Die Ordnung des Sozialen - Jürgen Martschukat - E-Book

Die Ordnung des Sozialen E-Book

Jürgen Martschukat

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Beschreibung

Aus einem völlig neuen Blickwinkel präsentiert Jürgen Martschukat die Geschichte der USA. Er schildert zentrale Themen wie die Sklaverei, die Besiedelung des Westens, die Einwanderung aus Europa oder die Große Depression anhand einzelner Familien. Dabei stehen vor allem die Väter im Mittelpunkt. Jedes Kapitel zoomt nah an die Personen heran: an den Sklavenvater, der nur einen Teil seiner Familie freikaufen kann, an das Mädchen, das mit seinem Vater gen Westen aufbricht, oder an den Arbeitslosen, der die Aufgabe des Ernährers an seine Frau abgeben muss. Diese Geschichten fügen sich zu einem historischen Gesamtbild, das Menschen in vielfältigen Lebensentwürfen darstellt. Und doch, so zeigt sich, war das familiäre Ideal vom männlichen Ernährer und der Hausfrau und Mutter stets präsent. So wurde und wird mittels der Familie eine Ordnung des Sozialen hergestellt, an der die Menschen auf unterschiedliche Weise teilhaben - eine Erkenntnis, die den Kern amerikanischer Geschichte und Gegenwart offenlegt.

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Jürgen Martschukat

Die Ordnung des Sozialen

Väter und Familien in der amerikanischen Geschichte seit 1770

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Aus einem völlig neuen Blickwinkel präsentiert Jürgen Martschukat die Geschichte der USA. Er schildert zentrale Themen wie die Sklaverei, die Besiedelung des Westens, die Einwanderung aus Europa oder die Große Depression anhand einzelner Familien. Dabei stehen vor allem die Väter im Mittelpunkt. Jedes Kapitel zoomt nah an die Personen heran: an den Sklavenvater, der nur einen Teil seiner Familie freikaufen kann, an das Mädchen, das mit seinem Vater gen Westen aufbricht, oder an den Arbeitslosen, der die Aufgabe des Ernährers an seine Frau abgeben muss. Diese Geschichten fügen sich zu einem historischen Gesamtbild, das Menschen in vielfältigen Lebensentwürfen darstellt. Und doch, so zeigt sich, war das familiäre Ideal vom männlichen Ernährer und der Hausfrau und Mutter stets präsent. So wurde und wird mittels der Familie eine Ordnung des Sozialen hergestellt, an der die Menschen auf unterschiedliche Weise teilhaben – eine Erkenntnis, die den Kern amerikanischer Geschichte und Gegenwart offenlegt.

Über den Autor

Jürgen Martschukat ist Professor für nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. Bei Campus erschien von ihm in der Reihe »Historische Einführungen« der Band »Geschichte der Männlichkeiten« (zusammen mit Olaf Stieglitz), ausgezeichnet 2009 als Historisches Lehrbuch des Jahres bei H-Soz-u-Kult (2. Platz).

Inhalt

Danksagung

Einleitung

1.»To govern as if we governed not«: Familien, Väter und die neue Republik, 1770–1840

2.»Much more attractive than an ordinary home«: Liebesehe und Kernfamilie in der Kritik, 1820–1870

3.»A dependent and suffering condition«: Sklaverei, Familien und das väterliche Subjekt, 1830–1860

4.»Go west, young girl«: Töchter und Väter auf dem Weg nach Westen, 1850–1880

5.»A foe on our soil«: Vater- und Soldatsein im Bürgerkrieg, 1861–1865

6.»The city is the habitat of the single«: Urbanisierung und Junggesellen, 1870–1930

7.»A deadly moral contagion«: Einwanderung, urbane Mietskasernen und Rassismus, 1880–1920

8.»White men build cities, Red men build sons«: Indigene und moderne Väter, 1890–1950

9.»A man is not a man without work«: Arbeitslose Väter in den 1930er-Jahren

10.»Men in Grey Flannel Suits«: Familienväter zwischen Krieg, Konformität und Krisenklagen, 1940–1960

11.»You be a man if you can, Stan«: Familien, Väter und die black community, 1950–2010

12.»Here in this neighborhood, we’re like a stereotype«: Queere Eltern und bewegte Väter, 1970–2010

Schluss

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Register

Danksagung

Dieses Buch ist über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren entstanden. Dass ich es überhaupt abschließen konnte, ist zahlreichen Menschen, Arbeits- und Forschungszusammenhängen zu verdanken. Zuvorderst seien hier die Universität Erfurt, ihr Historisches Seminar und ihre Philosophische Fakultät mit ihren Studierenden, Promovierenden, Kolleginnen und Kollegen genannt. Insbesondere das Nordamerika-Kolloquium ist ein Ort der Inspiration und produktiven Kritik. Die Förderinitiative Pro Geisteswissenschaften und die Fritz-Thyssen-Stiftung haben mein Projekt in den Jahren 2010 und 2011 mit einem Opus-Magnum-Stipendium großzügig unterstützt. Das Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, DC, und Christian Ostermann als Direktor seines History and Public Policy-Programms waren mir im Sommer und Herbst 2010 hervorragende Gastgeber. Wer schon einmal in einer Bibliothek oder einem Archiv geforscht hat, weiß, wie unverzichtbar die Unterstützung und die lenkende Hand von Bibliothekarinnen und Archivaren ist. Dies gilt für mich in besonderem Maße für die Arbeit im Wilson Center, aber auch für meine Recherchen an vielen anderen Orten, so in der Library of Congress in Washington, DC, und der New York Public Library, in den Archiven des Barnard College, des YIVOInstitute of Jewish Research und der Syracuse University sowie des YMCA an der University of Minnesota, wo Ryan Bean besonders interessiert, hilfreich und kundig war.

Mindestens ebenso wichtig waren die Kommentare von vielen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden, die meine Gedanken mit mir im Rahmen von Workshops, Konferenzen und Vorträgen zwischen Münster und Melbourne, Warschau und Washington diskutiert haben. Mein besonderer Dank gilt denjenigen, die Teile des Manuskripts in seinen unterschiedlichen Stadien redigiert, kommentiert und kritisiert haben: Carolina Dahl, Katharina Dahl, Norbert Finzsch, James Gilbert, Desiree Haak, Claudia Kraft, Nora Kreuzenbeck, Barbara Lüthi, Maria Matthes, Sahra Rausch und Olaf Stieglitz sei hier gedankt. Felix Krämer und Irene Martschukat haben das Manuskript tatsächlich von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen – danke! Tanja Hommen und Stefanie Evita Schaefer haben die Entstehung dieses Buches ebenso kompetent wie unaufgeregt begleitet, Ute Mihr und Werner Wahls sei für Übersetzungen und Lekorat gedankt. Sollte es ihnen allen dennoch nicht gelungen sein, mich davor zu bewahren, hier und dort Unsinn zu schreiben, so liegt die Verantwortung dafür freilich ganz und gar bei mir.

Widmen will ich dieses Buch Algis, Carolina und Paula.

Jürgen Martschukat, im September 2012

Einleitung

Familienwerte allerorten: Was auch hierzulande ein großes Thema ist, hat in den USA noch einmal eine ganz andere Dimension. Dort vergeht kein Tag, ohne dass politische Debatten und Predigten, Feuilletons und Blogs, Spielfilme und Fernsehshows um family values kreisen. Dabei werden Familien wieder und wieder von Sprecherinnen und Sprechern unterschiedlichster Couleur als Fundament der freiheitlichen amerikanischen Kultur und Gesellschaft beschworen. Gemeint sind dann in aller Regel sogenannte »Kernfamilien« mit Kindern, in denen der Vater als breadwinning dad und die Mutter als homemaking mom jeweils verschiedene Aufgaben erfüllen, die ihrem Geschlecht als angemessen beschrieben werden, und beklagt wird vor allem ein Verlust von Vätern.

In diesem Buch verorte ich die Bedeutung und Funktion von Familien in den USA historisch, wobei ich meinen Blick besonders auf Väter richte. Dazu werden meine Betrachtungen durch die US-amerikanische Geschichte von der Revolution bis heute mäandern und darlegen, wie sich freiheitliche Gesellschaften über Familien organisieren und Konturen geben. Das Bild der »Kernfamilie« als Fundament, das so gerne in politischen Debatten angerufen wird, weil es Stabilität verheißt und zugleich – sobald sich Risse zeigen – zur wirkmächtigen Beschwörung von Untergangsszenarien einlädt, scheint zu einem solchen Vorhaben jedoch wenig geeignet. Denn will man soziokulturelle Ordnungen verstehen, ist es angemessener und ergiebiger, genau solche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu historisieren und nicht eine spezifische Form von Familie als evident vorauszusetzen und als Sockel der Gesellschaft zu predigen.1 Nicht die »Kernfamilie«, die letztlich erst mit der Familiensoziologie des 20. Jahrhunderts und insbesondere im Kernzeitalter der atomaren Bedrohung den Nimbus des Unverrückbaren erhielt, sondern die Vielfalt familiärer Lebensformen und Vaterfiguren ist Ausgangspunkt meines Denkens.2 Familien sind dann in all ihrer Mannigfaltigkeit weniger als Fundament, denn als komplexe Schaltstellen, die Individuen auf vielfältige Art und Weise zu einer Ordnung des Sozialen verweben, in den Blick zu nehmen.3

