Das Zeitalter des Nichts - Peter Watson - E-Book

Das Zeitalter des Nichts E-Book

Peter Watson

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Beschreibung

Fundiert, spannend, pointiert – das hochwertige Standardwerk
für Bildungshungrige


»Gott ist tot« beschied Friedrich Nietzsche im Jahr 1882. Ein Leben ohne Gott, ohne die Aussicht auf einen höheren Sinn – das gehört zu den größten Denkabenteuern der Menschheitsgeschichte. Der Atheismus mit seinen kühnen, kreativen, nicht selten egozentrischen Protagonisten wird hier von Peter Watson, dem renommierten Ideenhistoriker, als Ganzes und im geschichtlichen Kontext der Moderne erzählt. Er folgt in seiner umfassenden Darstellung jenen Wegen, die das Denken nach dem Ende aller Religion genommen hat, und erläutert, welche Antworten auf die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz gefunden wurden. Dichter wie Paul Valéry, Rainer Maria Rilke, Samuel Beckett, Denker wie Sigmund Freud, Künstler wie Jackson Pollock oder Robert Rauschenberg haben sich der existenziellen Ungesichertheit des Menschen gestellt. Peter Watson erinnert mit diesem Kompendium an eine Freiheit ohne Gott in einer Zeit, in der Religion ungehemmten Machtmissbrauch legitimieren soll.

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Seitenzahl: 1251

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Peter Watson

DAS ZEITALTERDES NICHTS

Eine Ideen- und Kulturgeschichte von Friedrich Nietzsche

Zum Buch

»Gott ist tot«, beschied Friedrich Nietzsche im Jahr 1882. Ein Leben ohne Gott, ohne die Aussicht auf einen höheren Sinn – das gehört zu den größten Denkabenteuern der Menschheitsgeschichte. Der Atheismus mit seinen kühnen, kreativen, nicht selten egozentrischen Protagonisten wird hier von Peter Watson, dem renommierten Ideenhistoriker, als Ganzes und im geschichtlichen Kontext der Moderne erzählt. Er folgt in seiner umfassenden Darstellung jenen Wegen, die das Denken nach dem Ende aller Religion genommen hat, und erläutert, welche Antworten auf die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz gefunden wurden. Dichter wie Paul Valéry, Rainer Maria Rilke, Samuel Beckett, Denker wie Sigmund Freud, Künstler wie Jackson Pollock oder Robert Rauschenberg haben sich der existentiellen Ungesichertheit des Menschen gestellt. Peter Watson erinnert mit diesem Kompendium an eine Freiheit ohne Gott in einer Zeit, in der Religion ungehemmten Machtmissbrauch legitimieren soll.

Zum Autor

Peter Watson, geboren 1943, studierte an den Universitäten von Durham, London und Rom. Er war stellvertretender Herausgeber von »New Science« und arbeitete vier Jahre lang für die »Sunday Times«. Er war Korrespondent in New York für die »Times« und schrieb für den »Observer«, die »New York Times«, »Punch« und »Spectator«. Er hat weit über ein Dutzend Bücher veröffentlicht, darunter »Das Lächeln der Medusa« (2001), »Ideen« (2006) und »Der deutsche Genius« (2010). Von 1997 bis 2007 war er als Lehrbeauftragter am McDonald Institute for Archaeological Research der Universität Cambridge tätig.

Die Originalausgabe ist 2014 unter dem Titel »The Age of Nothing. How We Have Sought to Live Since the Death of God« bei Weidenfeld & Nicolson, London, erschienen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

© 2014 by Peter Watson © 2016 für die deutsche Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-14833-1V001www.cbertelsmann.de

Inhalt

Einführung

Teil IDie »Avantguerre«: Als Kunst noch von Bedeutung war

1 Die Nietzsche-Generation: Ekstase, Eros, Exzess

2 »Das Leben führt niemals zwangsweise in nur eine Richtung«

3 Die Sinnlichkeit der Dinge

4 Der Himmel: Kein Ort, eine Ausrichtung

5 Visionen vom Paradies: Der Kult um Farbe, Eisen, Geschwindigkeit und den Moment

6 Das Drängen des Verlangens

7 Der »Engel in der Wange«

8 »Die falsche überirdische Welt«

Teil IIEin Abgrund nach dem anderen

9 Erlösung durch Krieg

10 Der bolschewistische Kreuzzug für den wissenschaftlichen Atheismus

11 »Einbegriffensein« und die Gesetze des Seins

12 Das unvollkommene Paradies

13 Den Tatsachen ins Auge blicken

14 Die Müßigkeit von Metaphysik, die Ehrfurcht vor Metapsychologie

15 Die Religionen der Philosophen

16 Nationalsozialistische Blutreligionen

Teil IIIDie Stunde null der Menschheit

17 Die Nachwirkungen der Nachwirkungen

18 Die »Wärme des Tuns«

19 Der Krieg, »The American Way« und der Verfall der Erbsünde

20 Auschwitz, Apokalypse, Abwesenheit

21 »Stell das Denken ab!«

22 Ein »visionäres Gemeinwesen« und die »Größe des menschlichen Lebens«

23 Der Luxus und die Limitationen des Glücks

24 Glaube »Detail für Detail«

25 »Unser spirituelles Ziel ist die Anreicherung des Evolutionsepos«

26 »Das gute Leben ist das Leben, das auf der Suche nach dem guten Leben gelebt wird«

Schluss

»Das besonnenste menschliche Tun«

Dank

Anmerkungen

Orts- und Sachregister

Personenregister

Widmung

Für Guislaine Vincent Morland und Nicholas Pearson

Vorwort

Der Drang, aus Erfahrung Sinn zu gewinnen,

ihr Form und Struktur zu verleihen,

ist nachweislich ebenso real und intensiv

wie die vertrauteren biologischen Bedürfnisse.

– CLIFFORD GEERTZ

Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.

– LUDWIG WITTGENSTEIN

Sich zu überlegen, wie man leben sollte, ist eine grundlegendere und dringlichere

Anstrengung des menschlichen Geistes

als die Entdeckung irgendeines Fakts.

– MARY MIDGLEY

Der Mensch erträgt ein bedeutungsloses Leben nicht.

– C.G. JUNG

Das Leben wartet nicht, bis die Wissenschaften das Universum wissenschaftlich erklärt haben.

Wir können das Leben nicht aufschieben, bis wir bereit sind.

–JOSÉORTEGA Y GASSET

Wir müssen darauf setzen, dass es einen Sinn gibt.

– JAMES WOOD (George Steiner paraphrasierend)

Sinn ist kein Sprungtuch.

– SEAMUS HEANEY (W. H. Auden paraphrasierend)

Was ist so vortrefflich daran, sich vom Bedürfnis nach Seelenfrieden beherrschen zu lassen?

– JOHN GRAY

Religion wird durch Therapie ersetzt, Christus der Erlöser wird zu Christus dem Seelenklempner.

– GEORGE CAREY (als Erzbischof von Canterbury)

Das Dasein mag von geringer Bedeutung sein,

doch der Rausch des Lebens ist stärker

als das Argument fürs Leben.

– JOHN PATRICK DIGGINS

Sinnvoll ist eine Welt, welche eine Zukunft parat hält, die über

das unvollkommene individuelle Leben hinausgeht, insofern ist

ein zur rechten Zeit geopfertes Leben ein sinnvoll genutztes,

wohingegen ein allzu wohlbehütetes, erbärmlich bewahrtes,

ein ganz und gar vergeudetes Leben ist.

– LEWIS MUMFORD

Das Problem des Sinnes des Lebens [stellt sich], da wir

immer auch in der Lage sind, eine Perspektive einzunehmen,

aus welcher selbst unsere dringlichsten persönlichen Anliegen

gleichgültig erscheinen.

– THOMAS NAGEL

Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.

– FJODOR DOSTOJEWSKI

Alle Religionen beklagen dasselbe.

– OLIVIER ROY

Aber ist etwas dort, wo einst Gott war?

–IRIS MURDOCH

… dass nichts ist auszudrücken,

nichts womit auszudrücken,

nichts woher auszudrücken,

keine Kraft auszudrücken,

kein Verlangen auszudrücken

zusammen mit dem Zwang auszudrücken

– SAMUEL BECKETT

Wir entwickeln uns auf Weisen,

die die Wissenschaft nicht messen kann,

und zu Zwecken, die die Theologie

nicht zu erwägen wagt.

– E. M. FORSTER

Wir sind hier auf Erden, um anderen Gutes zu tun. Wofür die anderen hier sind, weiß ich nicht.

– W. H. AUDEN

Wer die meisten Spielsachen hat

wenn er stirbt, der gewinnt.

– MATERIALISTISCHER SLOGAN

Der Mensch ist nicht auf der Jagd nach dem Glück, sondern

auf der Suche nach einem Grund, glücklich zu werden.

– VIKTOR FRANKL

Es ist nicht bloß so, dass ich nicht an Gott glaube

und natürlich hoffe, dass ich damit recht habe. Es ist so, dass ich hoffe, dass es keinen Gott gibt! Ich will nicht, dass da ein Gott ist; ich will nicht,

dass das Universum so ist.

– THOMAS NAGEL

Die Begriffe der Röte und der Rundheit

sind im gleichen Maße Phantasiegeschöpfe

wie die Begriffe »Gott«, »Positron« und

»konstitutionelle Demokratie«.

– RICHARD RORTY

Ein Leben, welches nichts birgt, für das man zu sterben bereit ist, wird kaum ein sehr ertragreiches sein.

– TERRY EAGLETON

Letztendlich ist der Wert unseres Lebens adverbial, nicht

adjektivisch, denn es besteht in einer Leistung, nicht in irgend etwas, das übrig bleibt, wenn wir diese fortnehmen.

– RONALD DWORKIN

Glück ist etwas, das wir uns vorstellen,

nicht aber erfahren können.

– LESZEK KOłAKOWSKI

Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser.

