Die Hunde und die Wölfe - Irène Némirovsky - E-Book

Die Hunde und die Wölfe E-Book

Irène Némirovsky

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Beschreibung

Die Geschichte einer kompromisslosen, alle Konventionen sprengenden Liebe

Die jüdischen Kinder Ada und Harry lernen sich in Kiew kennen und sehen sich später im Paris der 20er Jahre wieder. Ada ist Malerin und lebt in ärmlichen Verhältnissen, Harry hat in die französische Bourgeoisie eingeheiratet. Beide spüren instinktiv, dass sie füreinander bestimmt sind. Doch ihre Liebesbeziehung droht an den gesellschaftlichen Normen der Zeit zu scheitern.

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Irène Némirovsky

Die Hunde

und die Wölfe

Roman

Aus dem Französischen

von Eva Moldenhauer

Knaus

1

Die ukrainische Stadt, Heimat der Familie Sinner, bestand in den Augen der dort wohnenden Juden aus drei unterschiedlichen Gebieten, wie man auf den alten Gemälden sehen kann: unten die Verdammten, zwischen der Finsternis und den Flammen der Hölle; in der Mitte des Bildes die Sterblichen, von einem ruhigen, blassen Licht erhellt; und oben der Wohnsitz der Erwählten.

In der Unterstadt, am Fluß, lebte das Gesindel, die Juden, mit denen man nicht verkehrte, die kleinen Handwerker, die Mieter schäbiger kleiner Läden, die Landstreicher, eine Horde von Kindern, die sich im Schlamm wälzten, nur jiddisch sprachen, zerlumpte Hemden sowie riesige Mützen auf langen schwarzen Locken und schmächtigen Hälsen trugen. Sehr weit von ihnen entfernt, hoch oben auf den mit Linden bestandenen Hügeln, fand man zwischen den Häusern der hohen russischen Beamten und denen der polnischen Gutsherren einige schöne Herrenhäuser, die reichen Israeliten gehörten. Sie hatten dieses Viertel wegen der reinen Luft gewählt, die man dort atmete, vor allem aber weil in Rußland zu Anfang des Jahrhunderts, unter der Herrschaft von Nikolaus II., die Juden nur in bestimmten Stadtteilen, in bestimmten Distrikten, in bestimmten Straßen und manchmal sogar nur auf einer Seite einer Straße geduldet wurden, während ihnen die andere Seite untersagt war. Dennoch existierten die Verbote nur für die Armen: Noch nie hatte man gehört, daß nicht Schmiergeld auch die strengsten Verbote bezwungen hätte. Die Juden setzten ihre Ehre darein, ihnen zu trotzen, nicht aus eitlem Widerspruchsgeist oder aus Stolz, sondern um den anderen Juden zu zeigen, daß man etwas Besseres war als sie, daß man mehr Geld verdient, seine Rüben oder seinen Käse günstiger verkauft hatte. Es war eine bequeme Art und Weise, die Größe seines Vermögens publik zu machen. Einer war im Ghetto geboren worden. Mit zwanzig Jahren hatte er ein wenig Geld; im gesellschaftlichen Leben stieg er eine Sprosse höher: Er zog um und ließ sich weitab vom Fluß nieder, in der Nähe des Markts, an der Grenze der Unterstadt; bei seiner Heirat würde er bereits auf der (verbotenen) Seite mit den geraden Hausnummern wohnen; später würde er noch höher steigen und sich in dem Viertel ansiedeln, wo dem Gesetz nach kein Jude das Recht hatte, geboren zu werden, zu leben, zu sterben. Er wurde geachtet; für die Seinen war er sowohl ein Gegenstand des Neids als auch ein Bild der Hoffnung: Es war also möglich, solche Höhen zu erklimmen. Der Hunger bedeutete nichts; die Kälte, der Schmutz bedeuteten nichts angesichts solcher Beispiele; und aus der Unterstadt sahen so manche Blicke hinauf zu den kühlen Hügeln der Reichen.

