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"Nur weg!" - mehr hat Frederika nicht im Sinn, als sie gen Norden reist. Vielleicht sogar, um zu sterben. Doch dann entdeckt sie unerwartet ihre Begeisterung fürs Reisen und ihren Lebensmut dazu. Bald hat sie ihr Herz an die Schönheit Schwedens verloren und fragt sich, wie sie eine Weiterreise finanzieren kann. Da kommt ihr das freundliche Männerduo, das einen Mitfahrer sucht, gerade recht. Besonders der schüchterne Lars gewinnt rasch ihre Freundschaft. Doch ihn scheint ein finsteres Geheimnis zu belasten. Unterdes glaubt ausgerechnet der frustrierte Polizist Karl Andersson an eine Verbindung zwischen den anonymen Leichen, die immer zahlreicher in den skandinavischen Wäldern auftauchen. Dabei zählt er doch eigentlich nur noch die Tage bis zur ersehnten Rente. Drei Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten - für sie alle werden die dunklen Wälder Schwedens zum Prüfstein ihres bisherigen Lebens und jeder von ihnen muss am Ende über sich selbst hinauswachsen.
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Seitenzahl: 241
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Für die Liebe meines Lebens.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Einfach nur weg, das war ihr einziger Gedanke gewesen, wohin, war eigentlich egal. Frederika hatte ihr Konto aufgelöst und, als sie ihre Ersparnisse – immerhin gut 4000€ – in den Händen hielt, fast betäubt nach einem Ziel gesucht. Nach allem, was geschehen war, war ihr das „Wohin“ im Grunde gleichgültig gewesen und, wenn sie ehrlich war, auch, ob sie jemals wieder zurückkehren würde.
Doch Spanien, Italien, Kroatien … das hatte ihr zu sehr nach vollem Strand mit Unmengen feuchtfröhlich feiernden Menschen geklungen. Schon beim Gedanken an knutschende Pärchen wurde ihr spontan übel, und so war sie erst einmal etwas ziellos gen Norden aufgebrochen. Ende Februar sollte dort alles, selbst die Strände, etwas leerer sein und ihrem Wunsch nach Einsamkeit entsprechen.
Wohin oder auch nur dass sie unterwegs war, hatte sie niemandem gesagt. Wem auch? Mit ihren, zumeist deutlich jüngeren, Kommilitonen hatte sie kaum Kontakt, die meisten anderen Freundschaften waren über die Jahre hinweg eingeschlafen und die Familie … Nein, an ihre Eltern mochte sie jetzt nicht denken.
Also hatte sie ihre Sachen bei einem Bekannten untergestellt, der ihr einen Gefallen schuldig war, und war dann stillschweigend aus der Stadt verschwunden. Klammheimlich hatte sie sich aus dem Mietvertrag streichen lassen – sollte Christoph doch mal sehen, wie er mit den anfallenden Kosten allein zurechtkam, dachte sie später hämisch. Die Mitteilung des Vermieters würde er bestimmt ignorieren, naiv und faul bis zur Verantwortungslosigkeit, wie er in solchen Dingen gewöhnlich war. Wobei er sich vermutlich auch diesmal irgendwie schadlos aus der Angelegenheit herauslavieren würde, so wie sie ihn kannte. Er hatte schon immer unverschämtes Glück gehabt, ohne jemals etwas dafür tun zu müssen oder es zu schätzen zu wissen.
Erst sehr viel später, unterwegs im Zug, war die Wahl auf Skandinavien gefallen, ohne dass sie genau hätte sagen können, weshalb. Doch allein beim Wort Schweden hatte sich in ihrem Kopf sogleich ein Bilderbuch aus nebelverhangenen Wäldern, zerklüfteten Felsen, abenteuerfilmgleichen Panoramen und schnuckeligen Städten entfaltet, obschon sie noch nie eines der Länder im Norden besucht hatte. So oder so schien es ihr die richtige Gegend zu sein, um den Kopf freizubekommen und die eine oder andere Entscheidung zu fällen. Vielleicht auch, um zu verschwinden und nicht mehr aufzutauchen. Bestimmt gab es dort reichlich abgelegene Gegenden, in denen man sie erst nach Jahren oder Jahrzehnten und lediglich durch einen Zufall entdecken würde. Dann wäre sie ein namenloses, schon halb mit der Natur verwachsenes Skelett. Der Vorstellung wohnte etwas morbide Tröstliches inne.
