich zu nutzen. Damit beschreibt Neoliberalismus eine bestimmte Weise, Gesellschaft und Subjekte zu denken, deren Verhalten zu verstehen und als angemessen oder unangemessen einzuordnen. Das Individuum soll an sich arbeiten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leistungsfähigkeit Sorge tragen und diese im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern. Diese Anforderung hat im Neoliberalismus eine nie gekannte Wucht entfaltet.[7] Fitness ist überall. Fitness, so ließe sich mit dem Philosophen Michel Foucault formulieren, ist ein Dispositiv – und damit genau jene Kraft, die Diskurse und Praktiken, Institutionen und Dinge, Gebäude und Infrastrukturen, administrative Maßnahmen, politische Programme und vieles mehr zusammenbindet, so dass sie eine epochenprägende Kraft entfalten.[8]

Ich greife aber auch weiter in der Geschichte zurück, um das Zeitalter der Fitness verstehen zu können. Bisweilen führen die Spuren bis in das 18. Jahrhundert, wenn es etwa um die Idee von Freiheit und Selbstbestimmung geht oder um die Disziplinierung des soldatischen Körpers. Doch nicht nur der Soldat, auch der neue Bürger sollte diszipliniert und aufrecht sein, nicht übersättigt, degeneriert und körperlich träge wie der Adel oder geschunden und gebückt wie der dritte Stand.[9] Auch die Mitte des 19. Jahrhunderts fordert in einer Geschichte der Fitness bisweilen besondere Aufmerksamkeit. Dies ist die Zeit, als der Darwinismus, das survival of the fittest und die Vorstellung naturnotwendigen Wettbewerbs die Bühne betraten. Und in den Jahrzehnten um 1900 erlebten moderne Gesellschaften erstmals einen Fitnesshype. Zugleich waren sie von einem Krisenszenario geplagt, das auch als Krise des Körpers erfahren wurde. Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert ist dabei für eine Gegenwartsgeschichte der Fitness in vielerlei Hinsicht wegweisender als der Körper- und Leistungskult von Faschismus und Nationalsozialismus. Oft rücken auch die 1950er und 1960er Jahre ins Zentrum der Betrachtung. Nach Jahren von Krise und Krieg gab man sich auf beiden Seiten des Atlantiks wieder den Freuden des Konsums hin. Damit aber kamen sogleich Sorgen um dessen schädliche Folgen für Körper, Gesundheit und Leistungsfähigkeit auf.

Die Geschichte der Fitness, die in diesem Buch erzählt wird, ist eine kritische Geschichte. Dies bedeutet, dass hier die Ambivalenzen von Fitness in den Blick genommen werden. Es wird aufgezeigt, wie über Fitness – verstanden als die Freiheit, am Körper und am erfolgreichen Selbst zu arbeiten – »regiert« wird. Dies heißt, Freiheit nicht nur als menschliches Grundrecht und Chance zu preisen. Vielmehr ist Freiheit mit der an uns alle gerichteten Anforderung verknüpft, ebendiese produktiv und bestmöglich zu nutzen. Über den Erfolg oder Misserfolg, den Menschen dabei erfahren, werden Differenzen etabliert, Ausschlüsse vorgenommen und Privilegien legitimiert.[10] Das Mit- und gleichzeitige Gegeneinander von Fitness und Fatness, ihrer Bedeutungen und Assoziationen zeigt die vielfältigen Spannungen, die das Regieren über Freiheit mit sich bringt. Fitness und Fatness haben wesentlichen Einfluss darauf, ob ein Mensch als Mitglied der Gesellschaft Anerkennung erfährt; darauf, wer als Subjekt gelten kann und wer nicht.[11]

Ich werde Fitness in diesem Buch immer wieder in »der Moderne« verorten, als deren Kennzeichen und regulierendes Ideal beschreiben. Moderne Gesellschaften haben ständige Optimierung und Erneuerung zu einer ihrer Maximen und Leistungen erklärt, und Fitness postuliert die ständige Optimierung des Körpers und des Selbst. Entsprechend sind Moderne und Fitness in ihrem Verlauf eng ineinander verschränkt, beide nehmen im späten 18. Jahrhundert ihren Anfang und erleben in den Jahrzehnten um 1900 eine Hochphase. Im ausgehenden 20. Jahrhundert haben sowohl die Moderne als auch die Fitness begonnen, sich in wesentlichen Aspekten zu wandeln oder zuzuspitzen; etwa, was das Paradigma der Machbarkeit und Gestaltbarkeit des Körpers anbelangt. Die Arbeit am eigenen Körper gewinnt in der Postmoderne noch einmal an Bedeutung, und dabei ist, wie die Soziologin Paula-Irene Villa schreibt, »Körperarbeit immer und unausweichlich Arbeit am sozialen Selbst«.[12]

Ähnlich verhält es sich, wenn ich vom »Westen« spreche als dem Raum, in dem die folgende Geschichte der Fitness im Wesentlichen spielt. Ich bezeichne so eine Gemeinschaft von Werten, Normen und Prinzipien, zu denen auch der produktive Gebrauch der Freiheit, die Optimierung des Selbst und ständiger Fortschritt gehören.[13] Entsprechend richten die folgenden Kapitel ein Hauptaugenmerk auf die USA und Europa, hier vor allem Deutschland, und auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede im Verhältnis von Freiheit, Körpern und Gesellschaftsordnung auf beiden Seiten des Atlantiks. Bei den USA handelt es sich um die Gesellschaft, die sich der Vorstellung von Freiheit als Norm und als Praxis am vehementesten verschrieben hat.

Fitness operiert also über den Körper, bleibt aber mitnichten auf diesen beschränkt. Deshalb geht es in diesem Buch auch um weit mehr als »nur« um das Training des Körpers. Das erste Kapitel legt den Schwerpunkt auf unsere Gegenwart und die jüngste Vergangenheit und auf die Bedeutung von Körperform und -materialität. Deshalb stehen solche Praktiken und Politiken im Mittelpunkt, die sich unmittelbar auf den Körper richten und in unseren Gegenwartsgesellschaften geradezu obsessiv betrieben werden: Bewegung und Ernährung. In Kapitel zwei wird die Geschichte des Fitnesskonzepts skizziert, vom 18. Jahrhundert bis zu den 1970er Jahren. Es zeigt, wie die Vorstellung von Dynamik und Machbarkeit moderne Gesellschaften zunehmend durchdrungen hat und sich die Vorstellung von Fitness herausgebildet hat, wie wir sie heute kennen. Die Kapitel drei, vier und fünf führen noch weiter über Fitness als Körperpraxis hinaus. Es geht darin um drei Felder, die für die Anerkennung eines Individuums als produktives Gesellschaftsmitglied und als Subjekt äußerst bedeutsam sind. Kapitel drei befasst sich mit dem Verhältnis von Fitness und Arbeit, kreist also um die Bedeutung von Körper und Produktivität. Kapitel vier wendet sich dem Verhältnis von Fitness und Sex zu und nimmt damit Fragen von Reproduktivität und Potenz in den Blick. Das fünfte Kapitel erörtert das Verhältnis von Fitness und Kampfbereitschaft. Es diskutiert, wie Fitness und Heldenvisionen ineinandergreifen. Diese waren lange soldatisch geprägt, speisen sich seit geraumer Zeit aber mehr und mehr aus den Kämpfen des Alltags.

