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Täter? Opfer? Beides? Naid, Oliver und Ismat sind grundverschiedene Menschen. Trotzdem verbindet sie etwas: Tag für Tag begegnet ihnen Entmenschlichung. Naid möchte sich mit seiner Frau eine Zukunft in Frieden im fremden London aufbauen – doch sein Umfeld sieht einen islamistischen Gefährder in ihm. Oliver hingegen giert nach Ruhm und Anerkennung als berühmtester Amokläufer aller Zeiten – seine Wünsche finden bei skrupellosen Extremisten reichen Nährboden. Ismat wünscht sich seinen Bruder zurück, der die Gefangenschaft in Abu Ghuraib mit dem Leben bezahlte – seine Verzweiflung macht ihn zur leichten.Beute für geschickte Verführer. Alle drei geraten in den Abgrund des islamistischen Terrors. Gibt es ein Entkommen? Eine eindringliche, brandaktuelle Erzählung.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Das vorliegende Buch enthält einzelne, kurze Schilderungen von Gewalt, die sehr sensible Gemüter verstören können. Als nicht zu unterschreitende Altersempfehlung für Leser und Leserinnen gilt das 16. Lebensjahr.
Im Rahmen der Schilderung der rassistischen und diskriminierenden Denkweise sowie Sprache eines Protagonisten werden rassistische und beleidigende Schimpfworte verwendet, die geeignet sind, Leser und Leserinnen zu verletzen. Die gewählte Ausdrucksweise dient der Charakterisierung der handelnden Person und gibt nicht die Ansichten der Autorin wieder. Die Autorin distanziert sich ausdrücklich von jeder Art diskriminierender, rassistischer, misogyner, homophober, extremistischer oder anderweitig menschenfeindlicher Ideologie.
Die Aussternung beleidigender Wörter im antirassistischen, belletristischen Kontext erfüllt nicht den literarischen Anspruch der Autorin, unter anderem, da sie verharmlosend wirken kann. Sie erfolgt ausschließlich aufgrund diesbezüglichen Vorgaben seitens der Vertriebspartner.
„Guantánamo war kein Instrument für die Terrorismusbekämpfung, sondern wurde zu einem Symbol, das der Al Kaida half, Terroristen für ihre Sache zu rekrutieren. Die Existenz von Guantánamo hat wahrscheinlich mehr Terroristen auf der Welt geschaffen, als jemals dort inhaftiert wurden.“
- Barack Obama -
»Der Ziegenficker gehört zu uns.«
Der Wachmann lachte, Naid hingegen nickte nur kurz, ohne hochzusehen. Er regte sich nicht mehr auf. Es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen. Früher hatte er sich aufgeregt und es war nie etwas Gutes dabei entstanden. Nur Glück und ein gnädiger Jugendrichter hatten dafür gesorgt, dass er mit einer Verwarnung und ohne Vorstrafe davongekommen war. Seitdem übte er sich darin, zumindest sein Äußeres kalt erscheinen zu lassen. Gleichgültig, unnahbar. Arzu hielt das für keine gute Idee. Sie meinte, er solle sich vielleicht doch besser aufregen, wenigstens ein bisschen. Oder lächeln. Lächeln wäre gut. Hauptsache, er trüge nicht diese ausdruckslose Miene zur Schau - das sähe zu böse aus. Zu arabisch vor allem. Seiner Meinung nach konnte er das ohnehin nicht ändern, ob er nun gewollt hätte oder nicht. Sein Gesicht wäre im Leben nicht als italienisch oder griechisch durchgegangen, selbst ohne den dichten, dunklen Bart und das kurz geschorene Kopfhaar. Doch Arzu verbarg ihre Sorgen nicht und natürlich hatte sie im Grunde recht. Vermutlich wäre es besser gewesen, dümmlich zu grinsen, doch er brachte eine derartige Verstellung einfach nicht über sich. Und in Allahs Sinne wäre es sicher auch nicht.
Naid zog seine Sicherheitskarte durch und betrat die Personenkontrolle, in das gleißende Neonlicht blinzelnd - draußen war es noch stockfinster. Trotzdem ratterten die Gepäckbänder schon, alles piepte und blinkte. Heathrow war unermüdlich, unerschöpflich und glich für ihn einem gigantischen Tier, einer Amöbe vielleicht. Oder eher noch einer Chimäre aus Tier und Maschine, die Menschen verschlang und ausspie, wie es ihr beliebte. In ihrem Inneren wälzten sich die Massen durch das gewaltige Verdauungssystem.
Naid hatte die Sicherheitsfreigabe für den kritischen Bereich und hätte auch vorne arbeiten dürfen, dann wäre es am Monatsende weniger knapp gewesen. Dass er es nicht tat, lag offiziell am Akzent, aber ein Kollege hatte ihm hämisch grinsend gesteckt, dass es wohl doch eher mit seiner Optik zu tun hatte. Ihm war es egal, er hasste den Job so oder so. Die unmöglichen Schichten, die unfreundlichen Kollegen, die stets gleichen, stupiden Abläufe, den Lärm und die kalte Atmosphäre des Flughafens. Aber es war ein Job und das war das Wichtigste - er musste sich vor Arzu nicht mehr schämen. Und vor sich selbst. Ach Arzu. Nach all den Jahren vermisste er sie immer noch jeden Tag, wenn er ging. Seine Blume. Zu Hause nannte er sie wirklich so und freute sich über ihr Lächeln. Sie liebte Pflanzen und ihren Job als Floristin. Naid gönnte es ihr, es war gut, wenn wenigstens einer von ihnen zufrieden war. Außerdem lag ihr Arbeitsplatz in Southwark: Zwar war die Bahnfahrt lang, doch die Gegend sicher, sodass er keine Angst um sie haben musste.