– PAUL ÉLUARD

Die Menschen sollten nicht in der Furcht Gottes oder im Licht der Vernunft, sondern als Prophezeiungen des kommenden Zeitalters voranschreiten.

– RICHARD RORTY

Einst pflegten Philosophen über den Sinn des Lebens zu spekulieren. (Heute ist das der Job von Mystikern und Comedians.)

– RONALD DWORKIN

EINFÜHRUNG

Fehlt etwas in unserem Leben? Trägt daran Nietzsche Schuld?

Im Sommer 1990 hatte der Schriftsteller Salman Rushdie bereits seit mehr als einem Jahr in Verstecken gelebt. Am 14. Februar 1980 hatte Ajatollah Khomeini, oberster politischer und geistlicher Führer der Islamischen Revolution im Iran, eine Fatwa erlassen, ein islamisches Rechtsgutachten, in dem er verlautbarte: »Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt, dass der Autor des Buches Die satanischen Verse, welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publikation beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen.«

Welchen Maßstab man auch anlegt: Es war ein ungeheuerlicher Vorgang, der noch monströser wurde durch Khomeinis Anspruch auf die Oberhoheit über alle Muslime. Ungeachtet dieses Unrechts musste der Drohung begegnet werden. Rushdie erhielt Polizeischutz, es wurde ihm ein kugelsicherer Jaguar zur Verfügung gestellt, nur um einen sicheren Unterschlupf musste er sich selbst kümmern. Im Juli des Jahres unterbreitete ihm die Polizei eine raffinierte Idee. Sie riet ihm zu einer Perücke. »Sie könnten über die Straße gehen, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen«, erklärte man ihm. Scotland Yard schickte seinen besten Perückenmacher, er nahm eine Haarprobe von Rushdie, dann wurde ihm die Perücke »in einem braunen Pappkarton geschickt; sie sah aus wie ein schlafendes Tier«. Er setzte sie auf, die Polizisten fanden, er sehe »prima« aus, und Rushdie sagte: »Führen wir sie spazieren.« Sie fuhren zur Sloane Street im Londoner Stadtteil Knightsbridge und parkten in der Nähe eines Luxuskaufhauses. »Als er ausstieg, drehten sich alle Köpfe nach ihm um, einige Leute grinsten breit oder fingen sogar an zu lachen. ›Seht doch‹, hörte er eine Männerstimme, ›da ist dieses Arschloch Rushdie mit Perücke.‹«1

Vergisst man einmal die trostlosen Umstände, ist das eine ziemlich lustige Geschichte. Rushdie erzählt sie ausgesprochen ironisch in seiner Autobiografie Joseph Anton (der Deckname, den er angenommen hatte), die er erst 2012 zu veröffentlichen wagte, fast ein Vierteljahrhundert nach Verhängung der Fatwa.

Mit Sicherheit hat etwas gefehlt in dem Leben, das er in dieser anstrengenden Zeit führen musste – das kostbarste von allen Gütern: Freiheit. Aber das ist es nicht, wovon Habermas in seiner berühmten Diskussion über »Ein Bewußtsein von dem, was fehlt« sprach. Auch er befasste sich mit den Einflüssen der Religion auf unser Leben, meinte aber etwas, das vielleicht nicht weniger kostbar, aber doch weit schwieriger zu bestimmen ist.2

»Ohne Amen«: Die Bedingungen unseres Seins und die Idee von einem »sittlichen Ganzen«

Dieses Etwas kam ihm erstmals in den Sinn, als er an der Trauerfeier für Max Frisch teilnahm: »Am 9. April 1991 fand in der Stiftskirche St. Peter in Zürich eine Totenfeier für Max Frisch statt. Zu Beginn verlas Karin Pilliod, die Lebensgefährtin, eine kurze Erklärung des Verstorbenen. Darin heißt es unter anderem:

›Das Wort lassen wir den Nächsten und ohne Amen. Ich danke den Pfarrherren von St. Peter in Zürich […] für die Genehmigung, daß während unserer Trauerfeier der Sarg in der Kirche sich befindet. Die Asche wird verstreut irgendwo.‹

Es sprachen zwei Freunde. Kein Priester, kein Segen. Die Trauergemeinde bestand aus Intellektuellen, von denen die meisten mit Religion und Kirche nicht viel im Sinn hatten. Für das anschließende Essen hatte Frisch selbst noch das Menü zusammengestellt.3

»Damals«, berichtete Habermas 2008 in seiner Diskussion über das Bewusstsein von dem, was fehlt,

habe ich die Veranstaltung nicht für merkwürdig gehalten. Aber deren Form, Ort und Verlauf sind merkwürdig. Max Frisch – ein Agnostiker, der jedes Glaubensbekenntnis verweigerte – hat offenbar die Peinlichkeit nichtreligiöser Bestattungsformen empfunden und durch die Wahl des Ortes öffentlich die Tatsache dokumentiert, daß die aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent für eine religiöse Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschließenden rîte de passage gefunden hat.4

Und das mehr als hundert Jahre nachdem Nietzsche den Tod Gottes verkündet hatte.

Es war Frischs Trauerfeier, die Habermas veranlasste, im ideengeschichtlichen Kontext von der »Weltbildrevolution der Achsenzeit (um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends)« bis zur Neuzeit über »Ein Bewußtsein von dem, was fehlt« nachzudenken, wobei er bei der Erkenntnis ansetzte: »Der Riß zwischen Weltwissen und Offenbarungswissen läßt sich nicht wieder kitten.« In der Tatsache, dass der Glaube für das Wissen »etwas Opakes« behalten habe, »das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf«, spiegle sich »das Unabgeschlossene« der Auseinandersetzungen mit den (im Jahr 2008) gegebenen religiösen Überzeugungen. Doch ebensolche Auseinandersetzungen könnten das Bewusstsein für »das Unabgegoltene in den religiösen Menschheitsüberlieferungen schärfen«. Erst im Lichte der »spröden Vernunftmoral« begreife man,

warum der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – vom Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen. Gleichwohl verfehlt die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewußtsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewußtsein, von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.5

Dies rage als das »sperrigste Element aus der Vergangenheit« in die Moderne hinein. Und da die großen monotheistischen Glaubenssysteme »ähnliche Lernprozesse in Gang gesetzt haben« wie die metaphysischen Weltbilder, gehörten Glauben wie Wissen »mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen« gleichermaßen zur »Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft« – einer der Gründe, weshalb sie überlebt haben und sich auch noch »die Söhne und Töchter der Moderne über sich und ihre Stellung in der Welt« auf dieser Basis verständigen.

Habermas ist einer der fruchtbarsten, empfindsamsten und provokativsten Köpfe unter den Denkern, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur philosophischen Debatte beigetragen haben. Seine Ideen über die Religion werden von den vergleichbaren Denkbildern seiner amerikanischen Zeitgenossen Thomas Nagel und Ronald Dworkin nachdrücklich unterstrichen. Nagel schreibt in einer Sammlung seiner Essays aus den Jahren 2002 bis 2008, die unter dem Titel Secular Philosophy and the Religious Temperament veröffentlicht wurde:

Das Sein ist etwas so Gewaltiges, dass das alltägliche Leben, so unverzichtbar es auch sein mag, wie eine unzureichende Reaktion darauf erscheint, wie ein Versagen des Bewusstseins. So ungeheuerlich es klingt, aber die religiöse Mentalität betrachtet ein lediglich menschliches Leben als unzureichend, als eine partielle Blindheit gegenüber den oder als eine Ablehnung der Bedingungen unseres Seins. Sie verlangt nach etwas Umfassenderem, ohne zu wissen, was es sein könnte.6

Für die meisten Menschen, schreibt Nagel, stellt sich als wichtigste Frage: »Wie kann man in das eigene individuelle Leben die vollständige [Hervorhebung d. Verf.] Anerkennung der eigenen Beziehung zum Universum als Ganzem integrieren?« Den Atheisten diene die Physik als primäres Mittel zum Verständnis des Universums als solchem, doch als ein Instrument, um dem menschlichen Sein einen Sinn abzugewinnen, werde sie ihnen nicht helfen.

Wir erkennen, dass wir Produkte dieser Welt und ihrer Geschichte sind, auf Art und Weisen in ein Dasein gezeugt, und getragen, die wir kaum verstehen, sodass gewissermaßen ein jedes einzelnes Leben mehr darstellt als sich selbst.

Zugleich stimmt er dem englischen Philosophen Bernard Williams zu, wonach dem »transzendenten Impuls«, der uns spätestens seit Platon begleitet, »widerstanden« und es zum wahren Ziel philosophischer Reflexionen werden müsse, zu einer »von der Perspektive unabhängigen«, immer genaueren Beschreibung der Welt zu gelangen.7 Die Merkmale von Philosophie sind Reflexion und eine gesteigerte Selbstbewusstheit, nicht aber eine maximale Transzendenz der menschlichen Perspektive. Es gibt keinen kosmischen Betrachtungswinkel und von daher auch keine Prüfung von kosmischer Bedeutung, die wir bestehen könnten oder nicht.