Jedes einzelne Kapitel kann für sich stehen und gelesen werden. Doch freilich offenbart nur die Lektüre des gesamten Buches, wie tief Fitness in moderne Gesellschaften eingeschrieben ist und wie entscheidend Fitness für Erfolg oder Misserfolg, Anerkennung oder Ausgrenzung in einer Gesellschaft ist, die auf Selbstverantwortung, Leistung, Markt und Wettbewerb setzt.

1»Fit statt fett«? Fitness in Zeitgeschichte und Gegenwart

Radsport und Self-Tracking

Wer Radsport betreibt – egal ob Jedermann oder Profi, egal ob auf der Sonntagsrunde oder im Aufstieg nach Alpe d’Huez –, führt auf dem Lenker einen kleinen Fahrradcomputer mit sich. Er misst die Geschwindigkeit, die zurückgelegte Distanz und die gekletterten Höhenmeter, aber auch, je nach Gerät, den Pulsschlag, die Trittfrequenz und die Wattleistung. Außerdem werden – angeblich – die verbrauchten Kalorien berechnet. Der Zweck liegt auf der Hand: Der Fahrradcomputer dient der Selbstbeobachtung, soll Auskunft über den Leistungsstand erteilen und helfen, das Training zu optimieren, den Körper zu perfektionieren und das Potential des Radsportlers zu steigern. Die Symbiose von Körper und Technik, die im Radsport ohnehin grundlegend ist, hat ein neues Level erlangt.[14]

Was die gezielte Verbesserung der eigenen Leistung anbelangt, hat ein solches Gerät allerdings ein Manko. Zwar registriert es sehr genau, was auf dem Rad passiert (freilich nur die körperliche Leistung und nicht etwa die Freude an der Bewegung oder gar der Landschaft), aber nicht, was sich außerhalb des Trainings alles tut. Das Gerät weiß nicht, wie viel ich mich sonst bewege, wie viel Bier ich trinke, ob ich mich von fettem Fleisch und Chips ernähre und ob ich gut und ausreichend schlafe. Um dies zu beobachten und zu bewerten, bedarf es anderer Technik. Wird ein Smartphone mit einer entsprechenden App ausgestattet und durch einige Gadgets ergänzt, so lässt sich das eigene Verhalten 24 Stunden am Tag verfolgen, messen und auswerten. Von Fitness- oder Self-Tracking ist dann die Rede. Man kann dafür auch eine Computeruhr oder ein Fitnessarmband am Handgelenk nutzen. Damit durchdringt das Messen und Erfassen des eigenen Tuns den gesamten Alltag bis in die Traumphasen hinein – und das alles im Dienste der Leistungsfähigkeit.

Angeblich zeichnet in Deutschland etwa ein Drittel der Menschen auf die eine oder andere Art Daten über Bewegung, Essen und Schlafen sowie Körperwerte auf. In den USA sollen es fast 70 Prozent sein, wobei die Zahlen stark variieren, je nachdem, wen man fragt und wovon man genau spricht.[15] In der San Francisco Bay Area wurde im Jahr 2007 die Quantified Self-Bewegung ins Leben gerufen, die mittlerweile in der gesamten westlichen Welt verbreitet ist. Deren Anhänger messen nicht nur ihre Körper-, Verhaltens- und Umgebungsparameter. Sie lassen auch psychologische Tests, Genomsequenzierung und vieles mehr durchführen. Das Ziel ist, heißt es auf der Internetseite der deutschen QS-Community, »uns zu reflektieren und zu erkennen, was bessere, informiertere Entscheidungen erlaubt«.[16] Viele Self-Tracker teilen ihr Wissen und ihre Daten im Internet mit einer Community von Gleichgesinnten, die Partner und Konkurrenz in einem sind. Mittlerweile gewähren Krankenversicherer auf beiden Seiten des Atlantiks für das Self- und Fitness-Tracking beziehungsweise für die dabei generierten Daten Rabatte. Sie haben entsprechende Apps entwickelt oder stellen die notwendige Technik zur Verfügung. So könne das Risiko einer Erkrankung früher und besser erkannt werden, behaupten die Versicherungen.[17]

Dies wirft sensible gesellschaftliche und politische Fragen über die elektronische Patientenakte und Big Data im Gesundheitswesen auf. Doch hier geht es um etwas anderes, nämlich um Self-Tracking als paradigmatische Praktik einer Kultur und Gesellschaft, die auf freie Individuen, Wettbewerb, Markt und Leistung als wesentliche Prinzipien setzt. Die QS-Bewegung selbst hebt hervor, dass ihr Tun auf »alle Lebensbereiche« ausgerichtet sei. Ihr Konzept von Fitness reicht also weit über Sport und das eigentliche Körpertraining hinaus. Zwar sind Self-Tracker zunächst dem Verhältnis zwischen sich und ihrem Körper auf der Spur. Ihr Tun und die generierten Daten erlauben es jedoch zugleich, Beziehungen zwischen Körper, Individuum, Gesellschaft und Lebensumwelt herzustellen. Self-Tracking kann in einer Gesellschaft, die auf die Eigenverantwortung und Leistungsfähigkeit ihrer Mitglieder baut, sogar als Praxis engagierten Bürgerseins gelten. Das Konzept des Bürgerseins beschränkt sich also nicht auf eine rechtliche Ebene. Es umfasst auch die Frage, wer warum als produktives Mitglied von Gesellschaft anerkannt wird und daraus Ansprüche ableiten kann. Wenn das Arbeiten an der eigenen Fitness ein maßgebliches Kriterium für diese Anerkennung ist, dann ist der Radsportler im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert ein Prototyp des guten Bürgers.[18]