Analog zur Familie soll hier auch das Soziale mit Bruno Latour nicht als »homogenes Ding« verstanden werden, sondern als ein Ensemble veränderlicher Verknüpfungen zwischen heterogenen Elementen,4 die über das Relais der »Familie« in eine Ordnung gebracht werden – so das zentrale Argument, das ich auf den folgenden rund 400 Seiten in den unterschiedlichsten Zusammenhängen entfalte. Und: Wer die Geschichte der USA verstehen will, muss verstehen, wie über Familie regiert wird. »Regieren«, und dies erläutere ich im ersten Kapitel genauer, meint hier kein souveränes Top-down-Verfahren, sondern ein Modellieren von Möglichkeiten sowie von Denk- und Handlungsweisen. Familien regulieren, wer auf welche Weise an Gesellschaft partizipiert: Wer welchen Platz einzunehmen vermag, welche Rechte für sich reklamieren kann, auf welche Ressourcen zugreifen darf und welche Aufgaben zu erfüllen hat. Dies wird einerseits in Familien und über deren spezifische Ordnung austariert, andererseits über die Einbindung unterschiedlicher Lebensformen in Gesellschaft ausgefochten. Die Verortung von Menschen in Familien und von Familien in Kultur und Gesellschaft reguliert maßgeblich die Verhältnisse, die Menschen zu sich selbst und anderen ausprägen, sowie deren Einbindung in historische Konfigurationen.5

Die jüngere Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung vor allem US-amerikanischer Prägung hat gezeigt, dass Art und Grad dieser Einbindung maßgeblich davon abhängen, ob man als männlich oder weiblich, jung oder alt, schwarz oder weiß gilt, ob man aus West- oder Osteuropa oder Asien stammt, aus der Stadt oder vom Land kommt, christlich oder jüdisch glaubt, viel oder wenig Geld verdient, Männer oder Frauen oder beide oder gar niemanden begehrt. Die Macht der Kategorien entfaltet sich im Leben von Menschen ganz wesentlich über familiäre Verortungen: Durch sie schreibt sie sich in das Selbst, in die Verhältnisse zu anderen Menschen und in die Ordnung des Sozialen ein. Durch sie werden die Räume eröffnet und begrenzt, innerhalb derer Menschen handeln und ihr Leben leben können.6

Dabei greifen, und dies führen meine Betrachtungen vor, Diskurse, Institutionalisierungen, Handlungsmuster und Praktiken ineinander. Sie bilden vieldimensionale Beziehungsgeflechte, die komplex, verschachtelt und historisch sehr träge sind. Zugleich sind solche Konfigurationen jedoch alles andere als unveränderlich, sondern trotz ihrer Trägheit flexibel und beweglich. Die folgenden zwölf Kapitel zeigen, wie seit dem späten 18. Jahrhundert eine historische Konfiguration Gestalt annahm, deren Ordnung des Sozialen um die Kleinfamilie aus Eltern und Kindern mit spezifischer Geschlechterordnung kreiste. Diese Lebensform wurde fortan als ideal gepriesen, um in einer freiheitlichen Ordnung funktionierende Subjekte zu konturieren. Bis heute hängt der Platz, den Menschen in dieser Ordnung einnehmen können, ganz wesentlich davon ab, inwieweit ihre Lebensweise diesem familiären Ideal entspricht; und mehr noch: inwieweit ihnen überhaupt die Fähigkeit attestiert wird, diesem Ideal gemäß leben und agieren zu können. Wir werden sehen, wie Hautfarbe, Herkunft oder sexuelle Präferenzen hierfür von entscheidender Bedeutung waren und sind.

Die Familie mit werktätigem Vater, häuslicher Mutter und Kindern war in den letzten zwei Jahrhunderten ein regulierendes Ideal von erstaunlicher Beharrlichkeit; einer Beharrlichkeit, die so stark war, dass sie lange sogar als diejenige Lebensform galt, die den »natürlichen« Bedürfnissen der Menschen entspreche. Zugleich aber hat, so auch die Familienhistorikerin Stephanie Coontz, kaum jemals eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner tatsächlich in solchen Verhältnissen gelebt.7 Der Trägheit und vermeintlichen Eindeutigkeit dieser historischen Konfiguration steht also eine große Beweglichkeit und Vielfalt gegenüber: Menschen kamen zusammen und trennten sich wieder für immer oder auch nur vorübergehend, sie waren alleinerziehend oder verwitwet, organisierten sich freiwillig oder notgedrungen in Kommunen oder anderen Sozialverbünden, lebten mit Partnerinnen oder Partnern gleichen Geschlechts zusammen oder blieben ganz einfach solo, um hier nur einige wenige Möglichkeiten aufzuwerfen. Dabei veränderten sich die Konjunkturen der verschiedenen Lebensformen über die Jahre und korrespondierten mit den historischen Veränderungen kategorialer Bedeutungen (man denke nur an die Debatten um queerness oder gay marriage) sowie den Wendungen und Zeitläuften der amerikanischen Geschichte: Die Konjunkturen der Lebensformen hingen etwa davon ab, woher, wohin und wie gerade welche Menschen in die USA oder innerhalb der USA migrierten, ob Menschen in der Sklaverei oder in Freiheit, in Kriegs- oder Friedenszeiten lebten, ob die Geschichte eine Phase der Urbanisierung oder der Vervorstädterung durchlief und vieles mehr. Noch einmal: Der Beharrlichkeit, mit der die bürgerliche Familienform zumindest bis zur feministischen und schwul-lesbischen Bewegung der 1970er-Jahre einen Anspruch auf Hegemonie formulierte, stand eine historisch variable Vielfalt und Dynamik von Lebensformen gegenüber. Daraus entstanden Spannungsverhältnisse, die ich ernst nehmen und genau betrachten werde. Ich werde zeigen, wie Menschen unter historisch-spezifischen Bedingungen dachten und handelten und so die Geschichte – ihre Geschichte – mitprägten.

Auf den Spuren dieser Spannungsverhältnisse führe ich durch die Geschichte der USA – von der Revolution bis heute. Dies ist ein weites Feld und in seinem ganzen Ausmaß kaum so zu bearbeiten, dass das Ergebnis zwischen zwei Buchdeckel passt. Daher nehme ich zwei Zuspitzungen vor, um das Vorhaben handhabbar zu machen. Erstens konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf »den Vater«. Im Sinne der neueren Geschlechtergeschichte8 betrachte ich Väter in vielfältigen Beziehungen, Formen und Funktionen, die sie in Familien ausfüllten und die der Ordnung des Sozialen Konturen verliehen. In einer Geschichte der USA, die die Bedeutung von Familien in der Ordnung des Sozialen untersucht, ist »der Vater« auch deshalb von besonderer Brisanz, weil er als Verkörperung und Zeichen des funktionierenden Bürgers einer Republik firmierte, der sich selber zu führen und sein eigenes Leben zu gestalten vermochte. In seinen spezifischen Ausprägungen formulierte das Ideal des sich selbst und andere führenden Vaters Erwartungen, schuf Hegemonien und produzierte Marginalisierungen. In seiner Normativität, seinen institutionellen Verankerungen und seinen mannigfaltigen lebenswirklichen Schattierungen trug »der Vater« in vielfacher Hinsicht dazu bei, der Ordnung des Sozialen Gestalt zu geben, die aber zugleich immer umstritten, umkämpft und in Bewegung war.

Die zwölf Kapitel sind auf verschiedene Spielarten von »Vätern« ausgerichtet: Auf Vaterfiguren, fiktive Väter, politische Väter und Väter aus Fleisch und Blut, auf Vaterideale ebenso wie auf die Handlungsweisen historischer Akteure. Dabei werden Väter immer in Relation zu anderen Menschen betrachtet: zu anderen Männern (Vätern wie Nicht-Vätern), zu Frauen und zu Kindern, zu »weißen« und »schwarzen« Menschen, christlichen und jüdischen, indigenen und eingewanderten und vielen anderen mehr. So ist zu sehen, wie Vaterschaft und Familie als Scharniere funktionierten, über die verschiedene Menschen in einer Ordnung des Sozialen positioniert wurden bzw. sich selber positionierten. Ich zeige, wie eine bestimmte Familienform und ein bestimmter Vatertyp in der liberalen Ordnung des Sozialen zwar hegemonial waren, zugleich aber Handlungs- und Spielräume für andere Lebensentwürfe existierten. Denn liberale Regierung ist mehr als Souveränität und funktioniert über eine vielfach interdependente Melange von Wissens- und Glaubensformationen, von Rationalitäten, Regulierungen und Institutionalisierungen, innerhalb derer Menschen handeln und behandelt werden.9 Ich präsentiere die liberale Ordnung des Sozialen also als einen vielschichtigen Kraftraum, in dem Assoziationen, Hegemonien und Marginalisierungen immer wieder neu erzeugt, aber auch in Frage gestellt werden. Die Wirkkräfte und die Konturen der Ordnung des Sozialen sind also immer in Bewegung. Deren Trägheit ist »performativ«, sie entsteht nur durch permanente Wiederholung und Erneuerung, die aber auch immer das Potenzial von Veränderung birgt.10

Eine zweite Zuspitzung gilt es noch zu benennen: Auch wenn ich den Fluchtpunkt meiner Betrachtungen von Familie und ihrer Bedeutung in der amerikanischen Geschichte auf Väter lege, so bleibt die mir gestellte Aufgabe doch immer noch zu umfassend. Denn es ist unmöglich, die Vielfalt der Vaterfiguren und Positionen, die mannigfaltigen Verknüpfungen und Beziehungen, die Abhängigkeiten und Interdependenzen, die Kategorisierungen und Zuschreibungen und die Selbstverständnisse und Handlungsweisen der so zahlreichen Akteure durch die amerikanische Geschichte hindurch und zu jedem Zeitpunkt zu verfolgen. Deshalb führe ich nicht alle diese Facetten und Interdependenzen in jedem einzelnen Kapitel vor. Ich rücke vielmehr jeweils einen ganz spezifischen und unterschiedlichen Akteur in das Zentrum eines Kapitels und zeige für jede dieser Figuren, wie sie innerhalb spezifischer Verhältnisse und Beziehungsgeflechte lebte, die die Möglichkeitsbedingungen ihres Handelns bildeten. Dabei akzentuiere ich jeweils unterschiedliche Beziehungsgefüge, Verknüpfungen und Kontexte, die für den betrachteten Zeitabschnitt besonders bedeutsam sind. Mit anderen Worten: Ich erzähle jedes Kapitel aus der Perspektive eines bestimmten Akteurs, der gar nicht notwendig männlich-väterlich sein muss. Mehrere Kapitel betrachten die Geschichte aus der Perspektive einer Mutter oder Tochter, was noch einmal die Relationalität von Vaterschaft hervorhebt. Diese Erzählweise erlaubt es mir, in jedem Kapitel so nah wie nur möglich heranzuzoomen und diese Nahaufnahmen zugleich an Weitwinkelperspektiven auf die Ordnung des Sozialen und verschiedene Akzente der amerikanischen Geschichte zurückzubinden.11 Die Gesamtschau des Buches und seiner zwölf Kapitel verdeutlicht die Vielfalt der Relationen und Kontexte, ohne diese sämtlich in jedem einzelnen Kapitel durchdeklinieren zu müssen.

