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Einsamkeit nagt an der Seele, zerfrisst sie, höhlt sie aus, manchmal unmerklich, manchmal in zorniger Raserei. Sie kann aus dem physischen Alleinsein entstehen, aber auch mitten unter Menschen. Elf Geschichten befassen sich mit den skurrilen und schrecklichen Blüten, die das ungewollte Alleinsein treibt - mal leise, mal laut, mal bitter, mal versöhnlich.
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Seitenzahl: 107
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Widmung
Der tapfersten Fledermaus
Vorwort
Zurück
Überlast
Abwicklung
Die Tür
Spurwechsel
Doppelgrab
Kloster
Bobby
Lifestyle
Krebs
Kurt mit Ballade
Nachwort
Den Titel habe ich - natürlich - in veränderter Form Erich Kästners Gedicht „Kleines Solo“ entliehen. Dieses und Hermann Hesses „Im Nebel“ sind für mich die beiden Kurzwerke, die Einsamkeit am besten ausdrücken - und ganz abgesehen davon sind beide Männer großartige Poeten gewesen, vor denen ich an dieser Stelle noch einmal meinen Hut ziehen möchte.
Im Gegensatz zum Alleinsein, das durchaus angenehm sein kann, ist Einsamkeit unfreiwillig und qualvoll. Sie nagt an der Seele, zerfrisst sie, höhlt sie aus, manchmal beinahe unmerklich, manchmal in zorniger Raserei. Sie kann aus dem physischen Alleinsein entstehen, aber auch mitten unter Menschen. In unserer Zeit vor allem mitten unter virtuellen Menschen. Denn, so scheint es, je vernetzter wir werden, desto schwerer fällt es uns, reale tiefere Kontakte zu knüpfen und zu erhalten. Kaum ein Jahr, in dem die Zahl Einsamer - jung wie alt - nicht erneut gestiegen ist, ein Ende scheint nicht in Sicht. Der Plausch an Bankschalter oder Kasse weicht Onlinekonto und Selbstbedienungskasse. Der Verein dem Podcast-Abo, die Stammkneipe Netflix. Mit sozialen Situationen im Real Life konfrontiert, fühlen sich viele von uns verunsichert und überfordert.
Das ist umso tragischer, bedenkt man, welche Auswirkungen lange Einsamkeit hat - physischer und psychischer Natur. Diese Geschichtensammlung dreht sich lose um Einsamkeit - auch Einsamkeit, die nicht direkt als solche erkannt wird - und die Kerben, die sie in menschliche Gemüter zu schlagen vermag. Eine Warnung gilt daher sensiblen Geistern: Es wird bisweilen (sehr) traurig. Daher auch eine kurze Content Note:
Tod, Tod eines Kindes, Suizid, Gewalt
In Zurück
... ist die Heimkehr ins Alleinsein ein unerwarteter Kulturschock.
In Überlast
... resultieren aus Erschöpfung ein fataler Fehler und eine einsame Entscheidung.
In Abwicklung
... gerät der letzte Rückblick einsam.
In Die Tür
... bietet ein ungewöhnliches Objekt Linderung der Einsamkeit.
In Spurwechsel
... entwickelt sich Einsamkeit aus tiefer Trauer und das Scheitern der Verarbeitung in einer Katastrophe.
In Doppelgrab
... gelingt es, der Einsamkeit zu entfliehen - mit aller Konsequenz.
In Kloster
... findet sich Erlösung von der Einsamkeit, doch zu einem hohen Preis.
In Bobby
... führt Einsamkeit zur Auseinandersetzung mit den fünf Phasen des Sterbens.
In Lifestyle
... ist einzig eine ungewöhnliche Vorliebe Trost in der Einsamkeit.
In Krebs
... gipfelt einsam erlittenes Leid in einem drastischen Entschluss.
In Kurt mit Ballade
... ist das Innere des eigenen Kopfes plötzlich weniger einsam - mit verhängnisvollen Folgen.
Wieder da, Heimat - fremd geworden in drei Wochen. Warum fühle ich mich im Bambusbungalow mit Gemeinschaftsklo, unter Palmen am Pazifik, schneller zuhause als hier, wo ich jeden Krümel kenne? Kalt ist’s.