Gesundheit, Fitness und Fatness in Zeiten des Neoliberalismus

Fitness ist also mehr als die Voraussetzung für sportlichen Erfolg. Im 21. Jahrhundert besteht hier weithin Einigkeit, egal ob man Gesundheitsbehörden, den Soziologen Zygmunt Baumann, den Philosophen Peter Sloterdijk oder die Kinesiologin Karen Volkwein fragt.[19] Volkwein etwa definiert Fitness als durch Training stabilisierte Gesundheit.[20] Diese Definition mag zunächst klar und einfach erscheinen, aber bei genauerem Hinschauen offenbart sie die enorme Reichweite und Komplexität und die vielen Implikationen von Fitness. Erstens – und ganz offensichtlich – hängt Fitness eng mit Gesundheit zusammen, und Gesundheit meint in der jüngeren Geschichte westlicher Gesellschaften mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit, so die WHO schon bei ihrer Gründung 1948, ist ein Zustand körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Dies impliziert die Möglichkeit und Fähigkeit, Herausforderungen zu meistern und ein gutes, produktives Leben zu leben. Gesundheit wird damit auch zu einem Zeichen des Erfolgs und einer Voraussetzung von Anerkennung. Zweitens besagt Volkweins Fitnessdefinition, dass Gesundheit durch Training stabilisiert werden oder durch Nicht-Training vernachlässigt und aus dem Lot gebracht werden könne. Damit werden Gesundheit und Lebensqualität – nicht vollkommen, aber doch ein gutes Stück weit – in die Eigenverantwortung der Individuen gelegt. Sie müssen sich für sich und ihr Leben engagieren und entsprechend vorbeugend handeln. Praktiken der Prävention lassen sich als »eine zentrale Kulturtechnik der Moderne« beschreiben. Seit den 1950er Jahren ist »Prävention« zu einem Schlüsselprinzip in Medizin und Gesellschaft geworden, das den Menschen, so der Soziologe Ulrich Bröckling, »als selbstverantwortlichen und kompetenten Agenten seines eigenen Lebens in die Pflicht [nimmt]«.[21] Drittens kann Gesundheit durch Training zwar stabilisiert werden, aber doch niemals vollkommen stabil sein. Gesundheit kann also nie erreicht werden, zumindest nicht endgültig. Man gelangt nie zu diesem Punkt, und je älter man wird, desto mehr entfernt man sich davon. Wer aufhört zu trainieren und an der eigenen Fitness zu arbeiten, vernachlässigt die Gesundheit. Gesundheit ist flüchtig, sie verlangt permanente Arbeit an sich selbst und bedeutet ständiges Tun. Die Logik der Fitness ist sehr wirkmächtig, auch wenn wir alle wissen, dass trotz ständiger Selbstsorge Krankheiten auftreten können.[22]

1

Werbung für die Microsoft Smartwatch, 2014

Damit ist Gesundheit ein höchst normatives Konzept, das Vorstellungen guter und schlechter Lebensführung prägt.[23] Noch mehr gilt dies für Fitness, da sie ausdrücklich als Scharnier zwischen Lebensführung und Gesundheit fungiert. »Know Yourself. Live Better« und sogar »be a better human« lauten die Aufforderungen von Firmen wie Jawbone oder Microsoft an potentielle Käufer ihrer Fitnessarmbänder. Aufforderungen, die zugleich als Versprechen daherkommen.[24] Fitness ist ein regulierendes und normierendes Ideal freiheitlicher, moderner Gesellschaften. Es beschreibt nicht nur, wie du bist, sondern auch, wie du sein solltest – und wie du so werden kannst, wie du sein solltest.[25]

Folglich müssen wir kritisch danach fragen, wie Fitness wirkt, und die Einhegungen und Ausschlüsse, die über sie erfolgen, offenlegen.[26] Wer gilt als fit, wer nicht? Was passiert, indem die einen als fit gelten und die anderen nicht? Menschen werden über Fitness regiert, und dies gilt vor allem für freiheitliche Gesellschaften, die das freiwillige Mitmachen in besonderem Maße einfordern.[27] Denn in freiheitlichen Gesellschaften ist das eigenverantwortliche Individuum zentrales Prinzip. Und Eigenverantwortung bedeutet auch, sich um die eigene Leistungsbereitschaft und -fähigkeit in sämtlichen Lebensbereichen zu kümmern. Wer dies erfolgreich tut, der zeigt, dass er Verantwortung für sich und die Gesellschaft übernehmen kann. Wer als erfolgreiches Individuum und gutes Gesellschaftsmitglied gelten will, muss produktiv, reproduktiv und kampfbereit sein. Man muss arbeitsam sein, attraktiv und stark. Fitness ist dabei regulierend und normierend nicht in dem Sinne, dass sie notwendig von außen erzwungen würde, etwa über Verordnung und Strafe. Aber Fitness erzeugt Randzonen und Verwerfungen und damit Ausschlüsse, darin liegt ihre regulierende und normierende Wirkung. Menschen, die nicht dem Ideal entsprechen, als krank oder körperlich eingeschränkt gelten oder – offenbar – nicht genügend an sich arbeiten, um fit zu werden und zu bleiben, werden an den Rand gedrängt oder ausgeschlossen. Die Wirkmacht der Fitness und die Ausgestaltung und Gewichtung ihrer Anforderungen variieren in der Geschichte.[28]