Die zwölf Kapitel dieses Buches folgen in ihrer Chronologie im Wesentlichen den Akzentsetzungen üblicher Handbücher zur Geschichte der USA, nur dass sie diese eben aus der Perspektive jeweils eines Akteurs bzw. einer Akteurin und mit Blick auf Familie und Vaterschaft erzählen. Diese Akteure können als prägende Figuren der jeweiligen Periode der US-Geschichte erachtet werden, und zwar in dem Sinne, dass sie in Kontexten lebten, die für die jeweilige Zeit als zentral und besonders bedeutsam gelten. Bemerkenswert ist nun, dass fast alle Hauptakteure meines Buches trotz ihrer historischen Bedeutsamkeit am Rande der Ordnung des Sozialen standen. Denn fast keine der Erzählfiguren lebte in kernfamiliären Verhältnissen, und wenn doch, dann empfand sie diese als krisenhaft. Es ließe sich also behaupten: es gibt so viele Peripherien, dass die Rede von einem hegemonialen Zentrum gar keinen Sinn ergibt. Nun wird aber zugleich zu sehen sein, wie sich sämtliche Akteure auf die eine oder andere Art und Weise an dem kernfamiliären Modell abarbeiteten, auch wenn (oder vielleicht gerade: weil) sie selber nicht danach lebten: Sie strebten es an, rangen mit ihm als regulierendem Ideal, lehnten es ab oder brachen mit ihm. Doch selbst im Fall des Bruchs und der Überschreitung war die Eltern-Kind-Familie konstitutiv, denn sie gehörte »zu den nichtgewählten Bedingungen des eigenen Lebens«, um eine Formulierung von Judith Butler zu borgen, und war Teil des »ermöglichenden und begrenzenden Feldes von Zwängen«.12

Zu den einzelnen Kapiteln: Das erste befasst sich mit Revolution und Staatsgründung. Es ist grundlegend, da es aus dem zeitgenössischen Diskurs heraus die konzeptionelle Basis für die weiteren Betrachtungen entwirft. Entsprechend ist es das einzige Kapitel, in dem ein prägender Akteur eher im Hintergrund steht, auch wenn der »Gründervater« John Adams immer wieder als eine zentrale Figur auftaucht. Dabei strebt das Kapitel aber weder eine Adams-Biografie noch eine Verfassungsgeschichte an, sondern Adams wird genutzt, um in das gouvernementale Schema des Regierens einer liberalen Republik einzuführen und es in seinen Prinzipien wie in seiner Unwucht vorzustellen. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Etablierung der Kernfamilie in der jungen Republik, betrachtet diese aber aus dem Gegenmodell der religiös und sexuell utopischen Oneida-Kommune unter der Führung des Sektenvaters John Humphrey Noyes heraus. Das dritte Kapitel widmet sich der Geschichte von Familien in der Sklaverei und ist aus der Perspektive eines Sklavenvaters geschrieben, während das vierte Kapitel die Westwanderung aus dem Blickwinkel eines Mädchens anschaut. Sie begab sich als Halbwaise mit ihrem Vater auf den trail, war dabei aber oft und lange von ihm getrennt. Auch das fünfte Kapitel kreist um eine Trennungssituation, nämlich die eines südstaatlichen Rebellenvaters, der als Soldat in den Bürgerkrieg zog. Kapitel sechs und sieben führen in das sich urbanisierende Amerika der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts und spielen beide in New York. Das eine berichtet von einem Junggesellen, dem YMCA und dem aufkommenden sexualwissenschaftlichen Diskurs, das andere von einer polnischen Jüdin in der Lower East Side, deren autobiografische Erzählung ich auf migrantische Familienstrukturen und Vaterentwürfe abklopfe. Kapitel acht kreist um einen indianischen Vater, der in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts erstaunlicherweise zum role model für weiße, bürgerliche, moderne Väter avancierte, die Angst hatten zu versagen, während Kapitel neun fragt, was mit Familien und der Ordnung des Sozialen zur Zeit der Großen Depression geschah. Das zehnte Kapitel erörtert, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Roman- und Filmvater als »Mann im grauen Flanell« in die soziologischen und populären Krisendiagnosen einschrieb und so die Kernfamilienzentrierung der amerikanischen Nachkriegsordnung zugleich in Frage stellte und bekräftigte. Kapitel elf und zwölf sind aus der Perspektive der Bürgerrechtsbewegungen seit den 1960er-Jahren geschrieben und greifen explizit die zentralen US-amerikanischen Debatten unserer Gegenwart auf, die über afroamerikanische Väter und Familien und über gay marriage geführt werden. Im Zentrum stehen ein ebenso arbeitsamer wie verzweifelter afroamerikanischer Familienvater im Watts der 1970er-Jahre sowie ein lesbisches Pärchen in San Francisco, das mit seinen Kindern, seinen Hunden, dem Eigenheim und dem Kombi genau die Familienwerte lebt, die weite Teile der US-amerikanischen Gesellschaft als verloren beklagen. Zugleich bedeutet ihre gleichgeschlechtliche Partnerschaft aber einen, wenn nicht den wesentlichen Bruch mit dem kernfamiliären Imperativ. Die Art und Weise, wie sie ihren Alltag organisieren, steht dennoch exemplarisch für viele urbane Familien mit Kindern im 21. Jahrhundert, ganz gleich ob die Eltern nun homo oder hetero, beides, queer oder gar nichts sind.

Wir lassen uns also von verschiedenen Menschen mit ihren Briefen, Autobiografien und anderen Selbstzeugnissen, ihren Filmen und Interviews durch die amerikanische Geschichte von der Revolution bis zur Gegenwart führen, von Neuengland über New York und den Mittelwesten bis nach Kalifornien und in den tiefen Süden. Nahaufnahmen und Weitwinkeleinstellungen gehen ineinander über, und die Handlungen Einzelner fügen sich zu einer Ordnung des Sozialen, die um die Kernfamilie als regulierendes Ideal kreist, das zugleich permanent durchbrochen wird. Wir werden sehen, wie die Möglichkeitsbedingungen von Handlungs- und Lebensweisen und ihrer soziokulturellen Anerkennung mit Vorstellungen von Geschlecht, Religiosität, Sexualität, Rasse, Klasse, Staatsbürgerlichkeit, Herkunft, Gesundheit und weiteren Kategorisierungen korrespondieren und wie sich deren Bedeutung und Wirkungsweise in der Geschichte verändern. Viele Zwischentöne werden zu hören sein.

Ich hoffe, mit diesem Buch auch ein wenig zu einer neuen und kritischen Geschichte beitragen zu können. Eine solche Geschichte fragt nach den Normierungen und Regulierungen menschlicher Existenzen, zugleich aber auch nach den Denk- und Handlungsweisen von Akteurinnen und Akteuren und deren Möglichkeiten, die ihnen gesetzten Grenzen zu verschieben und die Ordnung des Sozialen in ihrem Sinne zu verändern. Eine solche Geschichte braucht Erzählungen, die »nah ran« gehen, dabei aber auch das big picture im Auge behalten.

Kapitel 1»To govern as if we governed not«: Familien, Väter und die neue Republik, 1770–1840

»Man hat uns erklärt, dass unser Kampf die Bande der Regierung allerorten gelockert hat. Dass Kinder und Lehrjungen ungehorsam sind – dass in Schulen und Hochschulen Unruhe herrscht – dass Indianer ihre Aufseher beleidigen und Sklaven aufmüpfig werden gegenüber ihren Herren.«

Aus einem Brief von John an Abigail Adams, 14. April 1776

Neuartige »Bande der Regierung«

Allerorten habe die Revolution die traditionellen Bande der Regierung gelockert, schrieb John Adams am 14. April 1776 aus Philadelphia seiner Gattin Abigail auf dem Familiengut Braintree in der Nähe Bostons. John Adams gehörte zum politischen Establishment des revolutionären Amerika, vertrat die Kolonie Massachusetts im amerikanischen Kontinentalkongress und trieb die unmittelbar bevorstehende Unabhängigkeit von der britischen Krone voran. Im Frühjahr 1776 war Adams maßgeblich daran beteiligt, eine neue politisch-institutionelle Ordnung auf den Weg zu bringen. Dennoch verstand er unter »Regierung« offensichtlich mehr als nur die Ausübung rechtlich und institutionell geregelter politischer Macht: Schließlich betonte er, dass der revolutionäre Kampf die »bands of Government« nicht nur zwischen Mutterland und Kolonien, sondern »überall« und eben auch zwischen Herren und Sklaven, Lehrjungen und Meistern oder Eltern und Kindern gelöst habe. Die Revolution veränderte menschliche Beziehungsgeflechte bis in die hintersten Winkel, verschob deren Begründungszusammenhänge und schuf mithin neuartige Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen gegenüber sich selbst und anderen. Das Prinzip souveräner Herrschaft war grundsätzlich in Frage gestellt.13

