Herbstfliegen - Irène Némirovsky - E-Book

Herbstfliegen E-Book

Irène Némirovsky

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Beschreibung

Ein bewegendes Porträt aus der Feder der französischen Bestsellerautorin

Nichts in Frankreich kann der betagten Tatjana Iwanowna den geliebten russischen Winter ersetzen. Während sie in Gedanken noch in der Heimat weilt, stürzen sich die Jüngeren der Emigrantenfamilie atemlos in das Pariser Leben. – Irène Némirovsky (1903–1942), die in den 1920er-Jahren zum Star der französischen Literaturszene avancierte, bezaubert mit einer atmosphärisch dichten Herbstgeschichte.

• Deutsche Erstübersetzung
• Nach dem Roman „Suite française“ eine weitere Perle der Bestsellerautorin

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Seitenzahl: 67

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Inhaltsverzeichnis
 
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
 
Copyright
KAPITEL I
Sie nickte, sagte wie früher:«Nun denn, leb wohl, Jurotschka... Gib gut auf deine Gesundheit acht, mein Lieber.»
Wie die Zeit verging... Als er noch ein Kind war und im Herbst ins Gymnasium nach Moskau reiste, kam er auch so zu ihr, um Lebewohl zu sagen, in ebendieses Zimmer. Das war jetzt zehn, zwölf Jahre her …
Sie betrachtete seine Offiziersuniform mit einer Art Verwunderung, traurigem Stolz.
«Ach, Jurotschka, mein Kleiner, mir ist, als wäre es gestern gewesen...»
Sie schwieg, machte eine müde Handbewegung. Seit einundfünfzig Jahren war sie nun bei der Familie Karin. Sie war die Amme von Nikolai Alexandrowitsch gewesen, Juris Vater, und nach ihm hatte sie seine Geschwister großgezogen, dann seine Kinder… Sie erinnerte sich noch an Alexander Kirillowitsch, der 1877, vor neununddreißig Jahren, im türkischen Krieg gefallen war. Und jetzt war die Reihe an den Kleinen, Kirill und Juri, in den Krieg zu ziehen...
Sie seufzte, machte auf Juris Stirn das Zeichen des Kreuzes.
«Geh, Gott wird dich beschützen, mein Lieber. »
«Aber sicher, Mütterchen...»
Er lächelte mit einem spöttischen, resignierten Ausdruck. Er hatte ein dickes, frisches Bauerngesicht. Er ähnelte nicht den anderen Karins. Er nahm die kleinen Hände der alten Frau, die hart waren wie Rinde, fast schwarz, in die seinen und wollte sie an seine Lippen führen.
Sie errötete, entzog sie ihm hastig.
«Bist du verrückt? Würde man nicht meinen, daß ich eine schöne junge Dame bin? Geh jetzt, Jurotschka, geh runter... Unten wird noch getanzt. »
«Leb wohl, Njanjuschka, Tatjana Iwanowna», sagte er mit seiner schleppenden, ironischen und ein wenig schläfrigen Stimme,«leb wohl, ich werde dir aus Berlin einen Seidenschal mitbringen, falls ich dort einmarschiere, was mich wundern würde, und einstweilen werde ich dir zu Neujahr ein Stück Stoff aus Moskau schikken. »
Sie versuchte zu lächeln, indem sie ihren Mund noch mehr zusammenkniff, der fein geblieben war, aber schmal und nach innen gestülpt, wie von den alten Kiefern eingesogen. Sie war eine Frau von siebzig Jahren, von zerbrechlichem Äußeren, kleinem Wuchs, mit einem lebhaften, lächelnden Gesicht; bisweilen war ihr Blick noch durchdringend, andere Male jedoch matt und ruhig. Sie schüttelte den Kopf.
«Du versprichst viel, und dein Bruder ist genau wie du. Aber da unten werdet ihr uns vergessen. Nun ja, gebe Gott, daß es bald zu Ende ist und daß ihr alle beide zurückkehrt. Wird dieser Fluch schnell zu Ende gehen?»
«Bestimmt. Schnell und schlimm.»
«Damit darf man nicht scherzen», sagte sie lebhaft.«Alles liegt in Gottes Hand.»
Sie ließ von ihm ab, kniete sich vor den offenen Koffer.«Du kannst Platoschka und Pjotre sagen, sie können die Sachen holen, wann sie wollen. Alles ist fertig. Die Pelze und Plaids sind unten. Wann fahrt ihr ab? Es ist Mitternacht. »
«Es genügt, wenn wir am frühen Morgen in Moskau eintreffen. Der Zug fährt morgen um elf Uhr ab.»
Sie seufzte, schüttelte den Kopf mit vertrauter Bewegung.
«Ach, Herr Jesus, was für traurige Weihnachten …»
Unten spielte jemand einen schnellen, beschwingten Walzer auf dem Klavier; man hörte die Schritte der Tänzer auf dem alten Parkett und das Klirren der Sporen.
Juri machte eine Handbewegung.«Leb wohl. Ich gehe runter, Njanjuschka.»
«Geh nur, mein Herz.»
Sie blieb allein zurück. Sie legte die Kleider zusammen und murmelte:«Die Stiefel... Die Teile des alten Necessaires... sie können im Feld noch nützen... Habe ich auch nichts vergessen? Die Gehpelze sind unten...»