Nach Hause, dröhnende Kopfschmerzen, Gänsehaut. Wo sind die Palmen jetzt? Vertraute Straße – was gäbe ich jetzt für ein stinkendes Túk-Túk. Im Wohnzimmer amputierte Muscheln vor Alltagsteppich, Windspiele sollten daraus werden, ein bisschen Meer und Urlaubsgefühl in meine kleine Wohnung transportieren. Etwas von der Leichtigkeit und Zeitlosigkeit der lieben Menschen, die ich in der Ferne kennengelernt habe, in mein Heim holen. Stattdessen finde ich eine Ausrede vor mir selbst und verstecke mich so lange auf der Toilette, wie es geht. „Don`t worry, be happy!“ in meinen Erinnerungen, während mir heimlich schon die ersten Tränen über die Wangen rinnen.
Mitbringsel auspacken, Verwandte und Freunde anrufen, ja, gut angekommen, alles schnell hinter sich bringen und eigentlich das Gegenteil wünschen. Wollte ich nicht unheimlich viel erzählen? All die Eindrücke aus mir heraussprudeln lassen? Der erste Urlaub ohne Eltern, das erste Mal außerhalb Europas, kein Internet, kein Sicherheitsnetz. Toll, anstrengend, anders, krass … Ich fühle mich leer, friere immer noch. War ich da wirklich? Ich glaub’s jetzt schon nicht mehr. Es scheint bereits Monate, Jahre zurückzuliegen, blass, distanziert, ich selbst ohne Gefühl, bloß vage Trauer. Hier bin ich auch noch nicht. Ein Tag ist genug, um eine solche Strecke mit dem Flugzeug zurückzulegen, doch die Emotionen haben sie noch nicht überbrückt.
Meine Wohnung erscheint mir verzerrt, gleichzeitig zu klein und zu groß. Endlich gehen alle schlafen, eins nach dem anderen werden die erleuchteten Fenster schwarz, das Treppenhaus still. Ich bleibe allein vor dem Fernseher zurück. Komisches Gefühl nach drei Wochen Zweisamkeit, immer ein wenig angespannt, immer etwas zu tun, immer weiter, nirgendwo lange bleiben. Tun sollte ich hier eigentlich auch einiges. Schon mal Wäsche waschen vielleicht? Zur Ablenkung ein kalter Raucherspaziergang im Wie Immer. Der überraschende Schmerz des wieder hier Seins lässt nicht nach, und die Sehnsucht schnürt mir die Kehle zu. Wonach eigentlich? Ich stopfe Dutyfree-Pralinen in mich hinein, kein Essen aus Hunger mehr, erschöpft von Hitze, Fußmarsch und tausend fremden Eindrücken, bloß Zucker gegen Frust. Das hübsche Armband ist schon ab, der kleine Elefant an der Kette bleibt noch um den Hals, ich will ihn noch nicht hergeben. Zugegeben, ein hilfloser Versuch, ein winziges Stückchen Freiheit bei mir zu behalten.
Das Umziehen hat symbolischen Wert, das leichte, beige Baumwollhemd gegen schwarzen Samt getauscht. Die letzten Spuren weggeduscht, Bangkoker Staub läuft unaufhaltsam dem Abfluss entgegen. Die schöne, knieende Tänzerin-Figur aus Chiang Mai an mich gepresst sitze ich im Dachzimmer unter Sternen - ob sie mir hilft, mich endlich wieder heimisch zu fühlen? Stattdessen wirkt sie auf der Fensterbank wie eine Scherbe, ein Stück von etwas Zerbrochenem. Eigentlich sollte sie den tristen Raum ein wenig bezaubern, nun ist es umgekehrt, die Grauheit hat sie angesteckt. Es ist vorbei.
Er konnte sich nicht daran erinnern, je so müde gewesen zu sein. Nein, das stimmte nicht. Letzte Woche. Und die Woche davor. Andreas widerstand dem Bedürfnis, den Kopf an die Plexiglasscheibe vor ihm zu lehnen, hinter der endlose Zahlenreihen und zuckende Graphen vorbeirannen. Warum hatte ausgerechnet heute, ausgerechnet in der ohnehin schon angespannten Situation auch noch dieser Test stattfinden müssen? Natürlich kannte er die Antwort: Seit dem letzten Vorfall waren engmaschigere Kontrollen vorgeschrieben. Nicht genug, damit es für echte Sicherheit reichte, aber es sollte ja auch nur so aussehen. Sonst hätten sie mehr Personal eingestellt.