In seinem späteren Buch Mind & Cosmos (2012; Geist und Kosmos) geht Nagel noch weiter und behauptet, dass die neodarwinische Darstellung von der Evolution der Natur, des Lebens, des Bewusstseins, der Kognition und der moralischen Werte – die gegenwärtige wissenschaftliche Orthodoxie also – nahezu sicher falsch sei. Wiewohl Atheist, hält Nagel sowohl den Materialismus als auch den Theismus für inadäquate transzendente Vorstellungen, es aber zugleich für unmöglich, »die Suche nach einer transzendenten Auffassung von unserem Platz im Universum aufzugeben«. Deshalb erwägt er die Möglichkeit (auf der Basis von buchstäblich null Nachweisen, wie er konzediert), dass das »Leben nicht bloß ein physikalisches Phänomen ist«. Man werde »eine erweiterte, aber dennoch einheitliche Form der Erklärung brauchen, und ich vermute, sie wird teleologische Elemente beinhalten müssen«. Der teleologischen Hypothese zufolge müsse »die Existenz des genetischen Materials und der möglichen Formen, die dieses der Auslese zur Verfügung stellt, auf irgendeine andere Weise erklärt werden«, weil sie »vielleicht nicht allein von wertfreier Chemie und Physik festgelegt werden«, sondern auch von »einer kosmischen Prädisposition für die Schaffung von Leben, Bewusstsein und Wert, der von ihnen nicht ablösbar ist«. Allerdings gibt er zu: »Es ist unwahrscheinlich, dass eine derartige Möglichkeit in dem gegenwärtigen intellektuellen Klima ernst genommen werden wird« – und in der Tat wurde er dieses Argumentes wegen heftig kritisiert.8

Im 26. Kapitel werden wir uns ausführlicher mit diesem Argument befassen. Hier verdiente es eine Erwähnung, weil es beweist, dass rund hundertdreißig Jahre nach Nietzsches Ausruf »Gott ist tot!« noch immer viele (aber bei weitem nicht alle) Menschen andere Mittel und Wege als die traditionell religiösen zu finden versuchen, um sich unsere Welt zu erklären.

Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung der Originalausgabe von Nagels Geist und Kosmos publizierte sein amerikanischer Kollege, der Philosoph Ronald Dworkin, den Essay Religion without God (2013), den wir ebenfalls ausführlicher im 26. Kapitel behandeln werden. Sein Hauptargument darin lautet, dass ein »religiöser Atheismus« kein Widerspruch in sich sei (jedenfalls heutzutage nicht mehr), weil Religion nicht nur aus seiner Sicht, auch aus der von anderen Denkern »nicht mehr notwendigerweise einen Glauben an Gott bedingt«, sondern vielmehr die Frage nach »dem menschlichen Leben und der Bedeutung eines gut geführten Lebens« beinhalte. Die wesentlichen Ingredienzien einer wahrhaft religiösen Einstellung zum Leben seien der ihm innewohnende Sinn und die der Natur innewohnende Schönheit. Und diese können nicht vom übrigen Leben eines Menschen abgespalten werden, sie durchdringen das Sein und rufen Gefühle und jene Erregung hervor, welche wesentlich durch das Mysterium ausgelöst wird. Dworkin fügt noch an, dass viele Naturwissenschaftler bei der Konfrontation mit der unermesslichen Weite des Raumes oder der verblüffenden Komplexität atomarer Teilchen eine emotionale Reaktion zeigen, die sie selber mit fast schon traditionell religiösen Begriffen (zum Beispiel als »numinos«) beschreiben.9

Das alles fühlt sich neu an, wiewohl so manches davon (wie wir im 15. Kapitel feststellen werden) bereits zwischen den beiden Weltkriegen vom amerikanischen Philosophen John Dewey vorausgesagt und in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren von seinem ungarisch-britischen Kollegen Michael Polanyi festgestellt worden war.10 Für uns ist im Moment jedoch nur entscheidend, dass die drei Philosophen von beiden Seiten des Atlantiks – Dworkin, Nagel, Habermas (jeder von ihnen hatte gerade einen Gipfel seiner Profession erklommen) – mehr oder weniger das Gleiche sagen, nur auf jeweils andere Weise. Alle drei sind der Meinung, dass rund fünfhundert Jahre nach der Zeit, in der die Naturforschung erstmals an den Grundfesten des Christentums und der anderen großen Religionen zu rütteln begonnen hatte, das Verhältnis von Religion und säkularer Welt noch immer als eine »Peinlichkeit« (Habermas), »Blindheit«, »Unzulänglichkeit« (Nagel) oder als ein Mysterium empfunden werde, das Dworkin als »erregend« und »numinos« bezeichnet. Alle drei sind sich mit Bernard Williams darin einig, dass dem »transzendenten« Impuls widerstanden werden müsse, gestehen aber – ironischerweise – zugleich ein, dass wir der Suche nach Transzendenz nicht entgehen könnten und dies der Grund sei, weshalb so viele Menschen das Gefühl hätten, es fehle »etwas«. Das ist, sagen alle drei, letzthin das Dilemma moderner Säkularität.

Es ist schon in vieler Hinsicht außergewöhnlich, dass diese drei ungemein geachteten Philosophen individuell und unabhängig voneinander binnen weniger Monate zu dem gleichen Schluss kamen, nämlich dass – je nachdem, wo man zeitlich ansetzt: vor rund vier- bis fünfhundert Jahren bei Galilei und Kopernikus oder vor rund hundertdreißig Jahren bei Nietzsche – die Säkularisation noch immer nicht den Anforderungen entspricht, dass es ihr noch immer an etwas mangelt.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor hegt keinen Zweifel bei der Frage, um was es sich bei diesem Etwas handelt. In zwei sehr umfangreichen Werken – Sources of Self (1989; Quellen des Selbst) und A Secular Age (2007; Ein säkulares Zeitalter) – beklagt er wiederholt, dass dem Bewohner unserer heutigen säkularen Welt in Ermangelung eines religiösen Glaubens etwas Bedeutsames, Vitales entgehe, vielleicht das wichtigste Etwas, das es gibt, nämlich das Gefühl von Ganzheit, von Erfüllung, von des Sinnes ganzer Fülle und von der Existenz eines Höheren. In einer Welt, die »blind oder unempfänglich« ist für alles, »was jenseits dieser geordneten Menschenwelt und ihrer zweckrationalen Projekte liegt«, bleibt der Mensch unvollständig.11

Ein gedeihliches, erfülltes Menschenleben, da ist Taylor sich gewiss, sei nur durch die Religion (die christliche in seinem Fall) zu erlangen. Anderenfalls lebe man in einer »entzauberten« Welt, sei das Leben eine »Substraktionsgeschichte«, der es an bedeutenden Anteilen mangele. Ohne einen Sinn für Transzendenz und ohne das kosmische Heilige bleibe der Mensch auf bloße menschliche Werte beschränkt, die Taylor für »erbärmlich unzulänglich« hält. Die entschwundenen »höheren Zeiten« ließen uns mit einem »Gefühl des Unbehagens, der Leere und des Bedürfnisses nach Sinn« zurück. Der Alltag ist durchdrungen von der Schalheit und Inhaltslosigkeit des Gewöhnlichen. »Das Bedürfnis nach Sinn kann man also durch eine Wiederbelebung der Transzendenz stillen …«12

Das »poröse« versus dem »abgepufferten« Selbst

Taylor verfolgt dieses Argument weitgehender als die drei vorgenannten Philosophen. So erklärt er zum Beispiel, der Humanismus habe versagt, weil das »Streben nach Glück«, dem heute so viel Gewicht beigemessen wird, eine wesentlich »dünnere« Idee, ein wesentlich dürftigeres Ideal sei als »Erfüllung« oder »Gedeihen« oder Transzendenz; und dass die »weniger subtile Sprache« des Humanismus auch zu weniger subtilen Erfahrungen führe und es ihm nicht nur an »spirituellem Verständnis oder Empfinden« mangle, sondern auch an Spontaneität, Unmittelbarkeit, Harmonie und Ausgeglichenheit, weshalb er letzthin ungesund sei.

Das moderne Individuum sei eher ein »abgepuffertes« (buffered) als ein »poröses Selbst« (porous self ), erklärt Taylor.13 Ein poröses Selbst stehe allen Gefühlen und Erfahrungen offen, die die Welt »da draußen« für es bereithält, wohingegen dem modernen, abgepufferten Selbst diese Erfahrungen versagt blieben, da wir unserer naturwissenschaftlichen Bildung nur »Begriffe« zu verdanken hätten und unsere Erfahrungen immer nur intellektuell, emotional, sexuell etc. geprägte, aber eben nie »ganzheitliche« seien. Modernen Menschen werde eine »Meisternarration« vorenthalten, in der sie ihren Platz finden könnten und deren Fehlen einen »tiefempfundenen Verlust« auslöse, der sich vermutlich »nie verwinden« lassen werde. Ohne diese Faktoren gebe es auch keinen Spielraum, um ein Gefühl für die »Größe« des eigenen Lebens zu entwickeln, aus dem dann ein »höherer« Blickwinkel auf das Erfüllende entstehen kann. Die Ahnung, dass es noch »etwas mehr« gebe, laste derart schwer auf uns, dass wir uns im Unglauben nie behaglich fühlen würden.

Puh! Nun ja, Skeptiker dürften angesichts solcher Behauptungen die Stirn runzeln, doch ganz zweifellos bringen sie bei vielen Menschen eine Saite zum Klingen. Außerdem sehen sich Denker wie Taylor in ihrer Argumentation von der Statistik gestützt, wonach seit Beginn des 21. Jahrhunderts (und nach den Säkularisierungshöhepunkten in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts) immer mehr Menschen sich der Religion zuwenden oder wieder auf den Glauben besinnen. Der amerikanische Philosoph Richard Kearney hat diesem Vorgang sogar einen Namen gegeben: »Anatheismus«.14 Auf die (zwiespältige) Bedeutung dieser Statistiken werden wir noch zu sprechen kommen, aber gewiss stimmt, dass der Kampf zwischen religiösen und atheistischen Denkern heutzutage (2014) noch ebenso heftig (und erbittert) geführt wird wie schon so viele Jahre lang zuvor.

Militante Atheisten (wie sie genannt wurden) beziehen eine mehr oder weniger darwinische Position. Richard Dawkins, Daniel Dennett, Sam Harris und der inzwischen verstorbene Christopher Hitchens, um hier nur die bekanntesten anzuführen, folgen oder folgten Charles Darwin, indem sie den Menschen als eine biologische Spezies betrachten, die sich peu à peu auf völlig natürliche Weise aus »niederen« Tieren in einem Universum entwickelte, das seinerseits im Laufe der vergangenen 13,5 Milliarden Jahre aus einer »Singularität« oder einem Big Bang entstand – ein ebenso völlig natürlicher Prozess, den wir eines Tages verstehen werden (wenngleich die uns bekannten Naturgesetze dabei allesamt über den Haufen geworfen werden dürften). Keiner von beiden Prozessen bedarf irgendeiner übernatürlichen Instanz.