Der zentrale Leitsatz der Aufklärung, nämlich dass der Mensch frei geboren sei und sich selbst bestimmen und regieren könne, wurde im revolutionären Amerika auf die Probe gestellt. Um diese Probe erfolgreich bestehen zu können und eine neue freiheitliche Ordnung zu etablieren, die auch von Dauer war, bedurfte es mehr als »nur« einer neuen Verfassungs- und Rechtsordnung: Es bedurfte anderer, neuer Formen des Regierens, die die Menschen ohne den imperativen Zwang eines Souveräns derart führten, dass sie in einer freiheitlichen Ordnung funktionierten. Auf den Punkt brachte diese Notwendigkeit der Arzt, Philosoph und Politiker Benjamin Rush, wenn er betonte, mit der politischen Revolution müsse eine »Revolution in unseren Prinzipien, Meinungen und Verhaltensformen« einhergehen. Mithin mussten neben den neuen politischen Institutionen neue und andere »Bande der Regierung« geschaffen werden, um hier noch einmal John Adams‘ Formulierung aufzugreifen, mit Regeln, Konventionen und Verhältnissen, die die Menschen zu einer selbstverantwortlichen, selbstbeherrschten, leistungsbereiten, eben »republikanischen« Lebensführung anleiteten. Aus der Retrospektive des Jahres 1818 beurteilte Adams den Wandel der Menschen, ihrer Prinzipien und Stimmungen, ihrer politischen, sozialen, moralischen und religiösen Charaktere und ihres Selbstverständnisses als die »wahre amerikanische Revolution«. Es heißt übrigens, um sein eigenes Selbst kontrollieren und gestalten zu können, habe Adams geradezu obsessiv Ratgeber studiert, wie sie seit der Revolutionsära zunehmend für ein immer breiteres Publikum zirkulierten. Sie waren Teil einer Flut von Kommentaren, Flugblättern und anderen Schriften, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dazu beitrugen, das Politische umzudeuten und eine neue Ordnung liberaler Regierung selbstverantwortlicher Individuen zu konturieren.14

Auch wenn die Auflösung souveräner Herrschaftsverhältnisse das erklärte Ziel war, das Adams und die anderen »Gründerväter« im Frühjahr 1776 verfolgten, waren ungehorsame Kinder, aufmüpfige Indigene und anmaßende schwarze Sklaven für ihn doch des Guten zu viel: Sie bedeuteten eine unerwünschte Destabilisierung der bestehenden Ordnung des Sozialen. Die neue freiheitliche Rationalität des Regierens warf die Frage auf, ob man tatsächlich alle Menschen in gleichem Maße als fähig erachten wollte und konnte, sich selber zu führen und an dieser Ordnung gleichberechtigt teilzuhaben. Die weiteren Kapitel werden zeigen, wie im Laufe der amerikanischen Geschichte bestimmten Menschen eine größere Befähigung als anderen attestiert wurde, die eigene Freiheit verantwortungsvoll und produktiv nutzen zu können und dem eigenen Glück auf eine Art nachzustreben, die für das Selbst und das Kollektiv als zuträglich erachtet wurde.15

Als Harvard-Absolvent, Anwalt, Politiker, Grundbesitzer und Vater, der aus einer puritanischen Familie stammte, die sich in Amerika bis 1638 und somit beinahe bis zu den ersten englischen Siedlern zurückverfolgen ließ – anders formuliert: als weißer, gebildeter, wohlhabender, protestantischer, eingesessener, verheirateter Mann und Vater war John Adams der Prototyp des Menschen, dem die revolutionären Zeitgenossen das höchste Maße an Fähigkeit zubilligten, mit der eigenen Freiheit verantwortlich umzugehen und sich selbst und andere zu führen. Männer wie Adams drängten auch in der neuen freiheitlichen Ordnung in eine hegemoniale Position, die von vielfältigen Achsen der Differenz als eine solche abgesteckt wurde. Die Kulturwissenschaftlerin Dana Nelson spricht von einer »Bruderschaft« besitzender weißer Männer, die diese neue Ordnung in ihrem Sinne konturierten.16 Das behauptete Prinzip allgemeiner Freiheit und Gleichheit war folglich von Anbeginn des republikanischen Experimentes an in Unwucht.17

Das Ringen um Ressourcen in einer freiheitlichen Ordnung, der Kampf um das Recht auf Teilhabe und die Wirkungsmacht von Differenz sind zentrale Themen dieses Buches. Zunächst soll jedoch in Grundzügen dargestellt werden, wie sich die Regierung einer liberalen Ordnung konzeptionell von der Regierung einer souveränen Ordnung unterschied: Das entscheidende Stichwort ist hier die »Führung zur Selbstführung«. Dabei lege ich den Fluchtpunkt auf die Funktion von Familien und hier wiederum insbesondere von Vätern, die eine zentrale Schaltstelle der neuen Sozialordnung bildeten und dieser Kontur und Stabilität verleihen sollten. Wie dann wiederum Differenzen zwischen verschiedenen Menschen etabliert und ihre Möglichkeiten reguliert wurden, an Gesellschaft teilzuhaben, indem ihnen eine unterschiedliche Befähigung zur Selbstführung attestiert wurde, ist Gegenstand der nachfolgenden Kapitel. Zunächst aber zeige ich, wie in den ersten Dekaden der US-amerikanischen Republik ein Dispositiv18 aus entsprechenden Denk- und Handlungsmustern, mit entsprechender institutioneller Rahmung und Vernetzung Form annahm, das Selbstführung als Paradigma etablierte.

Dabei waren die zeitgenössischen Fragen und Problemstellungen denjenigen sehr ähnlich, die der Philosoph und Historiker Michel Foucault rund 200 Jahre später in seinen Ausführungen zur »Gouvernementalität« systematisieren sollte. Darauf will ich gleich etwas genauer eingehen, denn Foucaults Erörterungen zur Frage des »Regierens« bilden eine Folie, vor der das Dispositiv um Väter, Familien und die Ordnung des Sozialen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis heute entfaltet werden kann. Vaterfiguren, Familienkonstellationen, die Führung des Selbst und der Anderen und die Teilhabe an Gesellschaft stehen dann im Zentrum des Kapitels, in dessen letztem Teil ich schließlich zwei Problemfelder erörtere, die die Republik von Anfang an begleiteten und Skepsis schürten: erstens die Fortexistenz der Gewalt, die eigentlich dem Arsenal souveräner Herrschaft zugewiesen wurde und einige Legitimationsprobleme aufwarf. Zweitens war das republikanische Experiment kontinuierlich von der Furcht vor seinem Scheitern begleitet. Diese Furcht wurde von der Beobachtung genährt, dass es zahlreichen Menschen offenbar an der Bereitschaft oder der Fähigkeit mangelte, sich in einer selbstverantwortlichen Art selber zu führen, wie es von freien Menschen erwartet wurde. Auch John Adams wurde im Laufe der Jahre immer skeptischer, ob die Menschen mit ihren Leidenschaften, ihrer Faulheit und ihrer oft recht erratischen Lebensweise tatsächlich als Bürger einer Republik funktionierten. Vor allem der Blick auf das Leben in Städten wie Boston, Philadelphia und New York ließ ihn daran zweifeln. Wer Sorgen dieser Art äußerte, schuf ein Untergangsszenario. Zugleich aber rief er dadurch zur Disziplinierung des Selbst und der Anderen auf und etablierte Differenzen zwischen unterschiedlichen Menschen, nämlich zwischen den einen, die der selbstkontrollierten Lebensführung grundsätzlich fähig seien, und den anderen, denen man diese Fähigkeit absprach. Das Lamento der Krise und die Prophezeiung des Untergangs sind Teile einer Strategie, die darauf abzielt, zur kontinuierlichen Arbeit an der Stabilisierung des Selbst anzuhalten und so eine Ordnung des Sozialen zu konturieren.

Gouvernementalität

Frei sein und sich trotzdem so verantwortungsvoll führen, dass das eigene Streben nach Glück auch das Kollektiv würde gedeihen lassen, lautete die Maxime der neuen Republik. Um eine solche Gesellschaft zu regieren, die sich als freiheitlich und egalitär entwarf und äußerst dynamisch war, reichte es nicht mehr, Steuern einzutreiben und Menschen aufs Schafott zu bringen, wie der Soziologe Ulrich Bröckling treffend bemerkt. Auch wussten die Zeitgenossen, dass es mehr brauchte als eine repräsentative Regierungsform mit Gewaltenteilung, um die freiheitliche Ordnung am Leben zu halten.19 Vielmehr brauchte es feinere Prozeduren, Techniken und Methoden, die man heute womöglich als »Management von Freiheit« bezeichnen würde: Regierung bedeutete fortan, das Selbstverständnis und die Handlungsfelder der Menschen zu formen und ein umfassendes Bewusstsein für die Verantwortung zu schärfen, die sie für ihre eigene Existenz und damit auch für das Gelingen des amerikanischen Projektes trugen. Ein breites Spektrum entsprechender Aussagen, Institutionen und Praktiken sollte dazu beitragen, von politischen Leitlinien über Lern- und Besserungsinstitutionen bis hin zu Erziehungsfibeln und Ratgebern. Dabei bestand weithin Einigkeit, dass Regierung in einer freiheitlichen Gesellschaft dann am besten funktionieren würde, wenn sie ohne Zwang operierte und die Geführten ihre Führung gar nicht als solche empfanden. Vielmehr sollten die Menschen aus (vermeintlich) freien Stücken und auf der Grundlage von vermitteltem Wissen und Entscheidungskompetenz diejenige Wahl treffen, die im Rahmen dieser neuen Ordnung als die »richtige« und »beste« erschien. Solche Erwägungen zirkulierten seit der Revolution und der Staatsgründung in zunehmendem Maße, und sie sollten sich in vielerlei Schattierungen in der US-Geschichte bis heute verfestigen. Der Autor, Erzieher und Arzt William Alcott, eine Koryphäe der US-Familien- und Männerberatung jener Tage, brachte dies im Jahr 1838 auf den Punkt, wenn er in einem Ratgeber jungen Ehemännern einschärfte, »die Kunst des Führens, im Familienkreis wie anderswo, ist so zu regieren, dass es erscheint, als regierten wir nicht«.20