Die ersten zwei Wochen in Deutschland waren an Frederika – die sich normalerweise selbst bloß Fred nannte, weil ihr der ganze Name viel zu sperrig und altmodisch war – vorbeigezogen. Sie hatte weder von ihnen noch ihrem Inhalt Notiz genommen. Obwohl sie nacheinander in Schwerin, Hamburg, Kiel und Flensburg gewesen war, hätte sie kaum ein Wort darüber sagen können, was sie dort gesehen oder getan hatte, eine Stadt folgte gesichtslos auf die vorangegangene. Schwerin war hübsch und wasserreich, Hamburg dagegen abweisend und verregnet gewesen, meinte sie sich zu erinnern. Mehr blieb nicht hängen.
Was sie sich auch anschaute, wie interessant oder schön ihre Umgebung auch sein mochte, Freds Gedanken blieben zuhause. Drehten sich immer nur um die ganze Verschwendung, die ganze Sinnlosigkeit der vergangenen Jahre. Kaum war sie für einen Moment nicht abgelenkt, schob sich wieder dieses eine Bild vor ihr inneres Auge, das sie so dringend vergessen wollte. Susanne, diesen Judas, kannte sie schon seit gefühlten Ewigkeiten und wusste gar nicht, von wem sie nun enttäuschter sein sollte. Wie, wieso und wie lange das bereits ging, hatte sie gar nicht mehr erfahren, auch seine lächerlichen Entschuldigungen nicht mehr hören wollen. Kannte sie sie doch zur Genüge. Susanne dagegen hatte nicht versucht irgendetwas zu erklären. Vielleicht, weil sie gewusst hatte, dass es nichts gab, das ihr Verhalten tatsächlich gerechtfertigt hätte.
Erst Kopenhagen brachte Besserung. Nach der langen Zugfahrt und einer Nacht in der billigsten Herberge, die sie auf die Schnelle hatte finden können, glaubte Fred zum ersten Mal, ihre Umgebung wenigstens wahrzunehmen. Fast behutsam sah sie sich in der dänischen Hauptstadt um, mit Augen, Nase und Ohren um sich tastend, wie ein Tier, das zum ersten Mal den Zoo verlässt, in dem es aufgewachsen ist. Zwar regnete es die folgenden Tage eigentlich ununterbrochen, doch da Fred nicht gewusst hatte, wohin ihre Reise sie führen oder wie lang sie dauern würde, war sie hervorragend ausgestattet aufgebrochen. Unter der großen Kapuze ihrer feuerroten Regenjacke fühlte sie sich wohl und geschützt, zumal bei diesem Wetter viel weniger Menschen unterwegs waren.
Gemächlich taperte sie nun durch die nassen Straßen und bewunderte das gewaltige Schloss Christianborg, das altmodisch geziegelte Rathaus und, im Kontrast dazu, das futuristische Opernhaus. Grundsätzlich gefielen ihr historische Gebäude, die von längst vergangenen Zeiten zeugten, besser als ihre modernen Nachbarn. Aber gerade war beides interessant anzusehen - um genau zu sein, war alles interessant, das genügte, um sie abzulenken, und sie sog Bilder und Eindrücke in sich auf wie eine Verdurstende das erste Wasser.
Einmal kehrte Fred in ein kleines Café ein, aß langsam heißen Schokoladenkuchen und war glücklich, zum ersten Mal seit langer Zeit einfach gar nichts zu fühlen. Diese Leere, die sie früher als so unangenehm und quälend empfunden hatte, war ihr nun, nach all der Verzweiflung und den kreisenden Gedanken, mehr als willkommen. Bloß den Tivoli, so berühmt er auch war, hatte sie ausgespart, denn dessen farbenfroher Trubel schien ihr in der aktuellen Situation doch etwas zu viel des Guten.
Am folgenden Tag besuchte sie das ebenso schöne wie anrüchige Christiania, ein wenig das Aroma längst vergangener Freiheit schnuppernd. Etwas wehmütig wurde ihr klar, dass sie den anarchistisch–kreativen Stadtteil gerne einmal zu seinen Hochzeiten erlebt hätte und nun wohl nur noch ein Abklatsch dieser Stimmung zu spüren war. Andererseits hätte sie dann vermutlich ohnehin nichts damit anzufangen gewusst, so schüchtern wie sie meistens war und so wenig sie oft mit Menschen umgehen konnte, wenn sie ihr näher kamen. Nebenbei stellte sie fest, dass es in der ganzen Stadt, obgleich so groß, keine echten Hochhäuser zu geben schien. Ein angenehmer Unterschied zu anderen Metropolen. Später schlenderte sie durch Nyhaven, ein pittoreskes Hafenviertel aus alten, bunt gestrichenen Häusern. Am frühen Abend setzte sie sich dort in eine urige Kneipe und nippte vorsichtig an ihrem ersten Bier seit Langem. Was nun?