Bei den jüngsten Runden dieser Debatte haben sich Dawkins und Harris der darwinischen Wissenschaft auch bedient, um die moralische Landschaft zu erklären, in der wir leben. Hitchens zum Beispiel zählte Bibliotheksbesuche oder »Lunch mit einem Freund« zu Episoden im modernen Leben, die nicht weniger erfüllend seien als ein Gebet oder der Besuch in einer Kirche oder Synagoge oder Moschee.

Nun mag der Leser – vor allem der junge Leser – verständlicherweise den Eindruck haben, das sei alles, worum es bei dieser Debatte geht: Entweder wir neigen zum Religiösen, oder wir neigen zum Darwinismus samt seiner Implikationen. Den englischen Psychologen Steve Stewart-Williams führte das in seinem Buch Darwin, God and the Meaning of Life (2010) zu dem logischen Schluss, dass es keinen Gott gibt, das Universum ergo auf ganz und gar natürliche und insofern komplett zufällige Weise entstand, weshalb das Leben auch keinem höheren Zweck dienen und keine letztgültigere Bedeutung als die haben kann, die wir ihm jeweils individuell zuschreiben.

Auch wenn es die Darwinisten unter den Atheisten sind, die sich zurzeit am lautesten Gehör verschaffen (und das mit gutem Grund, bedenkt man, welche Massen an biologischen Forschungen sich in den letzten Jahrzehnten angesammelt haben), sind sie doch nicht die Einzigen auf diesem Spielfeld. Schon seit dem 17./18. Jahrhundert, als der religiöse Zweifel sich zu mehren begonnen hatte, vor allem aber seit Nietzsche 1882 den Tod Gottes verkündet hatte (und dieser Feststellung auch noch hinzufügte, dass wir ihn getötet hätten), haben sich Menschen mit der schwierigen Frage befasst, wie wir leben sollen, wenn es keine übernatürliche Instanz gibt, auf die wir uns dabei verlassen können.

Philosophen, Psychologen, Poeten, Maler und die Vertreter noch vieler anderer Professionen haben sich den Kopf zerbrochen, wie wir als Individuen oder Gemeinschaften leben können, wenn ein jeder nur noch auf das eigene Selbst zurückgreifen kann. Und viele – man denke nur an Dostojewski, T. S. Eliot oder Samuel Beckett – haben ihr Entsetzen angesichts der Trostlosigkeit zum Ausdruck gebracht, in der sie eine Welt versinken sahen, die von Gott verlassen wurde. Vielleicht haben diese Jeremiasse die Phantasien ihrer Leser ja deshalb so ungemein angeregt, weil Entsetzen oft das Beste in uns hervorbringt. Das Zeitalter des Nichts wird sich jedoch vorrangig mit anderen und in so mancher Hinsicht tapfereren Seelen befassen, nämlich solchen, die ihre kreativen Energien dem Versuch gewidmet haben, Wege zu ersinnen, wie wir eigenverantwortlich, erfindungsreich, hoffnungsvoll und mit Esprit und Enthusiasmus weiterleben können, anstatt abwartend in der Trostlosigkeit des kalten und düsteren Ödlands einer gottlosen Welt zu verharren. Es wird uns hier um jene Seelen gehen, welche uns erklärten, um es mit William Wordsworth zu sagen: We will grieve not, rather find/ Strength in what remains behind (»Grämen wir uns nicht! Uns treibt/Kraft aus dem, was uns verbleibt«).15

Dieses Verlangen, herauszufinden, wie man ohne Gott leben und Sinn in einer säkularen Welt finden kann, ist – wenn man sich erst einmal darauf konzentriert – ein grandioses Motiv, von dem sich nicht wenige wagemutige Schriftsteller oder Maler der Moderne und moderne Naturwissenschaftler haben bewegen lassen, das aber meines Wissens bislang noch nie zu einer eigenen Meisternarration zusammengefasst wurde. Ich hoffe, mit der vorliegenden Erzählung dem Leser nahebringen zu können, wie reich und farbenprächtig die Geschichte dieser jeweils originären, aber ineinander übergreifenden Ideen ist. Ich bin sicher, viele Leser werden sie ebenso spannend wie provokativ finden und zugleich erkennen, dass sie immer vom gesunden Menschenverstand geleitet waren und sogar tröstlich sein können.

Und ein gewisser Trost ist in der Tat vonnöten, bedenkt man, dass die Debatte über den religiösen Glauben oder über das, was dem Menschen im Leben heute fehlt, in den letzten Jahren zu einer grotesken Vermengung des Absurden mit dem Mörderischen verkam.

Befinden wir uns in einer spirituellen Rezession? Oder sind wir noch ebenso blindwütig religiös wie einst?

Zwei Mal in jüngster Zeit, zum 21. Mai 2011 und zum 21. Dezember 2012, prophezeiten Gläubige den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang. Bekanntlich fand er beide Male nicht statt, doch keiner von ihnen hielt es für nötig, zuzugestehen, dass seine Voraussage, nun ja … schlicht und einfach falsch gewesen war. Pakistan erlebte die Ermordung von zahlreichen Menschen, die – von ihren eigenen Mitbürgern – einer Übertretung der relativ neuen islamischen Blasphemiegesetze des Landes für schuldig befunden worden waren; in Tunesien kamen zwei prominente säkulare Politiker bei Attentaten ums Leben; Vergewaltigungen und Fälle von sexuellen Vergehen an Kindern durch Muslime in England und Holland oder durch katholische Priester in unzähligen Ländern gehören buchstäblich zum Alltag. In England wurde die Misshandlung von weißen Mädchen durch muslimische Männer bereits als eine »Flutwelle des Verbrechens« bezeichnet.16

Diese Ereignisse im Kielwasser von noch atemberaubenderen Gräueltaten (den Verwüstungen vom 11. September 2001, den Bombenanschlägen auf Bali 2002, in Madrid 2004 und London 2005, die allesamt von Muslimen verübt wurden) mögen hinsichtlich der Opferzahlen nicht ganz so blutig wie diese gewesen sein, stehen jedoch für ein immer tieferes Vordringen religiös motivierter Verbrechen in die immer ausgedehnteren Sphären menschlicher Intoleranz. Und darin zeigt sich das wohl entscheidendste intellektuelle und politische – sogar existentielle – Paradox, mit dem wir im noch jungen 21. Jahrhundert konfrontiert sind.

Dem Atheisten, der diese mörderischen Verhaltensweisen mit einer gewissen klammheimlichen Befriedigung beobachtet, sollte man vielleicht vergeben. Denn nach Jahrhunderten der religiösen Zwietracht – nach mehr als zweihundert Jahren der Dekonstruktion von historischen »Fakten«, die der Bibel zugrunde gelegt wurden; nach der Überfülle an neuen Göttern, die auf profanste und prosaischste Weisen an den unglaublichsten Orten auftauchten (der Herzog von Edinburgh zum Beispiel wird auf der Pazifikinsel Vanuatu als Gott verehrt; mancherorts in Indien wird das Royal-Enfield-Motorrad vergöttert17; die Website »godchecker.com« listet mehr als dreitausend »höhere Wesen« auf) – scheinen Menschen in aller Welt so gut wie nichts gelernt zu haben. Noch immer sind sie in uralten Feindseligkeiten gefangen, noch immer verfechten sie längst überholte und widerlegte Lehren, noch immer fallen sie auf faule Tricks herein, und noch immer lassen sie sich von religiösen Blendern und Scharlatanen manipulieren.

Und doch, und doch … Die unverblümte (und für viele verblüffende) Wahrheit scheint zu sein, dass es der Atheismus ist, der sich nach Meinung mehrerer angesehener Autoritäten auf dem Rückzug befindet – ungeachtet der offenkundigen Schrecken und Absurditäten so vieler religiöser Aspekte, ungeachtet auch all der Widersprüche, Zweideutigkeiten und eindeutigen Unwahrheiten, auf die sich alle großen Religionen und kleineren religiösen Gruppierungen stützen.

Einer der Ersten, die darauf hinwiesen, war der amerikanische Soziologe Peter L. Berger. Sein Standpunkt hat fast etwas Schmerzliches, weil er nicht frei ist von den Merkmalen einer Konversion. Der in Wien geborene und in die Vereinigten Staaten emigrierte Berger studierte, lehrte und forschte an diversen amerikanischen Universitäten (zuletzt bis zu seiner Emeritierung an der Boston University als Professor für Religionssoziologie) und war einst ein vehementer Verfechter der »Säkularisierungstheorie« gewesen. Diese Theorie, die Mitte des 20. Jahrhunderts ihre meisten Anhänger gefunden hatte und sich bis zur Aufklärung zurückverfolgen lässt, besagt, dass eine Modernisierung in der Gesellschaft wie beim Individuum »unweigerlich« zum Niedergang der Religion führt. So betrachtet ist Säkularisierung eine gute Sache: Sie räumt mit »rückständigen«, »abergläubischen« und »reaktionären« religiösen Phänomenen auf.

Aber das war einmal. Seit der Wende zum 21. Jahrhundert sehen die Dinge völlig anders aus, jedenfalls aus Sicht so mancher. Und Peter Berger war einer der Ersten gewesen, die die Aufmerksamkeit auf einen Wandel lenkten, der ihn persönlich schließlich zu seiner berühmten Widerrufung motivierte. 1996 bekannte er, dass die Moderne »aus nachvollziehbaren Gründen« alle traditionellen Gewissheiten unterminiert habe, Ungewissheit jedoch »ein Zustand ist, den viele Menschen schwer erträglich finden«. Deshalb habe jede Bewegung (nicht nur jede religiöse), »welche Gewissheiten bereitzustellen oder zu erneuern verspricht, einen aufnahmebereiten Markt«. Berger blickte um sich und kam zu dem Schluss, dass die Welt

so blindwütig religiös ist wie eh und je […], sie ist alles andere als die säkularisierte Welt, die uns prophezeit worden war (ob nun in freudiger Erwartung oder verzagt).