Zwischen diesen extremen Gebieten lag eine gemäßigte Zone, eine fade Region, die weder großen Reichtum noch Elend hervorbrachte und in der ohne allzu viele Zusammenstöße die russischen, polnischen und jüdischen Bürger zusammenlebten.

Freilich war die mittlere Stadt selbst in kleine Clans unterteilt, die einander beneideten und verachteten. Den höchsten Rang nahmen die Ärzte, die Advokaten, die Gutsverwalter ein, und das gemeine Volk bestand aus Krämern, Schneidern, Apothekern usw.

Eine Gesellschaftsklasse indes fungierte als Bindeglied zwischen den verschiedenen Vierteln und verdiente ihr Brot mühsam damit, daß sie von einem Haus zum andern, von der Unterstadt in die Oberstadt lief. Adas Vater, Israel Sinner, gehörte zu jener Zunft der «Makler», der Zwischenhändler. Ihr Beruf war es, auf fremde Rechnung zu kaufen und zu verkaufen, Rüben, Zucker, Weizen, Landwirtschaftsmaschinen, alles, womit die Ukraine Handel trieb; doch konnten sie ihrer Warenliste noch Seide und Tee hinzufügen, Rahat Lokum und Kohle, Wolga-Kaviar und Früchte aus Asien, je nach den Bedürfnissen der Kundschaft. Sie bettelten, sie flehten, sie machten die Waren des Konkurrenten schlecht; sie jammerten; sie schworen Meineide und boten alle Mittel ihrer Phantasie und ihrer subtilen Dialektik auf, um den Auftrag zu erhalten. Man erkannte sie an ihrer schnellen Redeweise, ihrer Gestikulation, an ihrer Eile zu einer Zeit und in einem Land, wo niemand sich beeilte, an ihrer Unterwürfigkeit, ihrer Beharrlichkeit, an noch vielen anderen Eigenheiten ihres Standes.

Ada, noch fast ein Baby, begleitete ihren Vater manchmal auf seinen Touren, einen mageren kleinen Mann mit traurigen Augen, der sie liebte und Trost darin fand, sie an der Hand zu halten. Für sie verlangsamte er seinen Schritt; fürsorglich beugte er sich zu ihr; er rückte ihr den dicken grauen Wollschal zurecht, den sie über ihrem alten Mantel und über der braunen Samtmütze mit Ohrenschützern trug; er hielt ihr seine Hand vor den Mund, wenn der Winterwind blies: an den Straßenecken schien die rauhe Bise den Passanten aufzulauern und sie mit fröhlichem Ingrimm zu ohrfeigen.

«Gib acht. Ist dir auch nicht kalt?» fragte der Vater.

Und er empfahl ihr, durch den Schal zu atmen, damit die eisige Luft sich erwärme, wenn sie durch die Wolle dränge, aber das ging nicht: Ihr war, als müßte sie ersticken; sobald er sich abwandte, vergrößerte sie ein wenig mit den Fingerspitzen ein kleines Loch im Stoff, und sie versuchte, mit der Zungenspitze die Schneeflocken aufzufangen. Sie war derart eingemummt, daß man von ihr nur eine kleine eckige Masse auf mageren Beinen sah und, aus der Nähe, zwischen der dunklen Mütze und dem grauen Schal zwei große schwarze Augen, die durch dunkle Ringe noch größer wirkten und deren Blick scheu und wachsam war wie der eines kleinen wilden Tiers.

