Das zweite Herz - Michael Connelly - E-Book

Das zweite Herz E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Terry McCalebs Spezialgebiet waren Serienmorde – bis ein Herzleiden den FBI-Agenten in den Vorruhestand zwang. Nur ein Spenderorgan konnte ihn retten. Mit Aufregung soll nun Schluss sein, er bemüht sich um ein ruhiges Leben und zieht auf sein Segelboot im Hafen von Los Angeles an der San-Pedro-Bucht. Dort erhält er immer wieder unangekündigten Besuch: Hilfesuchende, die in der Zeitung von seinen durchschlagenden Erfolgen gelesen haben. Allen sagt er das Gleiche: Er hat keine Dienstmarke, darf nicht mal mehr Auto fahren – was soll er als Privatdetektiv taugen? Doch Graciela Rivers lässt nicht locker: Ihre Schwester Gloria Torres wurde vor einigen Wochen ermordet, vom Täter fehlt jede Spur, und das LAPD verfolgt die Ermittlungen nicht mit dem nötigen Nachdruck. McCaleb will ablehnen, aber Rivers hat ein schlagendes Argument: Das neue Herz in seiner Brust ist das von Gloria.

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Seitenzahl: 668

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Connelly

Das zweite Herz

Kriminalroman

Kampa

Das ist für

Terry Hansen

und

Myra McCaleb

Ihre letzten Gedanken galten Raymond. Sie würde ihnbald sehen. Er würde wie immer aufwachen und sie mit einer warmen, langen Umarmung begrüßen.

Sie lächelte, und Mr. Kang hinter dem Ladentisch lächelte zurück, weil er dachte, ihr Strahlen gelte ihm. Er lächelte sie jeden Abend an, ohne zu ahnen, dass ihre Gedanken und ihr Lächeln eigentlich Raymond galten und dem Moment, der noch vor ihr lag.

Das Geräusch der Glocke, die durch die hinter ihr aufgehende Tür in Bewegung gesetzt wurde, fand nur ganz am Rand Eingang in ihr Bewusstsein. Sie hatte die zwei Dollar bereit und reichte sie Mr. Kang über den Ladentisch. Aber er nahm sie nicht. Das war der Moment, in dem sie merkte, dass sein Blick nicht mehr auf sie, sondern auf die Tür gerichtet war. Sein Lächeln war verflogen, und sein Mund stand leicht offen, als wollte er ein Wort artikulieren, das ihm nicht recht über die Lippen kommen wollte.

Sie spürte, wie eine Hand von hinten ihre rechte Schulter packte. Die Kälte von Stahl presste sich gegen ihre linke Schläfe. Durch ihr Blickfeld schoss ein Schwall Licht. Blendend helles Licht. In diesem Moment sah sie ganz kurz Raymonds süßes Gesicht, dann wurde alles dunkel.

1

McCaleb sah sie, bevor sie ihn sah. Er kam gerade anden Millionärsbooten vorbei den Hauptsteg entlang, als er die Frau im Heck der Following Sea stehen sah. Es war halb elf an einem Samstagvormittag, und das warme Wispern des Frühlings hatte eine Menge Leute in den Hafen von San Pedro gelockt. McCaleb beendete gerade den Spaziergang, den er jeden Morgen machte – ganz um die Cabrillo Marina herum, die Steinmole hinaus und wieder zurück. Er war in dieser Endphase des Spaziergangs bereits ziemlich außer Atem, aber er ging sogar noch langsamer, als er sich nun dem Boot näherte. Seine erste Reaktion war Ärger – die Frau hatte ungebeten sein Boot betreten. Aber als er näher kam, tat er das beiseite und fragte sich, wer sie war und was sie wollte.

Sie war nicht für eine Bootsfahrt angezogen. Sie trug ein loses Sommerkleid, das auf halber Höhe ihrer Oberschenkel endete. Der Wind, der vom Wasser hochkam, drohte es hochzuwehen, weshalb sie eine Hand seitlich an ihr Bein hielt, um es unten zu halten. Ihre Füße konnte McCaleb nicht sehen, aber aus den angespannten Linien der Muskeln, die er in ihren braunen Beinen sah, schloss er, dass sie keine Segelschuhe anhatte. Sie trug hohe Absätze. McCalebs spontaner Gedanke war, dass sie hier war, um auf jemanden Eindruck zu machen.

McCaleb war nicht angezogen, um auf irgendjemanden Eindruck zu machen. Er trug eine alte Jeans, die vor Abnutzung, nicht aus modischen Gründen, Löcher hatte, und ein T-Shirt von der Catalina-Gold-Cup-Regatta vor einigen Sommern. Die Sachen waren mit Flecken übersät – hauptsächlich Fischblut, etwas eigenes Blut, Polyurethan und Maschinenöl. Sie hatten ihm sowohl als Angel- wie als Arbeitskleidung gedient. Er hatte vorgehabt, das Wochenende über am Boot zu arbeiten, und war dementsprechend angezogen.

Er fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Aufmachung, als er näher auf das Boot zukam und die Frau besser sehen konnte. Er zog sich die Schaumgummipolster seines Walkman von den Ohren und stellte die CD ab, auf der Howlin’ Wolf gerade »I Ain’t Superstitious« sang.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, bevor er auf sein Boot hinabstieg.

Seine Stimme schien sie zu erschrecken, und sie wandte sich von der Schiebetür ab, die in die Kajüte führte. McCaleb vermutete, sie hatte an das Glas geklopft und wartete nun in dem Glauben, er wäre im Boot.

»Ich suche Terrell McCaleb.«

Sie war eine attraktive Frau Anfang dreißig, gute zehn Jahre jünger als McCaleb. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, woran es lag. Es war eins dieser Déjà-vu-Erlebnisse. Im selben Moment, in dem er dieses Gefühl von Wiedererkennen hatte, war es bereits wieder verflogen, und er wusste, dass er sich getäuscht hatte, dass er diese Frau nicht kannte. Er erinnerte sich an Gesichter. Und ihres war hübsch genug, um es nicht zu vergessen.

Sie hatte seinen Nachnamen falsch ausgesprochen, Mc-CAL-Lab statt Mc-KÄI-Leb, und sie hatte die formelle Version seines Vornamens verwendet, die außer Journalisten nie jemand benutzte. Das war der Punkt, als ihm alles klar wurde. Jetzt wusste er, was sie zu seinem Boot geführt hatte. Noch eine verlorene Seele, die an den falschen Ort gekommen war.

»McCaleb«, verbesserte er sie. »Terry McCaleb.«

»Entschuldigung. Ich, äh, ich dachte, Sie seien da drinnen. Ich war mir nicht sicher, ob es okay ist, einfach auf das Boot zu steigen und zu klopfen.«

»Aber getan haben Sie es trotzdem.«

Sie ignorierte die Zurechtweisung und machte weiter. Es war, als hätte sie eingeübt, was sie tat und zu sagen hatte.

»Ich muss mit Ihnen sprechen.«

»Nun ja, ich bin gerade ziemlich beschäftigt.«

Er zeigte auf die offene Bilgenluke, in die sie zum Glück nicht gefallen war, und auf das Werkzeug, das er neben dem Heckbalken auf einem Tuch ausgelegt hatte.

»Ich bin fast eine Stunde rumgelaufen, bis ich das Boot endlich gefunden habe«, sagte sie. »Es dauert nicht lange. Mein Name ist Graciela Rivers, und ich wollte …«

Er hob die Hände, um sie zu unterbrechen. »Hören Sie, Miss Rivers, ich habe wirklich … Sie haben in der Zeitung von mir gelesen, stimmt’s?«

Sie nickte.

»Also, bevor Sie anfangen, mir Ihre Geschichte zu erzählen, muss ich Ihnen sagen, dass Sie nicht die Erste sind, die hier rauskommt oder sich meine Nummer beschafft und mich anruft. Und ich werde Ihnen das Gleiche sagen, was ich auch allen anderen gesagt habe. Ich suche keinen Job. Wenn Sie also gekommen sind, um mich zu engagieren oder mich sonst irgendwie um Hilfe zu bitten, muss ich Ihnen leider sagen, dass das nicht geht. Ich suche nicht nach dieser Art von Arbeit.«

Sie sagte nichts, und wie bei den anderen, die vor ihr zu ihm gekommen waren, spürte er, wie Mitgefühl an ihm zu nagen begann.

»Schauen Sie, ich kenne ein paar Privatdetektive, die ich Ihnen empfehlen kann. Männer, die etwas von ihrem Geschäft verstehen und sich wirklich für Sie einsetzen und Sie nicht übers Ohr hauen.«

Er ging zum Achterdollbord, nahm die Sonnenbrille, die er auf seinen Spaziergang mitzunehmen vergessen hatte, und setzte sie zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war, auf. Aber die Geste und seine Worte blieben ohne Wirkung auf sie.

»In dem Artikel stand, Sie waren gut. Und Sie hätten es schrecklich gefunden, wenn jemand ungestraft davonkam.«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und hob die Schultern.

»Dabei dürfen Sie eines nicht vergessen. Das war nie ich allein. Ich hatte Partner, ich hatte Laborteams, ich hatte das ganze FBI hinter mir. Das ist was vollkommen anderes als ein Typ, der ganz allein loszieht. Ganz was anderes. Wahrscheinlich könnte ich Ihnen nicht mal helfen, selbst wenn ich es wollte.«

Sie nickte, und er dachte, sie habe begriffen und die Sache sei damit erledigt. Er begann über das defekte Ventil eines der Bootsmotoren nachzudenken, das er übers Wochenende reparieren wollte.