Welcher religiösen Couleur Menschen auch seien, so stimmten sie doch alle überein, dass »eine Kultur, die ohne jeden transzendenten Orientierungspunkt auszukommen versucht, eine seichte ist«.18

Mit dieser Meinung steht Berger nicht allein – ganz ohne Frage werden die Lebensgeister religiöser Autoren gerade neu geweckt: 2006 versuchte der anglikanische Theologe John Millbank, Professor für Religion, Politik und Ethik an der University of Nottingham, zu erklären, wie uns die Theologie »über die säkulare Vernunft hinaus« führen könne; im selben Jahr begründete der amerikanische Genetiker Francis S. Collins, der in den neunziger Jahren das staatliche »Humangenomprojekt« zur Entschlüsselung des menschlichen Erbguts geleitet hatte, in seinem Buch The Language of God (Gott und die Gene) seine Verwandlung vom Atheisten zum »überzeugten Christen«; ebenfalls 2006 erklärte Owen Gingerich, emeritierter Professor für Astronomie und Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University, in God’s Universe (Gottes Universum), er sei von der Existenz eines »superintelligenten Schöpfers jenseits und innerhalb des Kosmos« überzeugt; und wiederum 2006 berichtete Joan Roughgarden, eine Evolutionsbiologin an der Stanford University, in Evolution and Christian Faith von ihren Nöten, das Individuelle mit dem evolutionären Bild in Einklang zu bringen – was in ihrem Fall vermutlich noch um einiges komplizierter sein dürfte, da sie transgender ist und deshalb Ansichten vertritt, die im Widerspruch zum konventionellen darwinischen Denken über sexuelle Identitäten stehen; 2007 erklärte der britische Philosoph Antony Flew, der an diversen englischen und kanadischen Universitäten gelehrt hatte, in seiner Schrift There Is a God, wie es kam, dass »der berüchtigtste Atheist der Welt [er selbst] seine Meinung änderte«; im selben Jahr ging sein englischer Kollege Gordon Graham in The Re-enchantment of the World: Art versus Religion der Frage nach, ob Kunst, ungeachtet all ihrer positiven Seiten, die Welt jemals auf gleiche Weise »neu verzaubern« können werde, wie es der Religion gelang, und kam zu dem Schluss dass nein; 2008 erlitt der amerikanische Neurochirurg Eben Alexander eine bakterielle Meningitis und fiel für eine Woche ins Koma. Nach seiner Genesung schrieb er den Bestseller Proof of Heaven: A Neurologist’s Journey to the Afterlife (2012; Blick in die Ewigkeit: Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen), in dem er den Himmel schildert, angefüllt mit Schmetterlingen und Blumen, glückseligen Seelen und Engeln.

Religion als »ein soziologisches und kein theologisches Phänomen«

Das alles hat aber noch eine verblüffende andere Seite: Im vergangenen Jahrzehnt tauchten einige höchst komplexe neue Argumente auf, die nahelegten, dass Religion ein evolutionär entstandenes natürliches Phänomen ist. Und da einigen davon neue wissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde lagen, haben sie den Charakter der Debatte tatsächlich verändert. Doch was sollen wir von einem Status quo halten, bei dem der Atheismus einen berechtigteren Anspruch auf Gültigkeit erheben kann, weil neue Entdeckungen neue Nachweise für ihn erbracht und damit neue Argumente in die Debatte eingebracht haben, während nach Meinung der Gläubigen die Zahlen eindeutig für die Religion sprechen, ungeachtet all ihrer offenkundigen Schrecken und Absurditäten?

Das überzeugendste Argument, das mir bislang begegnete – jedenfalls kann es mit den substanziellsten und systematischsten Nachweisen zu seiner Bekräftigung aufwarten –, führten die Politikwissenschaftler Pippa Norris von der Harvard University und Ronald Inglehart von der University of Michigan in ihrer Studie Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide (2004) ins Feld. Dabei schöpften sie aus einem gewaltigen Fundus an empirischen Belegen aus vier Wellen des World Values Survey, die zwischen 1981 und 2001 im Rahmen von komplexen repräsentativen Umfragen neue Erkenntnisse über das Werteverständnis in nahezu achtzig, alle großen Glaubenssysteme abdeckenden Gesellschaften brachten. Zusätzlich nutzten sie Umfragen von Gallup International, dem International Social Survey Program und von Eurobarometer. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass »Religion ganz offensichtlich weder aus der Welt verschwunden ist noch es voraussichtlich je sein wird«, die Säkularisation jedoch »einen bedeutenden Teil dessen bestimmt, was [noch] vor sich geht«.

Sie identifizierten einen soziologischen Kernfaktor, den sie »existentielle Sicherheit« nennen. Er beruht auf zwei einfachen Axiomen, die sich »als überaus machtvoll hinsichtlich der meisten Variationen religiöser Praktiken in der Welt erweisen«.19

Der erste Grundbaustein ihrer Theorie ist die folgende Annahme: Da sich das Niveau der nachhaltigen menschlichen Entwicklungen und die sozioökonomische Ungleichheit von reichen und armen Nationen weltweit drastisch unterscheiden, unterscheiden sich diese Nationen auch in puncto Sicherheit für die Menschen beziehungsweise hinsichtlich des mangelnden Schutzes vor allem, was ihre grundlegenden Lebensbedingungen bedroht. Der Begriff »menschliche Sicherheit« habe sich, schreiben sie, erst in jüngerer Zeit als ein wichtiges Ziel der internationalen Entwicklung durchgesetzt. Auf den einfachsten Nenner gebracht, lehnt diese Kernidee Militärgewalt als Mittel der Sicherung von territorialer Integrität ab und ersetzt es durch die Befreiung von Risiken, womit unterschiedlichste Gefahren gemeint sind: von der Umweltzerstörung über natürliche Katastrophen wie Fluten, Erdbeben, Tornados, Dürren oder Epidemien bis hin zu solchen menschengemachten Katastrophen wie Menschenrechtsverletzungen, humanitären Krisen oder Armut.

In den vergangenen dreißig Jahren wurden in dieser Hinsicht einige dramatische Verbesserungen in diversen Entwicklungsländern erreicht. Dennoch berichtet das United Nations Development Programme (UNDP) von nur sehr unsteten Fortschritten und sogar von einigen Rückschritten im vergangenen Jahrzehnt: Vierundfünfzig Länder (darunter zwanzig in Afrika) sind heute ärmer als im Jahr 1990; in vierunddreißig Ländern ist die Lebenserwartung gesunken; in einundzwanzig sank der UN – Human Development Index (HDI: »Index für menschliche Entwicklung«). Auf dem afrikanischen Kontinent verschlechtern sich die HIV-/AIDS – Raten, und der Hunger nimmt stetig zu. Die Kluft zwischen den Lebensbedingungen in den reichen und den armen Gesellschaften weitet sich.20

Analysen der Daten aus Gesellschaften in aller Welt offenbarten, dass sich die Häufigkeit, in der Menschen sich einer Religion zuwenden und diese aktiv praktizieren, tatsächlich mit beträchtlicher Genauigkeit anhand ökonomischer und anderer sozialer Entwicklungen einer Gesellschaft voraussagen lässt. Multivariable Datenanalysen (mehrere statistische Variablen werden mathematisch »massiv parallel« untersucht) demonstrierten, dass es nur weniger Entwicklungsindikatoren bedarf – zum Beispiel des Bruttosozialprodukts pro Kopf, der HIV-/AIDS – Rate, des Zugangs zu sauberen Wasserquellen und der Zahl von Ärzten pro hunderttausend Menschen –, um »mit bemerkenswerter Präzision« voraussagen zu können,

wie häufig die Mitglieder einer Gesellschaft religiös aktiv sind oder beten. Die entscheidendsten unter den erklärenden Variablen sind jene, welche zwischen schutzlosen Gesellschaften und solchen differenzieren, in denen das Überleben in so hohen Maßen gesichert ist, dass Menschen, die diese Grundsituation in ihren prägenden Jahren erlebten, sie als gegeben nehmen.21

Was den religiösen Glauben betrifft, gehen Norris und Inglehart von der These aus, dass die Erfahrung des Aufwachsens unter gleichbleibenden Bedingungen in einer weniger geschützten Gesellschaft die Bedeutung von religiösen Werten steigert und die Erfahrung des Aufwachsens in einer geschützteren Gesellschaft diese verringert. Der wesentliche Grund dafür sei, dass »das Bedürfnis nach einer religiösen Rückversicherung unter gesellschaftlichen Gegebenheiten, die mehr Schutz anbieten, weniger drängend ist«. Daraus folgt, dass Bürger einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft traditionellen religiösen Autoritäten und Institutionen zunehmend indifferent gegenüberstehen und die Bereitschaft zu spirituellen Aktivitäten unter ihnen sinkt.