Langsam drückte Oliver das zappelnde Insekt auf den Kaktusstachel. Die fetten, schwarzen Fliegen hingen hier überall herum, in den Personalräumen ebenso wie in den Hallen. Sie ließen sich von den Gerüchen der zahllosen Buden anlocken, die den verrücktesten Fraß feilboten: Vorgeschnittenes Obst, Sushi und anderes ausländisches Zeug, das niemand brauchte. Wenn die Viecher allerdings merkten, dass absolut alles hier in unzählige Plastikschichten verpackt und außerdem viel zu teuer zum Wegschmeißen war, war es bereits zu spät. Dann hieß es nutzlos an die Scheiben prallen und verhungern. Tja. Er musste die Fliegen nur nachher wieder abfummeln - einmal hatte ihn einer der anderen beobachtet und daraufhin angesehen, als wäre er bekloppt. Versager. War nicht so, dass er gerne Tiere quälte, er war ja kein Perverser. Ihm war halt bloß langweilig.
Die übrigen verbrachten ihre Pausen immer wie eine Schar Hühner, zusammengluckend und endlos über irgendein Zeug lamentierend, Politik, Fußball, Familie, was wusste er. Bloß der stille Iraki oder Afghane hielt sich etwas abseits, gehörte auch nicht wirklich dazu. Oliver hätte ihn schon gerne ein bisschen ausgefragt, aber der Mann schien nicht allzu viel Interesse an einer Unterhaltung zu haben, oder möglicherweise verstand er ihn auch einfach nicht. Kurz hatte er in Betracht gezogen, dass es sich um einen von ihnen handeln könnte, war aber nicht wirklich überzeugt. Letztendlich sowieso egal.
Die Fliege zuckte sogar noch, als er sie längst wieder abgezupft und mit einer raschen Handbewegung in den Mülleimer gewischt hatte. Tiere zu quälen war fade. Katzen. Ok, Katzen gingen ihm wirklich auf den Sack mit ihrer selbstherrlichen Arroganz. Wenn er eine sah und keiner hinguckte, wenn die sich dann auch noch unverschämt an sein Bein presste, verpasste er ihr einen ordentlichen Tritt. Früher, auf dem Schulweg, hatte er ab und an eine mit dem Lacrosseschläger erwischt. Flogen gar nicht so schlecht, die Viecher. Aber wirklich Gold wert war der völlig fassungslose Ausdruck auf ihren hässlichen, haarigen Gesichtchen. Als könnten sie sich in ihrer grenzenlosen Arroganz nicht vorstellen, dass jemand nicht so dumm war, sie zu hofieren. Hunde waren allerdings auch nicht viel besser mit ihrer endlosen, debilen Begeisterung. Naja, zumindest konnten die beißen.
Kazim war weg. Seit drei Tagen schon. So lange blieb der Ältere sonst nie weg, eine Nacht vielleicht, niemals mehr. Mutter war ganz grau im Gesicht vor Angst und Ismat, der ihr gut zuzureden versuchte, sorgte sich insgeheim selbst. Er kannte die meisten Freunde seines großen Bruders und hatte längst jeden nach dessen Verbleib gefragt - niemand wusste etwas. Einzig, dass Bagher, Kazims bester Freund, ebenfalls verschwunden war, konnten sie ihm sagen. Doch ob das nun ein Trost war oder, ganz im Gegenteil, sogar noch beängstigender, wusste Ismat nicht. Muhamad, der in seinem Alter war, hatte zu Anfang noch lachend gemeint:
»Machen bestimmt einen Ausflug nach Bayt Alshaytan, die beiden.«
Ismat lachte nicht, er hätte auch nicht gelacht, wenn es nicht um seinen Bruder gegangen wäre. So etwas sagte man nicht. Jeder wusste doch, dass aus Abu Ghuraib niemand zurückkehrte. Oder danach zumindest nicht mehr er selbst war. Immerhin war Muhamad so nett, ihm für die Suche sein verbeultes Mofa zu leihen - er war der Einzige, dessen Eltern sich so etwas leisten konnten. Mehr noch als sonst wünschte sich Ismat seinen Vater zurück. Doch die Chance auf einen Rat von ihm war vor zwei Jahren mit einem maroden Auto in Flammen aufgegangen. Ein Unfall, niemand war schuld, aber das war kein Trost. Er schämte sich manchmal, weil er im Inneren oft das Gefühl hatte, noch immer kein richtiger Mann zu sein, obwohl er schon seinen 13. Geburtstag gefeiert hatte. Mit Kazim war das nicht so schlimm gewesen, aber nun spürte er die drückende Last der Verantwortung, alles in Ordnung zu bringen.
Seine Mutter konnte ihm bei der Suche nach seinem Bruder natürlich nicht helfen. Außerdem war sie viel zu schnell erschöpft. Vor ein paar Jahren war Vater deshalb mit ihr beim Arzt gewesen, der beschieden hatte, dass sie eine Operation bräuchte und dringend Medikamente nehmen müsste. Das Herz. Sie hatten angefangen zu sparen, aber als Vater starb, benötigten sie das Geld für die Beerdigung. Mutter beschwerte sich nie, aber Ismat sah, dass ihre Beine immer dicker wurden, obwohl sie nicht viel aß. Wenn sie morgens ging, um Wasser zu holen, blieb sie alle paar Schritte stehen und keuchte. Er half ihr manchmal, obwohl er wusste, dass es sich nicht schickte.