Aber er hatte sie falsch eingeschätzt.

»Ich glaube schon, dass Sie mir helfen könnten«, sagte sie. »Vielleicht auch Ihnen selbst.«

»Ich brauche kein Geld. Ich komme ganz gut klar.«

»Ich spreche nicht von Geld.«

Er sah sie einen Moment an, bevor er antwortete.

»Ich weiß zwar nicht, was Sie damit meinen«, sagte er schließlich und ließ etwas Ärger in seine Stimme einfließen. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe keine Dienstmarke mehr, und ich bin kein Privatdetektiv. Ich würde sogar gegen das Gesetz verstoßen, wenn ich als solcher aufträte oder ohne eine staatliche Lizenz Geld nähme. Wenn Sie den Zeitungsbericht gelesen haben, wissen Sie, was mit mir passiert ist. Ich darf nicht mal mehr Auto fahren.«

Er zeigte auf den Parkplatz hinter den Landestegen.

»Sehen Sie den Wagen, der wie ein Weihnachtsgeschenk eingepackt ist? Das ist meiner. Er wird dort so lange stehen bleiben, bis ich von meinem Arzt die Erlaubnis bekomme, wieder zu fahren. Was gäbe ich also für einen Detektiv ab? Ich müsste den Bus nehmen.«

Sie ignorierte seine Einwände und sah ihn bloß mit dieser enervierenden Entschlossenheit an. Er wusste nicht, wie er sie loswerden sollte.

»Ich hole Ihnen mal die Adressen dieser Leute.«

Er ging um sie herum und schob die Kajütentür auf. Nachdem er dahinter verschwunden war, zog er sie wieder zu. Er brauchte die Abtrennung. Er ging zum Kartentisch und begann in den Schubladen darunter nach seinem Adressbuch zu suchen. Er hatte es so lange nicht mehr gebraucht, dass er nicht mehr wusste, wo es war. Er blickte durch die Tür nach draußen und beobachtete, wie sie nach achtern ging und sich mit der Hüfte gegen den Heckbalken lehnte, um zu warten.

Auf dem Glas der Tür war eine reflektierende Schicht. Sie konnte nicht sehen, dass er sie beobachtete. Ihn überkam wieder dieses Gefühl von Vertrautheit, und er versuchte ihr Gesicht einzuordnen. Er fand sie sehr attraktiv. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen wirkten einerseits traurig, schienen aber zugleich von irgendeinem Geheimnis zu wissen. Er wusste, er hätte sich bestimmt an sie erinnern können, wenn er ihr schon einmal begegnet wäre oder sie auch nur gesehen hätte. Aber es kam nichts. Instinktiv wanderte sein Blick zu ihren Händen hinab, um nach einem Ring zu suchen. Da war keiner. Was ihre Schuhe anging, hatte er recht gehabt. Sie trug Sandalen mit fünf Zentimeter hohen Korkabsätzen. Ihre Zehennägel waren rosa lackiert und hoben sich gegen ihre zarte braune Haut ab. Er fragte sich, ob sie ständig so aussah oder ob sie sich zurechtgemacht hatte, um ihn herumzukriegen, den Auftrag zu übernehmen.

Er fand sein Adressbuch in der zweiten Schublade und schlug rasch unter Jack Lavelle und Tom Kimball nach. Er schrieb die Namen und Telefonnummern auf einen alten Reklamezettel und schob die Tür auf. Sie öffnete ihre Handtasche, als er nach draußen trat. Er hielt den Zettel hoch.

»Hier haben Sie zwei Namen. Lavelle ist ein pensionierter LAPD-Beamter, und Kimball war beim FBI. Ich habe mit beiden zusammengearbeitet, und auf beide ist hundertprozentig Verlass. Suchen Sie sich einen aus, und rufen Sie ihn an. Und vergessen Sie nicht, ihm zu sagen, dass Sie seine Nummer von mir haben. Er wird sich dann um Sie kümmern.«

Sie nahm den Zettel nicht. Stattdessen zog sie ein Foto aus ihrer Handtasche und reichte es ihm. Ohne zu überlegen, nahm McCaleb es. Er merkte sofort, dass das ein Fehler war. In seiner Hand war das Foto einer lächelnden Frau, die zusah, wie ein kleiner Junge die Kerzen auf einer Geburtstagstorte ausblies. McCaleb zählte sieben Kerzen. Zuerst dachte er, es sei ein Foto von Graciela Rivers, als sie noch ein paar Jahre jünger gewesen war. Aber dann merkte er, dass sie es nicht war. Die Frau auf dem Foto hatte ein runderes Gesicht und dünnere Lippen. Sie war nicht so schön wie Graciela Rivers. Obwohl beide tiefbraune Augen hatten, hatten die Augen der Frau auf dem Foto nicht die gleiche Intensität wie die Augen der Frau, die ihn gerade beobachtete.

»Ihre Schwester?«

»Ja. Und ihr Sohn.«

»Wer von beiden?«

»Wie bitte?«

»Wer von beiden ist tot?«

Die Frage war sein zweiter Fehler, der zu dem ersten hinzukam und ihn noch weiter hineinzog. In dem Moment, in dem er die Frage stellte, wusste er, er hätte bloß darauf bestehen sollen, dass sie die Telefonnummern der zwei Privatdetektive nahm, und es dabei belassen sollen.

»Meine Schwester. Gloria Torres. Wir nannten sie Glory. Das ist ihr Sohn Raymond.«

Er nickte und gab ihr das Foto zurück, aber sie nahm es nicht. Er wusste, sie wollte, dass er fragte, was passiert war, aber jetzt zog er endlich die Bremse an.

»Sparen Sie sich das lieber«, sagte er schließlich. »Ich weiß, was Sie vorhaben. Aber das zieht bei mir nicht.«

»Heißt das, Sie haben kein Mitgefühl?«

Er zögerte, während ihm der Ärger in die Kehle stieg.

»Ich habe Mitgefühl. Wenn Sie den Zeitungsbericht gelesen haben, wissen Sie, was mit mir passiert ist. Mitgefühl war die ganze Zeit mein Problem.«

Er schluckte seinen Ärger hinunter und versuchte kein böses Blut aufkommen zu lassen. Er wusste, welch schreckliche Frustrationen sie verzehrten. Leute wie sie waren ihm zu Hunderten begegnet. Leute, denen ohne Grund ein geliebter Mensch entrissen worden war. Keine Festnahme, keine Verurteilung, kein abgeschlossener Fall. Einige von ihnen waren hinterher nur noch Zombies, ihr Leben unwiderruflich auf den Kopf gestellt. Verlorene Seelen. Auch Graciela Rivers war jetzt eine von ihnen. Das musste sie sein, denn sonst hätte sie ihn nicht aufgespürt. Egal, was sie zu ihm sagte oder wie wütend er wurde – ihm war klar, dass sie es nicht verdient hatte, auch noch mit seinen Frustrationen belastet zu werden.

»Schauen Sie«, sagte er. »Ich kann das einfach nicht machen. Tut mir leid.«

Er legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie zu der Stufe zum Anlegesteg zu führen. Ihre Haut war warm. Er konnte die kräftige Muskulatur unter der Zartheit spüren. Zwar hielt er ihr wieder das Foto hin, aber sie weigerte sich immer noch, es zu nehmen.

»Sehen Sie es sich noch mal an. Bitte. Nur noch einmal. Dann lasse ich Sie in Frieden. Sagen Sie mir, ob Sie noch etwas anderes empfinden?«

Er schüttelte den Kopf und machte eine resignierte Handbewegung, als wollte er sagen, für ihn ändere das nichts an der Sache.

»Ich war FBI-Agent, kein Hellseher.«

Trotzdem hob er das Foto demonstrativ hoch und sah es an. Die Frau und der Junge machten einen glücklichen Eindruck. Es war eine Feier. Sieben Kerzen. McCaleb erinnerte sich, dass seine Eltern noch zusammen waren, als er sieben wurde. Aber nicht viel länger. Seine Blicke wurden stärker von dem Jungen angezogen als von der Frau. Er fragte sich, wie er jetzt ohne seine Mutter zurechtkam.

»Es tut mir leid, Miss Rivers, aber ich kann wirklich nichts für Sie tun. Wollen Sie das zurück oder nicht?«

»Ich habe noch eins. Sie wissen schon, zwei für den Preis von einem. Ich dachte, Sie würden das hier behalten wollen.«

Jetzt spürte er zum ersten Mal den versteckten Sog in der emotionalen Strömung. Irgendetwas war da noch im Spiel, aber er wusste nicht, was. Als er Graciela Rivers forschend ansah, hatte er das Gefühl, in die Tiefe gezogen zu werden, wenn er noch einen Schritt machte und die naheliegende Frage stellte.

Er konnte nicht anders.

»Warum sollte ich es behalten wollen, wenn ich Ihnen nicht helfen kann?«

Ihr Lächeln hatte etwas Trauriges.

»Weil sie die Frau ist, die Ihnen das Leben gerettet hat. Deshalb dachte ich, dass Sie sich vielleicht ab und zu vor Augen halten möchten, wie sie aussah, wer sie war.«

Er schaute sie lange an, aber er sah nicht wirklich Graciela Rivers an. Er blickte in sich hinein und ließ sich das, was sie gerade gesagt hatte, durch den Kopf gehen, fand aber keine Erklärung dafür.

