David Golder - Irène Némirovsky - E-Book

David Golder E-Book

Irène Némirovsky

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Beschreibung

Das gewaltige Porträt eines erbarmungslosen Machtmenschen

David Golder hat mit Spekulationen Ende der 1920er Jahre ein riesiges Vermögen angehäuft. Er ist ein mächtiger Mann und er geht über Leichen. Als sein Kompagnon Selbstmord begeht, weil Golder ihn ruiniert hat, ist dies der Anfang des Niedergangs von David Golder. Ihm wird vorgeführt, dass seine Frau, ja selbst seine über alles geliebte Tochter nur hinter seinem Geld her sind. Als Golder längst resigniert und verarmt seinem Ende entgegendämmert, tut sich noch einmal die Möglichkeit eines gewaltigen Geschäftscoups auf. Und Golder will es noch einmal, ein letztes Mal, allen zeigen.

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Seitenzahl: 212

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
 
GOLDER & MARCUS – KAUF UND VERKAUF VON ÖLPRODUKTEN FLUGZEUGTREIBSTOFF, LEICHTE, ...
 
Copyright
btb
Buch
David Golder, ein Meister der Hochfinanz, verhandelt mit seinem früheren Kompagnon Marcus. Es wird getrickst, jeder versucht den anderen zu täuschen und zu übervorteilen. Aber Golder hat die besseren Informationen, er weiß, daß Marcus ruiniert ist, wenn er ihm nicht hilft. Er hilft ihm nicht und schreit es ihm ins Gesicht. Doch als Golder am nächsten Tag erfährt, daß Marcus sich umgebracht hat, beginnt Golders eigener Niedergang. Er fährt zu seinem Anwesen an der Côte d’Azur, wo seine Frau residiert, sein Geld für ein Leben in Glanz und Glamour verschwendet. Golder liebt seine Tochter über alles, aber auch sie ist nur hinter seinem Geld her. Golder verbittert, die Wirtschaftskrise von 1929 ruiniert auch ihn, er vegetiert verarmt vor sich hin, er hat mit der Welt und seinem Leben abgeschlossen. Doch als er von einer Möglichkeit erfährt, mit den Russen ein Spekulationsgeschäft ungeahnten Ausmaßes zu machen, rafft er sich auf, reist mit seinen letzten Kräften nach Moskau und will es noch einmal, ein letztes Mal allen zeigen...
 
Autorin
Die Jüdin Irène Némirovsky wird als Tochter eines reichen russischen Bankiers 1903 in Kiew geboren. Vor der Oktoberrevolution flieht die Familie nach Paris. Irène veröffentlicht ihren Roman »David Golder«, der sie schlagartig berühmt und zum Star der Pariser Literaturszene macht. Viele weitere Veröffentlichungen folgen. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht und die Deutschen auf Paris marschieren, flieht sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in die Provinz. Am 13. Juli 1942 wird sie verhaftet, keine vier Wochen später stirbt sie in Auschwitz.
2004 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als »Suite française« veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.
 