Lars starrte nunmehr seit Stunden aus dem Autofenster. Er langweilte sich nie dabei, im Gegenteil, er genoss die vorbeirauschende Landschaft, es hatte eine beinahe meditative Wirkung auf ihn. Diese hier gefiel ihm besonders gut, besser als die meisten Gegenden in Italien, Kroatien, Frankreich und all den anderen Ländern, in denen sie bereits gewesen waren. Schon als Kind war er auf langen Strecken nie quengelig gewesen. So wie bei den Ausflügen mit seiner Familie an die Küste. Bei denen war seine kleine Schwester, einem blond gelockten Flummi gleich, spätestens nach einer halben Stunde auf dem Sitz herumgehibbelt, die Geduld aller Mitfahrer mit endlosen Fragen nach Eis, Toilette oder Zielort auf die Probe stellend. Um sie abzulenken, las er ihr vor oder spielte Tiereraten mit ihr, obwohl er sich eigentlich längst zu alt dafür fühlte ... Nein, daran wollte er sich gerade lieber nicht erinnern, ihr süßes, pausbäckiges Gesicht verfolgte ihn ohnehin oft genug in seinen Träumen.
Sowieso fuhr der Ältere fast immer, und wie üblich wäre eine Diskussion darüber vollkommen fruchtlos gewesen. Lars hatte sich daran gewöhnt, ihm zu gehorchen, ohne viele Fragen zu stellen, und war allermeistens sehr zufrieden mit dessen Entscheidungen. Nun blickte er hinaus in die dichten, dunklen Wälder, nur selten unterbrochen von kleinen Wiesen und Äckern, über denen der Morgennebel lag. Auf einem davon entdeckte er drei Rehe, die schlanken Hälse gestreckt, den schmalen Kopf aufmerksam in ihre Richtung gewandt, fluchtbereit. Sie waren auf der Hut vor ihnen, abschätzend, ob sie wohl eine Gefahr darstellen würden. Jederzeit bereit, hakenschlagend das Weite zu suchen. Es gab viel Wild hier, stellte Lars still fest, als sie vorübergefahren waren. Vielleicht sollten sie einmal nach einem Hirsch oder Wildschwein auf die Pirsch gehen. Einfach zur Abwechslung.
Er hatte keine Lust. Also nicht, dass er sonst besonders viel Lust gehabt hätte, aber heute war er speziell schlechter Laune. Das Wetter war scheiße und der tägliche Hustenanfall nach dem Aufstehen war an diesem Morgen fast doppelt so lang ausgefallen wie sonst. Kurz und unmotiviert spielte er mit dem Gedanken, das Rauchen aufzugeben, und meinte es nicht einmal im Ansatz ernst, auch das eine Gewohnheit. Dem dicken Bauch, den Tränensäcken und grauen Haaren im Spiegelbild schenkte er schon lange keine Beachtung mehr. Immerhin trank er nicht – oder zumindest nicht exzessiv – wie so viele seiner Kollegen, tröstete er sich selbst. Obwohl ihm im Grunde auch das egal gewesen wäre.
Im Gegensatz zu denen hatte es ihn auch nicht sonderlich tief ins Ego getroffen, als er vor einem halben Jahr wegen Rückenproblemen und mangelnder Kondition in den Innendienst versetzt worden war. Das ganze „draußen an vorderster Front seinen Mann stehen ...“ – nein, das lag ihm definitiv nicht. Er hatte nie wilde Romantik oder Heldentum darin erkennen können. Für ihn hatte der Polizeidienst nie Leidenschaft, sondern immer nur einen sicheren Arbeitsplatz bedeutet. Dazu war es enorm schwer, gefeuert zu werden, was auch ganz nützlich sein konnte. Schon als Junge hatte er weder besondere Begabungen, Talente noch irgendwelche Interessen gezeigt, die ihn für etwas anderes hätten geeignet scheinen lassen. Und auch später in seinem Leben hatte er nie etwas Beeindruckendes abgeliefert, war immer bestenfalls unterer Durchschnitt gewesen und nur eben so weit aufgestiegen, wie es seinem Dienstalter entsprach.
Das Einzige, was ihn zu ernsthaften Emotionen rührte, was er wirklich hasste, waren Krimis. Diese albernen Fernsehproduktionen, in denen junge Polizisten mit dem Scharfsinn eines Sherlock Holmes und der Physis von Unterwäschemodels schlafwandlerisch Fälle von der Komplexität eines Schachspiels lösten. „Verdammte Bullen!“, fluchte er lauthals vor der Flimmerkiste, wenn er so etwas im abendlichen Programm sah, und zählte die Jahre bis zur Rente.