»Wovon reden Sie?«

Das war die einzige Frage, die ihm einfiel. Er hatte das Gefühl, als würde die Kontrolle über das Gespräch und alles andere von ihm wegkippen und über das Deck auf sie zugleiten. Jetzt hatte der Sog ihn erfasst. Er zog ihn hinaus.

Sie hob die Hand, griff aber nicht nach dem Foto, das er ihr immer noch hinhielt. Stattdessen legte sie ihre Handfläche auf seine Brust und strich damit über sein Hemd. Ihre Finger folgten dem dicken Seil der Narbe darunter. Er ließ sie es tun. Er stand wie versteinert da und ließ sie es tun.

»Ihr Herz«, sagte sie. »Es war das meiner Schwester. Sie war es, die Ihnen das Leben gerettet hat.«

2

Aus dem Augenwinkel konnte er den Monitor geradenoch sehen. Der Bildschirm war körniges Silber und Schwarz, das Herz wie ein wabernder Geist, die Nieten und Klammern, die Blutgefäße abklemmten, waren wie schwarze Rehposten in seiner Brust.

»Gleich haben wir es«, sagte eine Stimme.

Sie kam von hinter seinem rechten Ohr. Bonnie Fox. Immer ruhig und tröstlich, professionell. Gleich darauf sah er, wie sich die Linie des Endoskops, dem Verlauf der Arterie folgend, in das Röntgenfeld des Monitors schlängelte und in das Herz schob. Er schloss die Augen. Er hasste das Ziehen, von dem sie immer sagten, man würde es gar nicht spüren, obwohl man es immer spürte.

»Okay«, sagte sie, »eigentlich sollten Sie überhaupt nichts spüren.«

»Ich weiß.«

»Nicht sprechen.«

Dann, da war es. Wie das schwache Zupfen am Ende einer Angelschnur, ein Fisch, der einem den Köder wegfraß. Er öffnete die Augen und sah den Strich des Endoskops, dünn wie eine Angelschnur, immer noch tief im Herz.

»Okay, das wär’s«, sagte sie. »Ich gehe jetzt wieder raus. Gut haben Sie das gemacht, Terry.«

Er spürte, wie sie ihm auf die Schulter klopfte, aber er konnte den Kopf nicht drehen, um sie anzusehen. Das Endoskop wurde entfernt, und sie befestigte mit Heftpflaster eine Kompresse über dem Einschnitt in seinem Hals. Die Klammer, die seinen Kopf in dieser unbequemen Stellung gehalten hatte, wurde abgenommen, und er drehte langsam den Hals gerade und nahm die Hand hoch, um seine verspannten Muskeln zu massieren. Dann tauchte Dr. Bonnie Fox’ lächelndes Gesicht über seinem auf.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Kann nicht klagen. Jetzt, wo es vorbei ist.«

»Ich komme später noch mal zu Ihnen. Aber erst muss ich mir das Blutbild ansehen und die Gewebeprobe ins Labor bringen.«

»Da ist etwas, worüber ich mit Ihnen reden möchte.«

»Sicher. Bis gleich.«

Wenige Minuten später schoben zwei Schwestern McCalebs Bett aus dem Katheterlabor in einen Lift. Er hasste es, wie ein Invalide behandelt zu werden. Er hätte durchaus gehen können, aber es war gegen die Vorschriften. Nach einer Herzbiopsie muss der Patient in horizontaler Lage gehalten werden. In Krankenhäusern gibt es immer Vorschriften. Im Cedars-Sinai schien es mehr zu geben als in den meisten anderen.

Er wurde in die kardiologische Abteilung im fünften Stock hinuntergebracht. Als er über den Ostkorridor geschoben wurde, kam er an den Zimmern der Glücklichen und der Wartenden vorbei – Patienten, die ein neues Herz bekommen hatten oder auf eines warteten. Sie kamen an einem Zimmer vorbei, dessen Tür offen stand. McCaleb sah einen Jungen darin liegen, der mit mehreren Schläuchen an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen war. Auf der anderen Seite des Betts saß ein Mann in einem Anzug. Seine Augen waren zwar auf den Jungen gerichtet, aber zu sehen schien der Mann etwas anderes. McCaleb wandte den Blick ab. Er wusste den Grund. Dem Jungen lief die Zeit davon. Die Maschine würde ihn nicht mehr allzu lange am Leben halten. Der Mann im Anzug – der Vater, nahm McCaleb an – würde einen Sarg mit demselben Blick anstarren.

Jetzt hatten sie sein Zimmer erreicht. Er wurde von der fahrbaren Bahre auf das Bett gehoben und allein gelassen. Er stellte sich aufs Warten ein. Aus Erfahrung wusste er, dass es bis zu sechs Stunden dauern konnte, bis Bonnie Fox wiederkam, je nachdem, wie schnell die Blutprobe im Labor untersucht wurde und wie bald sie dazu kam, den Befund dort abzuholen.

Er war nicht unvorbereitet hergekommen. Der alte Lederbeutel, in dem er früher seinen Computer und die zahllosen Akten mitgenommen hatte, an denen er bei jeder sich bietenden Gelegenheit gearbeitet hatte, war jetzt voll mit alten Zeitschriften, die er sich für Biopsietage aufgehoben hatte.

 

Zweieinhalb Stunden später kam Bonnie Fox zur Tür herein. McCaleb legte die Ausgabe von Boat Restoration beiseite, in der er gelesen hatte.

»Das ging aber schnell.«

»Im Labor ist nicht viel los. Wie geht’s?«

»Mein Hals fühlt sich an, als hätte mir jemand ein paar Stunden den Fuß draufgestellt. Sie waren schon im Labor?«

»Ja.«

»Und?«

»Sieht alles sehr gut aus. Keine Abstoßungsreaktion, alle Daten machen einen guten Eindruck. Ich bin sehr zufrieden. In einer Woche können wir vielleicht schon mit dem Prednison runtergehen.«

Während sie sprach, breitete sie den Laborbefund auf dem Schwenktisch des Betts aus und überprüfte die guten Werte noch einmal. Ihre letzte Bemerkung bezog sich auf die fein abgestimmte Kombination von Medikamenten, die McCaleb jeden Morgen und Abend einnehmen musste. Das letzte Mal, als er sie gezählt hatte, hatte er morgens achtzehn und abends sechzehn Tabletten eingenommen. Das Arzneischränkchen auf dem Boot war nicht groß genug für alle Packungen. Er musste eins der Lagerfächer in der vorderen Kabine verwenden.

»Gut«, sagte er. »Ich habe es langsam satt, mich dreimal am Tag zu rasieren.«

Bonnie Fox faltete den Befund zusammen und nahm das Klemmbrett vom Betttisch. Ihr Blick glitt über die Liste der Fragen, die er jedes Mal, wenn er in die Klinik kam, beantworten musste.

»Fieber?«

»Keines, ich bin fieberfrei.«

»Und Durchfall?«

»Auch nicht.«

Aufgrund ihrer ständigen Anweisungen und Fragen wusste er, dass Fieber und Durchfall die beiden Vorboten einer Transplantatabstoßung waren. Neben Blutdruck und Puls musste er mindestens zweimal täglich die Temperatur messen.

»Die lebenswichtigen Organe sehen gut aus. Beugen Sie sich mal vor.«

Sie legte das Klemmbrett beiseite. Mit einem Stethoskop, das sie mit ihrem Atem anwärmte, hörte sie an drei verschiedenen Stellen des Rückens sein Herz ab. Dann legte er sich zurück, und sie hörte seine Brust ab. Schließlich legte sie ihm zwei Finger an den Hals, um ihm noch einmal selbst den Puls zu messen, und sah dabei auf ihre Uhr. Während sie das tat, war sie ihm sehr nahe. Sie roch nach einem Parfum aus Orangenblüten, das McCaleb immer mit älteren Frauen in Verbindung gebracht hatte. Was Bonnie Fox nicht war. Er sah zu ihr auf und betrachtete ihr Gesicht, während sie auf die Uhr sah.

»Fragen Sie sich eigentlich manchmal, ob wir das wirklich tun sollten?«, sagte er.

»Jetzt nicht sprechen.«

Nach einer Weile legte sie ihm die Finger ans Handgelenk und maß ihm dort den Puls. Danach zog sie den Druckmesser von der Wand, legte ihn ihm um den Arm und maß seinen Blutdruck – alles in tiefem Schweigen.

»Gut«, sagte sie, als sie fertig war.

»Gut«, sagte er.

»Ob wir was tun sollten?«

Es war typisch für sie, ein unterbrochenes oder vergessenes Gespräch plötzlich weiterzuführen. Sie vergaß kaum etwas von dem, was McCaleb zu ihr sagte. Bonnie Fox war eine kleine Frau, etwa in McCalebs Alter, mit frühzeitig ergrautem kurzem Haar. Weil er für eine größere Person entworfen war, reichte ihr der Laborkittel fast bis zu den Fußgelenken. Auf die Brusttasche war eine Umrissdarstellung des Kardiopulmonalbereichs gestickt, ihr Spezialgebiet als Chirurgin. Bei ihren Treffen war sie immer sehr nüchtern und sachlich. Sie strahlte sowohl Zuversicht als auch Mitgefühl aus, eine Mischung, die McCaleb bei Ärzten selten angetroffen hatte – und er hatte in den letzten Jahren mit vielen zu tun gehabt. Er erwiderte die Zuversicht und das Mitgefühl. Er mochte sie und vertraute ihr. Anfangs hatte ihn noch leichtes Unbehagen beschlichen bei dem Gedanken, dass er sein Leben eines Tages in die Hände dieser Frau legen würde. Aber dieses Unbehagen war rasch verflogen und bereitete ihm inzwischen nur noch Schuldgefühle. Als der Zeitpunkt der Transplantation kam, war ihr lächelndes Gesicht das Letzte gewesen, was er gesehen hatte, als er vor der Operation anästhesiert wurde. An diesem Punkt hatte er längst kein Unbehagen mehr verspürt. Und ihr lächelndes Gesicht war es gewesen, das ihn begrüßt hatte, als er mit einem neuen Herz und einem neuen Leben in die Welt zurückgekehrt war.