Kaum etwas führt die Wucht von Fitness, ihre Koppelung an Körperlichkeit sowie die politische Dimension des Ganzen prägnanter vor Augen als die kollektive Furcht vor dem Körperfett. In den letzten Jahrzehnten hat die Angst vor Fett mehr denn je von den westlichen Gesellschaften Besitz ergriffen. Auf einen ersten, flüchtigen Blick hin scheinen Fitness und Fatness Antipoden zu sein, dabei bedingen sie sich gegenseitig. Gemeinsam ordnen sie eine Kultur und Gesellschaft, die sich um ein leistungsfähiges, selbstgesteuertes Individuum herum arrangiert. Für die Menschen in einer solchen Gesellschaft ist es offenbar verunsichernd, jede Woche irgendwo zu hören und zu lesen, dass »Deutschland verfettet«, sich die Deutschen immer weniger bewegen und »immer dicker« werden.[29] Stets ist dabei eine wissenschaftliche Studie zur Hand, wenn Presse oder Politik erklären, rund die Hälfte aller Deutschen sei zu dick und etwa ein Fünftel fettleibig. Für die USA ist sogar von mehr als zwei Dritteln Übergewichtigen und fast 40 Prozent Adipösen die Rede, vor allem in ländlichen Regionen. Je nach US-Staat und Bevölkerungsgruppe gelten bis zu 55 Prozent als adipös, abhängig von Lebensumfeld, Armutslevel und – damit verbunden – Hautfarbe und Geschlecht. Anders formuliert: Arme schwarze Frauen in Mississippi gehören zu den Dicksten der Dicken. Wer besonders dick ist, gilt als an den Anforderungen einer freiheitlichen Gesellschaft gescheitert. Dicksein gilt zudem als krankhaft. Es wird daher mit medizinischer Terminologie als Adipositas bezeichnet. Seit dem späten 20. Jahrhundert ist sogar vom Dicksein als Epidemie die Rede. Damit ist Dicksein eine Krankheit, die sich zwar nicht durch ein Virus verbreitet, aber aufgrund bestimmter Lebensbedingungen und -umstände große Teile der Bevölkerung infiziert. Die US-Regierung hat sich diese Terminologie 2001 offiziell zu eigen gemacht und im selben Jahr der Fettleibigkeit wortwörtlich den Krieg erklärt. Die WHO spricht seit geraumer Zeit von »globesity«, um auf die zunehmend globale Dimension des Phänomens zu verweisen.[30]

Die gesundheitlichen Effekte von zu viel oder zu wenig Körperfett kann und will ich hier nicht beurteilen. Zu kontrovers sind die Aussagen, und seit Jahren ist das Verhältnis von Körperfett und Gesundheit in seiner scheinbaren Eindeutigkeit zunehmend umstritten. Zum Beispiel ist der Body Mass Index (BMI) als Indikator für Körperfett und – falls hoch – Prädiktor für damit einhergehende Erkrankungen und Sterblichkeitsraten längst nicht mehr allgemein anerkannt. Auch zeigen jüngere Studien, dass zumindest ein gewisses Mehr an Körperfett offenbar durchaus lebenszuträglich ist. Hinzu kommt, dass manche Forschungsergebnisse wahrscheinlicher publiziert werden und mehr Aufmerksamkeit erfahren als andere.[31] Dennoch hält die gesellschaftliche Verteufelung des Dickseins beinahe ungebrochen an. Hier scheint auch die trügerische Macht des Sichtbaren am Werk. Man meint doch zu sehen, dass Fett nicht gut sein kann, sondern träge und unbeweglich macht.[32]

An dieser Stelle geht es nicht darum, was wirklich gesund oder ungesund ist, sondern vielmehr um die Wucht und Beharrlichkeit des Diskurses über Fatness und Fitness und dessen gesellschaftliche Wirkungen. Der Diskurs über das Dicksein ist in vielerlei Hinsicht zutiefst politisch. Da ist zunächst die klassisch politische Ebene. Im Jahr 2007 hat die deutsche Bundesregierung den »Aktionsplan fit statt fett« verabschiedet, 2008 die Kampagne IN FORM. Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung ins Leben gerufen. Initiativen dieser Art reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Fit statt fett und IN FORM sollen bis 2020 das »gesunde Leben als gesellschaftlichen Wert« verankern und das Ernährungs- und Bewegungsverhalten der Deutschen verbessern. Doch nicht Gesetz und Strafe sollen den Weg dorthin ebnen. Vielmehr will man die Rahmenbedingungen für Entscheidungen und Handlungen von Menschen entsprechend gestalten und Anreize aller Art setzen: Staatliche Träger sollen gute Vorbilder sein, Wissen und Information bereitstellen und zu besserer Ernährung und mehr Bewegung motivieren. Die Deutschen dürfen also weiterhin frei entscheiden, ob sie Pommes oder Salat essen, ob sie auf dem Sofa sitzen oder Rad fahren. Die Entscheidungsarchitektur soll aber so gestaltet werden, dass es einfacher ist, den »gesünderen« Weg einzuschlagen. Das tönt nach Nudging, also einer mittlerweile auch hier angekommenen Form des Regierens, die Bürgerinnen und Bürger so »anstupsen« und lenken will, dass sie freiwillig Entscheidungen treffen, die als »besser« und »gesünder« gelten. Zwar sollen freie Individuen in freien Gesellschaften frei entscheiden, dabei aber zugleich solche Entscheidungen treffen, die ihrer eigenen Produktivität und dadurch der des Gemeinwesens zuträglich sind. »Prävention«, betont fit statt fett gleich im ersten Satz, »ist eine Investition in die Zukunft.«[33]

Michelle Obama hat als First Lady der USA viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten – am größten war sie aber, als sie ihren Feldzug gegen das Fett führte. Ihr Programm Let’s Move richtete sich vor allem an afroamerikanische Kinder. Sie sollten zu mehr Bewegung und besserer Ernährung motiviert werden. Obama setzte dabei auf Information, Anreize, die Kooperation von Kantinen und Industrie und ihren eigenen Vorbildcharakter. Sie zog Gemüse im Garten des Weißen Hauses, kochte mit Kindern, hüpfte, tanzte, hantelte und liegestützte sich durch die amerikanische Medienlandschaft. Natürlich wusste die First Lady, dass ein Programm wie Let’s Move nicht über Direktiven erfolgreich sein und dass man Fitness nicht politisch erzwingen kann. Der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg ist 2014 grandios gescheitert, als er versuchte, den Verkauf von Softdrinks auf Freizeitveranstaltungen in Bechern von mehr als 16 Unzen Größe (0,47 Liter) zu verbieten (ähnlich wie in Deutschland die Grünen 2013 mit ihrem Veggieday). Das höchste New Yorker Gericht entschied gegen Bloombergs »Soda Ban«, weil die städtische Gesundheitsbehörde gar nicht die Befugnis hatte, ein solches Verbot auszusprechen. Doch der öffentliche und politische Kampf wurde nicht um die Kompetenzen von Behörden geführt, sondern unter dem Banner der Freiheitsrechte. Widersacher des Soda Ban geißelten die Allmachtphantasien eines »Babysitter-Staats«. Michelle Obama wusste freilich um die große Bedeutung der Wahl- und Entscheidungsfreiheit als politisches Prinzip. Diese hat die USA seit ihrer Geburtsstunde geprägt, und seit den 1970er Jahren hat sie bis dahin ungekannte Höhen erreicht. Daher hat Obama nicht über Verbote operiert. Sie wollte stattdessen die Entscheidungsarchitektur so modellieren, dass »die gesunde Wahl« zur »einfachen Wahl« wird, wie sie selber sagte. Gleichwohl haben konservativ-liberale Republikaner sie des Staatsinterventionismus bezichtigt, was zeigt, mit welcher Verbissenheit die Kämpfe um Wahl- und Entscheidungsfreiheit in den USA geführt werden.[34]