Kopenhagen war Fred dann doch rasch zu eng geworden – nach den letzten Wochen merkte sie, wie ihr die frische Luft fehlte, mehr noch der Sport, den sie inzwischen mehr als zwei Drittel ihres Lebens betrieb. Daher hatte sie den Bus nach Nykobing Falster genommen, einer hübschen Stadt mit eindrucksvoller Klosterkirche. Von da aus erwanderte sie die Strände, stapfte über Dünen voller hartem Gras und feinem, weißen Sand und lief auf dem vom Meer nassen, festen Streifen, Kilometer um Kilometer, bis sie endlich außer Atem und frei aller Sorgen war. Fred liebte das Gefühl, wenn ihre Muskeln brannten und sie deren körperlichen Zwang überwand, bis sie den Eindruck hatte, für immer weiterlaufen zu können, zur Not bis ans Ende jeglicher Zivilisation. Einmal entdeckte sie bei einem dieser Läufe einen kleinen, dicken Leuchtturm, sonst störte nicht ein einziges Gebäude ihren Blick. Niemand sonst war wochentags um diese Uhr– und Jahreszeit hier unterwegs. Ein paar Möwen stellten ihre einzige Gesellschaft dar, schrien ohrenbetäubend, glotzten sie aus kleinen, kalten Äuglein an und schienen zu wetteifern, welcher es zuerst gelang, ihr auf den Kopf zu scheißen.
Gerade jetzt musste sie sich beinahe mit Gewalt zwingen umzukehren, wäre am liebsten so lange gerannt, bis ihr Leib kapitulierte und sie zusammenbrach, ohne noch einmal aufzustehen. Bis alles aus ihr herausgeschwitzt war und sie vor Erschöpfung starb, rein und unbeschwert von ihren Erinnerungen. Fast erschrocken von sich selbst schüttelte Fred den Gedanken ab – im gleichen Moment zog eine Schar Gänse hoch über ihren Kopf hinweg in ihr Sommerquartier. Der Anblick und die fernen Schreie stimmten sie wehmütig und traurig, erneut die Frage aufwerfend, was nun weiter geschehen sollte. Zurück konnte sie nicht, entweder noch nicht oder nie.
Schließlich aber reichten ihr die kurzen Ausflüge nicht mehr und sie fuhr hinaus bis nach Skagen. Es hatte noch einen Zoo in Odense zur Auswahl gegeben, über den sie kurz nachgedacht, sich dann jedoch dagegen entschieden hatte. Ihr war nicht nach eingesperrten Tieren zumute – fühlte sie sich doch selbst gewissermaßen gejagt und gefangen genug. Von dem Ort am Strand aber hatte sie in einem zerfledderten, alten Prospekt gelesen und war neugierig geworden, denn dort sollten sich Nord– und Ostsee treffen – das klang spannend.
Als sie dann jedoch mutterseelenallein durch den Sand bis an die Spitze der schmalen Landzunge stapfte, während die Böen herrisch an ihren Haaren rissen, war sie zunächst enttäuscht. Fred hatte zwar nichts Großartiges erwartet, aber eben doch zumindest irgendetwas. Nachdem sie allerdings einige Minuten im schneidenden Wind verweilt und auf die Wellen hinaus gestarrt hatte, wurde ihr bewusst, dass hier tatsächlich zwei Meere ineinanderflossen. Mit einem Mal kam sie sich winzig und unbedeutend vor in Anbetracht von so viel Naturgewalt. Und im Gegensatz zu dem, was sie einmal gelesen zu haben glaubte, fühlte sich das ganz und gar nicht gut oder friedvoll, sondern schlicht mies und einsam an. Sie drehte sich um und lief so schnell zurück, wie sie konnte.
So nett Dänemark ansonsten war – mit seiner flachen, harmonischen Landschaft und den zuckrigen, reetgedeckten Häusern schien es ihr auf eine Art einfach zu brav, ihre Seele sehnte sich nach mehr Charakter, mehr Rauigkeit. Allerdings war bereits fast ein Viertel ihres Reisebudgets aufgebraucht, sie musste dringend sparsamer leben. Egal – wer wusste schon, ob es überhaupt eine Zukunft geben würde, für die sie das Geld brauchen würde? Abends starrte sie lange blicklos auf das halbe Dutzend Europakarten, das sie zuhause relativ wahllos eingekauft hatte. Schließlich entschied sie, ihrem ursprünglichen Ziel treu zu bleiben und zunächst die Fähre über die Nordsee nach Oslo zu nehmen. Danach konnte sie vielleicht nach Schweden übersetzen, mal sehen. „Ich breche auf!“, sprach sie entschlossen in die Stille der schäbigen, überteuerten Herberge hinein, die sie – vermutlich aufgrund der Jahreszeit – ganz für sich allein hatte.