Irène Némirovsky bei btb: Der Ball (73578) Der Fall Kurilow. Roman (73614) Suite française. Roman (73644) Jesabel. Roman (73778)
Die französische Originalausgabe erschien 1929 unter dem Titel David Golder bei Éditions Bernard Grasset, Paris.
Nein«, sagte Golder.
Jäh hob er den Schirm der Lampe hoch, so daß ihr voller Schein auf das Gesicht von Simon Marcus fiel, der ihm an der anderen Seite des Tisches gegenübersaß. Einen Augenblick lang betrachtete er die Falten und Runzeln, die wie über ein dunkles, windgepeitschtes Wasser über Marcus’ langes, eingesunkenes Gesicht liefen, sobald sich die Lippen oder Lider bewegten. Die halbgeschlossenen, schläfrigen Orientalenaugen aber blieben dabei ruhig, wie gelangweilt. Ein Gesicht, undurchdringlich wie eine Wand. Golder senkte vorsichtig den Arm aus biegsamem Metall, der die Lampe hielt.
»Zu hundert, Golder? Hast du nachgerechnet? Das ist doch ein Preis«, sagte Marcus.
Wieder sagte Golder: »Nein.«
Er setzte hinzu: »Ich will nicht verkaufen.«
Marcus lachte. Seine langen glänzenden Zähne mit den Goldplomben funkelten bizarr aus dem Schatten hervor.
»1920, als du sie gekauft hast, deine berühmten Erdölaktien, was waren sie da wert?« fragte er mit seiner näselnden, ironischen, schleppenden Stimme.
»Ich habe zu vierhundert gekauft. Wenn diese Schweine von Sowjets die verstaatlichten Gebiete den Aktionären zurückgegeben hätten, wäre es ein gutes Geschäft gewesen. Schon 1913 war die Tagesproduktion von Teisk zehntausend Tonnen... Das ist kein Bluff. Nach der Konferenz von Genua sind meine Aktien erst mal von 400 auf 102 gefallen, weiß ich noch... Und dann...« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Aber ich habe sie behalten. Damals hatte man ja Geld.«
»Ja. Ist dir jetzt klar, daß Ölfelder in Rußland im Jahr 1926 für dich reiner Dreck sind? Hä? Du hast doch weder Mittel noch Lust, selbst hinzugehen, um sie auszubeuten, denke ich mir? Mit denen lassen sich höchstens noch ein paar Punkte gewinnen, wenn man ein bißchen Bewegung an der Börse macht... Hundert, das ist ein guter Preis.«
Golder rieb sich lange die geschwollenen Lider, die ihm im Rauch, der das Zimmer erfüllte, brannten.
Er sagte von neuem, leiser: »Nein, ich will nicht verkaufen. Erst wenn die Tübingen-Petroleum dieses Abkommen für die Konzession von Teisk abgeschlossen hat, an das du denkst, dann verkaufe ich.«
Marcus stieß ein ersticktes »Ach so!« aus, und das war alles.
Golder sagte schleppend: »Ja, genau, das Geschäft, das du seit dem letzten Jahr hinter meinem Rücken betreibst, Marcus, genau das... Hat man dir einen guten Preis für meine Aktien geboten, wenn das Abkommen einmal unterzeichnet ist?«
Er schwieg, denn das Herz schlug ihm fast schmerzhaft, wie bei jedem Sieg. Marcus drückte langsam seine Zigarre in dem vollen Aschenbecher aus.
»Wenn er halbpart sagt«, dachte Golder plötzlich, »ist er erledigt.«
Er senkte den Kopf, um Marcus’ Stimme besser zu hören.
Eine kleine Weile war es still, dann sagte Marcus: »Wollen wir halbpart spielen, Golder?«
Golder biß die Zähne zusammen: »Was? Nein.«
Marcus murmelte mit gesenkten Wimpern: »Oh! Du solltest dir nicht noch einen Feind machen, Golder. Du hast doch schon genug.«