Auf dem wackeligen Mofa suchte Ismat all die Orte ab, an denen es sich herumhängen ließ, wenn nicht geschossen wurde. Den Schuppen hinter der ehemaligen Werkstatt. Die Tankstellenruine am Südrand der Stadt, ihren Treffpunkt. Den alten Dattelpalmenhain, in dem manchmal unheimliche, abgerissene Männer aus dem Norden schliefen, deren Sprache er kaum verstand. Schließlich fuhr er hinaus in die Wüste zu einem der vielen Krater, dahin, wo sein Bruder ihm wenige Wochen zuvor gezeigt hatte, wie man mit einer Flinte auf Dosen schoss. Dort fand er die beiden rostigen Fahrräder zwischen den Steinen, das von Kazim und das von Bagher.
Ismats Herz raste. Minutenlang stand er nur vor den zwei Rädern, rieb die Hände aneinander und wusste nicht, was er tun sollte. Dann begann er, Schritt für Schritt die Umgebung abzusuchen, in konzentrischen Kreisen, alle paar Meter Lobpreisungen an Allah flüsternd, um seine Nerven zu beruhigen.
Viel fand er nicht. Ein paar Zigarettenstummel im Sand - sein Bruder rauchte heimlich, obwohl er wusste, dass es makrūh war. Einige Büchsen auf der gegenüberliegenden Seite des Kraters, durchsiebt von Schüssen, mehr als zuletzt, meinte er zu erkennen. Und breite Abdrücke, die jeder von ihnen erkannt hätte: Ein Humvee. Das war nicht gut. Aber immerhin kein Blut, kein Anzeichen davon, dass irgendetwas Schreckliches geschehen war, beruhigte Ismat sich selbst. Was nun? Vielleicht waren sie bloß von einer Patrouille aufgegriffen worden, der verbotenen Ballerei und der Flinte wegen, die sie nicht hätten besitzen dürfen. Dann würden sie in ein paar Tagen wieder auftauchen, vielleicht mit ein paar blauen Flecken. Ganz sicher würden sie bald von selbst zurückkehren. Trotzdem ging Ismat am folgenden Tag bei der Polizeistation vorbei. Doch sie wussten nichts, obwohl er ihnen frische Orangen mitbrachte.
Seine Großeltern hatten ihm einen Gefallen erwiesen, den größtmöglichen vielleicht sogar. Auch wenn Naid das jahrelang anders gesehen und sich verraten gefühlt hatte. Es selbst heute noch in den dunkelsten Stunden anders sah. Aber eigentlich wusste er es besser. Es war eine Erlösung, als er endlich aufhören konnte, wütend zu sein. Schier endlose Gespräche mit Arzu und seinem Iman hatten großen Anteil daran gehabt und er würde ihnen immer dankbar dafür sein. Nicht zuletzt, weil er ahnte, wie finster und hasserfüllt seine Zukunft sonst hätte werden können.
Er schuldete seiner Familie, und das waren vor allem seine Großeltern, Respekt und Gehorsam - nie hätte Naid gewagt, sich ihnen zu widersetzen. Sie zogen ihn auf wie einen Sohn, liebevoll und bestrebt, ihn seinen Verlust nicht spüren zu lassen. Doch obschon er versuchte, es nicht zu zeigen, war das Loch in seinem Herzen niemals zu schließen. Lange hatte alles, was er über seine Eltern wusste, aus Erzählungen und von alten Fotos gestammt, trotzdem fehlten sie ihm schrecklich. Vielleicht hatte es ihn deshalb umso mehr verletzt, als er gehen musste und sich ein zweites Mal verlassen sah.
So sehr sich seine Großeltern bemüht hatten, ihn zu Demut und Vorsicht zu erziehen - mit den ersten Haaren am Kinn war auch die Wut gewachsen. In endlosen Diskussionen mit seinen Freunden stellten sie alles infrage, was bis dahin selbstverständlich erschienen war. Reichten heimlich abgegriffene Bücher und kaum lesbare Ausdrucke herum, sich wie wilde, tapfere Revolutionäre vorkommend. Nacht für Nacht lag er wach vor Frustration über all das, was rund um ihn herum geschah, was verboten war, was gefährlich war. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Warum konnte es hier nicht sein wie in anderen Ländern? Als Kind hatte er nichts von dem Korsett gespürt, das ihm nun zu eng für auch nur einen einzigen tiefen Atemzug schien. Wie ein Vogel im Käfig kam er sich bald vor. Obwohl eigentlich mit sanftmütigem Temperament ausgestattet, konnte er sich des Wunsches, etwas zu unternehmen, irgendwann nicht mehr erwehren. Seine Großeltern hörten sich seine zornigen Reden zunächst geduldig an, doch als sie den 16-Jährigen mit einem Stapel Flugblätter erwischten, zogen sie ihre Konsequenzen: Es wurde zu gefährlich für einen wütenden Jungen. Zwei Wochen später saß Naid in einem Flugzeug nach London, auf dem Weg zu seinem Onkel und seiner Tante. Frierend, voller Angst und schlechtem Gewissen, weil er ahnte, dass seine Großeltern ihr ganzes Erspartes für das Ticket hatten opfern müssen. Er wusste, dass er sie nun nicht enttäuschen durfte, dass sie all das nicht noch einmal durchstehen würden.