McCaleb betrachtete die Tatsache, dass sein Genesungsprozess in den acht Wochen seit der Transplantation kein einziges Mal ins Stocken geraten war, als Beweis dafür, dass sein Vertrauen in sie gerechtfertigt war. In den drei Jahren, die vergangen waren, seit er zum ersten Mal ihr Sprechzimmer betreten hatte, hatte sich zwischen ihnen eine Beziehung entwickelt, die weit über das rein Berufliche hinausging. Inzwischen waren sie gute Freunde, oder zumindest glaubte McCaleb das. Sie waren ein halbes Dutzend Mal zusammen essen gewesen und hatten unzählige angeregte Unterhaltungen geführt, die sich mit so unterschiedlichen Themen wie Klonen oder den O.-J.-Simpson-Prozessen befassten – McCaleb hatte über den Ausgang des ersten Prozesses mit ihr gewettet und hundert Dollar von ihr gewonnen, da er gemerkt hatte, dass sie ihr unerschütterliches Vertrauen in das Rechtssystem blind gemacht hatte für die rassenspezifischen Realitäten des Falls. Beim zweiten Prozess wollte sie nicht mehr gegen ihn wetten.

Egal, um welches Thema es sich handelte – McCaleb ertappte sich in der Hälfte der Fälle dabei, dass er automatisch die Gegenposition einnahm, weil es ihm einfach Spaß machte, mit ihr zu streiten. Jetzt schickte Bonnie Fox ihrer Frage einen Blick hinterher, der zum Ausdruck brachte, dass sie zu einem weiteren Wortgefecht bereit war.

»Ob wir das tun sollten«, sagte er und fuhr mit der Hand durch die Luft, als wollte er das ganze Krankenhaus einschließen. »Organe rausnehmen, neue einsetzen. Manchmal komme ich mir vor wie ein moderner Frankenstein, mit Körperteilen anderer Menschen in mir.«

»Ein anderer Mensch, ein anderer Körperteil. Übertreiben Sie nicht so.«

»Aber der wichtigste Teil. Wissen Sie, als ich noch beim FBI war, mussten wir jedes Jahr auf dem Schießstand eine Prüfung ablegen. Auf Zielscheiben schießen, wissen Sie. Und dabei war es immer das Beste, aufs Herz zu zielen. Der Kreis ums Herz zählt auf diesen Schießscheiben mehr als der Kopf. Er heißt Zehnerring. Dafür bekommt man die meisten Punkte.«

»Also, wenn das wieder auf die Frage Spielen-wir-da-nicht-Gott rausläuft, möchte ich eigentlich meinen, diesen Punkt hätten wir längst abgehakt.« Sie schüttelte den Kopf, lächelte und sah ihn ein paar Sekunden forschend an. Schließlich verflog das Lächeln.

»Also, wo drückt der Schuh?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe ein schlechtes Gewissen.«

»Weswegen? Dass Sie leben?«

»Ich weiß nicht.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Auch das haben wir schon zur Genüge durchgekaut. Für die Schuldgefühle der Überlebenden habe ich keine Zeit. Sehen Sie sich doch mal die Wahlmöglichkeiten an. Die Sache ist doch ganz einfach. Auf der einen Seite haben Sie das Leben, auf der anderen den Tod. Was gibt es da groß zu überlegen? Und wo soll da vor allem ein Grund sein, ein schlechtes Gewissen zu haben?«

Er hob zum Zeichen seiner Kapitulation die Hände. Sie brachte die Dinge immer auf den Punkt.

»Typisch«, sagte sie, nicht bereit, ihn so einfach davonkommen zu lassen. »Da warten Sie fast zwei Jahre auf ein Herz und machen es so spannend, dass Sie es um ein Haar nicht schaffen, und jetzt fragen Sie sich, ob wir es Ihnen überhaupt hätten einpflanzen sollen. Also, was ist los, Terry? Ich habe wirklich keine Zeit, um solche hirnrissigen Diskussionen zu führen.«

Er sah sie an. Sie hatte ein unheimliches Talent entwickelt, ihn zu durchschauen. Das war etwas, was alle wirklich guten FBI-Agenten und Polizisten, die er kannte, gehabt hatten. Nach kurzem Zögern beschloss er, ihr zu sagen, was ihn beschäftigte.

»Wahrscheinlich möchte ich nur wissen, wie es kommt, dass Sie mir nicht erzählt haben, dass die Frau, deren Herz ich bekommen habe, ermordet wurde.«

Sie fiel sichtlich aus allen Wolken. Der Schock über seine Behauptung war ihr deutlich anzusehen.

»Ermordet? Was soll das heißen?«

»Sie wurde ermordet.«

»Wie?«

»Das weiß ich nicht genau. Sie wurde bei einem Raubüberfall auf einen Laden oben im Valley ermordet. Kopfschuss. Sie starb, und ich bekam ihr Herz.«

»Eigentlich dürften Sie nichts über Ihren Spender wissen. Woher wissen Sie das?«

»Weil am Samstag ihre Schwester bei mir war. Sie hat mir alles erzählt … Das ändert einiges, oder nicht?«

Bonnie Fox setzte sich auf das Krankenhausbett und beugte sich über ihn. Über ihr Gesicht legte sich ein strenger Ausdruck.

»Zuallererst: Ich hatte keine Ahnung, woher Ihr Herz kam. Das erfahren wir nie. Es kam von BOPRA. Alles, was wir gesagt bekamen, war, dass ein Organ mit passendem Blutbild für einen Empfänger verfügbar wäre, den wir ganz oben auf unserer Liste stehen hätten. Das waren Sie. Sie wissen, wie das bei BOPRA gehandhabt wird. Sie haben sich bei der Beratung den Film angesehen. Wir erhalten nur sehr begrenzte Informationen, weil es so für alle am Besten ist. Ich habe Ihnen alles erzählt, was wir wussten. Eine Frau, sechsundzwanzig Jahre alt, wenn ich mich richtig erinnere. Optimaler Gesundheitszustand, optimale Blutgruppe, optimaler Spender. Das war alles.«

»Dann tut es mir leid. Ich dachte, Sie wüssten vielleicht mehr und hätten es mir verschwiegen.«

»Ich wusste es nicht. Wir wussten es nicht. Aber wenn wir nicht wussten, woher und von wem es kam, woher wusste dann die Schwester, an wen und wohin es ging? Wie hat sie Sie gefunden? Vielleicht steckt da irgendein Schwindel dahinter, den sie …«

»Nein. Sie ist es. Ich bin ganz sicher.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Der Zeitungsartikel letzte Woche, diese ›Was-wurde-aus …‹-Kolumne im Lokalteil der Times. Darin stand, dass ich das Herz am neunten Februar bekam und lange darauf warten musste, weil ich eine seltene Blutgruppe habe. Das las die Schwester und zog ihre Schlüsse daraus. Sie wusste, wann ihre Schwester gestorben war, sie wusste, dass ihr Herz gespendet wurde, und sie wusste, dass sie ebenfalls eine seltene Blutgruppe hatte. Sie arbeitet in der Notaufnahme oben im Holy Cross als Krankenschwester und ist zu dem Schluss gekommen, dass ich es war.«

»Das heißt trotzdem nicht, dass Sie das Herz ihrer Schwester …«

»Sie hatte auch den Brief, den ich geschrieben habe.«

»Was für einen Brief?«

»Den Brief, den jeder hinterher schreibt. Den anonymen Dank, den man der Familie seines Spenders ausspricht. Den das Krankenhaus verschickt. Sie hatte meinen. Ich hab ihn mir angesehen, und es war meiner. Ich weiß noch, was ich geschrieben habe.«

»So etwas dürfte eigentlich nicht passieren, Terry. Was will sie? Geld?«

»Nein, kein Geld. Verstehen Sie denn nicht? Sie möchte, dass ich rausfinde, wer es war. Wer ihre Schwester umgebracht hat. Die Cops haben den Fall nicht gelöst. Inzwischen sind zwei Monate vergangen, und niemand ist festgenommen worden. Sie weiß, sie haben aufgegeben. Dann liest sie in der Zeitung diesen Bericht über mich und was ich mal beim FBI gemacht habe. Sie kriegt raus, dass ich das Herz ihrer Schwester habe, und denkt, vielleicht gelingt mir, wozu die Polizei offensichtlich nicht in der Lage ist. Vielleicht kann ich den Fall lösen. Sie ist am Samstag eine Stunde im Jachthafen von San Pedro rumgelaufen, um mein Boot zu finden. Alles, was sie hatte, war der Name meines Boots, den sie aus der Zeitung hatte. Sie hat nach mir gesucht.«

»Das darf doch nicht wahr sein. Sagen Sie mir den Namen dieser Frau, und ich …«

»Nein. Ich möchte nicht, dass Sie irgendetwas gegen sie unternehmen. Stellen Sie sich vor, Sie wären sie und hätten Ihre Schwester sehr gern gemocht. Dann würden Sie doch genauso handeln.«

Mit großen Augen erhob sich Bonnie Fox vom Bett.