Seine Hände umklammerten den Rand der Tischplatte und bewegten sich schwach, man hörte das flüchtige Kratzen der Nägel. Im Lampenlicht glänzten die langen, weißen, mit schweren Ringen überladenen Finger auf dem Mahagoni des Empire-Schreibtischs; sie zitterten leicht.
Golder lächelte.
»Du bist nicht mehr besonders gefährlich heutzutage, mein Guter...«
Marcus schwieg einen Augenblick, betrachtete seine lakkierten Nägel.
»David … halbe-halbe …! Los …! Wir sind doch seit sechs undzwanzig Jahren Geschäftspartner. Schwamm drüber und laß uns wieder anfangen. Wenn du im Dezember da gewesen warst, als Tübingen mit mir geredet hat...«
Golder drehte nervös an der Telephonschnur, wickelte sie um sein Handgelenk.
»Im Dezember«, wiederholte er mit einer Grimasse. »Ja... du bist gut... bloß...«
Er schwieg. Marcus wußte so gut wie er, daß er im Dezember in Amerika gewesen war, um Kapital aufzutreiben für die Golmar, das Unternehmen, das sie seit so vielen Jahren wie Sträflinge aneinanderkettete. Aber er sagte nichts. Marcus sprach weiter: »David, es ist noch Zeit... Es ist besser, glaub mir... Wir verhandeln zusammen mit den Sowjets, willst du? Die Sache ist schwierig. Und Kommissionen, Gewinne, alles halbe-halbe, ja...? Das ist doch anständig, hoffe ich...? David...? Na...? Sonst, mein Guter...«
Er wartete einen Augenblick lang auf eine Antwort, eine Einwilligung, eine Beschimpfung, aber Golder atmete mühsam und blieb stumm. Marcus zischte: »Hör mal, es gibt nicht nur die Tübingen auf der Welt...«
Er berührte den regungslosen Arm Golders, als wollte er ihn aufwecken. »Es gibt noch andere Gesellschaften, jüngere und... äh... spekulierfreudigere«, sagte er, nach Worten suchend, »die das Ölabkommen von 1922 nicht unterzeichnet haben und sich einen Dreck um die alten Berechtigten scheren, um dich also... Die könnten...«
»Die Amrum Oil?« fragte Golder.
Marcus knirschte mit den Zähnen. »So, das weißt du auch? Also gut, hör, mein Lieber, es tut mir leid, aber die Russen werden mit der Amrum abschließen. Jetzt, wo du dich weigerst mitzumachen, kannst du deine Teisk bis zum Jüngsten Gericht behalten, du kannst dich mit deiner Teisk ins Grab legen...«
»Die Russen werden nicht mit der Amrum abschließen.«
»Sie haben unterzeichnet«, rief Marcus.
Golder machte eine Handbewegung.
»Ja. Ich weiß. Ein vorläufiges Abkommen. Es sollte binnen einer Frist von fünfundvierzig Tagen von Moskau ratifiziert werden. Gestern. Aber da tatsächlich wieder nichts geschehen ist, bist du unruhig geworden und bist gekommen, um es wieder einmal mit mir zu versuchen …«
Er sprach sehr schnell, hustend, zu Ende: »Ich will dir das erklären. Es geht um Tübingen, nicht wahr? Die Amrum hat ihm schon vor zwei Jahren Ölfelder in Persien weggeschnappt. Aber diesmal würde er, glaube ich, eher krepieren als nachgeben. Bis jetzt ist das übrigens auch nicht schwierig gewesen; man hat einfach dem kleinen Juden, der mit dir für die Sowjets verhandelt hat, mehr geboten. Telephoniere jetzt, du wirst sehen...«
Marcus schrie plötzlich mit einer merkwürdig schrillen Stimme los, wie eine hysterische alte Frau: »Du lügst, du Schwein!«
»Ruf an, du wirst sehen.«
»Und... der Alte... Tübingen... weiß er?«
»Ja. Natürlich.«