Doch das Politische im Diskurs um Fitness und Fatness reicht weit über den klassischen Bereich der Politik hinaus. Es geht um mehr als das Handeln von Abgeordneten und Regierungsmitgliedern, um mehr als Aktionspläne, kontrovers diskutierte gesetzliche Verbote oder Zucker- und Fettsteuern.[35] Eine Kultur und Gesellschaft, die ihre Stärke und ihren Erfolg aus der Leistungsfähigkeit der Individuen und der Bevölkerung insgesamt schöpft, kann mit Michel Foucault als biopolitisch bezeichnet werden.[36] Die »Geburt der Biopolitik« vollzog sich im 19. Jahrhundert, ein Prozess, den ich im nächsten Kapitel genauer beschreibe. Ich möchte jedoch hier vorausschicken, dass eine biopolitische Ordnung das Potential der Bevölkerung im Visier hat und Menschen und Gruppen über ihre Körper und ihre Körperform definiert und positioniert. Sie reguliert deren Zugriff auf Ressourcen und gesellschaftliche Teilhabe und lotet so die Anerkennung aus, die sie als produktive Gesellschaftsmitglieder erfahren können. Die Körperform wird dabei zum Zeichen für die Fähigkeit, verantwortliche Entscheidungen zu treffen, in einer freiheitlichen Wettbewerbsgesellschaft zu funktionieren und deren Entwicklung zuträglich zu sein. Somit entscheidet die Körperform darüber, wer als homo politicus gelten kann. Dicksein gilt als Ausdruck für einen Mangel dieser Fähigkeiten. So wie Self-Tracker den Prototyp der biopolitischen Fitnessgesellschaft verkörpern, ja angeblich sogar den Wunsch und das Streben danach, ein besserer Mensch zu sein, scheint Dicksein für ein Defizit an Entscheidungskompetenz, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zu stehen.[37] Deshalb künden die Krisenszenarien, die sich um die angeblich epidemische Adipositas aufspannen, auch von einem mehr als individuellen Problem. En masse, das Umschlagbild des Atlantic vom Mai 2010 zeigt es ganz deutlich, scheinen dicke Körper eine Krise der liberalen Gesellschaft, ihrer Funktionsweise und ihrer Prinzipien zu signalisieren. Das Fett am Körper der Freiheitsstatue bringt es zum Ausdruck: Die Gesellschaftsordnung, die auf Freiheit gegründet ist und auf das Streben nach Glück, auf selbstverantwortliches Handeln und Leistungsbereitschaft baut, ist vom Körperfett in ihrer Existenz bedroht. Sie scheint, so das Szenario, vor dem Kollaps zu stehen. Schlankheit, Beweglichkeit, Fitness: Dies sind Begriffe, mit denen in Zeiten von Neoliberalismus und flexiblem Kapitalismus mehr denn je ideale Individuen und ihre Körper beschrieben werden. Sie dienen außerdem dazu, die Leistungsfähigkeit von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu charakterisieren. Schlanke Bürger für einen schlanken Staat, fitte (freie) Mitarbeiterinnen für fitte Unternehmen und deren »lean production«.[38]

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Umschlag des Atlantic, Mai 2010

Die Rede vom Neoliberalismus verweist dabei auf eine Gesellschafts- und Regierungsform, die sich überall und immer am Modell des Marktes ausrichtet. Damit gelten Menschen in jeder Lebenslage als Marktakteure in Wettbewerbssituationen. Darüber hinaus ist der Neoliberalismus, wie die Politologin Wendy Brown schreibt, »ein charakteristischer Modus der Vernunft, der Produktion von Subjekten, eine ›Führung des Verhaltens‹ [Foucault] und ein Bewertungsschema«. Das Tun der Subjekte muss darauf ausgerichtet sein, in sich selbst zu investieren, um immer und überall den eigenen »Portfoliowert« zu erhöhen. Ziel ist der sichtbare Erfolg dieser Investitionen und der Arbeit an sich selbst. Er ermöglicht den Einzelnen die Anerkennung als produktive Gesellschaftsmitglieder. Folglich wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Neoliberalismus neu vermessen. Die Anerkennung als Bürger oder Bürgerin ist nicht nur eine Frage von Rechten. Sie ist auch nicht nur an die Sorge des Individuums um das öffentliche Wohl gekoppelt. Sie erwächst aus dem Erfolg des Einzelnen als Investor seiner selbst und aus der Maximierung des eigenen Humankapitals. Der oder die beste Investorin erfüllt damit die Anforderungen an ein gutes Gesellschaftsmitglied am besten: Als homo politicus kann nur gelten, wer auch ein homo oeconomicus ist.[39]

Pointiert lässt sich die politische Wucht von Fitness im Neoliberalismus mit Hilfe des Konzepts der »biological citizenship« fassen. Der Soziologe Nikolas Rose hebt hervor, wie sehr die Sorge um den eigenen Körper und die Gesundheit, die Maximierung der Lebenskräfte und -möglichkeiten in freiheitlichen Gesellschaften zu einer Art Pflicht eines jeden Menschen geworden sei.[40] Dabei interessiert sich Rose insbesondere für die gesellschaftlichen und politischen Implikationen von Gentechnik und Stammzellenforschung. Es sei, so Rose, zur Anforderung an gute Bürgerinnen und Bürger geworden, gesundheitliche Verdachtsmomente bis in die Basisprogrammierung des Körpers hinein aufzuspüren, Möglichkeiten der Korrektur zu prüfen und den Lebensstil entsprechend anzupassen.[41]