Menschen, die unter relativ sicheren Bedingungen aufgewachsen sind, können mehr Ambiguität tolerieren und verspüren ein geringeres Bedürfnis nach den absoluten, starren und vorhersagbaren Regeln, die mit religiösen Sanktionen einhergehen.22

Es scheint also auf der Hand zu liegen, dass eine Verbesserung der existentiellen Sicherheit die Relevanz von religiösen Werten untergräbt, aber – und da liegt der Haken – in den postindustriellen Gesellschaften zugleich für ein sinkendes Bevölkerungswachstum sorgt. Kurz: Die Werte von reichen Gesellschaften werden säkularer, was jedoch zu einem Schrumpfen der Bevölkerungen führt, wohingegen ärmere Völker zutiefst religiöse Werte beibehalten, was eine höhere Fertilitätsrate und folglich ein stetig ansteigendes Bevölkerungswachstum mit sich bringt (weshalb sie tendenziell arm bleiben).23 Die Wahrung starker Familienwerte ist ein Kernziel aller traditionellen Religionen. Sie »ermuntern die Menschen, Kinder zu bekommen, ermuntern Frauen, zu Hause zu bleiben und ihre Kinder großzuziehen, verbieten Abtreibung, Scheidung und alles andere, was einer hohen Reproduktionsrate im Wege stehen könnte«. Insofern sollte es also niemanden überraschen, dass reiche Nationen immer säkularer werden, die Welt als solche aber immer religiöser wird.

Transzendenz versus Armut

Aus dieser Analyse ergeben sich mehrere Aspekte. Erstens können wir sagen, dass die ursprüngliche Säkularisationstheorie auf ganzer Linie richtiglag, es aber viele Gesellschaften gibt, die nicht den gleichen Industrialisierungs-Urbanisierungs-Weg einschlugen wie der Westen (oder die auf diesem Weg gescheitert sind). Zweitens können wir nun erkennen – was möglicherweise noch wichtiger ist –, weshalb Religion sich am ehesten »als ein soziologisches und kein theologisches Phänomen« verstehen lässt.24 »Transzendenz« ist bei weitem nicht die entscheidendste Zutat zu oder Erfahrung mit dem religiösen Glauben, wie Peter Berger und andere behaupten; die entscheidendsten erklärenden Faktoren sind Armut und existentielle Unsicherheit. Angesichts dessen und kombiniert mit den Erkenntnissen der UNDP (dass sich die Kluft zwischen reichen und armen Ländern stetig erweitert und parallel dazu »die existentielle Unsicherheit in rund fünfzig oder mehr Ländern ansteigt«), lässt sich also sagen, dass der »Erfolg« von Religion in Wirklichkeit ein Nebenprodukt des Misslingens staatlicher Modernisierungsprogramme ist, oder eines des Versagens, die Unsicherheiten zu minimieren, die auf ihren Bevölkerungen lasten. So betrachtet ist die Expansion des religiösen Glaubens nichts, auf das wir (im Sinne einer Weltgemeinschaft, in der einer dem anderen zu helfen versucht) stolz sein könnten – jedes Triumphieren angesichts dieses religiösen Revivals ist fehl am Platz.

Der dritte Punkt ist subtiler. Wenn wir dem »Geschmack« der Religionen nachspüren, die heute blühen und gedeihen, wenn wir uns ihre theologischen, spirituellen und emotionalen Merkmale betrachten, was stellen wir dann fest? Erstens finden wir heraus, dass es die etablierten christlichen Kirchen sind – die Kirchen der Religion mit den ausgeklügeltsten Theologien, bei denen es praktisch immer um Transzendenz geht –, welche Anhänger an Evangelikale, Pfingstbewegte, Charismatiker der Health and Wealth – Theologie (»Wohlstands- und Erfolgstheologie)« und Fundamentalisten der einen oder anderen Couleur verlieren. Im Jahr 1900 lebten 80 Prozent aller Christen in Europa und den Vereinigten Staaten, heute leben 60 Prozent aller Christen in Entwicklungsländern.25

Was sollen wir von evangelikalen Heilsversprechen und Prophezeiungen halten? Würden sie sich häufig genug bewahrheiten, und würden Evangelikale beispielsweise bessere Erklärungen für Krankheiten finden als jede wissenschaftlich abgeleitete, dann würden sie die Welt mit Sicherheit im Sturm erobern. Was sollen wir von der »Zungenrede« halten, jener neutestamentarischen »Gnadengabe«, welche einem Phänomen, das rational betrachtet an Irrsinn grenzt, die Weihe der Erhabenheit verleiht? Als eine amerikanische Reporterin im Februar 2011 während einer Live-Berichterstattung plötzlich ein paar Momente lang unverständliches Kauderwelsch von sich gab, löste das eine Menge Interesse und ebenso viele lästerliche wie mitleidige Kommentare bei anderen Sendern und in den sozialen Medien aus. Doch niemand kam auch nur auf die Idee, sie könnte eine religiöse Erfahrung durchlebt haben (auch sie selbst behauptete es nicht). Am Ende konzentrierte sich die Diskussion auf die Frage, welche Hirnregion einen derartig »epileptischen« Ausbruch ausgelöst haben könnte.

Was sollen wir von den Health and Wealth – Kirchen halten? Welche Rolle spielt »Transzendenz« in ihrer Ideologie? Wohlstand und Erfolg sprechen unmittelbar existentielle Unsicherheit an.

Dem Atheisten erscheinen diese Entwicklungen – die gewalttätige Intoleranz des fundamentalistischen Islam, die sture Ignoranz der Kreationisten in einigen Teilen der Vereinigten Staaten, das »Zungenreden« der Evangelikalen, die charismatischen »Heiler«, die Anbetung eines Motorrads in Indien – schlicht und einfach so, als hätte jemand die Uhr zurückgedreht. Die simple, auf der Hand liegende, rationale soziologische Erklärung für solche Phänomene unterstreicht deren Primitivität.

Neben den soziologischen Erklärungen für dieses religiöse Revival scheinen die psychologischen völlig an der Sache vorbeizugehen – jedenfalls bis zu einem gewissen Maße. John Micklethwait, Chefredakteur des Economist, und Adrian Wooldridge, ein Kolumnist des Magazins, behaupten in ihrem Buch God Is Back, es gebe »beträchtliche Nachweise, dass Christen unabhängig von ihrem jeweiligen Wohlstand gesünder und glücklicher sind als ihre säkularen Brüder«; David Hall, Arzt am Medical Center der University of Pittsburgh, ist überzeugt, dass der regelmäßige Kirchgang das Leben um zwei bis drei Jahre verlängern könne; das Duke University Medical Center stellte 1997 im Rahmen einer Studie mit siebentausend älteren Probanden fest, dass eine aktive Teilnahme am religiösen Leben das Immunsystem stärken und den Blutdruck senken »könnte«. 1992 hatte es in den Vereinigten Staaten nur drei medizinische Hochschulen gegeben, die programmatisch den Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheit untersuchten; 2006 war ihre Zahl auf 141 gestiegen.26

Micklethwait und Wooldridge schreiben:

Eine der faszinierendsten Erkenntnisse aus den regelmäßigen Umfragen des Pew Forum [Research Center] zum Thema Glück ist, dass Amerikaner, die einmal pro Woche oder öfter zur Messe gehen, glücklicher sind (43Prozent sehr glücklich) als diejenigen, die es einmal im Monat oder seltener (31Prozent) oder selten bis nie tun (26Prozent). […] Die Korrelation zwischen Glück und Teilnahme am Gottesdienst blieb relativ unverändert, seit Pew in den1970er Jahren mit diesen Umfragen begann; sie ist auch stabiler als die Verflechtung von Glück und Wohlstand.27

Studien bewiesen auch, schreiben sie weiter, dass Religion schlechtes Verhalten bekämpfen und Wohlbefinden fördern könne. »Vor zwanzig Jahren stellte der Harvard-Ökonom Richard Freeman fest, dass schwarze Jugendliche, die in die Kirche gingen, auch wahrscheinlicher den Schulunterricht besuchten und weniger wahrscheinlich Straftaten begingen oder Drogen nahmen.« Seither seien eine ganze Reihe weiterer Studien, darunter auch ein Bericht der National Commission on Children (1991) zu dem Schluss gekommen, dass die Teilnahme am religiösen Leben mit niedrigeren Kriminalitätsraten und Drogenmissbrauch in Verbindung stünde. Der amerikanische Kriminologe James Q. Wilson (er war der vielleicht hervorragendste) bündelte »einen Berg« an sozialwissenschaftlichen Nachweisen zu dem prägnanten Kommentar: »Unabhängig von der jeweiligen sozialen Schicht verringert Religion abweichendes Verhalten.« Und Jonathan Gruber, ein »säkular eingestellter« Ökonom am Massachusetts Institute of Technology, behauptete »anhand einer Masse an Beweismaterial«, dass regelmäßiger Kirchgang einen Einkommensaufschwung zur Folge habe.

Zwei Anmerkungen scheinen hier angebracht. Erstens, dass diese Beispiele allesamt aus den Vereinigten Staaten stammen, und dieses Land ist, wie zunehmend deutlich wird, in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich und ganz und gar nicht typisch für das, was andernorts geschieht. Zweitens lässt sich etwas beobachten, das für unser Thema relevanter ist. Selbst wenn einige Studien und Umfragen nahelegen, dass religiöser Glaube von Nutzen sei, und selbst wenn sich darin die Realität spiegeln sollte: Was soll damit eigentlich festgestellt werden? Dass Gott Menschen belohnt, die regelmäßig zur Kirche gehen, indem er sie glücklicher, gesünder und in diesem oder jenem Sinne reicher macht? Und wenn dem so ist, wenn Gott omnipotent und gütig ist, was ist dann mit den 57 Prozent regelmäßigen Kirchgängern, die nicht glücklich sind? Sie besuchen die Messe doch auch, warum also hat (ein allmächtiger und gütiger) Gott beschlossen, sie zu benachteiligen? Oder wieso gibt es dann überhaupt Menschen, die nie in die Kirche gehen und trotzdem glücklich sind? 26 Prozent sagen, sie seien glücklich, gingen aber selten oder nie in die Kirche. Wie können wir wissen, ob all diese Menschen nicht einfach ein glückliches oder unglückliches Naturell besitzen, ganz unabhängig von ihrem religiösen Verhalten? Außerdem lässt sich an den veröffentlichten Zahlen ablesen, dass selbst unter den Kirchgängern die Unglücklichen die Glücklichen überwiegen, ja sogar eine signifikante Mehrheit bilden. Welches Spiel, mag man da fragen, spielt Gott eigentlich?