Zwischen John Adams im Jahr 1776 und William Alcott im Jahr 1838 spannte sich ein ganzes Feld von Äußerungen dieser Art auf, die um die rechte Regierung der freiheitlich gedachten Gesellschaftsordnung kreisten. Rund zwei Jahrhunderte später sollte Michel Foucault ähnlichen Problemstellungen nachgehen und Fragen nach der Kunst und den Konturen liberalen Regierens systematisieren: Ab der Mitte der 1970er-Jahre waren sie Thema seiner Vorlesungen am Collège de France und verschiedener Gespräche und Beiträge zur »Gouvernementalität«.21 Dabei war er von Umwälzungen seiner eigenen Gegenwart angeregt. Weltweit, so Foucault, begehrten Menschen in verschiedenen Formen des Widerstandes und der Revolte gegen herrschende Regierungen, deren Praktiken und Formen der souveränen Macht auf, die mit den atlantischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ja eigentlich hätten verabschiedet sein sollen, sich aber doch als sehr beharrlich erwiesen hatten. Hier sei 1968 genannt, ein Signaljahr von Prag über Berlin und Paris bis Washington und Chicago, aber auch die iranische Revolution 1978/79, der wachsende Widerstand gegen die Atomkraft in vielen europäischen Ländern oder die Streiks, die dann im Sommer 1980 Polen erschütterten. »Wir stehen vielleicht am Beginn einer großen krisenhaften Neueinschätzung des Problems der Regierung«, prophezeite Foucault in diesen Tagen.22

Die Ereignisse seiner eigenen Zeit inspirierten Foucault, aus der Geschichte seit dem 16. und dann in verdichteter Form seit dem 18. Jahrhundert heraus das Konzept der »Gouvernementalität« herzuleiten. Wie Foucault argumentiert, zeige die Geschichte liberaler Gesellschaften mehr als deutlich, »daß die Regierung im Grunde viel mehr ist als die Souveränität, viel mehr als die Herrschaft, viel mehr als das imperium.«23 Es reiche nicht, die Aufmerksamkeit auf die formale Autorität eines Staates und seine Instrumente zu richten, vielmehr sei die bis dahin weithin übliche »Geschichte der Herrschaft durch die historische Analyse der Verfahren der Gouvernementalität« zu ersetzen. Dies bedeute, vielfältige Ebenen und Formen der Steuerung und Führung in den Blick zu nehmen, die vom Staat und der Verwaltung über die Familien bis zum Selbst reichten und ineinander verklammert seien: Denn unter Regierung sei »die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken [zu verstehen], mittels derer man die Menschen lenkt«, und die dazu führen, dass sie sich in einer ganz spezifischen Art und Weise als Subjekte entwerfen und eine Lebensführung anstreben, wie sie wiederum kulturell und politisch erwünscht ist.24

Erste frühe Appelle von Historikerinnen und Historikern, die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung in eine solche Richtung zu wenden, verhallten beinahe ungehört. Als etwa Carroll Smith-Rosenberg 1992 anregte, die Forschung zur amerikanischen Revolution und zur jungen Republik »vom Schreiben einer neuen Verfassung zur Verfasstheit neuer politischer Subjekte« zu verschieben, rief dies zunächst nur wenig Resonanz unter den Kolleginnen und Kollegen hervor.25 Dabei waren die mannigfaltigen Wechselwirkungen zwischen der Regierung, dem Gemeinwesen und dem Selbst doch bereits seit der Gründung der USA ein zentraler Topos. Denn die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 erklärt Leben, Freiheit und das Streben nach Glück nicht nur zu einem Recht, sondern formuliert sie auch als Aufforderung: Liberale Subjekte sind angehalten, ihr Leben zu optimieren, ihre Freiheit zu nutzen und aktiv nach Glück zu streben, um so der Verantwortung gerecht zu werden, die sie mit der Freiheit für sich und das Kollektiv übernehmen. Freiheit ist also nicht einfach das Gegenteil von Unfreiheit. Vielmehr existiert Freiheit immer nur innerhalb einer komplexen Gemengelage, die einen ganz bestimmten Gebrauch von Freiheit und eine ganz bestimmte Lebensform sinnvoll erscheinen lässt und einfordert. Ein solcher »rechter« Gebrauch der Freiheit soll die Stabilität und Existenz der Republik sichern und den Menschen die Anerkennung als verantwortliche liberale Subjekte gewähren. Um es mit dem Soziologen Nikolas Rose zu formulieren: Eine liberale Ordnung funktioniert nicht durch erzwungene Unterwerfung. Ziele der Macht und ihrer Techniken, Taktiken und Regulierungen sind vielmehr die Entfaltung des Subjektseins nach spezifischen Kriterien und die entsprechende Nutzung des menschlichen Potenzials. Freiheit, so ließe sich mit Susanne Krasmann bilanzieren, »bildet im Liberalismus gleichermaßen die Grundlage und unverzichtbare Voraussetzung für das Regieren«.26

Eine solche Regierung des Selbst und der Anderen ist in eine weite Konfiguration des Wahrnehmens, Wissens und Denkens eingebunden. Diese Konfiguration bringt kulturell und historisch spezifische »Logiken« und »Rationalitäten« hervor, die bestimmte Lebensformen und Handlungsweisen, die Diagnose bestimmter Probleme, die Anwendung bestimmter Lösungsstrategien und die Nutzung bestimmter Techniken sinnvoll, notwendig und womöglich sogar evident erscheinen lässt.27 Ein Dreh- und Angelpunkt dieser liberalen Konfiguration und ihrer Ordnung ist die Familie. Ich zeige in den folgenden Kapiteln, wie eine liberale, moderne Rationalität die Kernfamilie über zwei Jahrhunderte hinweg als erstrebenswerte Lebensform konturierte und diese beharrlich wieder und wieder als zentrale Schaltstelle der Ordnung des Sozialen installierte. Zugleich aber war diese frappierend träge historische Ordnung von Veränderlichkeit und Vielfalt geprägt: Es gibt mannigfaltige Schattierungen, Brechungen und Verschiebungen von familiären Lebensformen, je nachdem, in welcher Zeit, welchem Raum und welcher spezifischen Nische der USA von der Revolution bis heute wir uns bewegen.28

Auf den folgenden Seiten werde ich aber zunächst tiefer in das diskursive Feld der Revolutionsjahre und der frühen Republik eintauchen, um genauer zu zeigen, wie spezifische Entwürfe von Familie mit den »Verfahren der Gouvernementalität« verschränkt waren. Dabei werde ich mich auf das Vatersein konzentrieren. Das folgende Buch wird das Ringen um kulturelle Bedeutungsgebungen und soziale Organisation betrachten und (vor allem in seinem weiteren Verlauf) in die Lebenswelten verschiedener Menschen und deren Alltage hineinführen. Es ist dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – auch als eine Geschichte des Politischen zu verstehen, die über die Sphäre formal institutionalisierter Politik hinausführt. Eine solche Geschichte des Politischen zeigt Assoziationen zwischen Menschen, ihren Ordnungs- und Organisationsformen sowie Rückkoppelungen zu ihren Denk- und Daseinsweisen auf. Sie ist getragen von geschlechter-, sexualitäts- und alltagshistorischen Erwägungen, sie befasst sich mit Handlungs- und Diskursräumen sowie mit Aus- und Einschlüssen von Menschen, sozialen, ökonomischen und weiteren Differenzierungen, die über familiäre Normen, Praktiken und Institutionalisierungen hergestellt werden und auf diese wirken. Eine solche historische Perspektive hat sich bereits seit einigen Jahren als »Kulturgeschichte des Politischen« profiliert, und doch stellt sie nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar.29 Denn wir wissen immer noch wenig darüber, wie Menschen »regiert« wurden, auch wenn Historikerinnen und Historiker wie Carroll Smith-Rosenberg oder Alf Lüdtke bereits Anfang der 1990er Jahre dazu aufriefen, weniger die Kategorien formaler Herrschaft, sondern disparate »Kräftefelder« in den Blick zu nehmen: Kräftefelder, die menschliche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen zugleich ermöglichen und begrenzen.30

Regieren über Familie

Werfen wir zunächst noch einmal einen Blick auf den Briefwechsel zwischen Abigail und John Adams, denn er zeigt, dass die »Gründerväter« den Bruch mit den kolonialen Herrschaftsstrukturen und die Fähigkeit zur Selbstführung in einer freiheitlichen Ordnung als männliche Domäne erachteten. In der wohl berühmtesten Passage des Briefwechsels stellte Abigail Adams das Freiheitsdenken ihres Gatten auf die Probe, indem sie ihn ermahnte, »die Frauen zu bedenken«, die »tyrannische Natur« der Männer nicht zu vergessen und folglich auch deren politische Macht zu beschränken, wenn er und seine Kollegen die Verfassung der neuen Gesellschaft entwarfen: Ansonsten drohe den Männern nämlich eine weitere Revolution, die dann auch an deren Thron rütteln werde. John Adams spielt in seiner Antwort mit den grundsätzlichen Unterschieden zwischen rechtlich verankerter Regierung und den Praktiken des Alltags. Denn so absurd ihm die Vorstellung erscheint, formale männliche Vorrechte aufzukündigen und weibliche Ansprüche gar in der Verfassung festzuschreiben, so sehr betont er zugleich, dass männliche Herrschaft nicht mehr als Theorie sei, sobald man in die Alltagswelten schaue: Denn in der alltäglichen Praxis seien die Männer die Unterworfenen. John Adams Antwort ist aufschlussreich, verweist sie doch einerseits auf Unterschiede zwischen Normen und Lebenswirklichkeiten, die vor allem dann wichtig sind, wenn Handlungsspielräume von Menschen eruiert werden sollen. Zugleich muss sein Kommentar, das männliche Subjekt sei in der Realität des Alltags ein unterworfenes Subjekt, als rhetorische und politische Strategie verstanden werden. Sie zielte letztlich darauf ab, weibliche Handlungsräume zu begrenzen und männliche Hegemonie zu stärken. Gerade John Adams war ansonsten ein Verfechter des Gesetzes, das in einer Republik nicht der Unterdrückung der Menschen, sondern der Sicherung ihrer Freiheit dienen sollte. Der Dialog zwischen Abigail und John Adams zeigt, dass der Kampf um Ressourcen in der neuen, freiheitlich gedachten Ordnung des Sozialen eröffnet war. Politische Freiheit und Selbstbestimmung sollten vor allem männlich gedacht werden.31