Klar gab es einen Boss. Einen offiziellen. Feister Mann mit weichem, roten Gesicht und cholerischem Temperament. Oliver verachtete ihn - vor so einem hätte er nie Respekt empfinden können. Ohnehin war in Wirklichkeit er der Chef von all dem hier, auch wenn es niemand wusste. Er kannte den Flughafen wie seinen eigenen Körper, jede Abkürzung, jeden Winkel, jede Schraube. Jede Schwachstelle. Während die anderen ihr kleines, unwichtiges Leben diskutierten, sich gegenseitig versichernd, was für prima Menschen sie doch waren, durchstreifte er Heathrow seit Jahren wie sein Jagdrevier.
Die Touris empfanden den Flughafen oft als Labyrinth, anders konnte er sich das orientierungslose Herumgerenne mit panisch verschwitzten Gesichtern nicht erklären. Dabei sahen die nicht einmal die Hälfte. Die andere Hälfte, das echte Heathrow, lag dahinter und vor allem darunter - die gigantischen Keller kamen einem Labyrinth wesentlich näher. Tiefgeschoss unter Tiefgeschoss, wie bei einem Termitenbau. Die ungeschönten Betoneingeweide demaskierten dieses Wesen erst als das, was es wirklich war: Ein dekadentes Monster. Hier fühlte er sich wohl. Näher an einem Zuhause als irgendwo sonst. Und hätte selbst in absoluter Dunkelheit jeden Weg gefunden. Die anderen hatten keine Ahnung von all dem, wussten es zumindest nicht zu schätzen, dümpelten herum, plan- und ziellos. Er war ganz anders. Natürlich merkte das keiner, weil ihn sowieso alle unterschätzten. Naja, fast alle. Auf jeden Fall die sogenannten Kollegen, die hier ihre Zeit abrissen. Die würden sich noch wundern.
Es ging einfach weiter. Die Welt scherte sich nicht um den verschollenen Kazim. Es waren schon so viele weg. Doch Ismat hatte nur den einen Bruder und litt unter der Alltäglichkeit seines Verschwindens. Eine Weile noch fragten Freunde und Nachbarn nach ihm, aber irgendwann verschwand er aus ihren Gesprächen, als gäbe es einen stumm vereinbarten Zeitpunkt, den es abzuwarten galt, bis ein Mensch aufhörte zu existieren. Ismat versuchte, die Dinge aufrecht zu erhalten, aber es gelang ihm kaum. Er war nun der Mann im Haus und wünschte sich, er wäre es nicht gewesen. Oder wenigstens nicht allein. Doch nach ihm hatte es nur noch eine Schwester gegeben - sie war süß gewesen, aber gestorben, bevor sie hatte laufen können.
»Nicht so schlimm«, sagten die Nachbarn, »nur ein Mädchen.«
Aber gerade hätte er gerne eine Schwester gehabt. Der Karren war alleine mühsam zu ziehen und für einen Esel fehlte das Geld. Wenn Ismat konnte, legte er ein paar tausend Dinar in die kleine Grube unter dem Brett am Herd, aber meistens reichte es nicht dafür. Außerdem wäre er vielleicht weniger einsam gewesen, selbst mit einem Mädchen. Früh am Morgen zog er den schweren Karren zum Markt und spannte seine Plane auf. Dann pinselte er sorgfältig den allgegenwärtigen Staub von den Früchten und stellte sich daneben, zwölf Stunden lang, bis zum Sonnenuntergang.
Tagein: »Tomaten? Du möchtest Tomaten, Bruder? Hier, ich gebe dir einen Granatapfel dazu, wenn du fünf Kilo kaufst!«
Tagsaus: »Aprikosen? Ich habe die schönsten Aprikosen auf dem ganzen Markt, sieh dich um, du wirst keine besseren finden!«
Immerhin, die Arbeit half, satt zu werden – denn von Obst und Gemüse allein gelang ihm das nicht. Oftmals aber tauschten sie untereinander Ware, die sich Kunden nicht mehr anbieten ließ: Zwei Äpfel mit einer Delle gegen ein angebranntes Stück Hähnchen, einen schlappen Kopfsalat gegen ein missratenes Samoun.
Abends raschelten Scheine in seiner Tasche und in den ersten Monaten hatte er sich richtig reich gefühlt, trotz des schlechten Gewissens. Als könne er die Welt erobern. Seinen Bruder zurückholen. Anfangs gab er oft Geld für Unsinn aus, nutzlosen Kram wie einen kleinen Glücksbringer aus Messing, der ihm gefiel. Einmal erstand er sogar heimlich Wein, zusammen mit Muhamad. Die Flüssigkeit schmeckte sauer und seltsam, aber sie tranken alles aus und am Ende übergab er sich hinter der Hütte. Seine Mutter sagte nichts, als er im Morgengrauen heimkehrte, doch er hörte sie im Nebenzimmer weinen und fühlte sich schrecklich.
Sie verbarg ihre Tränen vor seinen Augen, aber nachts lag er oft wach - die Wände waren dünn. Zwei Kammern von acht Quadratmetern Größe, eine Wohnküche und den kleinen Hinterhof mit Toilette und Tandur zum Brotbacken umfasste ihr Reich. Die Wände aus Lehmziegeln hielten die gleißende Hitze fern, durch die kleinen, vergitterten Fenster fiel nur wenig Licht. Die abgelaufenen, ehemals bunt gewebten Teppiche dämpften jeden Schritt. Was ihm früher eng für vier erschienen war, war nun viel zu groß für zwei. Kaum trat er durch die bogenförmige Tür, legte sich eine drückende Stille über ihn wie ein Schleier aus Wüstensand, nur unterbrochen vom Keuchen seiner Mutter. Kazim hatte abends oft Oud gespielt, er war gut auf der Laute, und manchmal waren Nachbarn vorbeigekommen, um ihm zuzuhören und gemeinsam Tee zu trinken.