»Das warst du, das hast du eingefädelt, du Schuft, du Schurke!«
»Ja. Was willst du, erinnere dich... Letztes Jahr, bei der Geschichte mit dem mexikanischen Öl, vor drei Jahren mit dem Heizöl, da sind doch ein paar schöne Millionen von meiner Tasche in deine geflossen! Was habe ich da gesagt? Nichts habe ich gesagt. Und dann...« Er schien noch weitere Gründe zu suchen, sie im Geiste zusammenzuzählen, dann schob er sie mit einem Achselzucken beiseite.
»Die Geschäfte«, murmelte er einfach, als hätte er eine furchterregende Gottheit genannt …
Marcus schwieg jetzt. Er nahm ein Päckchen Zigaretten vom Tisch, machte es auf, zündete sorgfältig das Streichholz an. »Warum rauchst du bloß diese ekelhaften Gauloises, Golder, reich, wie du bist?« Seine Finger zitterten heftig. Golder beobachtete sie wortlos, als verfolgte er die letzten Zuckungen eines verwundeten Tieres.
»Ich brauchte Geld, David«, sagte Marcus auf einmal mit veränderter Stimme. Eine jähe Grimasse verzog ihm einen Mundwinkel: »Ich... ich brauche furchtbar dringend Geld, David... Willst du nicht... willst du mich nicht ein wenig verdienen lassen...? Glaubst du nicht, daß...«
Golder stieß wild mit der Stirn in die Luft.
»Nein.«
Er sah, wie die blassen Hände sich ineinander verklammerten, die Finger sich verkrampften, die Nägel sich in das Fleisch vergruben.
»Du ruinierst mich«, sagte Marcus schließlich mit einer tonlosen, merkwürdigen Stimme.
Golder, der hartnäckig die Augen niedergeschlagen hielt, antwortete nicht. Marcus zögerte, dann stand er auf, schob behutsam seinen Stuhl zurück.
»Leb wohl, David. Was sagst du?« rief er plötzlich mit außerordentlicher Kraft in die Stille hinein.
»Nichts. Leb wohl«, sagte Golder.
Golder zündete eine Zigarette an, aber schon nach dem ersten Zug mußte er nach Atem ringen und warf sie weg. Ein nervöser asthmatischer Husten, rauh und pfeifend, schüttelte seine Schultern, füllte ihm bis zum Ersticken den Mund mit bitterem Wasser. Ein jäher Blutandrang färbte seine Züge, die gewöhnlich von einem fahlen, matten, wächsernen Weiß waren bis auf die blauen Ringe unter seinen Augen. Er war ein Mann von über sechzig Jahren, riesig, mit fetten weichen Gliedern, regen, wasserfarbenen hellen Augen; dickes weißes Haar umrahmte das verwüstete, harte, wie von einer groben, schweren Hand zerschlagene Gesicht.
Das Zimmer roch nach Rauch und erkaltetem Schweiß, dem typischen Sommergeruch der lange unbewohnt gebliebenen Pariser Wohnungen.
Golder drehte sich mitsamt seinem Stuhl herum, öffnete einen Spaltbreit das Fenster. Eine lange Weile betrachtete er den erleuchteten Eifelturm. Der rote, rieselnde Schein floß wie Blut über den frischen Himmel der Morgendämmerung... Er dachte an die Golmar. Sechs goldene, leuchtende, funkelnde Lettern, die diese Nacht ebenfalls wie Sonnen in vier großen Städten der Welt erstrahlten. Die Golmar, die Verschmelzung ihrer beiden Namen, Golder und Marcus. Er preßte die Lippen zusammen. »Golmar … David Golder allein, ab jetzt...«
Er nahm den Notizblock, der in seiner Reichweite lag, las den gedruckten Briefkopf.
GOLDER & MARCUS
KAUF UND VERKAUF VON ÖLPRODUKTEN FLUGZEUGTREIBSTOFF, LEICHTE, MITTELSCHWERE UND SCHWERE MINERALÖLE
WHITE-SPIRIT. GAS OIL. SCHMIERÖLE.
 