Entsprechend skizzierten die Revolutionäre ihr Streben nach Unabhängigkeit mit Vorliebe als Emanzipation eines erwachsen gewordenen Jungen, der ein Stadium des »Mannseins« erreicht hatte und sich nun der väterlichen Souveränität der britischen Krone entzog. Der Kulturhistoriker Jay Fliegelman sieht hier sogar das »Kernmotiv« der amerikanischen Revolution. »Wir steuern auf die Mannwerdung zu – unsere Muskeln strotzen vor jugendlicher Kraft«, war in diesem Sinne im Jahr 1774 selbstbewusst aus Pennsylvania zu vernehmen, »der Tag unabhängigen Mannseins steht bevor«.32 Und Thomas Paine, einer der führenden Denker der Revolution, meinte, man wische die Frage, ob die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien überhaupt zum Wohl der Amerikaner sei, am besten mit einer rhetorischen Gegenfrage vom Tisch: »Ist es im Interesse eines Mannes, sein Leben lang ein Junge zu bleiben?«33

Die Revolution wurde also als ein männliches Erwachsenwerden und als Kampf gegen patriarchalische Tyrannei gedeutet. Familiärer wie politischer Widerstand gegen einen despotischen Vater erschien den Zeitgenossen des späten 18. Jahrhunderts mehr als legitim, denn die Vorstellung rechten Vaterseins war schon seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert peu à peu revidiert worden. Ein puritanischer Despot, der seine Autorität und Souveränität von Gott herleitete und die Unterwerfung der Kinder forderte, stand nicht einmal mehr in der Theorie für gutes Vatersein. Es hieß vielmehr, ein Mann beweise sich als guter Vater, indem er ein vorbildhaftes Leben führe, umsichtig und verantwortungsbewusst im Sinne der anderen handele, sich selbst gestalte und so seinen Pflichten sich selbst und anderen gegenüber nachkomme.34 Im Laufe des 18. Jahrhunderts verschob sich der dominante Vaterentwurf vom autoritären, mit transzendentaler Souveränität ausgestatten Patriarchen hin zu einem egalitäreren Modell des feinfühligen und vorbildhaften Lenkers der Familie. Diese Verschiebungen in den Deutungsmustern des Vaters und des Familiären korrespondierten mit der Herausbildung eines affektiven Individualismus. Sie gingen auch mit der Konsolidierung der kolonialen Gesellschaften im 18. Jahrhundert einher, die zunehmend unabhängig von der Krone handelten. Ähnlich, so der Historiker James Henretta, agierten junge Männer in einer territorial und sozial zunehmend mobilen Gesellschaft nun früher eigenständig.35 Und so wie die bedingungslose Unterwerfung unter väterliche Autorität immer weniger dem vorherrschenden Familienmodell entsprach, war auch die Unterwerfung der amerikanischen Kolonien unter die britische Krone nicht mehr hinnehmbar. In den Augen der Amerikaner, die koloniale Konflikte gern in familiärer Metaphorik fassten, benahm sich der englische König George III. wie ein despotischer und historisch überholter Vater, als er sie in Folge des French and Indian War enger an die Kandare nehmen und ihnen liebgewonnene Freiheiten wieder entziehen wollte. Die Zeit dieses Vatermodells und entsprechender politischer Strukturen war abgelaufen.

Vor diesem Hintergrund mag es zunächst verwirren, dass auch die revolutionären Führungsfiguren der Kolonien und des bald unabhängigen nordamerikanischen Staatenbundes in Familien- und Vatermetaphorik gepriesen wurden: Als »Väter der Republik« oder auch »Gründerväter« wurden sie verehrt. Im Gegensatz zum englischen König repräsentierten sie jedoch das noch junge, aus heutiger Perspektive »gouvernementale« Ideal des guten Vaters einer freiheitlichen Ordnung, der sich eben durch die Demonstration seiner Fürsorglichkeit und Kompetenz zur Führung seiner selbst und anderer auszeichnete. Freilich ist hier nicht von einem glatten Bruch mit althergebrachten patriarchalischen Mustern auszugehen, leben diese doch selbst bis heute fort: Das gouvernementale Vatermodell wischte das patriarchalische nicht einfach restlos beiseite. Außerdem wurde mit dem gouvernementalen Modell männliche Hegemonie in Familie und Sozialordnung nicht verabschiedet, sondern vielmehr auf der Grundlage neuartiger, liberaler, moderner Rationalitäten anders begründet. Und nicht zu vergessen: Auch im 17. Jahrhundert und davor hatte es schon liebevolle Väter gegeben.

Werfen wir einen exemplarischen Blick auf Debatten der Revolutionsjahre, um zu zeigen, wie beide Vaterentwürfe im politischen Diskurs zirkulierten. Als die Delegierten Pennsylvanias im Jahr 1787 angehalten waren, die neue amerikanische Verfassung zu ratifizieren, argwöhnten sie zunächst voller Skepsis, der zukünftige Präsident werde womöglich wie ein patriarchalischer Despot regieren. James Wilson, der für Pennsylvania an der Verfassung mitgearbeitet hatte und einer der ersten Verfassungsrichter der USA werden sollte, beruhigte seine Landsleute, indem er betonte, der Präsident werde sich nicht als Despot, sondern vielmehr als Vaterfigur der gelockerten Bande, der Vernunft und der Fürsorge zeigen.36 Dieser neue Vatertypus avancierte im Zuge von Revolution und neuer Republik zur Verkörperung politischer Rationalität und Selbstbestimmtheit und wurde zum Basismodul der liberalen Ordnung des Sozialen. Freiheit und Unabhängigkeit sollten nicht mehr durch souverän-patriarchalische Macht begrenzt, sondern durch gouvernemental-väterliche Führung begünstigt und so in eine stabile Form gegossen werden. Dass Väter auf diesem Wege wieder eine hegemoniale Position einnahmen und ihre politischen Gestaltungsmöglichkeiten zudem nicht nur von ihrem Geschlecht, sondern auch von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben, ihrem Wohlstand und ihrer Bildung abhingen, soll hier zunächst nur konstatiert werden. Ich werde dies im Laufe des Buches ausführen.

Ähnlich wie die Vaterfigur veränderten sich auch die Begründungszusammenhänge verschiedener zwischenmenschlicher Beziehungen. Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, Eltern und Kindern oder Ehemännern und Ehefrauen gründeten fortan weniger in dem Prinzip autoritärer Herrschaft, als in der Vorstellung reziproker Verträge.37 So hieß es über die Institution der Ehe in einer Republik im Gleichklang mit der politischen Theorie des Gesellschaftsvertrages, dass beim Eheschluss Frauen ihre Rechte freiwillig an den Ehegatten übertrügen, weil sie die größere Führungsqualität der Männer einsähen und die schwächeren Frauen männlichen Schutz suchten. Die Anerkennung der vorgeblichen Kompetenzen des Ehemannes und Familienvaters war analog zur Anerkennung der Führungsfähigkeit der »politischen Väterfiguren« konzipiert.38

Dies führt zu mehreren Schlussfolgerungen: Erstens wurde eine Ordnung des Sozialen, die sich auf Freiheit und Gleichheit beruft, durch das Denk- und Handlungsmodell weiblicher Einwilligung und des Vertrags mit männlicher Hegemonie vereinbar. Was auf den ersten Blick nur schwerlich kompatibel erscheint, nämlich eine freiheitliche Gesellschaft und weitestgehende weibliche Rechtlosigkeit im Ehestand (die »coverture«39), wird durch das Modell der Ehe als Vertrag zwischen zwei Parteien denkbar. Schließlich setzte das Konzept des Vertragsschlusses die weibliche Anerkennung männlicher Führung voraus und deutete diese sogar als Ausdruck weiblichen Strebens nach Glück.40 Im Laufe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts verfestigte sich die Vorstellung, größere männliche (und analog weiße) Führungsfähigkeit sei Ausdruck »natürlicher« Dispositionen.

Eine zweite Schlussfolgerung betrifft die Beziehung von Familie und politischer Ordnung. Galt die Familie in der vormodernen kolonialen Gesellschaft vor allem als Abbild und Modell des Staates im Kleinen, so avancierte sie in freiheitlich gedachten Ordnungen immer mehr zur zentralen Schaltstelle, über die regiert, Führungsfähigkeiten austariert und vermittelt, die Ordnung des Sozialen modelliert und reguliert werden sollte. Es ist also eine »Verschiebung der Familie von der Ebene des Modells zur Ebene der Instrumentalisierung« zu diagnostizieren, die, so Michel Foucault, »absolut fundamental« für die Regierung liberaler Ordnungen war und ist. Die Familie wurde vom Modell des Staates zu einem Instrument, über das regiert wird.41

Dabei bedeutete die neue republikanische, familiäre und soziale Ordnung weder Gleichheit noch uneingeschränkte Freiheit für alle und keineswegs das Ende männlicher Hegemonie. Familien wurden auf mehrerlei Art und Weise zum Vehikel, über das Menschen in unterschiedliche Positionen und Funktionen in Gesellschaft eingebunden wurden, je nach Geschlecht, Alter, sexuellen Präferenzen, Glauben, Herkunft oder rassischer Kategorisierung. Als normierendes Ideal nistete sich im Laufe der Jahrzehnte nach Revolution und Staatsgründung die liebevolle und fürsorgliche Kleinfamilie mit breadwinning dad, homemaking mom und mehreren Kindern im Zentrum der soziokulturellen Ordnung ein: Es war genau diese und keine andere Form der Familie, die rasch als bester und bedeutendster Ort für die Herausbildung republikanischer Subjekte galt. An deren Hegemonie war bald kaum mehr zu rütteln, weil sie sich so eng mit den machtvollen Strukturen der US-Gesellschaft verzahnte. Die politische und soziale Funktion, die dieser Art von Familie beigemessen wurde, war von höchster Bedeutung, denn schließlich musste eine liberale Gesellschaft ohne äußeren Zwang, dafür aber durch die Bereitschaft und die Fähigkeiten ihrer Mitglieder zusammenhalten: Sie gründete in deren Kompetenzen, Tugend, Moral und Selbstkontrolle. Solche Qualitäten würden vor allem in privaten Familien gelehrt und erfahren, hieß es. Familien seien deshalb die Basis der Republik, notierte John Adams schon 1778 in sein Tagebuch – ein Satz, den Politiker in den folgenden 230 Jahren von Adams bis zu Barack Obama wieder und wieder betonen sollten.42