»Sie haben doch nicht etwa vor, das tatsächlich zu tun!«

Das war weniger eine Frage als eine Feststellung, ein ärztlicher Befehl. Er antwortete nicht, und das allein war Antwort genug. Er konnte sehen, wie sich ihr Gesicht wieder zornig umwölkte.

»Hören Sie mir mal gut zu. Sie sind nicht in der Verfassung, so etwas zu tun. Sie haben gerade sechzig Tage ein neues Herz, und jetzt möchten Sie losziehen und Detektiv spielen?«

»Ich denke doch nur darüber nach, okay? Ich habe ihr gesagt, ich denke darüber nach. Ich kenne die Risiken. Ich weiß auch, dass ich kein FBI-Agent mehr bin. Es wäre etwas völlig anderes.«

Ärgerlich verschränkte Bonnie Fox ihre dünnen Arme über der Brust.

»Über so etwas sollten Sie nicht mal nachdenken. Als Ihre Ärztin verbiete ich Ihnen, das zu tun. Das ist ein Befehl.«

Dann änderte sich der Tonfall ihrer Stimme und wurde weicher.

»Sie müssen vor dem Geschenk, das Sie erhalten haben, Achtung zeigen, Terry. Vor dieser zweiten Chance.«

»Bloß geht diese Achtung in zwei Richtungen. Wenn ich ihr Herz nicht hätte, wäre ich jetzt tot. Ich bin ihr was schuldig. Es ist doch so, dass …«

»Sie sind ihr oder ihrer Familie nicht mehr schuldig als diesen Brief, den Sie uns für Sie haben abschicken lassen. Das ist alles. Sie wäre tot, und zwar völlig unabhängig davon, ob Sie oder irgendjemand anderer ihr Herz bekommen hätte. Da täuschen Sie sich.«

Er gab ihr zwar durch ein Nicken zu verstehen, dass er ihren Standpunkt begriff, aber zufriedengeben konnte er sich damit trotzdem nicht. Bloß weil etwas im Kopf einen Sinn ergab, hieß das noch lange nicht, dass es das auch im Bauch tat. Sie las seine Gedanken.

»Aber?«

»Ich weiß nicht. Es ist nur, dass ich immer dachte, wenn ich mal rausfände, wie es passiert ist, würde sich herausstellen, es war ein Unfall. Das ist, worauf ich mich vorbereitet habe. Das ist, was sie einem bei der Beratung sagen, und das haben sogar Sie mir erzählt, als wir anfingen. Dass es in neunundneunzig von hundert Fällen ein Unfall ist, der zu einer tödlichen Kopfverletzung geführt hat. Ein Verkehrsunfall oder jemand fällt die Treppe runter oder stürzt mit dem Motorrad. Aber das hier ist etwas völlig anderes. Das ändert einiges.«

»Das sagen Sie schon die ganze Zeit. Was soll es schon groß ändern? Das Herz ist nur ein Organ – eine biologische Pumpe. Es bleibt das Gleiche, egal wie sein ursprünglicher Besitzer gestorben ist.«

»Mit einem Unfall könnte ich leben. Als ich in dem Wissen, jemand müsste sterben, damit ich weiterleben könnte, auf ein neues Herz wartete, stellte ich mich innerlich darauf ein, mich damit abzufinden, wenn es ein Unfall wäre. Bei einem Unfall ist es, als wäre es Schicksal oder so was. Aber bei einem Mord … bei einem Mord ist böse Absicht mit im Spiel. Dann ist es kein Zufall mehr. Das heißt also, ich bin der Nutznießer einer bösen Tat, Frau Doktor, und das ist es, was sich geändert hat.«

Bonnie Fox schwieg eine Weile. Sie schob die Hände in die Taschen ihres Kittels. McCaleb dachte, dass sie seinen Standpunkt langsam zu verstehen begann.

»Das ist, worum sich lange Zeit mein ganzes Leben gedreht hat«, fügte er ruhig hinzu. »Ich spürte das Böse auf. Das war mein Job. Und ich war gut darin, aber auf lange Sicht war es besser als ich. Es hat mich besiegt. Ich denke – nein, ich weiß –, das ist es, was mein Herz geschafft hat. Aber jetzt ist es so, als hätte das alles nichts zu bedeuten, denn hier bin ich, ich habe dieses neue Herz, ein neues Leben, eine zweite Chance, wie Sie es nennen, und der einzige Grund, weshalb ich es habe, ist diese böse, verabscheuungswürdige Tat, die jemand begangen hat.«

Er atmete tief aus, bevor er fortfuhr:

»Sie ging in diesen Laden, um für ihren Sohn Süßigkeiten zu kaufen, und am Ende war sie … Das ist einfach etwas anderes. Auch wenn ich es nicht erklären kann.«

»Das ergibt alles nicht sonderlich viel Sinn.«

»Es fällt mir schwer, es in Worte zu fassen. Ich weiß nur, was ich fühle. Und das ergibt für mich einen Sinn.«

In Bonnie Fox’ Miene machte sich Resignation breit.

»Schauen Sie, ich weiß, was Sie tun möchten. Sie möchten dieser Frau helfen. Aber dazu sind Sie noch nicht in der Lage. Körperlich auf gar keinen Fall. Und psychisch? Dem nach zu schließen, was Sie gerade gesagt haben, sind Sie meiner Meinung nach nicht mal in der Lage, einen Autounfall zu bearbeiten. Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen über die Balance zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit gesagt habe? Die eine zehrt von der anderen. Und ich mache mir Sorgen – was im Moment in Ihrem Kopf vor sich geht, könnte Ihren körperlichen Genesungsprozess beeinträchtigen.«

»Ich verstehe.«

»Nein, ich glaube nicht, dass Sie das tun. Sie spielen hier mit Ihrem Leben. Wenn hier irgendwelche Probleme auftreten, wenn Sie eine Infektion oder eine Abstoßungsreaktion bekommen, werden wir Ihnen nicht helfen können, Terry. Zweiundzwanzig Monate haben wir auf das Herz gewartet, das Sie jetzt haben. Glauben Sie etwa, wenn Sie das hier ruinieren, taucht gleich das nächste mit einem passenden Blutbild auf? Machen Sie sich da mal bloß keine Illusionen. Ich habe hier auf dem Gang einen Patienten an der Maschine hängen. Er wartet auf ein Herz, das nicht kommt. So könnte es Ihnen auch gehen, Terry. Das ist Ihre einzige Chance. Vermasseln Sie sie nicht!«

Sie langte über das Bett und legte ihre Hand auf seine Brust. Es erinnerte ihn an das, was Graciela Rivers getan hatte. Er konnte ihre Wärme spüren.

»Sagen Sie dieser Frau Nein. Helfen Sie sich selbst, und sagen Sie ihr Nein.«

3

Der Mond war wie ein Ballon, der von Kindern, die mitStöcken nach ihm stießen, am Fliegen gehalten wurde. Die Masten Dutzender Segelboote ragten unter ihm hoch, bereit, ihn vor dem Fallen zu bewahren. McCaleb beobachtete ihn so lange am schwarzen Himmel, bis er schließlich entkam, indem er irgendwo draußen über Catalina hinter die Wolken schlüpfte. Nicht das schlechteste Versteck, dachte McCaleb, als er auf die leere Kaffeetasse in seiner Hand hinabsah. Er vermisste es, am Ende eines Tages nicht mehr mit einem eiskalten Bier in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen im Heck sitzen zu können. Bloß waren Zigaretten ein Teil seines Problems gewesen und mittlerweile endgültig passé. Und es würde noch ein paar Monate dauern, bis die medikamentöse Therapie so weit zurückgeschraubt wurde, um Platz für ein Quentchen Alkohol zu schaffen. Wenn er zurzeit auch nur ein Bier trank, konnte er das bekommen, was Bonnie Fox einen tödlichen Kater nannte.

McCaleb stand auf und ging in die Kajüte. Zuerst versuchte er am Kombüsentisch zu sitzen, aber bald stand er wieder auf, schaltete den Fernseher an und zappte durch die Programme, ohne wirklich zu registrieren, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Er machte ihn wieder aus und wandte sich dem Durcheinander auf dem Kartentisch zu, merkte aber, dass es auch dort nichts für ihn gab. Er wanderte in der Kajüte herum und suchte nach etwas, das ihn von seinen Gedanken ablenken könnte. Aber es gab nichts.

Er stieg die Treppe hinunter. Er nahm das Fieberthermometer aus dem Arzneischrank, schüttelte es und steckte es sich unter die Zunge. Es war eins dieser altmodischen Quecksilberthermometer. Das elektronische Thermometer mit Digitalanzeige, das er im Krankenhaus bekommen hatte, lag immer noch in seiner Verpackung im Schrank. Aus irgendeinem Grund traute er ihm nicht.

Während er sich im Spiegel betrachtete, zog er den Kragen seines Hemds beiseite und untersuchte die kleine Wunde von der Biopsie an diesem Morgen. Sie kam nie dazu, richtig zu heilen. Er hatte schon so viele Biopsien bekommen, dass der Einschnitt jedes Mal gerade von frischer Haut überzogen war, wenn er wieder geöffnet und der Katheter erneut in die Arterie geschoben wurde. Er wusste, der Einschnitt würde genauso wie die dreiunddreißig Zentimeter lange Narbe auf seiner Brust zu einem dauerhaften Kennzeichen werden. Während er sich selbst ansah, wanderten seine Gedanken zu seinem Vater weiter. Er erinnerte sich an die dauerhaften Kennzeichen, die Tätowierungen, die am Hals des alten Mannes geblieben waren. Koordinaten einer Bestrahlungsschlacht, die nur dem Zweck gedient hatte, das Unvermeidliche hinauszuschieben.