 
New York, London, Paris, Berlin
 
 
Langsam strich er die erste Zeile durch, schrieb mit seiner dicken Schrift, die Löcher in das Papier riß, »David Golder«. Denn jetzt würde er endlich allein sein. Er dachte erleichtert: »Das ist erledigt, Gott sei Dank, jetzt geht er...« Später, wenn Tübinger die Konzession für Teisk bewilligt bekommen und er selbst zu dem größten Mineralölunternehmen der Welt gehören würde, wäre die Golmar leicht wieder flottzumachen.
Von jetzt ab... Eilig schrieb er Zahlen untereinander. Diese letzten beiden Jahre vor allem waren schrecklich gewesen. Langs Konkurs, das Abkommen von 1922... Wenigstens würde er nicht mehr für Marcus’ Frauen bezahlen müssen, für seine Ringe, seine Schulden... Es gab genug Ausgaben ohne ihn... Was dieses idiotische Leben alles kostete... Seine Frau, seine Tochter, das Haus in Biarritz, das Haus in Paris... Allein in Paris bezahlte er sechzigtausend Francs Miete und die Steuern. Das Mobiliar hatte damals über eine Million gekostet. Für wen? Niemand lebte hier. Die geschlossenen Fensterläden, der Staub. Er betrachtete mit haßerfülltem Blick gewisse Gegenstände, die er besonders verabscheute: vier Siegesgöttinnen aus schwarzem Marmor und Bronze, die eine Lampe hielten, ein leeres, riesiges, quadratisches Tintenfaß, das mit goldenen Bienen verziert war. Für all das hatte er bezahlen müssen, und das Geld? Wütend murmelte er: »Dumme Gans... du ruinierst mich, und was wird dann...? Ich bin achtundsechzig... Soll es wieder von neuem losgehen...? Das ist mir ja schon oft passiert...«
Abrupt drehte er den Kopf zu dem großen Spiegel über dem Kamin hin, in dem kein Feuer brannte, besah einen Augenblick lang mit Unbehagen sein gespanntes, bleiches, mit bläulichen Flecken überzogenes Gesicht mit den beiden tief in das dicke Fleisch eingegrabenen Falten um den Mund, die ihm das Aussehen eines alten Hundes mit hängenden Lefzen verliehen. Grimmig brummte er: »Man wird alt, was soll’s, man wird alt...« Seit zwei, drei Jahren ermüdete er schneller. Er dachte: »Vor allem muß ich morgen abreisen, acht oder zehn Tage Erholung in Biarritz, und man soll mich ja in Ruhe lassen, sonst krepiere ich.« Er nahm den Kalender, lehnte ihn auf dem Tisch gegen das goldgerahmte Porträt eines jungen Mädchens, blätterte darin. Er war mit Zahlen und Namen vollgeschrieben, das Datum des 14. Septembers mit Tinte unterstrichen. Tübingen würde ihn an diesem Tag in London erwarten. Das ließ kaum eine Woche für Biarritz übrig... Dann London, Moskau, wieder London, New York. Er stieß einen kleinen, gereizten Seufzer aus, starrte auf das Bild seiner Tochter, stöhnte, dann wandte er sich ab und rieb sich langsam die schmerzenden, vor Müdigkeit brennenden Augen. Er war diesen Tag erst aus Berlin gekommen, und seit langem schlief er im Zug nicht mehr wie früher.
Dennoch stand er automatisch auf, um sich wie gewöhnlich in den Klub zu begeben, doch dann sah er, daß es schon nach drei Uhr war. »Ich gehe jetzt ins Bett«, dachte er, »morgen muß ich wieder auf den Zug.« Dann sah er den Packen zu unterschreibender Briefe, der am Rand des Schreibtischs lag. Er setzte sich wieder. Jeden Abend las er die von seinen Sekretären vorbereitete Post noch einmal durch. Es waren alles Esel. Aber er hatte sie lieber so. Er lächelte, als er an Marcus’ Sekretär dachte, Braun, ein kleiner Jude mit Glutaugen, der ihm den Plan für den Vertrag mit der Amrum verkauft hatte. Er begann zu lesen, beugte sich tief unter die Lampe. In seinem dichten weißen Haar, das einst rot gewesen war, leuchtete an den Schläfen und im Nacken noch ein wenig von der früheren lodernden Farbe auf wie eine unter der Asche halberstickte Flamme.
 