Der Imam sagte, er solle viele Duʿā's für die sichere Rückkehr seines Bruders sprechen, und Ismat betete. Anders als in der Vergangenheit verpasste er auch keine Salāt mehr, oder holte sie wenigstens nach, wenn er einmal verschlief. Aber Kazim kehrte einfach nicht zurück und er hätte so gerne mehr getan. Irgendetwas tun können.
Den sachten, in der Luft hängenden Duft von Scholeh-sard kommentierten seine Eingeweide umgehend mit heftigem Rumoren. Trotzdem wäre er nie auf die Idee gekommen, ohne sie zu essen. Arzu musste erst um neun Uhr in der Blumenhandlung sein und kam später als er heim, daher nutzte sie den frühen Morgen oft für Hausarbeit. Naid schnupperte in die Küche und sah, dass er recht hatte - die Leckerei stand zum Auskühlen auf der Arbeitsplatte. Sicher hatte sie es für ihren Hochzeitstag vorbereitet, sie wusste, dass er dem süßen Reis kaum widerstehen konnte. Naid lächelte und berührte die kleinen Ohrstecker in Rosenform in seiner Hosentasche.
Arzu war sein Glücksfall gewesen, sein Wunder. Er hatte sie in seinem letzten Collegejahr kennengelernt, während er taumelte, mit allem haderte. Arzu war das Gegenteil gewesen, schwieg mehr, als sie redete, aber wenn sie etwas sagte, sprach Klugheit aus jedem Wort. Schnell bewunderte er ihre Intelligenz und Zielstrebigkeit - von ihrer Schönheit ganz zu schweigen. Zwei Jahre lang hatte er werben müssen, um sie zu überzeugen, noch einmal so lange, um auch ihre Familie auf seiner Seite zu haben. Bei ihrer Hochzeit hatte er ihr geschworen, dass es nicht die falsche Entscheidung gewesen war. Ansporn genug, von da an alles richtig zu machen! Noch skeptischer als ihr Vater hatten ihn nur ihre englischen Freunde beäugt. Wenige Monate nach ihrer Hochzeit hatte Arzu ihm berichtet, dass all ihre Freundinnen geglaubt hatten, sie hätte einen Perser ehelichen müssen. Eine von ihnen gestand ihr im Vertrauen, sie hätten gedacht, sie wäre von ihren Eltern gezwungen worden oder es hätte irgendwelche Übereinkünfte im Kindesalter gegeben. Nicht eine von ihnen war auf die Idee gekommen, dass Arzu vielleicht selbst gerne einen Perser wollte. Zuhause Farsi sprechen wollte. Dinge nicht erklären müssen wollte. Seine Frau hatte gelacht, als sie ihm davon erzählte, aber Naid fand es traurig.
Sonntagsbesuch. Eine ebenso triste wie verlogene Tradition. Handschlag für seinen Vater, freundliches Nicken für seine Mutter. Er plauderte bei Kaffee und selbst gebackenem Kuchen mit ihr über die Arbeit und versicherte, wie jeden Monat, dass die Pilotenausbildung kurz bevorstünde. Nicht, dass er je vorhatte, Pilot zu werden, aber ihr gefiel es, dazu sorgte es für Ruhe und das eine oder andere großzügige Geschenk. Sein Vater mochte die Idee ebenfalls: Der Sohn, ein Pilot - das war etwas, um es den Nachbarn zu erzählen. Ohnehin redete er lieber mit seinem Vater, der sich auf das Wesentliche konzentrierte, anstatt stundenlang rührseliges Zeug über irgendwelche uninteressanten Leute oder die Gartenbepflanzung zu verzapfen.
Seine Schwester war nicht da, was soweit nicht verwunderlich war - sie war in den letzten Jahren jedem Familientreffen ferngeblieben, nicht einmal an Weihnachten aufgetaucht. Das schwarze Schaf. Ihre Eltern akzeptierten diese Mätzchen mit mal verwunderter, mal empörter Milde. Oliver hingegen brachte ihr nur mühsam unterdrückte Verachtung entgegen. Sie war älter, aber ihr Benehmen kindisch. Bis vor Kurzem hatte sie sogar jeden Monat Geld von ihren Eltern bekommen. Gut, seine Eigentumswohnung hatten sie auch bezahlt. Aber das war etwas anderes. Er hatte ein Ziel. Catherine war ziel- und rastlos, unzufrieden, widersprüchlich. Mal bildete sie sich, eine Künstlerseele zu sein, dann wieder ein rational denkender Mensch, und bekam doch keinen Fuß auf den Boden. Ein Archetyp der Woken mit all ihrem Mangel an Disziplin. Sie würde nie verstehen, wie es war, herausragend zu sein. Naja, ihr Pech.
Mutter war müde. Ismat versuchte, etwas Nettes zu ihr zu sagen, wenn er abends heimkam, aber meistens fiel ihm nichts ein. Vor ein paar Wochen war sie beim Wasserholen zusammengebrochen, Nachbarn hatten sie heimgetragen. Später versicherte sie ihm, dass sie in Ordnung sei, es wäre eben bloß heiß gewesen. Vielleicht habe sie zu wenig getrunken. Aber ein paar Tage später war es erneut passiert. Seitdem holte er abends Wasser, während Mutter das Essen für den kommenden Morgen vorbereitete.