Die Körpertemperatur war normal. Er säuberte das Thermometer und legte es zurück, dann nahm er das Klemmbrett mit der Temperaturtabelle vom Handtuchhaken, trug Datum und Uhrzeit ein und machte zum Zeichen, dass keine Veränderung eingetreten war, in der letzten Spalte, unter TEMPERATUR, einen weiteren Strich.

Nachdem er das Brett wieder aufgehängt hatte, beugte er sich vor, um seine Augen im Spiegel zu betrachten. Grün mit grauen Sprenkeln, die Hornhaut mit feinen roten Rissen. Er trat zurück und zog das Hemd aus. Der Spiegel war klein, aber er konnte die Narbe trotzdem noch sehen, weißlich rosa und dick, hässlich. Das tat er oft: sich begutachten. Der Grund dafür war, dass er sich nicht damit abfinden konnte, wie sein Körper jetzt aussah und dass er ihn total im Stich gelassen hatte. Kardiomyopathie. Bonnie Fox hatte ihm erklärt, es sei ein Virus gewesen, das möglicherweise schon Jahre in seinen Herzwänden gelauert hatte, nur um durch irgendeinen Zufall freigesetzt und vom Stress genährt zu werden. Die Erklärung war ihm ein schwacher Trost. Sie änderte nichts an dem Gefühl, dass der Mann, der er einmal gewesen war, für immer der Vergangenheit angehörte. Manchmal, wenn er sich ansah, war es, als sähe er einen Fremden vor sich, jemanden, den das Leben niedergeschlagen und verwundbar gemacht hatte.

Nachdem er sein Hemd wieder angezogen hatte, ging er in die Bugkabine. Es war ein dreieckiger Raum, dessen seitliche Begrenzungen dem Verlauf des Bugs folgten. Backbord befand sich ein Stockbett und steuerbord eine Reihe von Lagerfächern. Das untere Bett hatte er zu einem Schreibtisch umfunktioniert, im oberen lagerte er Kartons mit alten FBI-Akten. Auf die Seiten der Schachteln waren die Namen der Ermittlungsverfahren geschrieben: Poet, Code, Tierkreis, Vollmond und Bremmer. Auf zwei der Schachteln stand Verschiedene Unsub. Vor seinem Ausscheiden hatte McCaleb die meisten seiner Akten kopiert. Es war gegen die Vorschriften, aber niemand hatte ihn daran gehindert. Die Akten in den Schachteln stammten von verschiedenen Fällen, offenen und abgeschlossenen. Einige füllten einen ganzen Karton, einige waren so dünn, dass sie noch Platz für andere ließen. Er war nicht sicher, warum er alles kopiert hatte. Seit seinem Ausscheiden hatte er keine einzige dieser Schachteln geöffnet. Aber phasenweise hatte er mit dem Gedanken gespielt, ein Buch zu schreiben oder zu den offenen Fällen vielleicht sogar weitere Ermittlungen anzustellen. Vor allem gefiel ihm jedoch die Vorstellung, die Akten als greifbaren Beleg oder Beweis dafür zu haben, was er mit dieser Phase seines Lebens angestellt hatte.

McCaleb setzte sich an den Schreibtisch und machte die Wandlampe an. Einen Moment lang fiel sein Blick auf die FBI-Dienstmarke, die er sechzehn Jahre getragen hatte. Jetzt hing sie, in Lucite gegossen, über dem Schreibtisch an der Wand. Daneben war ein Foto eines jungen Mädchens mit einer Zahnspange festgesteckt, das in die Kamera lächelte. Es war vor vielen Jahren aus einem Jahrbuch kopiert worden. Die Erinnerung ließ McCaleb stirnrunzelnd den Blick abwenden und auf das Durcheinander auf seinem Schreibtisch senken.

Dort lagen eine Handvoll Rechnungen und Quittungen herum, ein Ziehharmonikaordner mit ärztlichen Unterlagen, ein Stapel meistens leerer brauner Umschläge, drei Reklamezettel konkurrierender Trockendockfirmen und die Hafenordnung der Cabrillo Marina. Sein offen daliegendes Scheckheft wartete darauf, benutzt zu werden, aber er konnte sich nicht zu so etwas Trivialem durchringen wie Rechnungen zu bezahlen. Nicht jetzt. Er war rastlos, aber nicht, weil es an Dingen fehlte, die ihn beschäftigten. Er musste ständig an Graciela Rivers’ Besuch denken und an die plötzliche Veränderung, die er in ihm ausgelöst hatte.

Er stöberte in dem Durcheinander auf dem Schreibtisch, bis er den Zeitungsausschnitt fand, der die Frau zu seinem Boot geführt hatte. Er hatte den Artikel am Tag seines Erscheinens gelesen, ausgeschnitten und dann zu vergessen versucht. Aber das war ihm nicht gelungen. Der Bericht hatte eine nicht abreißende Prozession von Opfern zu seinem Boot gelockt. Die Mutter, deren halbwüchsige Tochter unten in Redondo tot und verstümmelt am Strand gefunden worden war; die Eltern, deren Sohn in einem Apartment in West Hollywood erhängt worden war; der junge Ehemann, dessen Frau nach einem Streifzug durch die Clubs am Sunset Strip nicht mehr aufgetaucht war. Und da waren noch andere gewesen. Alle Zombies, fast gelähmt vor Schmerz und Enttäuschung über ihren betrogenen Glauben an einen Gott, der solche Dinge nicht zuließ. McCaleb konnte sie nicht trösten, konnte ihnen nicht helfen. Er schickte sie wieder fort.

Zu dem Zeitungsinterview hatte er sich nur bereit erklärt, weil er der Journalistin etwas schuldig war. Als er noch beim FBI gewesen war, hatte sich Keisha Russell ihm gegenüber immer anständig verhalten. Sie gehörte zu der Sorte Journalisten, die nicht nur nahmen, sondern auch manchmal gaben. Vor einem Monat hatte sie ihn auf dem Boot angerufen, um ihre Schulden einzufordern. Sie hatte den Auftrag erhalten, etwas für die jeden Sonntag erscheinende »Was-wurde-aus …«-Kolumne zu schreiben. Da sie ein Jahr zuvor einen Bericht über McCalebs Warten auf ein neues Herz geschrieben hatte, wollte sie jetzt, da die Transplantation endlich hatte durchgeführt werden können, einen Folgeartikel veröffentlichen. Da er wusste, der Bericht würde das Ende des zurückgezogenen Lebens bedeuten, das er inzwischen führte, hätte McCaleb ihre Bitte am liebsten abgelehnt, aber Keisha Russell hatte ihn an die vielen Gelegenheiten erinnert, in denen sie ihm geholfen hatte – indem sie, je nachdem, was McCaleb für das beste gehalten hatte, Einzelheiten eines Ermittlungsverfahrens entweder zurückgehalten oder in eine Meldung hatte einfließen lassen. McCaleb hatte das Gefühl gehabt, keine Wahl zu haben. Er zahlte seine Schulden immer zurück.

An dem Tag, als der Artikel erschien, hatte ihn McCaleb als offizielle Bestätigung dafür gesehen, dass er nun endgültig zum alten Eisen gehörte. Gegenstand dieser Kolumne waren normalerweise ehemalige Karrierepolitiker, die von der politischen Bühne abgetreten waren, oder Leute, deren fünfzehn Minuten Ruhm schon lange verblasst waren. Ab und zu wurde auch ein ehemaliger Fernsehstar vorgestellt, der jetzt Grundstücke verkaufte oder Maler geworden war, weil er darin seine wahre künstlerische Berufung entdeckt hatte.

Er faltete den Ausschnitt auseinander und las ihn erneut.

Neues Herz und neues Leben

für ehemaligen FBI-Agenten

 

von Keisha Russell

Redaktionsmitglied der TIMES

Es ist noch nicht allzu lange her, dass Terrell McCalebs Gesicht aus den abendlichen Nachrichtensendungen über Los Angeles kaum mehr wegzudenken war und die Lokalzeitungen immer Platz fanden für seine Statements. Diese Medienpräsenz war jedoch weder für ihn noch für die Stadt erfreulich.

McCaleb, seines Zeichens FBI-Agent, war bei der Fahndung nach der Handvoll Serienmörder, die Los Angeles und die Westküste in den letzten zehn Jahren heimgesucht haben, das Aushängeschild des Bureau.

Als Mitglied der Fahndungshilfeeinheit des FBI unterstützte McCaleb die örtliche Polizei bei ihren Ermittlungen. Versiert im Umgang mit den Medien und immer zitierbar, stand er oft im Rampenlicht – was ihm bei den örtlichen Polizeibehörden und bei seinen Vorgesetzten in Quantico, Va., nicht nur Freunde schuf.

Aber nun sind schon mehr als zwei Jahre vergangen, ohne dass er auch nur einen Leuchtpunkt auf dem Radarschirm der Öffentlichkeit hinterlassen hätte. Neuerdings trägt McCaleb kein Abzeichen und keine Waffe mehr. Seinen Aussagen zufolge besitzt er nicht einmal mehr einen dunkelblauen FBI-Standardanzug.