Zum hundertsten Mal warf Andreas einen Blick auf die Uhr – vor zwei Stunden hätte er Feierabend gehabt, doch der Gesichtsausdruck des Schichtleiters hatte ihn eines Besseren belehrt. Frank lag mit Corona im Bett und Ahmet mit irgendeinem Magen-Darm-Gedöns, also würde er noch zwei weitere Stunden durchstehen müssen.
In Andreas' Tasche summte das Handy, aber obwohl niemand hinsah, ließ er es, wo es war. Er wusste sowieso, was er hören würde, dass Natalie weinen würde, und ebenso gut, dass er es nicht würde ändern können. Plötzlich war er dankbar für die Müdigkeit, die das bohrende Schuldgefühl zu einem dumpfen Pochen degradierte. Es vibrierte ein zweites Mal. Natalie nervte. Manchmal hätte er sie am liebsten angeschrien. Manchmal schrie er sie tatsächlich an. Dabei wusste Andreas, dass sie nichts dafür konnte. Die Kleine hatte Koliken und wand sich die halbe Nacht vor Schmerzen, die Große zahnte immer noch. Wenn er heimkam, sah er Natalies Erschöpfung, den Pullover voller Babykotze, oft rot geweinte Augen, Ringe darunter, in denen ein Satz Winterreifen Platz gefunden hätte. Es gab Tage, an denen er sich einen der greinenden Knirpse schnappte und summend mit ihm durch die Wohnung wanderte, bis er endlich schlief. An anderen ließ sich Andreas wortlos aufs Sofa fallen und drehte den Fernseher lauter, um das Gebrüll zu übertönen. Heute würde so ein Tag werden. Nein, würde er einfach nur noch ins Bett sinken. Kurz schloss er die Augen und genoss die Dunkelheit. Normalerweise hätte in dem großen Raum ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht, doch heute würde niemand merken, wenn er sich ein paar Sekunden ausruhte.
Das Piepen riss Andreas aus einem absonderlichen Traum, in dem seine Tochter gigantisch war und all die Rohre, all die Tanks mit riesigen Bauklötzen zerstörte. Verschlafen versuchte er, das Geräusch zuzuordnen, das verschwommene Ding vor seinem Gesicht zu erkennen. Ahja, Display. Test. Einer von über hundert diesen Monat, weil sie mit den gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsprotokollen schon wieder im Rückstand waren. Überprüfung der Stabilität unter Überlast bei äußerlich unauffälligen Rohren. Leitungen 240-264, das hier war die letzte.
Andreas seufzte tief – wenn das Ding sauber durchging, wäre er in anderthalb Stunden endlich hier raus. Immerhin, bislang sah es gut aus. Während der Druck stetig zunahm, stieg auch die Linie für den Durchlauf konstant, nicht einmal ein Zucken war zu erkennen. Alle zehn Abschnitte der Leitung wurden einzeln dargestellt, neben der Linie zeigte ihm ein erfreuliches Grün, dass bald alles vorbei war. Er lehnte sich zurück und versuchte zu entspannen. Auf dem Display am leeren Nachbarplatz lief ein weiterer Test für eine zweite Leitung, aber auf der lag im Betrieb bloß CO2 an, also blickte er nur ab und zu rüber. Trotzdem hätte ihn laut Protokoll natürlich eine eigene Person beaufsichtigen müssen – und später würde selbstverständlich einer der Kollegen seinen Otto daruntersetzen. Aber wichtig war nur dieses Rohr, eins von denen mit besonderer Gefahrenkennzeichnung, weil normalerweise Toluol durchfloss. Hochentzündlich.