Am liebsten wäre er zu den Amerikanern gegangen und hätte dort nach Kazim gefragt. Doch Mutter flehte ihn an, es zu lassen - vielleicht hatten sie den einen Sohn, vielleicht auch nicht, aber auf keinen Fall sollten sie auch noch den zweiten kriegen! Ismat musste ihr insofern recht geben, als dass noch nie einer zurückgekehrt war, bloß weil seine Familie um Auskunft gefleht oder gar mit einem Anwalt gedroht hatte.
Die Tage wurden lang. Doch noch schlimmer als diese Tage zwischen Bohnen und Gurken, Zwiebeln und Knoblauch waren die endlosen Stunden, die er zu Hause verbringen musste. Ismat kam sich unnütz vor, wusste nichts zu tun und litt unter finsteren Gedanken. Dabei ging es ihnen vergleichsweise gut. Ihr Dorf war arm, ärmer als die meisten anderen rundherum. Dort gab es modernere Häuser aus Beton statt Lehm, mit mehr als einem Stockwerk, Mosaikfliesen in den Innenhöfen und Strom, sodass Tag und Nacht das Rattern zahlreicher Klimaanlagen erklang. Hier hingegen schrie nur gelegentlich ein Esel und übertönte das leise Glucksen der überall umhertrippelnden Hühner. Dafür jedoch lag es weit genug außerhalb, um nur selten unter Beschuss zu geraten, und auch keine der kritischen Straßen führte direkt hindurch. Trotzdem gehörte der ferne Donner von Mörsergranaten zum Alltag.
Gelegentlich durchquerten Truppen die Siedlung, dann war es zu gefährlich, auf den Markt zu gehen - gleich, welche Flagge sie hissten oder welche Sprache sie sprachen. Aus dem Fernseher wusste er, dass es hier eine Zeit lang besser gelaufen war als im übrigen Land. Kurz schien es, als würde der Krieg einen Bogen um die Stadt der Minarette schlagen - Allah hielt seine Hand über sie, sagten einige. Doch letztes Jahr hatte sich das Blatt gewendet und plötzlich schienen sie das Epizentrum der Gewalt zu sein. Eine schreckliche Nachricht jagte die nächste, manchmal wollte der Hagel aus Bomben und Schüssen Tag und Nacht nicht mehr versiegen. Am Horizont war ganz Falludscha in Staub, Rauch und Feuer gehüllt. Viele Menschen aus dem Dorf, die den Städtern ihr bequemeres Leben sonst gelegentlich neideten, waren plötzlich dankbar für ihre einfache Heimat. Auch wenn er es nur ungern zugab, hatte Ismat schreckliche Angst vor all dem, doch Kazim gelang es stets, ihn zu beruhigen.
Einige Male hatten amerikanische Patrouillen das Dorf eingekesselt und die Bewohner aufgefordert, ihre Häuser und Hütten zu verlassen. Nervös und furchtsam warteten sie alle vor den Gebäuden, bis die Soldaten endlich mit ihren Durchsuchungen fertig waren und wieder abzogen. Was sie suchten, sagten sie meistens nicht. Nachher war alles in Unordnung, Betten und Kleidung zerwühlt, Geschirr zerbrochen, hin und wieder fehlte Schmuck. Keiner wagte, sich zu beschweren.
Manchmal standen Ismat und seine Nachbarn Stunden in gleißender Sonne, manchmal frierend im Dunklen, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Männer stellten sich vor ihre Frauen mit den Kindern auf dem Arm, als wollten sie sie trotz der Verschleierung vor den Blicken der Fremden schützen. Grimmige Mienen kaschierten ihre Hilflosigkeit. In Wirklichkeit konnten sie ihre Familien vor gar nichts schützen. Und das wussten sie auch. Zwischen den Mächten hin- und hergeschoben, zerrieben. Der Gestank der beständigen Willkür, der Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt waren, umgab sie alle, doch niemand sprach darüber. Ein paar von ihnen hatten Waffen versteckt, zur Jagd, oder auch aus anderen Gründen. Früher hatten auch sie eine Büchse zu Hause gehabt, mit der Kazim Ismat hatte schießen lassen. Doch irgendwann hatte ihr Vater die alte Waffe in der Wüste vergraben - sicher war sicher, sagte er. Jahre später hatte Kazim eine neue besorgt oder vielleicht auch die alte gefunden, er schwieg darüber.
Viel über Politik hatte Vater nicht gesprochen. Einmal jedoch warnte er sie eindringlich:
»Diese Dinge sind wie Naturkatastrophen. Sie kommen und gehen, wie sie wollen. Man muss gut aufpassen, manchmal muss man sich ducken und einfach durchhalten, bis wieder bessere Zeiten kommen. Vor allem darf man nicht auffallen! Hütet euch vor Leuten, die ständig etwas ändern wollen, die behaupten, dieses oder jenes sei richtig! Die sind faul und mit sich im Unreinen. Wir sind keine Kämpfer, wir dürfen nicht in Schwierigkeiten geraten. Es ist nicht unser Krieg.«
Es war auch nicht sein erster - aber dieser hier rückte immer näher und auch wenn Ismat sich nie danach zu fragen getraut hätte, merkte er, dass Vater Angst hatte. Aus der Schule wusste er, dass die Amerikaner kurz vor seiner Geburt schon einmal die Geschicke ihres Landes und den folgenden Krieg gelenkt hatten.