Als Fred dann aber in einem weiteren unpersönlichen Hostel auf einer durchgelegenen Matratze saß, die vermutlich schon tausenden Reisenden vor ihr als Schlafstätte gedient hatte, ohne je gewaschen worden zu sein, war sie sich nicht mehr so sicher. Mit sorgenvoller Miene betrachtete sie ihre Finanzen, denen die Überfahrt erneut erheblich zugesetzt hatte – daran hatte sie bei ihrer spontanen Entscheidung gar nicht gedacht. Doch jetzt schon aufzugeben, wieder die Stadt zu betreten, in der sie sich sowieso niemals wirklich heimisch gefühlt hatte oder gar Christoph über den Weg zu laufen, war undenkbar. So weit war sie nicht einmal ansatzweise. Wenn das überhaupt jemals wieder der Fall sein würde. Vielleicht sollte sie das alles gleich sein lassen. Blieb ja immer noch der Preikestolen, sinnierte Fred bitter.
Wenn sie jedoch weiter wollte – und noch wollte sie weiter, dachte sie im selben Moment trotzig – würde sie eine Möglichkeit finden müssen, auf dem Weg Geld zu verdienen und Kosten zu vermeiden. Vielleicht konnte sie auch von nun an trampen und zur Not eben ihr Konto überziehen. Sie schob diese Gedanken zunächst beiseite. Dachte lieber an die Überfahrt auf der Fähre zurück, die schäumenden Wellen und griesgrämigen Matrosen in gelbem Ölzeug, sich vornehmend, nur noch für das Hier und Heute zu leben und jetzt erst einmal in Ruhe die norwegische Hauptstadt zu erkunden.
Sie musste zugeben, dass Oslo sein Möglichstes tat, um sie abzulenken. Fred hatte zuvor gar nicht genau gewusst, was sie von der Stadt, die beinahe zwei Millionen Einwohner beherbergte, zu erwarten hatte. Die sanft geschwungenen grünen Hügel, die süße Altstadt und das Wechselspiel zwischen Tradition und Moderne, das ihr überall begegnete, überraschten sie. Dazu verliefen Meer und Flussläufe an fast jeder Seite – überall glitzerte die Sonne auf sanften Wellen.
Schon das allein liebte sie, verlor sich in endlosen Spaziergängen entlang des großen Fjords oder am hübschen königlichen Schloss und merkte dabei, wie sie zwischendurch vergaß, woher sie kam, was sie hier tat und wohin sie wollte. Einerseits genoss sie dieses Vakuum, weil es sie wenigstens zeitweise von all dem Kummer befreite. Andererseits machte es ihr Angst, denn auch, wer sie eigentlich war, ging ihr in diesen Momenten manchmal verloren. Plötzlich konnte sie verstehen, warum manch einer von einer Weltreise nicht zurückkehrte. Stattdessen hängen blieb oder bar jeden Halts durch ein Land vagabundierte, ziellos, ungebunden und nach einigen Monaten oder Jahren nicht selten mit allerhand eigenartigen Angewohnheiten und Charakterzügen behaftet. Dafür scheinbar ohne Erinnerung an Freunde, Hobbys oder ein geregeltes Leben, weil er all diese Stabilität irgendwann auf dem Weg mitsamt seiner Identität schleichend eingebüßt hatte. Ob auch ihr eine solch seltsame Existenz bevorstand?
In ruhigeren Stunden oder um sich an den langen Abenden abzulenken, las sie englischsprachige Zeitungen und überflog zum ersten Mal seit ihrem überstürzten Aufbruch die Neuigkeiten über Wirtschaft und Politik. Die Welt war in den letzten Wochen die gleiche geblieben: Konzernvorstände und Politiker überboten einander mit Versprechen und Lügen. Unruhen nach einer Wahl in El Salvador. Massenkarambolage auf der A3 – ein Toter, zehn Verletzte. Eine Schlagzeile über zwei Leichenfunde im Westen des Landes. Beide waren an je einem einzigen Schuss gestorben und in den Wäldern eines Nationalparks gefunden worden. Da man keine Gemeinsamkeiten hatte ausmachen können, lag die Befürchtung nahe, es mit einem fehlsichtigen Jäger zu tun zu haben, der illegal außerhalb der Saison seiner Leidenschaft nachging. Bereits im letzten Jahr hatte ein 82–jähriger Unverbesserlicher in Italien für Aufregung gesorgt, nachdem er einige Hunde und sogar einen Jogger angeschossen hatte, obwohl er durch eine Erkrankung nahezu erblindet war.