Sie war gerade fünf Jahre alt geworden und fing an, ihre Umgebung zu sehen; bisher war sie in einer Welt umhergeirrt, die zu ihrer schmächtigen Person in einem solchen Mißverhältnis stand, daß ihr kaum bewußt war, daß sie existierte: sie wurde von ihr erdrückt. Vermutlich scherte sie sich ebensowenig darum wie ein im Gras hockendes Insekt. Nun aber war sie größer geworden und begann das Leben kennenzulernen: Jene regungslosen Riesen auf den Türschwellen, an deren Schnurrbärten Eiszapfen hingen und die einen nach Alkohol stinkenden Atem vor sich herbliesen (seltsamerweise verwandelte er sich in einen Dampfstrahl, dann in kleine Schneenadeln), jene Riesen waren gewöhnliche Männer, Dworniks, die Hausmeister. Sie machte sich auch mit Wesen vertraut, deren Köpfe sich in den Wolken zu verlieren schienen und die glänzende Säbel hinter sich herschleppten. Man nannte sie Offiziere. Sie waren erschreckend, da sich ihr Vater, wenn er sie erblickte, noch kleiner zu machen und an die Mauern zu pressen schien; dennoch glaubte sie, daß sie der menschlichen Gemeinschaft angehörten. Seit einiger Zeit wagte sie es, sie anzuschauen; einige von ihnen, deren grauer Mantel rot gefüttert war (man sah den scharlachroten Stoff, Kennzeichen ihres Generalranges, wenn sie den Schlitten bestiegen), hatten einen langen weißen Bart wie ihr Großvater.

Auf dem Platz hielt sie einige Augenblicke inne, um die Pferde zu bewundern, die im Winter mit grünen oder roten, mit Troddeln verzierten Netzen bedeckt waren, damit der Schnee, den sie mit ihren Hufen aufscharrten, nicht auf ihre Körper spritzte. Hier war das Stadtzentrum; es gab schöne Hotels, Läden, Restaurants, Lichter, Lärm; doch gleich danach drang man von neuem in abschüssige, zum Fluß hinunterführende kleine Gassen ein, die schlecht gepflastert und nur schwach von Laternen beleuchtet waren, und machte schließlich vor der Wohnung eines möglichen Kunden halt.

In einem verrauchten, niedrigen, halbdunklen Zimmer schrien fünf oder sechs Männer wie Federvieh, das geschlachtet wird. Ihre Gesichter waren rot; die Adern schwollen auf ihrer Stirn. Sie hoben die Arme hoch und deuteten zum Himmel oder schlugen sich auf die Brust. Sie sagten:

«Möge Gott mich auf der Stelle erschlagen, wenn ich lüge!»

Manchmal deuteten sie auf Ada:

«Beim Haupt dieses unschuldigen Kindes versichere ich dem Herrn, daß die Seide einwandfrei war, als ich sie gekauft habe! … Bin ich, ein unglücklicher Jude, der eine Familie zu ernähren hat, denn schuld daran, wenn unterwegs die Mäuse einen Teil angefressen haben?»

Sie wurden böse; sie gingen fort; sie schlugen die Türen zu; sie blieben auf der Schwelle stehen; sie kamen zurück. Mit gespielter Gleichgültigkeit tranken die Käufer Tee aus großen Gläsern in silbernen Haltern; die Zwischenhändler (es stellten sich immer fünf oder sechs gleichzeitig ein, sobald sie ein Geschäft witterten) beschuldigten sich gegenseitig der Gaunerei, des Diebstahls, des Betrugs, der schlimmsten Verbrechen; sie schienen bereit zu sein, sich gegenseitig aufzufressen. Dann beruhigte sich alles: das Geschäft war abgeschlossen.

Adas Vater nahm sie bei der Hand, und sie gingen hinaus. Auf der Straße stieß er einen langen, tiefen Seufzer aus, der in einem Kopfschütteln und einer dumpfen, schmerzlichen Klage endete: «O mein Gott, mein Herr und Gott!», entweder weil das Geschäft nicht zustande gekommen war und alle Anstrengungen, all die mit Palaver und Gerenne verbrachten Wochen sich als vergeblich erwiesen hatten oder weil er seine Konkurrenten ausgestochen hatte. Dennoch mußte man seufzen, dennoch jammern: Gott war unerschütterlich und anwesend, dem Menschen auflauernd wie eine Spinne im Netz, bereit, ihn zu züchtigen, wenn er sich allzu stolz auf sein Glück zeigte. Gott war immer da, eifernd und eifersüchtig; man mußte ihn fürchten und durfte ihn, während man ihm für seine Güte dankte, nicht glauben lassen, er habe alle Wünsche seines Geschöpfes erfüllt, damit er nicht müde werde, es auch weiterhin zu beschützen.