Das Konzept der »biological citizenship« schärft den Blick auf das Verhältnis von Körpern, Freiheit, Fitness, bürgerlichen Pflichten und Anerkennung. Nun sind freiheitliche Gesellschaften nie ohne biologisch gedachte Unterscheidungen ausgekommen.[42] So hat die amerikanische Republik bei ihrer Gründung zwar Freiheit für alle zu ihrem politischen Prinzip erklärt. Zugleich aber hat sie das Maß individueller Freiheit und gesellschaftlicher Anerkennung an »Rasse«, »Geschlecht« und »Sexualität« gebunden, also an Kategorien, die biologisch gedacht wurden. Auch hieß es lange, ausschließlich weiße Männer besäßen eine grundlegende Fähigkeit, sich fit zu machen und über den eigenen Körper sinnvoll zu bestimmen. Feministinnen haben dagegen seit dem 19. Jahrhundert angekämpft (zum Beispiel indem sie eine Ode an das Radfahren als persönliche wie politische Praxis formulierten).[43] Doch erst ab den 1960er Jahren haben die verschiedenen sozialen Bewegungen dem Denken in festen, biologischen Kategorien eine wirkmächtige Absage erteilt. Zwar sind diese Kategorien bis heute nicht gänzlich verabschiedet, sie sind aber durchaus in ihren Grundfesten erschüttert. Der Glaube an die Gestaltbarkeit von Gesellschaften, Menschen und Körpern ist dafür nach vorn gerückt.[44]

Damit aber hat sich auch gewandelt, was unter »biological citizenship« verstanden werden kann. Die Gestaltung und Optimierung des eigenen Körpers, seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten, eben die Investition in die eigene Fitness ist nun von wesentlicher Bedeutung. Folglich sind Unterscheidungen, die über den Körper vorgenommen werden, nicht mehr unbedingt Unterscheidungen zwischen schwarz und weiß oder zwischen männlich und weiblich. Eine Kultur und Gesellschaft, in der Fitness ein regulierendes Ideal ist, unterscheidet zwischen ›fitten‹ und ›unfitten‹ Körpern. Das heißt, es gibt diejenigen, die glaubhaft machen können, dass sie in sich investieren, an sich arbeiten und ihr Potential zu nutzen wissen. Und es gibt die anderen, die dies nicht hinreichend glaubhaft machen können.[45] Der Wille und die Fähigkeit zur Optimierung des Selbst sind für das Maß der gesellschaftlichen Anerkennung von großer Bedeutung, und die grundsätzliche Fähigkeit zu Erfolg oder Misserfolg in diesem Unterfangen scheint am Körper und seiner Form ablesbar. Dicke Körper sind zum konstitutiven Gegenentwurf des fitten Leistungskörpers sowie des Erfolgsmenschen generell geworden. Fett gilt als Zeichen von Faulheit, Unfähigkeit, Disziplinlosigkeit und Unwissenheit, von ›falschem‹, ungesundem Verhalten. Deshalb steht die dicke Freiheitsstatue für das Scheitern Einzelner ebenso wie für die Krise der Nation und des freiheitlichen Systems.[46]

Die Spuren unseres Zeitalters der Fitness weisen zurück bis in das 18. und 19. Jahrhundert, als Liberalismus, Wettbewerb und Darwinismus Form annahmen. Diese haben ein Feld abgesteckt, in dem Fitness als Prinzip und Praktik erst entstehen konnte, und damit auch das Dicksein als Problem.[47] Im nächsten Kapitel werde ich dies genauer erläutern. Zunächst aber bleibe ich in der jüngeren Vergangenheit, denn ein genauerer Blick in die Geschichte seit den 1970er Jahren hilft, die Vehemenz, die Fitness in unserer unmittelbaren Gegenwart entfaltet, besser zu greifen.

›Richtig‹ essen seit dem Jahrzehnt des ICHs

›Richtig‹ zu essen ist eine der gesellschaftlichen Obsessionen im Zeitalter der Fitness. Die Frage des ›richtigen‹ Essens führt unmittelbar in Spannungen zwischen Konsum- und Leistungsgesellschaft hinein. Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg erfasste die sogenannte Fresswelle das Wirtschaftswunder-Deutschland, denn nach Jahren der Entbehrung konnte man sich endlich wieder etwas leisten. Nahrungsmittel waren wieder reichhaltiger vorhanden, auch wenn das Budget einer deutschen Durchschnittsfamilie nach wie vor schmal war. In Amerika wurde das Konsumieren zur zentralen Tätigkeit guter Bürgerinnen und Bürger. Essen war nicht das einzige, aber ein wichtiges Element der Konsumrepubliken der 1950er Jahre. Nahrung wurde zunehmend industriell gefertigt und – vor allem in den USA – fortschrittlich und modern verzehrt. So etwa als aufgetautes und aufgewärmtes Fernsehdinner oder on the road bei den ersten McDonald’s-Filialen. Die 1950er Jahre waren das Goldene Zeitalter der Nahrungsmittelindustrie. Sie wuchs massiv, und kaum jemand stellte ihr Tun in Frage. Amerikanerinnen und Amerikaner priesen sich als die bestgenährten Menschen, die die Welt je gesehen habe. Bald sprachen Experten vom Ende des Hungers in Amerika. Allerdings galt dies vor allem für die wachsende weiße Mittelklasse. Kritische Berichte zeigten dagegen ausgemergelte Körper afroamerikanischer Kinder im Süden des Landes, insbesondere in Mississippi. Im ärmsten und schwärzesten Staat des Landes litt offenbar die Hälfte der Bevölkerung Hunger. 1967 schockierte eine Fernsehreportage über Hunger in America (CBS) die Nation.[48]

Die Jubeldiagnose, dass in den USA die »bestgenährten Menschen der Weltgeschichte« lebten, bezog sich de facto also nur auf einen Teil der Bevölkerung. Zudem waren schon seit den 1950er Jahren Zweifel laut geworden, ob diese angeblich so gut genährten Menschen tatsächlich auch die fittesten seien. Die Frage, ob und wie viel Konsum krank mache und somit der eigenen Leistungsfähigkeit im Wege sei, stand im Raum. Die Folgen von zu viel fettem und süßem Essen, zu viel Alkohol, zu vielen Zigaretten und zu wenig Bewegung wurden medizinisch erforscht und öffentlich debattiert. Die Aufmerksamkeit galt vor allem dem Herzinfarkt, und schnell war man mit einer Korrelation zwischen Gewicht bzw. Körperfett und Sterblichkeit bei der Hand. Schon Anfang der 1950er Jahre hieß es in der Presse, Fettleibigkeit sei die wohl größte Gefahr für menschliches Leben in Amerika. Das LIFE Magazin bezeichnete in einem Fotoessay Übergewicht als Plage.

