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Hanad wünscht sich nichts mehr als eine Zukunft jenseits von Armut und Trostlosigkeit. Als er und sein bester Freund die Gelegenheit erhalten, bei einer Piratenmannschaft anzuheuern und schnell zu viel Geld zu kommen, kann er der Versuchung nicht widerstehen. Doch damit gerät er in einen Strudel aus Angst, Gewalt und Gefahr, der jeden auf dem gekaperten Schiff mit sich zu reißen droht …
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Nina Casement
Backlash
Erzählung eines somalischen Piraten
Inhaltsverzeichnis
Titel
Backlash - Erzählung eines somalischen Piraten
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Impressum
Für Camille Lepage - die immer hin- und nie weggesehen hat.
Puntland, 2011
Der Wind pfiff Hanad eisig ins Gesicht, kleine Gischttropfen auf seine Wangen sprühend. Heute Mittag war es brütend heiß gewesen, doch nun zog er fröstelnd die dünne Jacke enger um seine Schultern. Er war noch nicht oft um diese Zeit auf See gewesen. Niemand auf dem Schnellboot sprach - es wäre auch kaum möglich gewesen, einander zu verstehen, beim Röhren des Außenbordmotors und dem regelmäßigen Klatschen, wenn der Bug hart auf der Wasseroberfläche auftraf. Neben dem ohrenbetäubenden Lärm war es zudem stockfinster. Ibrahim, der Boss, gleichzeitig auch ihr Steuermann, hatte aus gutem Grund eine Neumondnacht für ihr Unterfangen gewählt. Hanad hoffte bloß, dass der Mann wusste, was er tat und sie nicht in diesem Tempo mit einem der anderen beiden Boote kollidierten. Dann würde er hier draußen sterben, bevor es überhaupt begonnen hatte und niemand würde seinem Vater sagen können, wohin er verschwunden war. Denn hätte der gewusst, was er vorhatte, er hätte ihn niemals gehen lassen, bloß eine Tracht Prügel hätte Hanad bezogen - ungeachtet seines Alters -, das wusste er genau.
Hanad schloss die Augen und versuchte, sich abzulenken, doch seine Gedanken landeten erneut unweigerlich bei seinem Vater. Er war stets ein strenger Mann gewesen, mit sich selbst, mit Anderen und auch mit seinem jüngsten Sohn. Wie oft hatte sich Hanad früher ungerecht behandelt gefühlt - es hatte häufig Streit gegeben, weil er weniger gedurft hatte als all die anderen Jungen. Stattdessen hatte er unter der unbeugsamen Härte des Mannes zu leiden gehabt. Erst später war dieser milder und das Verhältnis besser geworden, auch weil Hanad nun mehr Verständnis für die Sorgen des Älteren hatte. Nicht zuletzt, weil er mittlerweile einige davon teilte.
Er erinnerte sich noch daran, dass die übrigen Väter, Onkel oder Brüder den Jüngeren das Schießen beigebracht hatten, wenn sie eine Waffe besaßen – seiner dagegen hatte ihn geohrfeigt, als er einmal eine verrostete Pistole daheim angeschleppt hatte. Farah, sein ältester Freund, nahm ihn später mit in die Berge, um dort mit der AK seines Cousins auf Dosen zu schießen. Hanad hätte es später nie offen zugegeben, aber eigentlich war das Gefühl überhaupt nicht cool gewesen, eher unheimlich.
Auch als die riesigen Fässer am Strand angespült worden waren und das halbe Dorf losgezogen war, um sie zu begutachten, hatte sein Vater ihm verboten mitzugehen. Die Fässer seien von den Weißen und den Männern aus China gekommen, sie stopften ihre Gifte und Krankheiten hinein, um sie im Meer zu versenken und so loszuwerden, erklärte er ihm. Deswegen hätten sie dort keine Krankheiten. Hanad war schon alt genug gewesen, um am Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu zweifeln, doch er hatte trotzdem gehorcht und die riesigen, korrodierten Büchsen nur aus der Ferne betrachtet. Wie überdimensionale Eier lagen sie harmlos im Sand, kaum vorstellbar, dass darin irgendetwas Schreckliches lauerte. Doch zwei Tage darauf waren die ersten Menschen im Nachbardorf krank geworden, entstellt von heftigem Ausschlag, geschüttelt von Fieber und Brechdurchfall, nicht wenige kurz darauf tot. Da war er sich dann doch nicht mehr so sicher, ob sein Vater nicht richtig gelegen hatte. Ob er auch jetzt recht behalten würde?