Für unsere Zwecke sachdienlicher ist jedoch, dass dies bezeichnenderweise alles Argumente für den psychologischen, nicht aber für den theologischen Nutzen von Gläubigkeit sind. Man könnte behaupten – und Theologen haben behauptet –, dass Glück gar nicht das erstrebte Ziel von religiös Gläubigen ist, jedenfalls mit Sicherheit nicht für fromme Christen, denn die Crux ihres Glaubenssystems ist doch, dass sie auf Erlösung erst im Jenseits hoffen dürfen. Daher gibt es etwas bei dieser ganzen Übung – bei dem Versuch, auf jeder Ebene den Nutzen von Glauben zu beweisen –, das von vornherein … nun ja, einen Beigeschmack hat: Man legt sich die Nachweise so zurecht, dass sie zu der Schlussfolgerung führen müssen, zu der man von Anfang an gelangen wollte. Der New Yorker Sozialpsychologe Jonathan Haidt geht in seinem Buch The Righteous Mind (2012) noch einen Schritt weiter mit der Behauptung, dass »das menschliche Gedeihen der gesellschaftlichen Ordnung und Einbettung« bedürfe, und die lasse sich am besten durch Religion bewirken, weil sie »die Magd der Gruppenbildung, des Tribalismus und des Nationalismus« sei. Dem fügt er hinzu, dass religiöse Menschen Forschungen zufolge »bessere Nachbarn und Bürger« seien, jedoch nicht, weil sie beten oder die Bibel lesen oder an die Hölle glauben (»diese Glauben und Praktiken spielen, wie man festgestellt hat, eine sehr geringe Rolle«), sondern weil sie mit anderen Anhängern ihrer eigenen Religion »vernetzt« seien. Auch in diesem Fall wird Religion als ein psychologisches und nicht als ein theologisches Phänomen betrachtet.28

Die psychologische Evidenz wird allerdings von dem noch umfassenderen Bild in den Hintergrund gedrängt, das Norris’ und Ingleharts Soziologie zeichnet. Ihre Schlussfolgerung ist es wert, in voller Länge zitiert zu werden:

Die Kritik [an der Säkularisierungstheorie] stützt sich allzu sehr auf ausgewählte Anomalien [derweil sie einige augenfällige Sonderlichkeiten ignoriert] und fokussiert sich zu stark auf die Vereinigten Staaten (die der bemerkenswerte Fall einer auffälligen Devianz sind), anstatt systematisch die Evidenz quer durch eine große Bandbreite an reichen und armen Gesellschaften zu vergleichen. […] Philosophen und Theologen haben seit Menschengedenken versucht, zum Sinn und Zweck des Lebens vorzudringen, doch für die große Mehrheit der Weltbevölkerung, die am Rande des Existenzminimums lebt, war die Hauptfunktion von Religion seit eh und je, ihr Bedürfnis nach Rückversicherung zu stillen und ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.29

Punkt eins bei der Argumentation unseres Buches ist somit, dass zwar einige Menschen in unserem frühen 21. Jahrhundert glauben: »Gott ist zurück!«, die tatsächliche Lage aber wesentlich komplexer und auch um ein Beträchtliches belasteter ist, als es dieses simple Statement nahelegt. Im Gegensatz zu der hoffnungsvollen Überzeugung vieler religiös gläubiger Menschen – dass der Atheismus auf dem Rückzug sei – findet dieses Geschehen nicht statt, jedenfalls nicht in der entwickelten Welt.

Trotzdem traf Charles Taylor bei vielen Menschen einen Nerv, als er 2008 in seinem Buch Ein säkulares Zeitalter schrieb, Modernität sei gewissermaßen von vornherein eine »Substraktionsgeschichte«, die den Verlust oder die Einengung von Erfahrung und eine »Entzauberung« der Welt beinhalte. Norris und Inglehart kritisieren Taylor, weil uns die Welt ihm zufolge mit einem »stumpfsinnigen, von Routinen geprägten, seichten Universum zurückgelassen habe, das von Regeln statt Gedanken angetrieben wird« – ein Prozess, der in einer »von geistlosen Spezialisten und herzlosen Hedonisten« geführten Bürokratie gipfele. In dieser Welt führten Atheisten ein unvollkommeneres Leben als Gläubige, ein geistig verarmtes Leben, weshalb sie sich ständig nach etwas »sehnen«, das mehr ist als das, womit sie sich durch die selbstgenügsame Kraft der Vernunft versorgen könnten. Dennoch blieben sie taub und blind für die Momente, in denen das Wunder von »Gottes Eindringen« geschieht (wie zum Beispiel in die Werke von Dante oder Bach oder die Kathedrale von Chartres).30

Das kritisieren nicht nur Norris und Inglehart, dem würden wohl auch die meisten Atheisten widersprechen. Dennoch sind kurz vor oder seit der Jahrtausendwende ganze Stapel von Büchern in diesem Tenor erschienen: Luc Ferry, L’Homme-Dieu ou le sens de la vie (1996; Von der Göttlichkeit des Menschen oder Der Sinn des Lebens); John Cottingham, On the Meaning of Life (2003), Julian Baggini, What’s It All About? Philosophy and the Meaning of Life (2004; Der Sinn des Lebens: Philosophie im Alltag); Richard Holloway, Looking in the Distance: The Human Search for Meaning (2004; Die Dunkelheit zwischen den Sternen: Die Suche des Menschen nach dem Sinn des Lebens); Roy F. Baumeister, The Cultural Animal: Human Nature, Meaning and Social Life (2005); John F. Haught, Is Nature Enough? Meaning and Truth in the Age of Science (2006); Terry Eagleton, The Meaning of Life (2007; Der Sinn des Lebens); Owen J. Flanagan, The Really Hard Problem: Meaning in a Material World (2007); Claire Colebrook, Deleuze and the Meaning of Life (2010).

Es gab eine Zeit, da konnte man die Frage nach »dem Sinn des Lebens« nur ironisch oder scherzhaft stellen, wenn man sich nicht dem Spott aussetzen wollte. Die Monty Pythons boten in ihrem Film Der Sinn des Lebens (1983) mehrere Antworten auf diese Frage, darunter: »Sei nett zu Fischen«, »trage mehr Hut« und »vermeide fettes Essen«. Im 21. Jahrhundert scheint die Frage nach dem Sinn des Lebens jedoch keine peinlich berührten Reaktionen mehr hervorzurufen.

Wie kommt das? Könnte es sein, dass Taylor zumindest teilweise richtiglag mit der Aussage, es habe sich erwiesen, dass vieles, was in den vergangenen hundertdreißig Jahren gedacht wurde, keine wirkliche Antwort lieferte? Sicher ist, dass mittlerweile viele Ideologien und »Ismen« der modernen Welt entweder in sich zusammengefallen sind oder sich als Sackgassen erwiesen haben: Imperialismus, Nationalismus, Sozialismus, Marxismus, Kommunismus, Stalinismus, Faschismus, Maoismus, Materialismus, Behaviorismus, Apartheid. Und angesichts des credit crunch, der Kreditklemme des Jahres 2008 und ihrer turbulenten Nachwehen, fällt das Schlaglicht nun sogar auf den Kapitalismus.

»Die Dinge, die wir haben, werden entwertet von den Dingen, die wir als Nächstes haben wollen«

Die Auswirkungen dieser Kreditklemme waren mehr als nur wirtschaftlicher Art. Die englische Schriftstellerin Jeanette Winterson schrieb in der Londoner Times: Der »sogenannte zivilisierte Westen hat es in seinem materialistischen Gewand versäumt, sein Versprechen einzulösen […] wir stecken in einem schrecklichen Schlamassel«. Da biete nur die Kunst noch einen »Ausweg«. Ein paar Wochen später schrieb sie in derselben Zeitung: »Wir haben eine Gesellschaft ohne Werte erschaffen, sie glaubt an nichts.«31 Auch andere Aspekte dieser Krise wurden in der Times behandelt, zum Beispiel ergab eine Studie, zu deren Zwecken eine religionsübergreifende Diskussionsseite bei Facebook eingerichtet wurde, dass 71 Prozent der Beiträger glaubten, wir erlebten gerade eine »spirituelle Rezession«, was sie beunruhigender fanden als eine materielle Rezession. (Eine andere Umfrage ergab einen 27 – prozentigen Anstieg der Gebetsbereitschaft seit Beginn der Finanzkrise – noch ein Nachweis für den Zusammenhang von religiösem Verhalten und existentieller Unsicherheit.) Im November 2008 wurde berichtet, dass mehr Menschen in England an Aliens und Geister als an Gott glaubten. Von dreitausend Befragten (was keine kleine Stichprobe ist) glaubten 58 Prozent an übernatürliche Wesen, gegenüber 54 Prozent, die an Gott glaubten.32 Die Facebook-Teilnehmer meinten, dass »jeder Glaube besser ist als keiner«.