Das Letzte war langweilig gewesen. Lars traf nur selten so harte Urteile, doch Dieses hatte es verdient. Es hatte bloß mit großen, verstörten Kuhaugen in die Gegend geglotzt, war ein paar Schritte vorwärts gestolpert und hatte sich dann lethargisch an einen Baum gelehnt, bis er, unter den tadelnden Blicken des Älteren, die Geduld verloren hatte. Er selbst war dementsprechend gleichermaßen enttäuscht gewesen, hatte sich der Wirkung des schönen, zierlichen Körpers aber trotzdem nicht entziehen können. Der Andere wusste darum und hatte ihn mit diesem allein gelassen, wissend, dass Lars von Zeit zu Zeit noch anderen Bedürfnissen nachgeben musste. Jener hingegen schien dergleichen niemals zu brauchen. Vielleicht verfügte er aber auch nur, wie gewöhnlich, über die bessere Selbstbeherrschung.
Fred grübelte noch eine Weile unentschlossen, ob sie nicht doch noch länger in Norwegen verweilen und ins Landesinnere aufbrechen sollte. Vielleicht könnte sie einige der atemberaubenden Fjordlandschaften besuchen, sich die Gebirge und Gletschermoränen ansehen, und auch Stavanger und Trondheim hatten den Ruf, sehr hübsch zu sein. Sie haderte ein wenig mit sich, weil ihr im Grunde alle Optionen reizvoll vorkamen. Immerhin – vor ein paar Wochen war es ihr noch unwahrscheinlich erschienen, jemals wieder etwas wollen zu können.
Letztendlich entschied sich Fred dagegen. Es zog sie einfach unwiderstehlich nach Schweden, warum auch immer. Vielleicht als Kind zu viel Astrid Lindgren gelesen? – dachte sie ein wenig ironisch bei sich, und suchte eine Busverbindung nach Göteborg heraus. Bereits die Strecke gefiel ihr ausnehmend gut – die karstigen Küsten und urtümlichen Kiefernwälder sahen genauso rau und verwunschen aus, wie sie sie sich vorgestellt hatte, und sie befand zufrieden, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Die Stadt selbst war beinahe noch schöner, oder wenigstens der Teil von ihr, den sie an diesem Abend in der Dunkelheit bei ihrer Herbergssuche erkennen konnte. Im Finsteren auf die vielen, winzigen Lichter zuzufahren, kam dem Erreichen einer lang ersehnten Oase gleich.
Die Sonne ging im April noch sehr früh unter, und so erschien es ihr, als sei es fast schon Nacht, als sie sich gegen acht Uhr ihr Abendessen aus ein paar Konserven, Nudeln und etwas Gemüse aus dem „Free–Food“– Regalfach zusammenstellte. Mittlerweile hatte sie eine gewisse Routine darin entwickelt, die ihr langsam beinahe natürlich vorkam. Fred aß die Hälfte, stellte den Rest mit Datum und Namen versehen in einen der Kühlschränke und wusste dann nicht, was sie als Nächstes tun sollte, denn müde war sie nach all der Fahrerei noch lange nicht. Die Unruhe trieb sie letztlich vor die Tür, sie hatte Glück und fand eine kleine Bar in der Nähe. Dort setzte sie sich in eine ruhige Ecke, schnappte nach Luft, als sie der Bierpreise gewahr wurde, und beschloss dann, sich trotzdem ein oder zwei zu gönnen.
Heute wollten sich weder Entspannung noch frohe Aufbruchsstimmung einstellen, ganz im Gegenteil. Vielleicht lag es an dem Postkartenständer, den sie in der Herberge gesehen hatte und dem darauf folgenden Gedanken: Es gab niemanden, dem sie hätte schreiben können.
Abgesehen von Susanne hatte sie nur noch oberflächliche Freundschaften, eigentlich eher Bekanntschaften, gepflegt. Nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern in ihrer Teenagerzeit waren die meisten Leute vor ihr zurückgeschreckt, als habe sie eine ansteckende Krankheit. Sie wussten nicht mit ihr umzugehen oder auch nur zu reden, und – wenn Fred ehrlich war – war ihr das immer häufiger sogar zupassgekommen. Kaum war auch nur das Wort „Auto“ gefallen, waren alle zusammengezuckt und Fred hatte sich mehr und mehr genötigt gefühlt, jedem um sich herum zu erklären, dass alles in Ordnung war, anstatt trauern zu können.