Langsam, aber sicher wurde Körperfülle mehr und mehr als Gefahr gedeutet und immer weniger als Zeichen für Erfolg und Wohlbefinden. Vor allem die Gefährdung weißer Mittelschichtmänner mittleren Alters wurde zum zentralen Topos: Männer, die zu viel arbeiteten, zu wenig auf sich achteten und, wie es hieß, für Familie und Gesellschaft ihre Gesundheit und ihr Leben in die Waagschale warfen.[49]

Angesichts der Furcht vor Fett am und im Körper lag es nahe, die Substanz Fett als Übeltäter auszumachen. Zwar unterschied man bald böse tierische von guten pflanzlichen Fetten, doch die amerikanische Küche war ebenso wie die mitteleuropäische voll von bösen Fetten. Im Gegensatz dazu wurde die von Olivenöl geprägte mediterrane Küche bald auf beiden Seiten des Atlantiks als großes Vorbild gepriesen. Weiter so zu essen wie bisher wurde mal mit Selbstmord, mal mit Massenmord verglichen.[50] Fett war ohne jeden Zweifel als Hauptübeltäter ausgemacht, nicht zuletzt aufgrund massiver Lobby-Arbeit der Zuckerindustrie. Aber auch Zucker wurde mit ähnlich dramatischer Rhetorik beschrieben und mit Heroin verglichen. Schon seit der Mitte der 1950er Jahre und den Tagen Dwight D. Eisenhowers sorgte man sich auch im Weißen Haus um die Fitness der Bürgerinnen und Bürger. 1969 schließlich empfahl die White House Conference on Nutrition and Health den Amerikanerinnen und Amerikanern nachdrücklich, weniger Fett, Cholesterin, Zucker und Salz zu essen. Nun sollte das beginnen, was man im Deutschland der 1970er Jahre die »Gesundheitswelle« nannte.[51]

Die 1970er Jahre waren für die westlichen Konsumgesellschaften eine Zeit der Verdichtung und des Wandels zugleich, und die Spannungen zwischen Leistungs- und Konsumgesellschaft wuchsen weiter. Ernährung und Essen nahmen dabei eine zentrale Rolle ein, mit vielfältigen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedeutungen: von der sogenannten countercuisine, die mit den alternativen Lebensentwürfen aus den 1960er Jahren entstand und eine ökologische und ökonomische Kritik formulierte, bis hin zur industriegefertigten Massenware in einer neuen Dimension. So haben die chicken nuggets mit Hühnchen eigentlich gar nichts mehr gemein. Aus einer etwas längerfristigen Perspektive haben die folgenden Jahre und Jahrzehnte gezeigt, dass countercuisine und Vermassung nicht notwendig Gegensätze bilden. Aus alternativen Bioläden, die in Westdeutschland wie in den USA Anfang der 1970er Jahre aufkamen, sind Supermarktketten geworden. Der Erfolg von Bio als Massenware zeigt die Fähigkeit des Kapitalismus, kritische Kräfte zu kooptieren.[52]

Um den Wandel der 1970er Jahre besser zu verstehen, muss man sich zunächst die ökonomische und gesellschaftliche Krise dieser Zeit vor Augen führen. Die USA rangen mit den hohen Kosten des Vietnamkriegs, der Ölkrise, einem massiven Außenhandelsdefizit und einer Inflationsspirale, die ab 1973 stagnierende und sogar sinkende Reallöhne mit sich brachten. Die Einkommensverluste vieler Menschen sollten sich durch die folgenden Dekaden ziehen. Die Antwort, die man nun auf soziale und wirtschaftliche Probleme gab, lautete zunächst einmal »weniger«: weniger Regierung, weniger Regulierung, weniger Sozialpolitik, weniger Gewerkschaften, weniger Lohn, weniger Kollektivdenken, weniger Umverteilung. Auf der anderen Seite propagierte man mehr individuelle Verantwortung, mehr individuelle Verschuldung und mehr individuellen Profit. Die 1970er Jahre markieren in den USA das Ende der langen New Deal-Ära, des Sozialstaats und des Fordismus in der kapitalistischen Welt. Sie sind das Jahrzehnt, in dem die neoliberale Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft eingeläutet wurde. Der Historiker Bryant Simon bezeichnet das damals beginnende Zeitalter als »age of cheap«. Alles sollte fortan billig sein: die Produktion, die Löhne, die Waren, das Essen. Auch in Deutschland und anderen Ländern Europas begann nun die Zeit »nach dem Boom«, wenn der Wandel auch etwas zähflüssiger verlief als in den USA. Doch die soziale Marktwirtschaft bundesdeutscher Prägung blieb nicht allzu lange resistent gegenüber dem neoliberalen Drängen, bis es in den 1990er Jahren um sie geschehen war.[53]

Zu zentralen Nahrungsmittelprodukten im »age of cheap« wurden Soja und vor allem Mais. Insbesondere in Amerika wuchsen die entsprechenden Anbauflächen und Agrarkonzerne massiv (es würde falsche Assoziationen wecken, von Farmen zu sprechen), die Ergiebigkeit der Produktion stieg, und die Preise sanken. Die Ernte wandert zum Großteil als Futtermittel in die Fleischindustrie, der Rest geht – häufig in Form von »High Fructose Corn Sirup«, also Maissirup – in alle möglichen Nahrungsprodukte ein oder wird exportiert. Michael Pollan, einer der lautesten und publizistisch erfolgreichsten Kritiker der Nahrungsmittelindustrie in den USA, spricht von einem »Dilemma« des durchschnittlichen amerikanischen Essers. Zwar können Konsumenten aus einem reichhaltigen Angebot und einer Vielfalt verschiedener Nahrungsmittel auswählen. Doch basieren fast alle industriell verarbeiteten Produkte irgendwie auf Mais. Mais wird (wie auch Soja) staatlich subventioniert und maschinell auf riesigen Industriefarmflächen angebaut und geerntet. Für andere Agrarprodukte wie Pfirsiche, Erdbeeren oder Salat ist immer noch viel Handarbeit erforderlich, auch wenn deren Produktion mittlerweile ebenfalls industrialisiert und rationalisiert ist. Zugleich gehören Nahrungsmittelindustrie und -handel zu den Sektoren, die seit den 1970er Jahren im Lohndumping führend gewesen sind. Sie haben zu den insgesamt sinkenden Reallöhnen einen ordentlichen Beitrag geleistet und so eine Nachfrage für ihre eigenen Billigprodukte geschaffen. Pollan mutmaßt sogar, dass nur das billige Essen eine noch größere systemische Krise abgewendet habe, nämlich Hunger innerhalb eines größeren Teils der Bevölkerung und ein daraus resultierendes Aufbegehren der Massen.[54] Allerdings ist in den USA mittlerweile nicht mehr von Hunger, sondern von food insecurity die Rede. Davon ist mittlerweile rund ein Fünftel der Haushalte betroffen oder unmittelbar bedroht. Food insecurity bedeutet, dass man möglicherweise zwar ein Gefühl der Sättigung erreicht. Doch kann man dazu nicht auf Nahrungsmittel zugreifen, die den Nährstoffbedarf des Körpers befriedigen. Sie sind in weiten Teilen des Landes für die ärmere Bevölkerung schlichtweg nicht verfügbar. Im Gegensatz zu Hunger wird food insecurity auch nicht oder in nur geringerem Maße mit einem abgemagerten Körper assoziiert. Anders formuliert: Dicksein gilt heute oft als Zeichen von Armut und food insecurity, also der unzureichenden Versorgung mit Lebensmitteln.[55]