Wiewohl bereits so manche Kathedralen des Kapitalismus in sich zusammenfielen – oder nur durch Verstaatlichung und andere staatliche Rettungsaktionen erhalten werden konnten –, ist der Kapitalismus bis heute (ich schreibe dies im Jahr 2014) noch nicht zusammengebrochen. Mit Sicherheit bekam er einen Mordsschrecken. Er befindet sich auch nach wie vor auf der Intensivstation, doch ein öffentlicher Nachruf auf ihn wurde noch nicht geschrieben. Für unsere Zwecke von größerem Belang ist jedoch, dass letztlich alles, was durch den Zusammenbruch der Finanzmärkte ausgelöst wurde und weiterhin ausgelöst werden wird, mit veränderten Einstellungen oder Perspektiven einhergeht – wir scheinen gerade in eine Periode einzutreten, die von mehr Ernst und Besonnenheit gekennzeichnet ist, weil Menschen beginnen, die Werte und Ideen abzuwägen, von denen wir uns leiten lassen. Nigel Biggar, Professor für Moral- und Pastoraltheologie in Oxford, erzählte der Financial Times, dass er unter vielen seiner einstigen Studenten, die an den Londoner Finanzmarkt oder zu großen Anwaltskanzleien gegangen seien, jüngst eine Veränderung bemerkt habe:

Mit einigen stehe ich noch in Kontakt. Als sie jung waren, fanden sie dieses24/7 – Leben aufregend; als sie dann Familien hatten, wurde es ihnen zur Last, aber da saßen sie schon in der Falle des Wohlstands. Inzwischen sehe ich Bewegung, eine Distanzierung davon und parallel dazu ein größeres Interesse daran, zu lehren oder auf andere Weise der Öffentlichkeit zu dienen.33

Hier sehen wir die Amalgamierung von mehreren Dingen: religiöser Glaube und Unglaube; das Versagen der Naturwissenschaften, die Begeisterung vieler zu wecken; und die psychologische Dimension, denn das Hauptaugenmerk lag beim Thema Erfüllung stets auf »Glück« oder »Einsamkeit«, ergo in puncto Erfüllung auf zwei Seiten derselben Medaille.

Eine 2008 veröffentlichte Studie erwies, dass sich Engländer landesweit »immer einsamer« fühlten, ein Zustand, der sich im Laufe des vorangegangenen Jahrzehnts stetig zugespitzt hatte. Das wachsende Gefühl von Einsamkeit setzte in den späten sechziger Jahren ein, als sich immer mehr Wohnviertel zu verändern begannen – wegen der steigenden Scheidungsraten, der Zuwanderungen oder dem ständigen Kommen und Gehen (sei es durch Arbeitsplatzwechsel oder infolge der wachsenden Studentenpopulationen, die nur übergangsweise an einem Ort ansässig waren; 1963 hatte es nur dreiundzwanzig britische Universitäten gegeben, heute gibt es mehr als hundert). Der amerikanische Politologe Thomas Dumm bezeichnete die Vereinigten Staaten in seiner Studie Loneliness as a Way of Life (2008) als den Archetypen der künftigen einsamen Gesellschaft, versinnbildlicht durch den »possessiven Individualismus«, der sich hinter dem Recht auf die »persönliche Wahl« versteckt, dieses Recht aber nicht als Chance begreift.34

Doch zurück zum Glück. Es ist vermutlich unausweichlich, dass diesem Thema immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Selbst wenn wir uns hier nur auf Quellen aus dem 21. Jahrhundert beschränken, finden wir unzählige Bücher über das Glück und die Fragen, wie man es erlangen kann, oder was die unterschiedlichen Völker dieser Erde darunter verstehen oder warum Frauen (generell) weniger glücklich seien als Männer.

Eine breit publizierte Erkenntnis lautet, dass die Bewohner des entwickelten Westens kein bisschen glücklicher sind als vor Jahrzehnten, wiewohl es ihnen finanziell und materiell inzwischen viel besser geht. Tatsächlich, schreibt der britische Autor Michael Foley in seinem Buch The Age of Absurdity: Why Modern Life Makes It Hard to Be Happy (2010), verschlimmerte das moderne Leben die Lage. Es vertiefte

unsere Sehnsüchte und verstärkte zugleich unsere Wahnvorstellungen von unserer individuellen Bedeutung. Wir sind nicht nur unersättlich in unserer Gier nach dem Leben eines Gourmets oder nach ewiger Jugend, Ruhm und nach hundert verschiedenen Variationen beim Sex, wir wurden auch zu glauben ermuntert – von der »Rechte«-Kultur, die nach den siebziger Jahren entstand und eine Null-Toleranz-Sensibilität gegenüber jeder vermeintlichen Ungleichheit und Kränkung oder jedem vermeintlichen Missstand entwickelte –, dass etwas zu wollen gleichbedeutend sei mit etwas zu verdienen. […] Die Dinge, die wir haben, werden entwertet von den Dingen, die wir als Nächstes haben wollen.35

Andererseits wurde beim letzten, im August 2008 publizierten World Values Survey festgestellt, dass in fünfundvierzig der zweiundfünfzig Staaten, in denen die Umfrage durchgeführt wurde, »Glück« im Laufe der vorangegangenen fünfundzwanzig Jahre zugenommen hatte. Allerdings zeigte diese Studie auch, dass ein Wirtschaftswachstum nur in den Ländern spürbar zur Steigerung von Glück beitragen konnte, in denen das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf weniger als 12000US – Dollar betrug. Gesunken war das Glücksniveau in Indien, China, Australien, Weißrussland, Ungarn, Chile, der Schweiz (der Schweiz!) und Serbien. Glück scheint demnach mehr mit Demokratisierung, einem breiteren Jobangebot, besseren Bedingungen am eigenen Arbeitsplatz und mit Reise- und Redefreiheit zu tun zu haben. Andere Studien ergaben, dass individualistische, insbesondere westliche Nationen »besonders anfällig für negative Gefühle waren«, wohingegen das in asiatischen oder lateinamerikanischen Staaten weit weniger der Fall war, »da man individuelle Gefühle dort weniger wichtig nimmt als das Allgemeinwohl«.36

Wollen wir doch mal ehrlich sein: Das sind zwar alles faszinierende Erkenntnisse, aber viele deuten auf ebenso begrüßenswerte wie besorgniserregende Entwicklungen hin, das heißt, sie sind widersprüchlich und paradox. In Amerika sind regelmäßige Kirchgänger am glücklichsten, im Rest der Welt sind hingegen gerade sie es, die sich existentiell unsicher fühlen (und von daher sehr wahrscheinlich nicht glücklich sind); in Amerika wird Religiosität mit geringeren Kriminalitätsraten gleichgesetzt, im Rest der Welt hingegen mit steigenden; in Amerika zieht der regelmäßige Kirchgang eine Einkommenssteigerung nach sich, im Rest der Welt kann von einem Zuwachs an Glück bei gestiegenem Einkommen keine Rede sein, und dort sind es auch die Ärmsten, die regelmäßig in die Kirche gehen. Peter Berger behauptet, wir seien so blindwütig religiös wie eh und je, doch die Mitglieder von Facebook glauben, wir befänden uns in einer spirituellen Rezession; Peter Berger sagt auch, dass die Menschen unter einem Mangel an Transzendenz litten. Der World Values Survey weist jedoch nach, dass es der Mangel an Brot, Wasser, angemessener medizinischer Versorgung und Jobs ist, unter dem die Menschen leiden und der sie in die Arme der Religion treibt.

Ungeachtet all dieser Widersprüche, ungeachtet auch des atavistischen, gewalttätigen und absurd inkohärenten Charakters so vieler religiöser Manifestationen jüngerer Zeit und trotz der Tatsache, dass die soziologischen Erklärungen für sowohl religiöse als auch areligiöse Orientierungen auf überzeugend rationale Weise sämtliche theologischen Begründungen in den Schatten zu stellen scheinen, ist doch eines eindeutig: dass sich viele religiöse Seelen weigern, diesen Stand der Dinge zu akzeptieren.

Charles Taylor und die anderen oben angeführten Autoren gaben die Richtung vor mit ihrer Behauptung, dass Atheisten ein verarmtes Leben führten, derweil die Norris-Inglehart-Studie nahelegt, dass der religiöse Glaube schlicht schwindet, sobald man von existentieller Unsicherheit erlöst wird. Diese soziologische Transformation spielt sich nach wie vor ab – sie beginnt mittlerweile sogar in den Vereinigten Staaten Fuß zu fassen. Eine Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2012 offenbart, dass die Zahl von Amerikanern, die angeben, keinem religiösen Glauben anzuhängen, von 16 Prozent im Jahr 2008 auf 20 Prozent im Jahr 2010 gestiegen war, während die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger von rund 40 Prozent im Jahr 1965 auf unter 30 Prozent in der Gegenwart sank.37

Angesichts all der irrationalen, tragischen und erschreckenden Dimensionen der jüngsten religiösen Geschichte ist nicht zu hoffen, dass man mit einer einzigen Publikation etwas ausrichten kann. Doch das vorliegende Buch hat zumindest etwas anzubieten, das meines Wissens nach noch kein anderes offerierte, nämlich eine ausführliche Begutachtung der Werke vieler talentierter Personen – Maler, Romanciers, Dramatiker, Dichter, Wissenschaftler, Psychologen, Philosophen –, die zu Atheisten wurden, den Tod Gottes begrüßten, nach anderen Lebensweisen suchten und einen anderen Sinn in der Welt entdeckten oder erschufen – andere Möglichkeiten, um jene große »Substraktion« zu überwinden, diese schreckliche Verarmung, welche offenbar so viele Menschen für die unvermeidliche Folge des Verlusts von übernatürlicher Transzendenz halten.

Ich hoffe, es wird mir aufzuzeigen gelingen, dass eine solche Verarmung alles andere als unvermeidlich ist. Im Gegenteil, betrachtet man unsere jüngste Geschichte, erlebt man ziemlich viele Überraschungen, wenn man die Werke von Berühmtheiten durchforstet, die man zu kennen geglaubt hatte. Bei vergleichenden Gegenüberstellungen stolpert man über so manch Ungewöhnliches (und ausgesprochen Aufschlussreiches) und entdeckt schließlich, dass die Suche nach anderen Lebensweisen eine Kernkomponente der modernen Kultur war und ist – sozusagen Teil ihrer DNA, um eine moderne Metapher zu benutzen. Man stellt fest, dass Atheisten weit davon entfernt sind, ein unerfülltes Leben zu leben, und kommt zu dem Schluss, dass weder Gott noch Teufel die verlockendsten Melodien erzeugen. Dieses Buch hätte anstelle des Titels Das Zeitalter des Nichts auch den Titel The Age of Everything/Das Zeitalter von Allem tragen können.