Am Horizont hob sich eine vage Silhouette ab, die noch schwärzer zu sein schien als alles andere. Nur ein Schemen im Licht der wenigen Sterne, der größer und größer wurde, je näher sie kamen. Ibrahim drosselte das Tempo, der Motor erstarb, nun glitten sie lautlos auf den Giganten zu. Bald ragte er übermächtig vor ihnen auf, den Himmel fast vollständig verschluckend. Als hätte sich einer der Berge hinter dem Dorf eine neue Heimat gesucht und an diesem Platz niedergelassen, um ihnen nun die blanke, undurchdringliche Felswand darzubieten. Hanad hatte noch niemals ein so gewaltiges Schiff aus der Nähe gesehen und ihm rutschte das Herz in die Hose – worauf hatte er sich da nur eingelassen? Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Ein guter Moslem tut so etwas nicht!“, waren die Worte seines Vaters gewesen, als er seinerzeit die Pistole bei ihm gefunden hatte, und er hatte damit weniger die Waffe allein, als mehr das Töten gemeint.
„Wenn du vor Allah stehst, darfst du es nicht mit blutigen Händen tun! Denn er ist allmächtig und hat gesagt, der Mensch ist unantastbar.“
Er würde niemanden töten, ganz egal, was passierte, er würde nicht einmal auf jemanden schießen, schwor Hanad sich im Stillen, als die Enterhakenkanone ihre unheilvolle Fracht in die Dunkelheit hinaufschoss. Daran würden sie die Strickleiter hinaufziehen, parallel zu den anderen Booten.
Farah lächelte ihm aufmunternd zu - Hanad sah seine Zähne im Dunkeln schimmern - obwohl der Freund das hier doch selbst zum ersten Mal machte und sicher ebenso nervös war. Von den anderen kannte er wenige mit Namen oder vom Sehen her, sie stammten aus den umliegenden Dörfern. Die Übrigen mussten von weiter weg kommen. Der Boss, hatte Farah gesagt, war ein kluger Mann mit Erfahrung. Mit Sayid aber, einem Kleinen mit vernarbtem Gesicht, sollte er vorsichtig sein, der sei richtig verrückt. Als sie jünger waren, habe er einmal einen Hund angebunden und gequält, drei Tage lang, einfach so zum Spaß. Keiner hatte gewagt, ihn aufzuhalten.
Hanad war der Dritte, der die Leiter emporkletterte und froh darum, es nicht als Erster tun zu müssen, denn das war der gefährlichste Moment. Die dort oben hätten sie längst bemerkt haben und dem ersten, der seinen Kopf über die Reling streckte, eine rasche Salve aus der Maschinenpistole mitgeben können. Doch nichts dergleichen geschah, kein Schuss, kein Schrei zerriss die Stille. Ibrahim hatte ihnen erklärt, dass es zwei bewaffnete Wachteams zu je zwei Mann gab, die nachts patrouillierten. Diese mussten sie überraschen, bevor die Männer jemanden warnen konnten. Als Nächstes war die Brücke an der Reihe. Danach würden sie von Deck zu Deck gehen und die Besatzung zusammentreiben, um das Schiff aufzubringen. Soweit das Konzept.
Am Ufer, bei Tageslicht, hatte der Plan simpel und fast harmlos geklungen, doch jetzt in der Finsternis sah der Trawler riesig aus und die Aufbauten wirkten wie ein undurchdringliches Labyrinth. Hanad hatte so große Angst, dass er unter dem T-Shirt zitterte wie ein Kind und nur hoffte, dass es niemandem auffiel. Plötzlich rief Ibrahim ein paar kurze Befehle: Anscheinend war es gelungen die Wachmannschaft zu überwältigen, nun stürmten alle gemeinsam ins Schiffsinnere. Pures Chaos brach los, Menschen brüllten durcheinander, Licht flackerte, Panik entstand. Hanad folgte blindlings den anderen, wie ein Automat funktionierend. Trat Türen auf, schrie, aggressiv vor lauter Anspannung - erkannte sich bei all dem selbst kaum wieder. Sie rissen die Männer in ihrer Schlafkleidung aus ihren Kabinen, mit wirren Haaren und vor Schreck weit aufgerissenen Augen. Ibrahim versammelte die Crew im Bug, in Windeseile hatten sie sie eng beieinander in die Hocke gezwungen und ihre Handgelenke mit Kabelbindern auf dem Rücken gefesselt. Es ging so schnell und war so einfach, dass es auf Hanad fast irreal wirkte.
Er sah wie Ibrahim einen von ihnen – allem Anschein nach der Kapitän – auf die Füße zerrte und ihm die Mündung seiner Pistole an die Schläfe drückte, während Sayid ihn immer und immer wieder anbrüllte „Wie viele seid ihr, wie viele seid ihr?!“, erst auf Somali, dann auf Arabisch.
Der arme Mann verstand augenscheinlich beides nicht und Hanad bemerkte im Licht der Taschenlampe verlegen, dass er sich nass gemacht hatte.