Auf diese Weise hatte sie vor neununddreißig Jahren, als Alexander Kirillowitsch fortgegangen war, die Uniformen eingepackt, sie erinnerte sich gut daran, mein Gott. Die alte Zimmerfrau, Agafja, lebte noch... Sie selbst war jung damals... Sie schloß die Augen, stieß einen tiefen Seufzer aus, erhob sich schwerfällig.
«Ich möchte gern wissen, wo diese Hunde sind, Platoschka und Petka», grummelte sie.«Möge Gott mir vergeben. Sie sind heute alle betrunken. »Sie hob den heruntergefallenen Schal auf, bedeckte ihr Haar und ihren Mund und ging hinunter. Die Wohnung der Kinder befand sich im alten Teil des Hauses. Es war ein schönes Gebäude von erhabener Architektur mit einem großen, säulengeschmückten griechischen Giebel; der Park erstreckte sich bis zur Nachbargemeinde Sucharewo. Seit einundfünfzig Jahren hatte Tatjana Iwanowna es noch nie verlassen. Nur sie kannte alle seine Schränke, alle seine Keller und die dunklen verlassenen Zimmer im Erdgeschoß, die früher einmal Prunkräume gewesen waren, durch die Generationen gewandelt waren …
Rasch durchquerte sie den Salon. Kirill bemerkte sie und rief lachend:«Na, Tatjana Iwanowna? Gehen deine Lieblinge fort?»
Sie runzelte die Brauen und lächelte gleichzeitig.
«Oh, es wird dir bestimmt nicht schaden, wenn dein Leben ein wenig härter wird, Kirilluschka …»
Er und seine Schwester Lulu besaßen die Schönheit, die blitzenden Augen, die grausame und glückliche Miene der Karins von einst. Lulu tanzte in den Armen ihres kleinen Vetters, Tschernyschow, eines fünfzehnjährigen Gymnasiasten. Sie selbst war gerade sechzehn geworden. Sie war bezaubernd mit ihren vom Tanz erhitzten roten Wangen und ihren dicken schwarzen Zöpfen, die sich um ihren kleinen Kopf wanden wie ein dunkler Kranz.
«Die Zeit, die Zeit», dachte Tatjana Iwanowna,«o mein Gott, man merkt gar nicht, wie sie vergeht, und eines Tages sieht man, daß die kleinen Kinder einen Kopf größer sind als man selbst... Auch Lulitschka ist jetzt ein großes Mädchen... Mein Gott, und erst gestern sagte ich zu ihrem Vater: ‹Weine nicht, Kolinka, alles geht vorbei, mein Herz.› Und jetzt ist er ein alter Mann...»
Er stand vor ihr, zusammen mit Jelena Wassiljewna. Er sah sie, zitterte, murmelte:«Schon? Tatjanuschka? Die Pferde sind da?»
«Ja, es ist Zeit, Nikolai Alexandrowitsch. Ich lasse das Gepäck in den Schlitten bringen.»
Er senkte den Kopf, biß sich leicht auf seine bleichen Lippen.«Schon, mein Gott? Nun ja... was soll man machen? Geh. Geh...»
Er wandte sich zu seiner Frau um, lächelte schwach und sagte mit seiner wie gewohnt müden und ruhigen Stimme:«Children will grow, and old people will fret. Nicht wahr, Nelly? Also, meine Liebe, ich glaube, es ist wirklich Zeit.»
Wortlos sahen sie sich an. Nervös warf sie den schwarzen Spitzenschal um ihren langen, geschmeidigen Hals, die einzige Schönheit ihrer Jugend, die unversehrt geblieben war, ebenso wie die grünen, wie Wasser glitzernden Augen.
«Ich gehe mit dir, Tatjana.»
«Wozu?»sagte die alte Frau achselzuckend,«Sie werden sich bloß erkälten.»
«Das macht nichts», murmelte sie ungeduldig.
Tatjana Iwanowna folgte ihr schweigend. Sie gingen durch die kleine verlassene Galerie. Früher, als Jelena Wassiljewna noch Gräfin Jelezkaja hieß, als sie in den Sommernächten im Pavillon am Ende des Parks Nikolai Karin besuchte, betraten sie durch ebendiese kleine Tür das schlafende Haus … dort traf sie bisweilen am frühen Morgen die alte Tatjana. Sie sah noch, wie sie vor ihr zurücktrat und sich bekreuzigte. All das schien alt und fern zu sein wie ein seltsamer Traum. Als Jelezki gestorben war, hatte sie Karin geheiratet. Anfangs hatte Tatjanas Feindseligkeit sie oft gereizt und geschmerzt... Sie war jung. Jetzt war es anders. Es kam vor, daß sie mit einer Art ironischem und traurigem Vergnügen auf die Blicke der alten Frau, ihr verschämtes Zurückweichen wartete, als wäre sie noch immer die sündige Ehebrecherin, die unter den alten Linden zu ihrem Stelldichein lief... Das zumindest war von ihrer Jugend geblieben. Mit lauter Stimme fragte sie:«Hast du auch nichts vergessen?»
«Aber nein, Jelena Wassiljewna.»
«Es schneit stark. Laß noch mehr Decken in den Schlitten bringen.»
«Seien Sie unbesorgt.»
Sie stießen die Terrassentür auf, die sich im hohen Schnee mit Mühe knirschend öffnete. Die kalte Nacht war voll vom Geruch vereister Fichten, fernen Rauchs. Tatjana Iwanowna band ihren Schal unter ihrem Kinn zusammen und lief zum Schlitten. Sie ging immer noch gerade und lebhaft wie damals, als sie im Park in der Dämmerung die Kinder suchte, Kirill und Juri. Jelena Wassiljewna schloß einen Augenblick die Augen, sah ihre beiden ältesten Söhne wieder vor sich, ihre Gesichter, ihre Spiele. Kirill, ihr