Die Lobpreisung der funktionalen Familie als Fundament der Gesellschaft macht deutlich, wie unangemessen eine Trennung in private und öffentliche Sphären ist. Fortan hieß es regelmäßig, Engagement, Kooperationsfähigkeit, Zuneigung, Verantwortungsbewusstsein, aber auch Fügung seien für einen Familienmenschen ebenso unverzichtbar wie für einen Republikaner und für einen guten Christen. Nicht umsonst galt Erziehung als »Regierungskunst«, und nicht umsonst haben mit John Locke und Jean-Jacques Rousseau die einflussreichsten Theoretiker des Gesellschaftsvertrags auch viel gelesene Abhandlungen über die Erziehung geschrieben.43 Aus geschlechterhistorischer Perspektive führt die politische Qualität der Erziehungsarbeit die Brüchigkeit der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem vor. Zwar sollte die private Sphäre des Heims und der Kindererziehung Frauensache und die öffentliche Sphäre der Politik und der Erwerbstätigkeit Männersache sein, doch zugleich galt die Erziehung guter Republikaner als dezidiert politische Aufgabe, die Frauen als »republican mothers« innehatten.44 Außerdem war das Private alles andere als exklusiv weiblich und die Familie viel mehr als ein mütterliches Imperium.45 Denn der »republican mother« sollte der »republican father« zur Seite stehen, der zudem als einziges Familienmitglied als wirklich fähig galt, sich selber zu führen und somit allein die Grundvoraussetzung erfüllte, andere zu führen.46 Dem republikanischen Vater sollte die Gesamtsteuerung der Familie obliegen. Und so wie es vom US-Präsidenten hieß, er trage die politische Verantwortung »mit väterlicher Sorge und Zuneigung«,47 sollte sich auch die Fürsorglichkeit des Familienvaters darin artikulieren, dass er Verantwortung trug – und dies so subtil, dass die anderen Familienmitglieder ihre Entscheidungen und Tätigkeiten als Früchte ihrer eigenen Reflektionen (und damit ihrer demokratisch-liberalen Kompetenzen) und nicht als Ergebnisse väterlicher Führung wahrnahmen. Freuden der Tugend, da waren sich die immer schneller zirkulierenden Ratgeber einig, könnten nur dann wirklich empfunden werden, wenn die Regierten die Regierung gar nicht als solche empfanden und meinten, aus freien Stücken tugendhaft gehandelt zu haben. Ein autoritärer Patriarch daheim galt als ebenso schädlich für eine Familie wie ein Tyrann für die Republik.48

Mithin waren die Funktionen von Vätern innerhalb wie außerhalb der Familie ineinander verschränkt, und sie sind in ihrer Bedeutung getrennt nicht verstehbar. Zwar lässt sich mit dem Historiker Robert Griswold der Broterwerb durchaus als »wichtigstes organisatorisches Prinzip männlicher Existenz« in modernen Gesellschaften bezeichnen. Doch erstens war Erwerbstätigkeit in der Lebenspraxis nie nur Teil männlicher Existenz, und zweitens bedeutete Broterwerb mehr als nur die materielle Versorgung der Familie.49 Denn nichts dokumentierte besser, dass ein Mann zur Führung seiner selbst und anderer in der Lage und mithin ein politisch verantwortliches Wesen war, als die Existenz einer Familie zu gewährleisten. Für eine Familie sorgen zu können, galt als untrügliches Zeichen körperlicher, geistiger und staatsbürgerlicher Reife. Analog, und das werden wir im Folgenden immer wieder sehen, wurde die Anerkennung als Mann und Bürger auf vielfache Art und Weise an Funktionen gekoppelt, die Männer in Familien ausfüllten. Erfolgreiche Arbeit zum Besten anderer markierte einen Mann als funktionalen Vater und positionierte ihn in einer hegemonialen Stellung in Familie, Kultur und Gesellschaft.50

Ich will hier noch einmal betonen, dass sich die neue väterliche Hegemonie auf geschlechtsspezifischen Zuschreibungen stützte, die sich über die Jahre kontinuierlich verfestigten.51 Sich selber führen zu können wurde zugleich Grundbedingung und Ausdruck des Vaterseins und höchstes Qualifikationsmerkmal eines Mannes. Was erfolgreiche Selbstführung dann genau ausmachte, variierte durchaus in der Geschichte. Nicht mehr der Geburtsstand oder transzendentale Ermächtigung, sondern vielmehr eine gelungene Subjektbildung galten als Zeichen »erfolgreicher« Männlichkeit, die in der Geschichte durchaus changierte. »Wie vollkommen unqualifiziert zur Führung anderer ist derjenige, der niemals gelernt hat, sich selber zu führen!«, betonte der Ratgeber William Alcott als eine zentrale Lebensregel der jungen Republik, und er zögerte nicht, die Größe dieser Leistung zu betonen: »Wer sich selber erfolgreich führt […], leistet mehr als derjenige, der Armeen befehligt. Tatsächlich gibt es keinen gloreicheren Sieg […] als den vollständigen Sieg über das eigene Selbst.«52

Im frühen 19. Jahrhundert boomte die Ratgeberliteratur, und dieser Boom ging mit rapidem Bevölkerungswachstum, grundlegenden Veränderungen der Arbeits- und Wirtschaftswelt, dem Ausbau der Infrastruktur und der hohen gesellschaftlichen Dynamik einher. Die wachsende geografische wie soziale Mobilität war von einer weiteren Teil-Demokratisierung begleitet, die Zug um Zug sämtliche weißen Männer als Wähler am politischen Prozess beteiligte, unabhängig von Einkommen und Besitzstand.53 Wohlhabende Männer wie John Adams verloren so zumindest einen Teil ihrer Privilegien, und ein Effekt dieser Dynamisierung war, dass das Vertrauen in den Erfolg des amerikanischen Experimentes deutlichere Risse erhielt: Denn parallel zur größeren politischen Partizipation von Männern der unteren Klassen breiteten sich Armut, Alkoholkonsum und Gewalt vor allem in den wachsenden Städten aus. Zunehmend besorgt wurde diskutiert, dass zahlreiche Männer ihren Pflichten nicht nachkämen und die Anforderungen an ein männliches Selbst in einer Republik nicht erfüllten: Sie ließen ihre Familien im Stich und stürzten so Frauen und Kinder in die Armut. Ich werde darauf später zurückkommen.54

Dem versuchte eine wachsende Reformbewegung entgegenzuwirken. Sie wurde von einer Vielzahl an Texten gestützt, die junge Männer zur Selbstführung befähigen sollten. Ein Tenor des Genres lautete, in souverän strukturierten Gesellschaften seien die Dinge eben klar und deutlich geregelt und menschliche Werdegänge und Handlungsräume weitestgehend vorherbestimmt. Hingegen sei in einer freiheitlichen Gesellschaft alles möglich: Jeder Junge könne Präsident werden, wenn er nur erfolgreich genug an sich arbeite. Gebetsmühlenartig wiederholten die Ratgeber die Bedeutung funktionaler Familien auf diesem Weg, denn in deren Schoß würden Fleiß und Selbstkontrolle, Vorsicht und Voraussicht, Tugend und Glaube kinderleicht zur Gewohnheit. In frühester Kindheit und Jugend müsse gesät werden, was man als Mann dann ernten könne, hieß es etwa in John Angell James’ Young Man’s Friend, dann würden die schwierigsten aller Pflichten ganz leicht zu erfüllen sein. Nur eine frühe Erziehung zur Tugend verhindere, dass ein Mann, mit ihm seine Familie und somit auch die ganze Republik in den Abgrund trieben, pflichtete ihm ein Autor mit dem Pseudonym Kirwan bei: »Unsere Verbrecher, unser wilder Pöbel, unsere blutigen Unruhen, die meisten Plagen, die Familien, Städte und Staaten heimsuchen, lassen sich auf die Vernachlässigung einer anständigen frühen Erziehung zurückführen.«55

Es hieß sogar, den Charakter der amerikanisch-republikanischen Jugend richtig zu formen, sei die bedeutendste Aufgabe in der Geschichte der Menschheit. Insbesondere Väter seien gefordert, ihre Kinder das rechte Maß an Gehorsam zu lehren. Allerdings sollte dieser nicht in Zwang, Furcht und blinder Unterwerfung gründen, sondern vielmehr in der Einsicht der Geführten in das Prinzip der Freiwilligkeit und der Steuerung des Selbst, der Familien und der Gesellschaft.56

Eine derart wichtige Position von Vätern wurde nicht nur in Ratgebern und Publizistik beschworen. Auch private Korrespondenz hob die Bedeutung väterlicher Führung hervor, und zwar insbesondere hinsichtlich der Selbstkontrolle und Disziplin der Kinder. Die »Jungs«, schrieb 1825 etwa Ann Brown aus Salem in Massachusetts an ihren seefahrenden Ehemann, bräuchten nun ganz besonders seine Aufmerksamkeit und Führung. Ähnlich betonte einige Jahre später Albina Rich aus Maine in einem Brief an ihren Gatten, der fern der Familie beim Bau der Eisenbahn Arbeit gefunden hatte, dass ihre Kinder gute Kinder seien, »aber sie brauchen ihren Vater, um sie zu regieren.«57 Auch Sabrina Swain schrieb 1849 an ihren Ehemann William, der dem Lockruf des Goldes nach Kalifornien gefolgt war, dass die Tochter nun, da sie dem Babyalter entrückte, mehr und mehr der führenden Hand des Vaters bedurfte.58 Dieser instruierte seine Frau aus der Ferne vor allem in Fragen der kindlichen Disziplinierung und Willensbildung, die er als Grundbedingung dafür ansah, das Kind lenken zu können.59

Gewalt

Die Verschiebung der Macht weg von der Souveränität und hin zur Gouvernementalität bedeutete, dass ihr wesentliches Charakteristikum nicht mehr die Gewalt und das Recht zu töten war. Vielmehr wurde sie zu einer Kraft, die die Denk- und Handlungsfelder von Menschen bereitete und Bedingungen schuf, die bestimmte Entscheidungen besser als andere erscheinen ließen und damit wahrscheinlicher machten.60 Nun wissen wir alle, dass die Gewalt mit der Aufklärung und der Etablierung liberaler Gesellschaften keineswegs verschwunden ist. Welche Funktion konnte Gewalt in einer gouvernementalen Ordnung haben? Welche Bedeutung sollte ihr fortan in der Führung der Familien zukommen, und in welcher Form würde sie auftreten?