Dann betraten sie ein anderes Haus und wieder ein anderes. Manchmal stiegen sie bis zu den Wohnsitzen der Reichen hinauf. Dann wartete Ada im Vestibül, von der Pracht der Möbel, der Zahl der Dienstboten und der Dicke der Teppiche so beeindruckt, daß sie nicht wagte, sich zu rühren. Sie blieb auf der Kante ihres Stuhls sitzen, riß die Augen auf und hielt sogar den Atem an; bisweilen kniff sie sich in die Wangen, um nicht einzuschlafen. Schließlich kehrten sie mit der Straßenbahn nach Hause zurück, sich schweigend an den Händen haltend.

2

Simon Arkadjewitsch», sagte Adas Vater, «ich bin wie jener Jude, der sich bei einem Zaddik, einem heiligen Mann, beklagte und ihn in seiner Armut um Rat fragte …»

Israel Sinner mimte das Gespräch zwischen dem Armen und dem Heiligen:

«‹Heiliger Mann, ich bin elend, ich habe sechs Kinder zu ernähren, ein zänkisches Weib, eine gesunde, kraftstrotzende Schwiegermutter mit großem Appetit … Was tun? Hilf mir!› Und der heilige Mann antwortete ihm:

‹Nimm zwölf Ziegen zu dir.› – ‹Was soll ich mit denen denn anfangen? Schon jetzt sind wir zusammengepfercht wie Heringe in einem Faß; wir schlafen alle auf einem elenden Strohsack. Wir ersticken. Was soll ich da mit deinen Ziegen?› – ‹Hör zu, du Kleingläubiger. Nimm die Ziegen in dein Haus, und du wirst den Herrn lobpreisen.› Nach einem Jahr kam der Arme wieder: ‹Na, bist du jetzt glücklicher?› – ‹Glücklicher? Mein Leben ist die Hölle! Ich bringe mich um, wenn ich diese verfluchten Ziegen behalten muß!› – ‹Nun, jetzt kannst du dich von ihnen befreien, und du wirst das Glück genießen, das du vorher nicht erkannt hast. Ohne ihre Hörnerstöße und ihren Gestank wird dir deine Hütte wie ein Palast vorkommen. Alles auf der Welt ist nur eine Sache des Vergleichs.› Und auch ich, Simon Arkadjewitsch, habe gegen die Vorsehung gemurrt. Ich mußte meinen Schwiegervater beherbergen und meine Tochter ernähren. Ich arbeitete hart und ernährte sie schlecht, doch es ist das natürliche Los des Menschen, daß er viel Schweiß vergießen muß, um ein bißchen Brot zu verdienen. Ich hatte unrecht, mich zu beklagen. Denn gerade eben erfahre ich vom Tod meines Bruders, und meine Schwägerin, seine Witwe, wird mit ihren beiden Kindern zu mir ins Haus kommen. Also drei Münder mehr zu stopfen. Arbeite, plage dich, du elender Mensch, du armer Jude: ausruhen kannst du dich unter der Erde …«

Auf diese Weise erfuhr Ada von der Existenz und der Ankunft ihrer Cousins. Sie versuchte, sich ihre Gesichter vorzustellen. Das war ein Spiel, das sie stundenlang beschäftigte, sie hörte und sah nicht mehr, was um sie herum vorging, und dann schien sie wie aus einem Traum zu erwachen. Sie hörte ihren Vater zu Simon Arkadjewitsch sagen:

«Man hat mich auf eine Ladung Rosinen aus Smyrna aufmerksam gemacht. Sind Sie daran interessiert?»

«Lassen Sie mich doch in Ruhe! Was soll ich mit Ihren Rosinen anfangen?»