Später in der Uni waren ihr die meisten Kommilitonen zu jung und albern vorgekommen, diesmal war sie es, die es nicht schaffte, einen Kontakt zu den Anderen aufzubauen. Fred hätte selbst nicht genau sagen können, warum sie so sehr fremdelte. Sie war nicht in dem Sinne ängstlich, aber eben ruhig und - so schien es ihr - immer irgendwie anders als ihre Umgebung gewesen. In einer ihrer Streitigkeiten hatte Christoph ihr entgegengeschleudert, sie sei zu schnell alt geworden, eine geistige Greisin im Mädchenkörper. Vielleicht hatte er recht gehabt. Aber immer noch besser so, als ein kindisches, impulsgesteuertes Arschloch wie er, dachte sie nun unmittelbar wütend.
Mit Susanne dagegen war es von Beginn an einfach gewesen. Sie hatten sich gleich am ersten Tag der Ausbildung zur Tourismuskauffrau kennengelernt und sofort gut verstanden. Gemeinsam büffelten sie für die Prüfungen in der Berufsschule, schimpften über verständnislose Lehrer, rollten die Augen über die diversen Marotten ihrer jeweiligen Chefs. Fred war besonders von ihrem netten, offenen Wesen beeindruckt gewesen. So hatte sich bald eine enge Freundschaft entwickelt, und auch wenn Fred manchmal von der überoptimistischen, leicht weltfremden Art der Anderen genervt gewesen war, hatte sie die unzähligen Gespräche mit ihr doch genossen. Zugegebenermaßen war Susannes Lebensweg auch etwas geradliniger und ohne ernst zu nehmende Schwierigkeiten verlaufen. Trotzdem, man respektierte einander, das war das Wichtigste. Hatte sie wenigstens gedacht.
All das schmeckte umso bitterer, da Susanne auch ihre engste Vertraute gewesen war, ging es um die Schwierigkeiten in der Beziehung zu Christoph. Wie oft hatte Fred sich bei ihr ausgeheult? Wie lange hatte Susanne es ihr verheimlicht? Fred schüttelte den Kopf, sie wollte es nicht wissen, nicht darüber nachdenken und versuchte vergeblich, die finsteren Grübeleien zu vertreiben, als sie zur Herberge zurückkehrte und sich unruhig bis ins Morgengrauen wälzte.
Er schrie vor Entsetzen. Als er erwachte, konnte er das Echo noch an den Wänden verhallen hören. Der Ältere musste ebenfalls wach geworden sein, gab jedoch vor weiterzuschlafen, rührte sich nicht und ließ sich auch nichts anmerken. Lars war ihm dankbar dafür, er hatte auf Schulausflügen genug Spott deshalb ertragen müssen und gerade ausreichend mit sich selbst zu kämpfen, auch ohne den Anderen. Der würde ihn sowieso nicht verstehen, er schien nie unter Albträumen zu leiden, ganz egal, was er tat. Die schrille Stimme seiner Mutter klang noch in Lars’ Ohren nach:
„Du bist schuld! Es ist deine Schuld! DEINE SCHULD!!“
Sein ganzer Körper verkrampfte sich unwillkürlich, wehrte sich gegen den gebrüllten Vorwurf, er rang nach Luft. Nein, es war nicht seine Schuld gewesen, das wusste er ganz genau! Er hatte sie gemocht, geliebt und verehrt wie kein anderes Lebewesen auf der Welt!
Zugegebenermaßen, er war vorher schon ein eigenartiges Kind gewesen, so die einhellige Meinung, und er hatte diesem Urteil kaum etwas entgegenzusetzen gehabt. Aber nicht böse. Nicht schlecht, glaubte er zu wissen. Und seine Schwester hatte immer die besten Seiten seiner selbst zum Vorschein gebracht und ihn ebenso mühelos wie unwissentlich zu einem beinahe schon liebenswürdigen Jungen gemacht. Sie liebte ihn heiß und innig, und in ihrer Gegenwart war er nichts als der große Bruder gewesen, der Beschützer, der Gute. Manches Mal sogar heldenhafter Retter, wenn die älteren Kinder sie geärgert hatten oder sie sich nicht mehr allein von dem großen Klettergerüst heruntergewagt hatte. Wäre sie nicht … Wer weiß, vielleicht wäre dann auch mit ihm alles ganz anders verlaufen.
Nicht, dass das eine Entschuldigung sein sollte, aber ein Lebewesen zum Lieben hätte sicher nicht geschadet. Und sie war sein persönliches Wunder gewesen. Lars wusste sehr gut, dass solche Gedanken keinen Sinn hatten und ihn nur quälten, also stand er auf, warf sich im Badezimmer händeweise eiskaltes Wasser ins Gesicht, das eigene, fremde Antlitz im kalten Neonlicht betrachtend. Der junge Mann wollte nicht wieder ins Bett, um sich dem Grauen seiner Träume auszuliefern, lief stattdessen eine großzügige Runde um den abgelegenen Gasthof und setzte sich schließlich rauchend und frierend auf eine Bank davor, die ersten Sonnenstrahlen erwartend.