Stattdessen trägt er mittlerweile meistens alte Bluejeans und zerrissene T-Shirts und ist damit beschäftigt, sein 42 Fuß langes Fischerboot The Following Sea in Schuss zu bringen. McCaleb, 46, wurde in Los Angeles geboren, wuchs in Avalon auf Catalina Island auf und lebt gegenwärtig in einem der Jachthäfen von San Pedro auf seinem Boot, will aber demnächst nach Avalon Harbor umziehen.

Nach seiner Herztransplantation, so McCaleb, gilt sein Interesse gänzlich anderen Dingen, als Serienmörder und Sexualverbrecher zu jagen. Er sei zwar während seiner Tätigkeit für das FBI im wahrsten Sinne des Wortes mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen – laut Aussagen seiner Ärzte wurde sein Herz durch ein von extremem Stress ausgelöstes Virus lebensbedrohlich geschwächt –, aber er trauere dieser Zeit nicht nach.

»Eine so einschneidende Erfahrung verändert einen nicht nur in körperlicher Hinsicht«, erklärte er dazu letzte Woche in einem Interview. »Sie rückt die Dinge wieder in die richtige Perspektive. Mit einem Mal scheint die Zeit beim FBI sehr weit zurückzuliegen. Für mich beginnt jetzt ein völlig neues Leben. Ich weiß noch nicht genau, was ich damit anfangen werde, aber ich mache mir keine großen Sorgen. Irgendetwas finde ich bestimmt.«

Fast hätte McCaleb die Chance für diesen Neuanfang jedoch nicht bekommen. Da er eine Blutgruppe hat, die bei weniger als einem Prozent der amerikanischen Bevölkerung auftritt, musste er fast zwei Jahre auf ein geeignetes Spenderherz warten.

»Er hat es wirklich bis auf den letzten Moment rausgezogen«, sagte Dr. Bonnie Fox, die Chirurgin, die die Transplantation vornahm. »Hätten wir noch viel länger warten müssen, wäre wahrscheinlich jede Hilfe für ihn zu spät gekommen, oder er wäre zu sehr geschwächt gewesen, um sich einem so schweren Eingriff zu unterziehen.«

Inzwischen wurde McCaleb aus dem Krankenhaus entlassen und ist acht Wochen nach der Operation auch schon wieder körperlich aktiv. Seinen Aussagen zufolge denkt er nur noch ab und zu an die nervenaufreibenden Ermittlungen, die ihn einmal beschäftigten.

Die Liste der Fälle des ehemaligen Agenten liest sich wie das Who’s who einer makabren Ruhmeshalle des Verbrechens. Unter den Fällen, mit denen er sich hier befasste, waren der Nightstalker und der Poet; außerdem spielte er eine entscheidende Rolle bei der Jagd nach dem Code Killer, dem Sunset Strip Strangler und Luther Hatch, der nach seiner Festnahme wegen seiner Besuche an den Gräbern seiner Opfer den Namen Friedhofsmann erhielt.

Ursprünglich war McCaleb im FBI-Hauptquartier in Quantico mehrere Jahre lang mit der Erstellung von Psychogrammen befasst. Dabei spezialisierte er sich auf Fälle an der Westküste und wurde oft nach Los Angeles eingeflogen, um die lokalen Polizeibehörden bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Schließlich beschlossen die Leiter seiner Einheit, an der Westküste eine Zweigstelle einzurichten, worauf McCaleb in seine Geburtsstadt Los Angeles zurückkehrte, um künftig von der FBI-Außendienststelle in Westwood zu operieren. Dank dieser Maßnahme befand er sich nun bei zahlreichen Ermittlungsverfahren, bei denen das FBI hinzugezogen wurde, mehr oder weniger vor Ort.

Nicht alle diese Ermittlungen verliefen erfolgreich, und schließlich forderte der enorme Stress seinen Tribut. Als er eines Abends noch spät in seinem Büro arbeitete, erlitt McCaleb einen Herzinfarkt. Er wurde von einem Hausmeister gefunden, der ihm dadurch das Leben rettete. Die Ärzte stellten fest, dass McCaleb an fortgeschrittener Kardiomyopathie – einem Erschlaffen der Herzmuskeln – litt, und meldeten ihn für eine Transplantation an. Während er auf seine Operation wartete, versetzte ihn das FBI wegen Arbeitsunfähigkeit in den Ruhestand.

Er tauschte seinen FBI-Pager gegen einen Krankenhaus-Pager ein, der schließlich am 9. Februar ertönte: Ein Spenderherz mit einer passenden Blutgruppe war verfügbar. Nach einer sechsstündigen Operation im Cedars-Sinai Hospital schlug das Spenderherz in McCalebs Brust.

McCaleb ist sich noch nicht im Klaren darüber, was er mit seinem neuen Leben anfangen wird – außer mit seinem Boot zum Fischen rauszufahren. Er hat verschiedene Angebote von ehemaligen FBI-Agenten und Polizisten, als Privatdetektiv oder Sicherheitsberater mit ihnen zusammenzuarbeiten. Aber vorläufig gilt sein Interesse vor allem der Renovierung der Following Sea, eines zwanzig Jahre alten Sportfischerboots, das er von seinem Vater geerbt hat. Nach sechs Jahren völliger Vernachlässigung erfreut sich das Boot mittlerweile McCalebs uneingeschränkter Aufmerksamkeit.

»Im Augenblick bin ich ganz zufrieden damit, alles etwas langsamer anzugehen«, sagt er selbst. »Ich lasse die Dinge einfach auf mich zukommen.«

Er hat wenig Grund zu klagen, aber wie alle Detektive und Fischer im Ruhestand trauert McCaleb denen nach, die ihm entkommen sind. »Ich finde es schade, dass ich nicht alle Fälle lösen konnte. Es hat mich schrecklich gewurmt, wenn jemand davonkam. Und es wurmt mich immer noch.«

 

Einen Moment lang betrachtete McCaleb das Foto, das dem Bericht beigefügt war. Es war eine alte Porträtaufnahme, die sie schon während seiner Zeit beim FBI häufig verwendet hatten. Seine Augen blickten darauf herausfordernd in die Kamera.

Als Keisha Russell vorbeigekommen war, um den Bericht über ihn zu schreiben, hatte sie einen Fotografen mitgebracht. Aber McCaleb wollte sie keine neue Aufnahme machen lassen. Er bat sie, eins der alten Fotos zu verwenden. Er wollte nicht, dass jemand sah, wie er jetzt aussah.

Nicht, dass man einen großen Unterschied gemerkt hätte, wenn er nicht gerade kein Hemd angehabt hätte. Er war etwa fünfzehn Kilo leichter, aber das war es nicht, was er verbergen wollte. Es waren die Augen. Er hatte nicht mehr diesen Blick – nicht mehr diese Augen mit der Durchschlagskraft von Geschossen. Er wollte niemanden sehen lassen, dass er das verloren hatte.

Er faltete den Zeitungsausschnitt zusammen und legte ihn beiseite. Er trommelte eine Weile mit den Fingern auf den Schreibtisch, während er über alles Mögliche nachdachte, und sah dann zu dem stählernen Papierdorn neben dem Telefon. Die Nummer, die ihm Graciela Rivers gegeben hatte, war mit Bleistift auf das Stück Papier gekritzelt, das ganz oben auf den aufgespießten Zetteln steckte.

 

Als er noch Agent war, verfügte er über ein unerschöpfliches Reservoir an Wut auf die Männer, die er jagte. Er hatte aus erster Hand mitbekommen, was sie getan hatten, und er wollte sie für die schrecklichen Manifestationen ihrer Phantasien zahlen lassen. Blutschulden hatten mit Blut bezahlt zu werden. Das war der Grund, warum die Agenten der Serienmördereinheit des FBI ihre Tätigkeit als »Blutarbeit« bezeichneten. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Und deshalb ließ es ihm keine Ruhe, wenn einer nicht zahlte. Wenn einer davonkam.

Jetzt ließ ihm keine Ruhe, was Gloria Torres zugestoßen war. Er war am Leben, weil sie vom Bösen dahingerafft worden war. Graciela hatte ihm die Geschichte erzählt. Gloria hatte aus keinem anderen Grund sterben müssen, als dass sie zwischen jemandem und einer Registrierkasse gestanden hatte. Es war ein belangloser, idiotischer und entsetzlicher Grund zu sterben. Irgendwie fühlte sich McCaleb dadurch in die Pflicht genommen. Ihr und ihrem Sohn gegenüber, Graciela gegenüber, sogar sich selbst gegenüber.

 

Er nahm den Hörer ab und wählte die auf den Zettel gekritzelte Nummer. Es war spät, aber er wollte nicht warten und glaubte auch nicht, dass sie wollte, dass er wartete. Schon nach dem ersten Läuten meldete sie sich mit einem Flüstern.

»Miss Rivers?«

»Ja.«

»Hier spricht Terry McCaleb. Sie sind bei mir …«

»Ja.«

»Störe ich gerade?«

»Nein.«

»Gut, dann hören Sie. Ich wollte Ihnen sagen, dass ich, äh, über die ganze Sache nachgedacht habe, und ich hatte Ihnen versprochen, auf jeden Fall anzurufen, egal wie ich mich entscheiden würde.«

»Ja.«

In diesem einen Wort schwang ein hoffnungsvoller Ton mit. Er rührte sein Herz an.