Zuhause würde er Natalie wenigstens noch einen Kuss geben, bevor’s in die Falle ging, beschloss Andreas erschöpft. Plötzlich ein rotes Aufblitzen im Augenwinkel. Er blinzelte hektisch, seine Lider brannten. War das gerade wirklich passiert? Unmittelbar schoss Adrenalin durch seine Adern und erzeugte so viel Wachheit, wie gerade eben möglich war. Andreas fixierte das Display oder versuchte es wenigstens, denn ob der abrupten Bewegung hatte ihn leichter Schwindel ergriffen. Grün. Alles war grün. Gut. Sein Blick wanderte zu den Linien hinauf. Scheiße. Da war ein Ausreißer - kein kleiner. Zwar nur einzeln, aber spitz, steil, bedrohlich – das sah nicht wie ein Messfehler aus. Und die Linie dahinter verlief eindeutig flacher, da ging irgendwo Druck verloren. Oder war das noch im akzeptablen Bereich? Er war sich nicht sicher, obwohl er die Werte sonst in- und auswendig kannte. Zusammen allerdings zweifelsohne beunruhigend genug, um nicht nur einen Vermerk im Bericht, sondern einen kleinen Alarm wert zu sein. Normalerweise wäre das automatisch passiert, wenn der Toleranzwert so weit überschritten war, aber das Programm, das dafür hätte sorgen sollen, warf seit Wochen nur Fehler aus. Er hatte es gemeldet, doch in der IT-Abteilung fehlten genauso viele Leute wie bei ihnen. Der Schichtleiter hatte nur müde den Kopf geschüttelt – irgendwann würde es ganz sicher repariert werden.
Wenn die Chefetage wenigstens auf sie hören würde! Aber das waren alles keine Ingenieure, diese Konzernheinis, die hatten immer bloß ihre Zahlen im Kopf, nichts als Gewinnmaximierung. Dabei waren sie schon mindestens ein, zwei Mal haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrappt. Ahmet hatte ihm vor ein paar Monaten erzählt, dass er einen kritischen Fehler im Überwachungssystem entdeckt habe: Liefen zwei oder mehr Alarme und ein Update gleichzeitig, ließen sich die Ventile vom Kontrollraum aus nicht mehr schließen – nur noch manuell vor Ort. Irgendein Softwareproblem, er wusste es nicht und Andreas hatte ebenfalls keine Ahnung von dem Zeug. Aber die da oben hatten bloß abgewinkt. „Kommt auf die Liste.“ Klar.
Druckabfall. Ein solcher Alarm bedeutete normalerweise, dass es ein Leck gab. Aber dann verschwand der nicht einfach wieder. Was war da los? Wahrscheinlich war der Messfühler defekt. Sie hatten ständig mit defekten Messfühlern zu tun, billige Ersatzware aus Fernost, die ihnen das Leben schwer machte. Andreas rührte sich immer noch nicht. Spürte seine Glieder wie Blei, seinen Kopf vakuumleer. Der Test war in wenigen Minuten beendet und er starrte wie hypnotisiert auf die Linie. In Zeitlupe wurde sie nach rechts geschoben, dem Ende des Monitors entgegen. Er musste etwas tun! Geh. Melde das. Du kommst in Teufels Küche!
Er schaffte es nicht. Es gelang ihm einfach nicht. Stattdessen sah er sich selbst zu, wie er mechanisch den Test-Bogen ausfüllte und ausdruckte, einen Strich durch das Feld „besondere Vorkommnisse“ zog, die letzten Handgriffe tat, dem Schichtleiter zunickte und ging. Sein Kopf war leer, im Auto zappelte er gegen die Müdigkeit an. Er sah einen Wagen am Straßenrand stehen, daneben Warndreieck und ein ratloser Mann. Doch obwohl er ein Abschleppseil im Heck hatte, obwohl er sich immer für jemanden gehalten hatte, der helfen würde, fuhr er vorbei. Die Vorstellung, jetzt noch einmal aussteigen, reden und Dinge tun zu müssen, war zu viel.
An der Kreuzung vor seiner Straße stieg Andreas in die Eisen, weil er glaubte, eine Katze auf der Fahrbahn zu sehen, doch es erwies sich bloß als Plastiktüte. Natalie sah verheult aus und redete ohne Unterlass. Er wusste, dass sie erzählen musste, dass sie den ganzen Tag allein gewesen war, doch er musste die Hände in den rauen Hosenstoff krallen, um sie nicht anzufahren. Ich bin ein Arschloch, dachte Andreas bei sich, und blieb stumm. Sie hatte gekocht, es roch gut, aber er wollte nichts essen, bloß schlafen. Ohne auch nur die Zähne zu putzen, schälte er sich aus den Klamotten, kroch ins Bett und war eingeschlafen, bevor sein Kopf das Kissen berührte.