Republikanische Väter sollten ihre Familien, wie schon mehrfach erwähnt, mit Liebe, Zuneigung und Überzeugungskraft führen.61 Nur wer mit ruhiger Hand und selbstbeherrscht regierte, so hieß es, würde auch ein selbstbeherrschtes Kind hervorbringen, das sich selber zu führen lerne. Wer sich jedoch wie ein tyrannischer Souverän auf Zwang und Gewalt stütze, würde nur Gewalt und Hass ernten. Auffallend ist, dass die zeitgenössischen Texte vor allem vor dem »zügellosen« Gebrauch der »Rute« warnten. Offenbar galt physische Gewalt nicht per se als »zügellos«, sondern nur unter bestimmten Bedingungen: durch ein Zuviel, durch Rage, durch Erregung. Die Erwähnung der »Rute« ließ die Lesenden genau solche Bedingungen assoziieren, war sie in der anglo-amerikanischen Kultur jener Tage doch das Symbol zügelloser und unkontrollierter Gewalt schlechthin. Zugleich signalisierte sie in Zeiten ihres Verbots und der obsessiven Selbstkontrolle auch eine Form der Überschreitung von Tabus, die von zunehmender, auch erotischer Attraktivität war.62

Zügellose Gewalt stand für Exzess und damit für das Gegenteil von Ordnung und Selbstführung. Sie bedeutete einen Verlust an Selbstkontrolle in einer Gesellschaft, die diese zum Fundament ihrer Existenz erhoben hatte. Erziehungsratgeber betonten, wer jemand anderen körperlich züchtigte, begebe sich per se in die Gefahr, die männlich-väterliche Selbstkontrolle zu verlieren. Zügellose Peinigungen quälten also nicht nur die Gepeinigten, sondern entmännlichten vor allem die Peiniger, denn Selbstkontrolle war eines der obersten Kriterien des Mannseins. Peinigungen galten als Werke von »Monstren« oder von »Barbaren in Menschengestalt«, die zur Brutalisierung aller und zum Untergang der Republik führten. Ein Gewaltexzess sei somit Zeichen des väterlichen Versäumnisses, die Mühen einer kontinuierlichen, auf Charakterbildung ausgerichteten Erziehung aufzubringen, und bei kontinuierlicher feinfühliger Einwirkung sei Gewalt überflüssig, verkündete etwa Artemas Muzzey. Eine dauerhafte Arbeit am Selbst des Kindes sei viel effektiver, betonte er, und er unterschied dabei ausdrücklich zwischen den Mechanismen der angeleiteten Selbstführung in der neuen liberalen Ordnung und der Unterwerfung in der alten souveränen Ordnung:

»Wir können auf das alte puritanische Prinzip der äußerlichen Untwerfung verzichten, wenn wir nur an seiner Stelle eine innere Selbstdisziplin zuwege bringen. Zur Förderung dieser unverzichtbaren Eigenschaft brauchen wir in erster Linie beständigen Gehorsam. Lasst uns sanft und ruhig, außerdem besonnen, entschlossen und einig diesen Gehorsam einfordern, und alles wird gut werden.«63

Briefe zwischen Müttern und Vätern verdeutlichen, wie sehr ein solches Denken auch das Selbstverständnis der Akteure prägte. Sie zeigen jedoch zugleich, dass Eltern die kontinuierliche Arbeit am kindlichen Selbst nicht immer als hinreichend ansahen, um Kinder auf den richtigen Weg zu bringen. Bisweilen, instruierte etwa der uns bereits bekannte Goldgräber William Swain seine Gattin, bräuchten Kinder klarste Grenzsetzungen: Disziplin, so Swain, müsse dann erzwungen werden, um schlimmeren Folgen für die Zukunft vorzubeugen. Körperliche Strafe wurde als das geringere Übel im Vergleich zum Verzicht auf Selbstdisziplin und den Niedergang der Tugend erachtet.64

Ein solches Konzept konnte dazu beitragen, dass körperliche Strafe oder etwa auch Qualen wie tagelanger Essensentzug gutgeheißen wurden, da sie das Kind angeblich lehrten, sich gegebenen Bedingungen zu fügen, um dann innerhalb dieses Rahmens »frei« zu handeln. Folglich konnte Gewalt auch in einer gouvernementalen Ordnung als zuträglich gelten, wenn sie in spezifischer Art und Weise kodiert war und ausgeübt wurde. So berichtete der Baptistenprediger und spätere Präsident der Brown University, Francis Wayland, im Jahr 1831, er habe seinem fünfzehn Monate alten Sohn über vierzig Stunden hinweg die Nahrung verweigert, um ihn der Brust der Mutter zu entwöhnen. Dies sei für ihn als Vater selber sehr schmerzhaft gewesen, musste aber aus väterlicher Liebe und Pflichtbewusstsein geschehen, denn: »›Nichts ist grausamer, als wenn man einem Kind zumutet, dass es mit einem ungezähmten Gemüt aufwächst.‹« Den Schmerz, den der Strafende beim Akt der Bestrafung verspürte, den er aber aus väterlicher Pflichterfüllung hinnahm, war ein etablierter Topos dieses Diskurses, dem wir auf den folgenden Seiten noch häufiger begegnen werden.65

Körperstrafen waren trotz des erklärten Abschieds von einer Ordnung souveräner Macht also immer noch präsent. Dabei sollte ein republikanischer Vater schnell und präzise wie ein Chirurg vorgehen, wenn er strafen musste, empfahl etwa William Alcott jungen Ehemännern. Bereits durch die Wahl der medizinischen Metapher suggerierte Alcott, dass ein solcher schmerzhafter Eingriff letzten Endes der Heilung diene. Weiterhin wurde Eltern nahegelegt, nur im Verborgenen zu züchtigen. Dabei setzte man die Züchtigung in der Familie ausdrücklich zur veränderten Art der Strafen in einer republikanischen Gesellschaft in Beziehung. Die Geburt des Gefängnisses in diesen Jahren war Teil einer neuen Strafrationalität, die nicht mehr exemplarische Strafen auf öffentlichen Plätzen aufführte, sondern auf Unsichtbarkeit, Erziehung und die Arbeit am Selbst setzte. Ab Mitte der 1830er-Jahre wurden auch Todesstrafen, ehemals das ultimative Instrument souveräner Macht, in immer weniger Staaten öffentlich vollstreckt (auch wenn sich dann oft Hunderte von Zuschauern zum Zeitpunkt einer Hinrichtung im Gefängnishof tummelten). Familiäre und staatliche Handlungs- und Gestaltungsformen sollten sich nach einem ähnlichen Schema verändern. Hier wie dort durfte in der neuen, liberalen Ordnung der Rückgriff auf solche Instrumente, die nach dem Arsenal souveräner Macht rochen, nicht mehr öffentlich zelebriert werden, wie Artemas Muzzey betonte:

»Großer Schaden entsteht oft, wenn ein Kind in Gegenwart anderer bestraft wird. Der Galgen ist heute häufig vor der Öffentlichkeit verborgen; ebenso sollte das Auspeitschen vor einer Familie mit Kindern verborgen bleiben. Wenn es nötig ist, soll es unbedingt im Verborgenen geschehen.«66

Väterliche Gewalt sollte also ins Verborgene ausgesondert werden, was, so der Anthropologe Norbert Elias, eine charakteristische Bewegung »für den ganzen Vorgang dessen ist, was wir ›Zivilisation‹ nennen«.67 Historiografisch ist private Gewalt daher schwer zu fassen, zugleich lassen Erzählungen wie die von Francis Wayland auf ein hohes Maß der Gewalt hinter den Kulissen schließen. Dies legen auch andere Quellen wie Gefängnisakten nahe. In einer Stadt wie Baltimore saß rund ein Fünftel der inhaftierten Männer wegen eines gewalttätigen Angriffs auf ein Mitglied ihres Haushalts ein. Dass die wenigsten dieser Männer aus bürgerlichen Kreisen stammten, wird womöglich mehr über das Anzeigeverhalten als über das tatsächliche Gewaltmaß aussagen. Es darf angenommen werden, dass gerade bürgerliche Kreise mit Unwohlsein oder eben gar nicht über die Gewalt in ihren Familien berichteten, war sie doch immer ein Grenzgang und roch zumindest nach einem Scheitern an den gültigen Konventionen der Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung und des liebevollen Heims.68

Entsprechend monierten schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Stimmen, gerade der vor der Öffentlichkeit geschützte und angeblich so liebevolle private Raum unter elterlicher Obhut, mütterlicher Zuneigung und väterlicher Führung sei ein Nährboden für Gewalt. Denn erst die Abschottung einer Privatsphäre, die ja eigentlich eine Schutzzone kreieren sollte, schuf solche Räume, in denen sich eine Gewalt zu entfalten vermochte, die es in einer vom Paradigma der Selbstkontrolle getragenen Ordnung des Sozialen so eigentlich nicht mehr geben durfte. Insofern kann das Private sogar als derjenige Raum verstanden werden, in dem eine souverän patriarchalische Macht auch in den Zeiten liberalen Gouvernements am besten gedeihen konnte.69