Fred fand schnell Gefallen an der kleinen Metropole. Am ersten Tag bummelte sie dick eingepackt, aber bei strahlendem Sonnenschein durch die Göteborger Altstadt und entdeckte einen großen Park, der sich in bequemer Laufweite daran anschloss. Die Frühblüher streckten hier im Norden erst vorsichtig ihre Köpfe aus der Erde, trotzdem war er bereits eine echte Pracht. Es gab verschlungene kleine Wege, Miniaturwälder und einen felsigen Hügel mitten darin – man hätte sich fast verirren können. Sie ahnte, dass es hier im Sommer noch schöner war und flüchtete in die großen Gewächshäuser, als sich die Wolken über ihr zuzogen. Drinnen war es tropisch warm und verwunschen wie im Urwald, es roch sogar exotisch–süß. Fred hatte schon seit ihrer Kindheit ein Faible für Glashäuser und Dschungelgewächse. Besonders faszinierten sie die fleischfressenden Pflanzen mit hängenden Kelchen, so groß wie kleine Teekannen und die Seerosenblätter mit mehr als einem Quadratmeter Durchmesser. Aber auch die bleiche, eigenartige Wüstenvegetation ein Haus weiter hatte ihren Reiz.
Tags darauf besuchte sie das Schifffahrtmuseum, ein schwimmendes Sammelsurium echter, begehbarer Schiffe verschiedenster Sorten, darunter ein knallrotes Feuerwehrboot, ein klaustrophobisch enges U–Boot und ein großer Zerstörer namens „Småland“. Letzteren fand Fred besonders spannend, und sie verbrachte einige Stunden damit, sich alles anzusehen. Das glatte, pechschwarze Unterseeboot dagegen verließ sie recht schnell wieder. Die Vorstellung, nur durch wenige Zentimeter Metall von Abermillionen Litern eisigem Wasser über ihr getrennt zu sein, war ihr nicht geheuer. Direkt dahinter schloss sich ein moderner Frachthafen an, der den Gefährten heutiger Zeit Landeplatz bot, wobei ab und zu eines der rotblau gestreiften Kranschiffe vorüberglitt, so gigantisch, dass sich selbst der Kreuzer wie ein Spielzeug dagegen ausnahm.
Die Beschäftigungstherapie half: Abends bemerkte sie freudig überrascht, dass sie seit dem Aufstehen nicht mehr an Christoph gedacht hatte. Vielleicht ging es ihr ja wirklich langsam besser? Oder ließ sie sich bloß von einer vorübergehenden Stimmungsschwankung hinters Licht führen?
Es war spät, als sie in dem kleinen, abgelegenen Hostel eincheckten. Sie schliefen nur in Herbergen, Motels oder auf Campingplätzen, denn dort nahm man es mit den Personalien weniger genau und das halbe Dutzend gefälschter Ausweise, das jeder von ihnen bei sich trug, hielt einer oberflächlichen Prüfung durchaus stand. Der Ältere bezahlte, wie immer, es handelte sich um eine unausgesprochene Abmachung, dass er für die Kosten ihrer Reise aufkam. Bloß wenn Lars etwas für sich allein haben wollte, Zigaretten oder Süßigkeiten etwa, musste er es selbst finanzieren.
Einmal mehr stellte er bei diesem Anlass fest, dass sein Wissen über den Reisebegleiter mühelos auf einem einzigen Blatt Papier unterzubringen gewesen wäre. Und das, obgleich sie einander nun schon seit gut sieben Jahren kannten. In einem der seltenen gesprächigen Momente des Älteren hatte er erfahren, dass er 50 Jahre alt war, seine Mutter vor nunmehr fünf Jahren verstorben war und ihm ein winziges Häuschen hinterlassen hatte. Es war alt und brachte beim Verkauf keine Reichtümer ein, doch zusammen mit seinem Ersparten war er auf gut 50.000 Euro gekommen, mit denen sie nun diese Reise finanzierten. Und da sie bescheiden lebten, würde es lange reichen. Angefangen hatten sie drei– oder viermal im Jahr mit kleinen Ein– oder Zweitagestouren, für die sie weit gefahren waren, nicht selten bis über die Landesgrenze nach Polen oder Holland. Nach all den kurzen, aufregenden Ausflügen in der Vergangenheit, die jedoch stets einen Blick auf die Uhr beinhaltet hatten, war es eine regelrechte Erlösung gewesen, endlich frei von Zwängen unterwegs zu sein.