«Regen Sie sich nicht auf, regen Sie sich nicht auf … Ich kann Ihnen billigen Kattun aus Nischni besorgen …»

«Zum Teufel mit Ihrem Kattun!»

«Was würden Sie zu einem Posten Pariser Damenhüte sagen, die nur ein klein wenig beschädigt sind infolge eines Eisenbahnunfalls? Er befindet sich bei der Gepäckaufbewahrung an der Grenze, und man kann ihn zum halben Preis bekommen.»

«Hm … und zu welchem Preis?»

Als sie auf der Straße waren, fragte Ada:

«Werden sie bei uns wohnen, die Tante und die Cousins?»

«Ja.»

Sie gingen einen großen menschenleeren Boulevard entlang. Einige neue Avenuen zogen sich nach einem ehrgeizigen Plan durch die Stadt: Sie waren so breit, daß eine ganze Schwadron zwischen der doppelten Reihe von Lindenbäumen exerzieren könnte, aber nur der Wind durchbrauste sie von einem Ende zum andern, wobei er mit einem schrillen, fröhlichen Pfeifen den Staub vor sich hertrieb. Es war ein Sommerabend unter einem klaren, roten Himmel.

«Eine Frau wird im Haus sein», sagte der Vater endlich, wobei er Ada traurig ansah, «um für dich zu sorgen …»

«Ich will nicht, daß man für mich sorgt.»

Er schüttelte den Kopf:

«Um die Magd am Stehlen zu hindern, und damit du nicht den ganzen Tag mit mir herumziehst …»

«Es macht dir also keinen Spaß?» fragte Ada mit zitternder Stimme.

Sanft legte er ihr die Hand aufs Haar:

«Es macht mir Spaß, aber ich muß ganz langsam gehen, um deine kleinen Beine nicht zu ermüden, und wir Kommissionäre verdienen unser Brot mit Laufen. Je schneller wir laufen, desto schneller gelangen wir zu den Reichen. Andere verdienen mehr Geld als ich, weil sie schneller laufen als ich: sie können ihre Kleinen zu Hause lassen, im Warmen.»

Er dachte:

‹Mit einer Frau …›

Aber von den Toten durfte man nicht sprechen, aus abergläubischer Furcht, Krankheit und Unglück auf sich aufmerksam zu machen (ständig lagen die Dämonen auf der Lauer) und um das Kind nicht zu betrüben. Das Kind hätte noch Zeit genug zu lernen, wie schwer das Leben ist, wie unsicher, stets bereit, uns die kostbarste Habe zu rauben … Und außerdem ist die Vergangenheit die Vergangenheit. Wenn man an sie denkt, verliert man die Kraft, die man zum Leben braucht. Und so mußte Ada heranwachsen, ohne den Namen ihrer toten Mutter richtig zu kennen, ohne je zu ihrem Grab gegangen zu sein, ohne je ein Wort über sie, über ihr kurzes Leben gehört zu haben. Es gab eine verblaßte Photographie im Haus, das Foto eines ganz jungen Mädchens in Schuluniform mit langem schwarzen Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Halb im Schatten eines Vorhangs verborgen, schien das Bild die Lebenden mit einem vorwurfsvollen Blick anzuschauen: ‹Auch ich war so wie ihr›, schienen ihre Augen zu sagen, ‹warum habt ihr Angst vor mir?› Aber so sanft, so schüchtern sie auch sein mochte, sie jagte Angst ein, sie, die in einem Reich wohnte, wo es weder Nahrung noch Schlaf, weder Furcht noch herbe Streitereien gab, also nichts von dem, was das Los der Menschen auf Erden war.