 
Das Telephon auf Golders Nachttisch brach plötzlich in ein langes Klingeln aus, schrill und endlos, aber Golder schlief: er hatte morgens einen tiefen Schlaf, schwer wie der Tod. Endlich öffnete er die Augen und griff unter dumpfem Stöhnen nach dem Hörer: »Hallo, hallo...«
Eine Weile rief er weiter »Hallo, hallo«, ohne die Stimme seines Sekretärs zu erkennen, dann hörte er: »Monsieur Golder... Tot... Monsieur Marcus ist tot...«
Er schwieg. Die Stimme wiederholte: »Hallo, hören Sie nicht? Monsieur Marcus ist tot.«
»Tot«, wiederholte Golder langsam, während ihm ein seltsamer kleiner Schauer über den Rücken lief, »tot... das ist doch nicht möglich.«
»Heute nacht, Monsieur... in der Rue Chabanais... Ja, in einem Bordell... Er hat sich mit dem Revolver in die Brust geschossen. Man sagt...«
Golder schob sanft den Hörer zwischen die Laken und legte die Decke darüber, als wollte er die Stimme erstikken, die er wie eine große gefangene Fliege weitersummen hörte.
Endlich schwieg sie.
Golder läutete.
»Richten Sie mir mein Bad«, sagte er zu dem Bedienten, der eben mit der Post und dem Frühstückstablett eintrat, »ein kaltes Bad«.
»Soll ich den Smoking von Monsieur in den Koffer packen?«
Golder runzelte nervös die Augenbrauen.
»Welchen Koffer? Ach ja, Biarritz... Ich weiß nicht, vielleicht reise ich morgen ab oder später, ich weiß nicht...«
Er fluchte leise, murmelte: »Ich werde morgen zu ihm müssen... Dienstag wird wahrscheinlich die Beerdigung sein... Verflucht...!« Der Bediente ließ in dem anstoßenden Raum das Wasser in die Badewanne ein. Golder trank einen Schluck heißen Tee, öffnete aufs Geratewohl ein paar Briefe, dann warf er alles hin und stand auf. Im Badezimmer setzte er sich, schlug die Schöße seines Morgenrocks auf seinen Knien übereinander und beobachtete mit geistesabwesender, mürrischer Miene das einströmende Wasser, während er mechanisch die Troddeln der Seidenkordel des Schlafrocks ineinander verflocht.
»Tot... tot...«
Nach und nach überwältigte ihn ein Gefühl der Wut. Er zuckte die Achseln, brummte voller Haß: »Tot... Wie kann man nur sterben? Wenn ich...«
»Das Bad ist bereit, Monsieur«, sagte der Diener.
Allein geblieben, näherte sich Golder der Badewanne, steckte die Hand ins Wasser, ließ sie darin; alle seine Bewegungen waren außerordentlich langsam und unbestimmt, ziellos. Das kalte Wasser ließ ihm die Finger, den Arm, die Schulter erstarren, aber er rührte sich nicht, betrachtete mit gesenktem Kopf und dumpfem Ausdruck den Widerschein der elektrischen Birne an der Decke, der auf dem Wasser tanzte und glänzte.
»Wenn ich...« wiederholte er.
Alte, vergessene Erinnerungen stiegen in ihm auf, dunkel und seltsam... Ein ganzes hartes Leben voll Schwankungen und Schwierigkeiten... Einen Tag Reichtum, den nächsten nichts mehr. Und dann wieder von vorne anfangen... Und noch einmal von vorne... Ach ja, natürlich, so war es gewesen, aber das war lange her... Er richtete sich auf, schüttelte mechanisch seine nasse Hand, ging zum Fensterbrett und legte abwechselnd seine eisigen Hände in die Sonnenwärme. Er nickte, sagte laut: »Ja, tatsächlich, in Moskau zum Beispiel, oder auch in Chicago...«, und sein im Träumen unbeholfener Geist rief sich in kurzen, nüchternen Bildern die Vergangenheit zurück. Moskau... als er noch nichts anderes gewesen war als ein kleiner magerer Jude mit rotem Haar, durchdringenden blassen Augen, löchrigen Stiefeln, leeren Taschen... Er hatte auf den Bänken in den Anlagen geschlafen, in jenen dunklen, kalten Nächten zu Beginn des Herbstes... Fünfzig Jahre waren vergangen, aber er fühlte in seinen Knochen noch die durchdringende Feuchtigkeit der ersten dicken, weißen Nebel, die sich einem an den Leib heften und auf den Kleidern eine Art steifer, kalter Kruste hinterlassen... Die Schneestürme im März, der Wind …
Und Chicago... die kleine Bar, das Grammophon, das näselnd und kreischend einen alten Walzer aus Europa spielte, dieses Gefühl verzehrenden Hungers, während einem der Geruch warmer Speisen ins Gesicht weht. Er schloß die Augen und sah mit außerordentlicher Genauigkeit wieder das schwarze, glänzende Gesicht eines betrunkenen oder kranken Negers, der in einer Ecke auf einer Bank lag und mit kläglichem Geheul schrie wie ein Kauz. Und dann noch... Seine Hände brannten ihm jetzt. Er legte sie vorsichtig flach gegen die Scheibe, löste sie dann, bewegte die Finger, rieb sanft die Handflächen aneinander.
»Idiot«, murmelte er, als könnte der Tote ihn hören, »Idiot... warum hast du das getan?«
 