»Haltet euch raus, egal was passiert, schwört es mir!«
Kazim und Ismat schworen, eingeschüchtert vom finsteren Gesicht des Vaters. So blickte er sonst nur, wenn der Stock nicht mehr weit war.
Arzus Eltern hatte er mit Geduld, höflichem Auftreten, gelegentlichen Geschenken und vor allem dem Nachweis seiner ersten Anstellung überzeugen können. Bei ihr jedoch hatte es mehr gebraucht.
»Ihr streitet nie, oder?«, hatte ihr Nachbar vor ein paar Monaten gefragt und dabei halb bewundernd, halb misstrauisch den Kopf geschüttelt. Das Haus war hellhörig und lautstarke Auseinandersetzungen blieben niemandem verborgen. Ganz stimmte seine Vermutung natürlich nicht, es geschah selten, aber auch sie gerieten in Diskussionen.
»Mein Vater war laut für zwei«, pflegte Arzu in lockerem Tonfall zu sagen. Doch Naid wusste mittlerweile, was das wirklich hieß: Ihr Vater war ein harter und oftmals jähzorniger Mann, der sich nicht scheute, Ohrfeigen an Frau und Kinder zu verteilen, wenn sie nicht spurten.
»Wenn du mich auch nur ein einziges Mal schlägst, werde ich die Scheidung verlangen.«, hatte Arzu in eindringlichem Tonfall geflüstert, als er um ihre Hand angehalten hatte.
»Das wird niemals geschehen, Wallah.«
Es benötigte nicht erst seinen Glauben, um zu wissen, dass es Sünde war, ein so zartes, geliebtes Wesen zu verletzen. Gleichzeitig schwor sich Naid, dass er nicht nur nie die Hand, sondern auch nie die Stimme gegen sie erheben würde. Ersteres gelang ihm mühelos, Zweiteres hatte er einmal verfehlt. Wenn die Wogen doch hochschlugen und er kurz davor war, etwas Unbedachtes von sich zu geben, lief er eine Runde um den Block. Arzu wiederum verzog sich schmollend in den Hinterhof, um dort ihren Pflanzen zu Leibe zu rücken. Ihre dunklen Augen konnten zornige Blitze schießen, die manches Mal schwerer wogen als böse Worte.
Im Vorbeigehen berührte Oliver die Streben der Hallenwand mit den Fingerspitzen. Stahl und Beton, die Knochen und das Gewebe dieses gewaltigen Wesens. Die Stromleitungen waren die Arterien und Venen, die Wasserrohre die Lymphe. Und natürlich hatte dieses Tier tausend Augen. Tausend Augen, die ihn beobachteten, jeden Atemzug, jedes Zucken in seinem gigantischen, toten Gehirn speichernd. Aber er war schlauer. Er sah noch mehr.
Heute galt es einen, besser mehrere gute Orte ausfindig zu machen. Er sah sich schon seit Monaten um, doch die perfekte Stelle hatte er nach wie vor nicht entdeckt, nun wollte er gründlicher vorgehen. Ein paar Kandidaten gab es, immerhin. Seine Freunde würden sich eben noch etwas gedulden müssen - er hielt die Fäden in der Hand. Es war schließlich sein Lebenswerk, er würde es sich nicht von ungeduldigen Zeitgenossen ruinieren lassen. Als seine Pläne Gestalt angenommen hatten, hatte er sich zunächst um seine Wohnung gekümmert. Dickes Sperrholz, eine Regalwand, Tapete, Farbe und Sorgfalt - geschickt hatte er am Zimmerende einen schmalen, knapp drei Quadratmeter großen Geheimraum erschaffen. Sein Schlafzimmer wurde lediglich um eine Unauffälligkeit verkleinert. Das war sein Reich. Von hier aus würde er die Welt verändern und in die Annalen der Geschichte eingehen.
Seit Kazim fort war, schienen die Nachrichten aus der nahen Stadt eher schlimmer als besser zu werden.
»Wir sind der letzte Widerstand gegen die verdammten Kuffār!« hatte ein Mann, den er nicht kannte, vor einigen Wochen nach dem Freitagsgebet mit stolzgeschwellter Brust gerufen. Aber die meisten Umstehenden hatten bloß resigniert den Kopf geschüttelt und auch Ismat glaubte ihm nicht. Die Belagerung war vorbei, der Kampf längst verloren. Manchmal saß er auf dem Dach ihrer Lehmhütte und starrte in den Himmel, während Flugzeuge über seinen Kopf hinwegdonnerten. In der Ferne beobachtete er, wie dicke graue und schwarze Wolken aus der Stadt emporquollen wie Blut aus einer geöffneten Wunde. Ströme von Flüchtenden waren in den letzten Jahren an ihnen vorbeigezogen - hin, zurück, wieder hin -, viele blieben für immer weg. Viele starben. Ein paar Mal hatte ihre Mutter die beiden Jungen gebeten, sich mit einem Kanister Wasser vor die Tür zu setzen und den erschöpften Menschen etwas zu trinken anzubieten.
»Wir sind arm, aber der Koran sagt uns, wir müssen helfen. Also tun wir, was wir können.«
Ismat hatte in der Schule gelernt, dass Hilfsbereitschaft Allah gefiel, außerdem hatte er Mitgefühl mit all diesen verstörten Gesichtern. An einen dieser Tage erinnerte er sich besonders gut: Eigentlich war Ramadan gewesen, aber für solche Situationen galten Ausnahmen. Am Abend wärmte sich eine weinende Frau vor ihrem Herd, die Ismat noch nie gesehen hatte. Er erkannte, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug.