Adas Vater fürchtete sich vor der Ankunft seiner Schwägerin und deren Kinder, aber das Haus war wirklich zu vernachlässigt, zu schmutzig, und es bedurfte einer Frau, die sich um die Kleine kümmerte. Was ihn anging, so fand er sich damit ab, immer nur ein ungebildeter armer Mann zu sein, auch wenn er zur Zeit seiner Heirat ganz andere Träume gehabt hatte … Aber im Grunde war man selbst, waren die eigenen Wünsche unwichtig. Man arbeitet, man lebt, man hofft für seine Kinder. Sind sie nicht das eigene Fleisch und Blut? Ada soll an irdischen Gütern gesegneter sein als er, dann wäre er zufrieden. Er stellte sie sich gut gekleidet vor mit einem schönen bestickten Kleid, einer Schleife im Haar wie die Kinder der Reichen. Woher sollte er denn wissen, wie man ein Kind anzieht? Sie sah altmodisch und kränklich aus in ihren zu weiten und zu langen Kleidern, die er ihr der Qualität des Stoffs halber kaufte, und die Zusammenstellung der Farben war mitunter nicht eben glücklich … Er warf einen Blick auf das Schottenkleid, das sie mit einem von der Köchin Nastassja genähten schwarzen Samtjäckchen trug. Ebensowenig mochte er die Frisur seiner Tochter, diese dichten Ponyfransen auf der Stirn, die bis zu den Augenbrauen reichten, und diese im Nacken unregelmäßig geschnittenen schwarzen Locken. Was für ein dünnes Hälschen … Er nahm es zwischen die Finger und preßte es sanft, und ihm wurde schwer ums Herz vor Zärtlichkeit. Doch weil er Jude war, genügte es ihm nicht, seine kleine Tochter im Traum gut genährt, gut umsorgt und später gut verheiratet zu sehen. Gern hätte er auch irgendein Talent, irgendeine außergewöhnliche Begabung in ihr entdeckt. Könnte sie später nicht eine Musikerin oder eine große Schauspielerin werden? Zwangsläufig waren seine Wünsche begrenzt und bescheiden, da er ja nur ein Mädchen hatte. Ach, welch vergeblicher Wunsch, welch enttäuschte Hoffnung! … Ein Sohn! Ein männliches Wesen! … Gott hatte es nicht gewollt! Aber er tröstete sich mit dem Gedanken an den einen oder anderen seiner Freunde, deren Söhne durchaus nicht ihre alten Tage erfreuten, sondern im Gegenteil ihr Kummer, ihre Schande und die sichtbare Strafe des Ewigen waren: sie befaßten sich mit Politik; sie waren von der Regierung ins Gefängnis geworfen oder in die Verbannung geschickt worden; andere irrten in der Ferne, in fremden Städten umher. Nicht, daß er sich geweigert hätte, Ada später zum Studium in die Schweiz, nach Deutschland oder Frankreich zu schicken … Aber man mußte arbeiten, unermüdlich Geld scheffeln; er schlug in seinem schmierigen kleinen Heft nach, in das er die Art der anzubietenden Waren eintrug, und beschleunigte den Schritt.

3

Am Abend saßen alle in dem engen Eßzimmer dicht beieinander auf dem Ledersofa und tranken Tee; ein Glas nach dem anderen von dem starken, kochend heißen Tee mit einer Zitronenscheibe, während sie gleichzeitig in ein Stück Zucker bissen, bis Ada auf ihrem Stuhl einschlief. Die Küchentür stand immer offen, so daß der Rauch des Herds hereindrang. Nastassja hantierte mit dem Geschirr, stocherte im Ofen, wobei sie manchmal sang oder mit weinseliger Stimme vor sich hin grummelte. Barfuß, ein Taschentuch auf dem Kopf, fett, schwer und träge, verströmte sie den Geruch von Alkohol; sie litt an chronischen Zahnschmerzen, und ihr breites rotes Gesicht war von einem alten verblichenen Tuch umrahmt. Dennoch war sie die Messalina des Viertels, und fast jede Nacht sah man in der Küche vor dem schmutzigen, zerrissenen Vorhang, der ihr Bett verbarg, die Stiefel eines Soldaten der benachbarten Kaserne stehen.

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