Nun könnte man fragen, warum das alles für eine Geschichte der Fitness überhaupt von Belang ist. Die Sozialgeographin Julie Guthman ist eine der scharfsinnigsten Analytikerinnen des Verhältnisses von Kapitalismus, Konsum und Körpern in Zeitgeschichte und Gegenwart. Sie charakterisiert die neoliberale politische Ökonomie als »bulimisch«. Zum einen fordere sie schlanke, leistungsfähig daherkommende Körper ein, zum anderen lege sie den maximalen Konsum industriegefertigter, kalorisch dichter Lebensmittel nahe. Deren Produktion sei so spottbillig geworden, dass es innerhalb der kapitalistischen Verkaufs- und Konsumlogik überaus sinnvoll sei, größere Packungen und Portionen zu einem nur wenig höheren Preis anzubieten bzw. zu konsumieren. Der Verkäufer binde so Kunden (bei fast gleichen Lohnkosten, denn auch ein supersize meal muss nur einmal über den Tresen geschoben werden), und der Käufer bekomme mehr für sein Geld. Maximaler Konsum zu minimalem Preis ist im Kapitalismus ein sehr rationales Verhalten. Zudem müssen viele Konsumentinnen und Konsumenten wegen sinkender Löhne und steigender Jobunsicherheit sparen. Und wer in mehreren Jobs arbeiten muss, um über die Woche zu kommen, wird sich wohl eher für den schnellen (und billigen) Konsum von Snacks und Fertiggerichten entscheiden als für die Slow-Food-Variante. Ganz abgesehen davon, dass viele ärmere Wohngegenden sogenannte food deserts sind, in denen gesundes Essen nicht oder nur sehr schwer aufzutreiben ist. In einem solchen Szenario wird die vielgepriesene Wahl- und Entscheidungsfreiheit – die als Grundwert des Liberalismus hoch gehandelt wird, in den USA höher als an jedem anderen Ort der Welt – vor allem zu einer Frage des Einkommens, des Preises und der Lebensumstände. Guthman betont, dass die Korrelation von Körperform und Klasse, von Dicksein und Armut gespeist sei aus dieser dynamischen Melange von neoliberaler Politik, wachsendem Wohlstandsgefälle und billigem, industriegefertigtem Essen.[56]

Die 1970er Jahre brachten nicht nur die Wende hin zu weniger staatlicher Regulierung, den Bürgerinnen und Bürgern wurde überdies fortan mehr Eigenverantwortung abverlangt, auch für den eigenen Körper, dessen Fitness und Leistungsfähigkeit. Entsprechend gewann im Gleichschritt mit dem Billigzeitalter ein Diskurs an Dynamik, der von den Menschen immer dringlicher forderte, »richtig zu essen« und »sich gut zu ernähren«, sich um den eigenen Körper und sich selbst gut zu kümmern. All dies wurde zum Kennzeichen des guten Bürgers in einer liberalen Gesellschaft. Der Schriftsteller Tom Wolfe sprach schon 1976 davon, dass wir im Jahrzehnt des ICHs lebten, und dabei schrieb er ICH bewusst in Großbuchstaben. »Ich und meine Hämorrhoiden« überschrieb Wolfe bissig den ersten Abschnitt seines Artikels. Er verweist darauf, dass die Sorge der Menschen um ihre Körper bis dahin ungekannte Ausmaße angenommen habe, so dass sie ihrem Ernährungs- und Bewegungsverhalten eine neue und große Bedeutung beimaßen. Beispielhaft sei aus einem von zahlreichen Bekenntnissen zitiert, wie sie ehemalige Konsumsüchtige formulierten, die zu Ausdauerasketen konvertiert waren: »Ich war in so schlechter Form«, lautete ein typisches Bekenntnis, wie man es nun häufig las, »ich wog 110 Kilo, und immer wenn ich aus meinem Sessel aufstand, um zum Kühlschrank zu gehen, schlug mein Herz wie eine Trommel.«[57]

Die Sorge um das Selbst und den Körper in einer entfremdeten Massen- und Industriegesellschaft wurde auch aus der Counterculture der 1960er und 1970er Jahre gespeist. Dass die Kulturen des aufkommenden Neoliberalismus und der Counterculture Sorgen und Ziele teilten, mag widersprüchlich scheinen. Doch waren beziehungsweise sind beide von einem Faible für Individualität und Selbstbestimmung sowie von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber den politischen Instanzen geprägt. Was die Ernährung anbelangte, forderte die Counterculture, ›natürlicher‹ und bewusster zu essen, und zwar gesundheitlich sowie politisch bewusster. Die countercuisine begann, sich gegen die erodierenden Effekte zu wenden, die das industriell gefertigte Essen auf Körper und Gesellschaft habe. Die Maxime lautete, selbst zu kochen und anders einzukaufen, nämlich in Kooperativen und Bioläden, wie sie seit den späten 1960er Jahren entstanden. 1980 eröffnete schließlich in Austin, Texas, der erste Whole-Foods-Laden. Er stand für die damals neue Geschäftsidee, Elemente eines Bioladens mit denen eines konventionellen Supermarktes zu kombinieren.[58]

Whole Foods ist mittlerweile ein globaler Konzern mit mehreren hundert Filialen auch außerhalb der USA und gehört seit 2017 zu Amazon. Auch hierzulande gelten Biosupermärkte in angesagten Wohnvierteln als Marker fortschreitender Gentrifizierung.[59] Hier kaufen unter anderem diejenigen ein, die auch ihre Körperdaten aufzeichnen. Zudem ist die ökologische Landwirtschaft zu einem riesigen Wirtschaftszweig angewachsen, der weite Teile zum Beispiel Kaliforniens oder Südspaniens prägt, und zwar mit Arbeitsbedingungen, die oft alles andere als fair und korrekt sind. Noch am Anfang des 21