»Die Amerikaner haben gesagt, wir müssen sofort die Stadt verlassen, sie würden jetzt alle Rebellen auslöschen. Aber dann haben sie meinen Mann nicht rausgelassen! Er musste zurückgehen, sie haben nicht gesagt warum! Den Sohn vom Nachbarn haben sie auch zurückgeschickt! Wir sind doch keine Rebellen, mein Mann repariert Klimaanlagen! Ich habe ihm gesagt, er muss ein weißes Taschentuch aus dem Fenster hängen, damit sie wissen, dass da Menschen sind. Aber sie werfen Bomben auf die Häuser und er ist noch dort!«
Kazim war noch auf dem Markt und Ismat fühlte sich verlegen, als er ihr zuhörte, also schlich er hinaus. Die meisten Fliehenden waren nur verzweifelt, doch einige von ihnen, die weiter weg aus dem Norden kamen, waren wütend. Hagere, harte Männer, für die eine Kalaschnikow so vertraut war wie ein Löffel. Insgesamt waren nicht viele in den Süden unterwegs, nur ein paar, die nach Karbala oder sogar nach Saudi-Arabien wollten. Die meisten versuchten lieber, sich irgendwie nach Erbil oder bis in die Türkei durchzuschlagen, um dort ihr Leben zu retten. Gleichwohl die Nachrichten von dort alles andere als hoffnungsvoll stimmten. Ismat spürte, dass sie sie für all das Leid mitverantwortlich machten - mit Blicken, aber manchmal auch mit Worten.
»Ihr seid ganz begeistert von eurer Rebellion, oder? Ihr hattet es sowieso immer besser! Passt bloß auf, wenn wir gewinnen, schneiden wir euch im Schlaf die Kehle durch! Nur wegen euch geht das weiter, ohne euch wären die längst weg!«, schrie Ismat ein Mann entgegen, als jener ihm einen Becher Wasser anbot.
Ismat erwiderte nichts, doch er fand die Anschuldigung ungerecht: Klar, sie waren Sunniten, wie Saddam. Aber sie waren nicht reich und was bitte sollten sie davon haben, wenn ihre Männer ermordet, Häuser zerstört, ihre Gärten verwüstet und ihre Tiere getötet wurden?
»Alter, du läufst ja auch immer gleich rum!«
Naid blickte instinktiv an sich herab und zuckte dann die Schultern. Zu Hause hing ein Anzug für Bewerbungsgespräche, alles andere war nur in notwendiger Anzahl vorhanden und tatsächlich recht ähnlich. Der Koran schrieb für einen Mann weite, unauffällige und schmucklose Kleidung vor - sie sollte nicht geeignet sein, die Blicke des anderen Geschlechts auf sich zu ziehen oder sich in angeberischer Weise darzustellen. Daran hielt er sich.
Im Grunde ging das seine Kollegen auch nicht das Geringste an, aber einige von ihnen nutzten jede Gelegenheit, um ihn zu piesacken. Gerade ließ es etwas nach, denn seit ein paar Wochen gab es einen Neuen, von dem Naid nicht glaubte, dass er lange durchhalten würde. Seitdem durchgesickert war, dass er mit einem Mann zusammenlebte, bekam er fast noch mehr dumme Sprüche ab als er selbst. Naid hatte kein Interesse an dem unwürdigen Gehabe und ging ihm genauso aus dem Weg wie den übrigen Kollegen. Meistens funktionierte das. Aber in einer Mittagspause hatten es die anderen offensichtlich auf sie beide abgesehen.
»Sag mal, Naid, müsstest du die Schwuchtel laut deinem Buch nicht irgendwie ausbluten lassen oder so?«
- gut hörbar für den blass gewordenen Neuen.
»Das steht in der Bibel, nicht im Koran.«, antwortete Naid knapp, die Faust in der Tasche geballt.
Insgeheim dachte er schon seit einer Weile darüber nach, was er dazu meinen oder fühlen sollte. Im Iran gab es solche Neigungen auch, so naiv war er nicht - doch sie wurden verborgen. Hier hingegen sah er oft Männer mit Männern und fühlte sich jedes Mal unwohl bei dem Anblick. Andererseits, das Land schien deshalb nicht unterzugehen. Vielleicht war es trotzdem falsch. Aber letztendlich ging es ihn nichts an. Es war eine Sache zwischen Allah und dem Mann, nicht seine. Niemand gab ihm das Recht, anstelle des Herrn ein Urteil zu fällen. Oder sonst jemandem.
Abgesehen davon war Naid selbstverständlich klar, dass die dummen Kommentare einzig dazu dienten, ihn zu provozieren. Er versuchte sie so gut wie möglich zu ignorieren, sich damit tröstend, dass der Job nur vorübergehend war. Dass er eigentlich ganz andere Ziele hatte. Die Kollegen würde er jedenfalls nicht vermissen, so viel war klar.
In Vierergruppen kontrollierten und verschoben sie die Gepäckstücke zehntausender, manchmal sogar hunderttausender Passagiere täglich. Regelmäßig drehte die Flughafenpolizei ihre Runde mit den Hunden und ließ die Tiere an verdächtigen Gepäckstücken oder solchen, die sie gemeldet hatten, schnuppern. Doch abgesehen davon kontrollierte niemand, was sie hier taten.