 
Golder tastete lange an Marcus’ Tür herum, bevor er läutete: seine weichen, kalten Hände stießen gegen die Wand, ohne den Klingelknopf zu finden. Als er eintrat, sah er sich mit einer Art Entsetzen um, als erwartete er, gleich den aufgebahrten Toten fertig zum Abtransport zu sehen. Aber es lagen lediglich schwarze Stoffrollen auf dem Fußboden und auf den Sesseln der Diele Blumengebinde mit violetten Moiréschleifen, die so breit und so lang waren, daß sie mit ihrer Beschriftung in goldenen Lettern bis auf den Teppich hinunterhingen.
Jemand klingelte hinter Golder, und der Bediente nahm durch die halbgeöffnete Tür einen dicken, riesigen Kranz aus rostroten Chrysanthemen in Empfang, den er an seinen Arm hängte wie den Henkel eines Korbs. Golder dachte: »Ich hätte Blumen schicken müssen...«
Blumen für Marcus... Er stellte sich das schwere Gesicht mit den schief verzogenen Lippen vor, und Blumen wie für eine Braut! Der Bediente flüsterte: »Wenn Monsieur einen Augenblick im Salon warten möchte... Madame ist bei...« Er machte eine kleine, unbestimmte, genierte Geste... »bei Monsieur, bei dem Leichnam...«
Er zog einen Stuhl für ihn heran und ging hinaus. Im anstoßenden Raum vermischten sich zwei Stimmen zu einem undeutlichen, geheimnisvollen Murmeln, das wie das erstickte Geräusch von Gebeten klang. Nach und nach wurden sie lauter; Golder hörte:
»Der mit Karyatiden verzierte Leichenwagen mit versilbertem Podest, Baldachin und fünf Federbüschen, der massive Ebenholzsarg mit acht ziselierten, versilberten Griffen und gepolsterter Innenausstattung in Satin, sind in der ersten Klasse Extra enthalten. Dann haben wir die erste Klasse Typ A mit lackiertem Mahagonisarg.«
»Wieviel?« murmelte eine Frauenstimme.
»Zwanzigtausendzweihundert mit dem Mahagonisarg. Die erste Klasse Extra macht neunundzwanzigtausenddreihundert.«
»Aber nein. Ich möchte nicht mehr als fünf- bis sechstausend ausgeben. Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich mich an ein anderes Unternehmen gewendet. Der Sarg kann aus gewöhnlicher Eiche sein, wenn er mit einem ausreichend großen Behang bedeckt ist...«
Golder stand abrupt auf; sofort wurden die Stimmen leiser, verschmolzen wieder zu einem dumpfen, feierlichen Flüstern.
Er drückte krampfhaft mit beiden Händen sein Taschentuch, das er mechanisch zwischen den Fingern hin- und hergedreht und gezwirbelt hatte: »Ist das dumm, das alles... Ach, ist das dumm...«
Er fand keine anderen Worte. Es gab keine anderen. War das dumm, dumm... Gestern saß ihm Marcus noch gegenüber und schrie und lebte, und jetzt... Er wurde nicht einmal mehr mit seinem Namen genannt. Der Leichnam … Mit Entsetzen sog er einen faden, schweren Geruch ein, der das Zimmer erfüllte, und dachte: »Ist er das schon oder sind es diese widerlichen Blumen? Warum hat er das getan? Sich umzubringen, in seinem Alter, wie eine Modistin«, murmelte er beinahe angeekelt, »wegen Geld... Wie oft schon hatte er alles verloren, und er machte es wie die andern, er fing wieder von vorn an... das ist das Leben. Und in dieser Sache mit Teisk hatte er hundert zu eins die Chance, es zu schaffen«, sagte er plötzlich ganz laut, voller Leidenschaft, als versetzte er sich im Geist an Marcus’ Stelle, »mit der Amrum im Rücken, der Idiot!«
Fieberhaft malte er sich verschiedene Verkettungen von Umständen aus. »Im Geschäftsleben weiß man nie, man muß sich drehen, wenden, den Knochen immer weiter benagen, aber sterben... Wird er mich jetzt wohl noch lange warten lassen?« dachte er voller Haß.
Madame Marcus kam herein. Ihr mageres Gesicht mit der großen, harten Schnabelnase war gelb und stumpf wie Horn; unter den dünnen, hellen Augenbrauen, die sich merkwürdig hoch und unregelmäßig auf der Stirn wölbten, traten ihre glänzenden runden Augen stark hervor.