»Also, ich denke Folgendes. Meine, äh, meine Fähigkeiten, wie Sie sie wahrscheinlich nennen würden, also, sie sind eigentlich für diese Art von Verbrechen gar nicht geeignet. Nach dem, was Sie mir über Ihre Schwester erzählt haben, handelt es sich hier um einen Willkürakt mit einem finanziellen Motiv. Ein Raubüberfall. Wissen Sie, das ist etwas völlig anderes als die Fälle, die ich beim FBI bearbeitet habe, die Serienmorde.«

»Ich verstehe.«

Der hoffnungsvolle Ton verflog.

»Nein, damit will ich nicht sagen, dass ich nicht – wissen Sie, dass ich nicht interessiert bin. Ich rufe an, weil ich morgen zur Polizei gehe und mich mal kundig machen werde. Aber …«

»Danke.«

»… ich weiß nicht, ob dabei viel herauskommen wird. Das ist es, was ich Ihnen sagen möchte. Ich möchte nicht, dass Sie sich irgendwelche Hoffnungen machen, darum geht es mir. So etwas … Ich weiß nicht.«

»Ich verstehe. Danke, dass Sie wenigstens bereit sind, das zu tun. Niemand …«

»Also, ich werde mir das mal näher ansehen«, schnitt er ihr das Wort ab. Er wollte nicht, dass sie ihm zu viel dankte. »Ich weiß nicht, inwieweit mir die Polizei von L.A. hilft oder mit mir kooperiert, aber ich werde tun, was ich kann. Zumindest soviel bin ich Ihrer Schwester schuldig. Einen Versuch.«

Sie schwieg weiter, und er sagte ihr, er bräuchte einige zusätzliche Angaben über ihre Schwester sowie die Namen der LAPD-Detectives, die den Fall bearbeiteten. Sie sprachen noch etwa zehn Minuten, und als er sich alles, was er wissen musste, in einem kleinen Notizbuch notiert hatte, kroch ein unbehagliches Schweigen durch die Leitung.

»Tja«, sagte er schließlich. »Das wär’s, glaube ich, fürs Erste. Ich rufe Sie an, wenn ich weitere Fragen habe oder wenn sonst etwas ansteht.«

»Nochmals vielen Dank.«

»Irgendetwas sagt mir, dass ich Ihnen danken sollte. Ich bin froh, dass ich in der Lage bin, das zu tun. Ich hoffe nur, es nützt etwas.«

»Oh, das wird es bestimmt. Sie haben ihr Herz. Sie wird Sie führen.«

»Ja«, sagte er zögernd, ohne recht zu verstehen, was sie meinte oder warum er ihr zustimmte. »Ich rufe Sie an, wenn ich kann.«

Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er eine Weile das Telefon an und dachte dabei über ihren letzten Satz nach. Dann faltete er wieder den Zeitungsausschnitt mit seinem Foto auseinander. Er studierte lange die Augen.

Schließlich faltete er den Zeitungsausschnitt zusammen und versteckte ihn unter dem Papierkram auf dem Schreibtisch. Er blickte zu dem Mädchen mit der Zahnspange hoch, und nach einer Weile nickte er. Dann machte er das Licht aus.

4

Als McCaleb noch beim FBI war, nannten die Agenten,mit denen er zusammenarbeitete, diese Phase den ›schweren Tango‹. Damit war das raffinierte Balzen mit den örtlichen Polizeibehörden gemeint. Es war eine Sache des Selbstbewusstseins und der Revierverteidigung. Ein Hund pisst nicht in den Hof eines anderen Hundes. Nicht ohne Erlaubnis.

Man fand bei der Mordkommission keinen Detective, der kein gesundes Selbstbewusstsein hatte. Das war Grundvoraussetzung für diesen Job. Um ihn machen zu können, musste man sich absolut sicher sein, dass man den Anforderungen gewachsen war und dass man besser, schlauer, stärker, gerissener, geschickter und geduldiger war als sein Gegenspieler. Man musste schlicht und einfach wissen, dass man gewinnen würde. Und wenn man in dieser Hinsicht irgendwelche Zweifel hatte, ließ man es lieber sein und kümmerte sich um Einbrüche oder machte Streifendienst oder sonst was.

Das Problem war, dass dieses Selbstbewusstsein häufig so weit ging, dass manche Detectives die Einstellung, die sie ihren Widersachern gegenüber hatten, auch denen gegenüber an den Tag legten, die ihnen helfen wollten – Kollegen, insbesondere FBI-Agenten. Kein Polizist, der in einem Mordfall nicht mehr weiterkommt, lässt sich gern sagen, dass vielleicht jemand anders – schon gar nicht ein FBIler aus Quantico – ihm helfen oder die Sache besser machen könnte. McCaleb hatte die Erfahrung gemacht, dass es kein Cop, der irgendwann aufgab und einen Fall zu den Akten legte, gern sah, wenn ihn irgendjemand wieder hervorholte und ihn, den Cop, dumm dastehen ließ, indem er den Fall löste. Als FBI-Agent war McCaleb fast nie vom zuständigen Detective zu einem Fall hinzugezogen oder um Rat gefragt worden. Das war immer die Idee von dessen Vorgesetztem gewesen. Vorgesetzte kümmerten sich nicht um den verletzten Stolz oder das angeknackste Selbstbewusstsein ihrer Leute. Vorgesetzte interessierten nur gelöste Fälle und verbesserte Statistiken. Und deshalb wurde schließlich das FBI verständigt, worauf McCaleb anrückte und erst mal den üblichen Tanz mit dem zuständigen Detective absolvierte. Manchmal war es der geschmeidige Tanz eingespielter Partner. Aber häufiger war es ein schwerer Tango. Da wurde auf Zehen getreten und auf Gefühlen herumgetrampelt. In mehr als einem Fall hatte sich McCaleb des Verdachts nicht erwehren können, dass ihm der Detective, mit dem er zusammenarbeitete, Informationen vorenthielt oder sich diebisch freute, wenn er nichts dazu beitragen konnte, einen Verdächtigen zu identifizieren oder einen Fall zu lösen. Das war einfach Teil der kleinkarierten Revierkämpfe unter Gesetzeshütern. Vielleicht auch mal an das Opfer oder an dessen Familie zu denken war da oft nicht drin. Das war ein Luxus, den man sich selten leistete.

McCaleb war sicher, mit dem LAPD stand ihm ein schwerer Tango bevor. Da spielte es auch keine Rolle, dass sie bei ihren Ermittlungen im Fall Gloria Torres offensichtlich nicht mehr weiterkamen und deshalb Hilfe brauchen konnten. Zuallererst musste das eigene Revier verteidigt werden. Und um die Sache noch schlimmer zu machen – er war nicht mal mehr beim FBI. Er tanzte gewissermaßen splitternackt an, ohne Dienstmarke. Alles, was er dabeihatte, als er am Dienstagmorgen um halb acht in der West Valley Division eintraf, waren sein Lederbeutel und eine Schachtel Donuts. Er würde den schweren Tango ohne Musik tanzen müssen.

McCaleb hatte sich für diesen Zeitpunkt entschieden, weil er wusste, dass die meisten Detectives früh anfingen, damit sie früh aufhören konnten. Um diese Zeit hatte er am ehesten eine Chance, die zwei, die den Fall Gloria Torres bearbeiteten, in ihrem Büro anzutreffen. Graciela hatte ihm ihre Namen gegeben. Arrango und Walters. McCaleb kannte sie nicht, aber ihren Vorgesetzten, Lt. Dan Buskirk, hatte er vor einigen Jahren in Zusammenhang mit dem Code-Killer-Fall kennengelernt. Allerdings war ihre Bekanntschaft nur oberflächlich. McCaleb wusste nicht, was Buskirk von ihm hielt. Dennoch hielt er es für das Beste, sich ans Protokoll zu halten und bei Buskirk anzufangen, um sich dann hoffentlich bis zu Arrango und Walters vorarbeiten zu können.

Die West Valley Division befand sich in der Owensmouth Street in Reseda, was ein eigenartiger Standort für eine Polizeistation zu sein schien. Die meisten LAPD-Stationen befanden sich in gefährlichen Gegenden, in denen eine besonders starke Polizeipräsenz nötig war. Um sich gegen Schüsse aus vorbeifahrenden Autos zu schützen, waren vor den Eingängen sogar Betonmauern hochgezogen worden. Aber im West Valley war das anders. Hier gab es keine Barrieren. Die Station lag in einer Mittelschichtwohngegend. Auf der einen Seite befand sich eine Bibliothek, auf der anderen ein Park, und davor gab es jede Menge Parkplätze am Straßenrand. Auf der gegenüberliegenden Seite war die Straße von typischen San-Fernando-Valley-Ranchhäusern gesäumt.

Nachdem ihn das Taxi vor dem Gebäude abgesetzt hatte, betrat McCaleb die Eingangshalle, ging lässig salutierend an dem uniformierten Beamten hinter dem Schalter vorbei und steuerte, ohne zu zögern, auf den nach links führenden Gang zu. Weil die meisten Polizeistationen der Stadt nach dem gleichen Schema angelegt waren, wusste er, dass dort die Detectives ihre Büros hatten.

Der Uniformierte hielt ihn nicht auf, und das ermutigte McCaleb. Vielleicht lag es auch nur an der Schachtel Donuts, aber er führte es lieber darauf zurück, dass er es zumindest noch zum Teil rüberbrachte – das selbstsichere Auftreten eines Mannes, der eine Waffe und eine Dienstmarke trug. Er trug keines von beidem.