Sie ging geräuschlos mit kleinen hastigen Schritten auf Golder zu, ergriff seine Hand und schien etwas zu erwarten. Aber Golder, dem es die Kehle zuschnürte, sagte nichts. Sie murmelte mit einem seltsamen kleinen Quieken, das wie ein verärgertes Lachen oder ein trockenes Schluchzen klang: »Ja. Das hätten Sie nicht gedacht...! Diese verrückte, lächerliche Tat, dieser Skandal... Ich danke Gott, daß er uns keine Kinder geschenkt hat. Wissen Sie, wie er gestorben ist? In einem Freudenhaus in der Rue Chabanais, in Gesellschaft von Dirnen. Als ob der Ruin nicht schon genug wäre!« schloß sie und führte ihr Taschentuch an die Augen.
Durch die jähe Bewegung verschob sich unter dem Trauerflor ein Collier aus riesigen Perlen, das in drei Reihen den langen faltigen Hals umschloß, den sie ruckartig bewegte wie ein alter Raubvogel.
»Sie muß steinreich sein, die alte Krähe«, dachte Golder. »So ist das immer bei uns. Sich zu Tode arbeiten, damit ›sie‹ sich bereichern...!« In Gedanken sah er seine eigene Frau vor sich, wie sie hastig ihr Scheckheft verbarg, sobald er ins Zimmer kam, als wäre es ein Bündel Liebesbriefe.
»Möchten Sie ihn sehen?« fragte Madame Marcus.
Eine eisige Woge schlug über Golder zusammen; er schloß die Augen und antwortete mit seltsamer, zitternder, tonloser Stimme: »Gewiß, wenn ich...«
Madame Marcus durchquerte schweigend den großen Salon, öffnete eine Tür, aber dahinter war nur ein weiteres kleines Zimmer, wo zwei Frauen schwarzen Stoff nähten. Schließlich murmelte sie: »Hier ist es.« Golder sah Kerzen, die einen schwachen Schein verbreiteten. Er blieb einen Augenblick stehen, wie betäubt, dann fragte er stockend: »Wo ist er?«
Sie wies mit der Hand auf das halb unter einem großen Samtbaldachin verborgene Bett.
»Hier. Aber ich mußte ihm das Gesicht bedecken lassen, um die Fliegen fernzuhalten... Die Beerdigung ist morgen.«
Jetzt erst glaubte Golder die Züge des Toten unter dem Leintuch zu erkennen. Er betrachtete ihn lange unter merkwürdigen Empfindungen.
»Mein Gott, wie sie sich beeilen... armer alter Marcus... Wie schwach ist man doch, wenn man einmal soweit ist«, dachte er verwirrt, erfüllt von Zorn und etwas wie Schmerz, »Schweinerei...«
In einer Ecke stand ein großer amerikanischer Schreibtisch mit aufgeklapptem Deckel; Papiere, lose Briefe lagen auf dem Boden herum. Er dachte: »Es müssen Briefe von mir dabei sein...« Er sah ein Messer auf dem Teppich, seine silberne Klinge war verbogen. Die Schubladen waren aufgebrochen worden; es steckten keine Schlüssel in den Schlössern.
»Sicher war er kaum tot, als sie auch schon hierhergestürzt ist, um zu sehen, was geblieben ist; sie hat nicht einmal so viel Geduld gehabt, erst die Schlüssel zu suchen.«
Madame Marcus fing seinen Blick auf, wandte aber nicht einmal die Augen ab; sie begnügte sich damit, schroff zu sagen: »Er hat nichts hinterlassen. Ich bin allein«, setzte sie leiser, mit verändertem Ausdruck hinzu.
»Wenn ich nützlich sein kann«, bot Golder mechanisch an.
Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Zum Beispiel, diese Anteile an der Compagnie Houillère, was, raten Sie mir, soll ich damit anfangen?«
»Ich nehme sie Ihnen wieder zum Kaufpreis ab«, sagte Golder, »aber Sie wissen, daß sie wertlos sind? Die Compagnie ist bankrott. Doch ich muß noch ein paar Briefe an mich nehmen. Sie hatten wohl selbst schon daran gedacht, glaube ich«, setzte er in feindseligem, ironischem Ton hinzu, den sie nicht zu bemerken schien. Sie neigte einfach den Kopf und trat einige Schritte zurück. Golder fing an, die Papiere in der halbleeren Schublade zu durchwühlen. Doch es gelang ihm dabei nicht, ein plötzliches Gefühl bitterer, trauriger Gleichgültigkeit zu überwinden.
»Was für eine Rolle spielt das alles im Grunde schon, mein Gott?«
Unvermittelt fragte er: »Warum hat er das getan?«
»Ich weiß nicht«, sagte Madame Marcus.
Er dachte laut: »Das Geld? Bloß wegen des Geldes? Nur deswegen? Das ist nicht möglich. Hat er nichts mehr gesagt, bevor er gestorben ist?«
»Nein. Als er hierhergebracht wurde, war er schon bewußtlos. Die Kugel ist in die Lunge eingedrungen.«