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Anna ist eine Getriebene: Aufgewachsen im Berliner Plattenbau, lernt sie von klein an, sich mit dem Existenzminimum durchzuschlagen. Als ihre Eltern sterben, will sie der Armut um jeden Preis entkommen. Dafür sieht sie nur einen Weg: Pornostar zu werden. Selbstbewusst und mit unbarmherziger Disziplin stellt sie sich den Herausforderungen der Branche und vermarktet sich erfolgreich als "Anny Bunny". Doch derweil ihr Plan aufzugehen scheint, bleiben die physischen und psychischen Narben lange verborgen. Viel zu spät wird Anna bewusst, wie sehr das zerstörerische Frauenbild der Filme ihren Alltag beherrscht. Kann der Ausstieg in ein normales Leben gelingen? Auch Phillip kämpft mit den sexuellen Erwartungen an ihn als jungen Mann, die seine Freunde mühelos zu erfüllen scheinen. Nach außen hin eine gewöhnliche Jugend erlebend, ist er innerlich zunehmend zerrissen und verunsichert - stimmt mit ihm etwas nicht? Ist er unfähig, eine glückliche Beziehung zu führen? "Anny Bunny" nimmt den Leser mit auf eine Reise zu den Schattenseiten einer Industrie, die Lust verkauft, und erzählt aus zwei Perspektiven, die bislang kaum Beachtung finden.
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für die Liebe meines Lebens
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Behutsam schob ich die letzte Tablette ein kleines Stückchen weiter nach rechts. Die Reihe lag trotzdem nicht parallel zu der darüber - einfach, weil es nur 99 anstatt 100 Diazepam waren. Das sah nicht hübsch aus, spielte aber keine Rolle. Als ich den unauffälligen Briefumschlag geöffnet hatte, hatte ich argwöhnisch feststellen müssen, dass die Pillen lose anstatt in Blistern verschweißt und zudem leuchtend himmelblau waren. Deshalb hatte ich letzte Woche eine von ihnen getestet. Das resultierende Gefühl war angenehm ermüdend, wattig weich und friedlich gewesen - kein Zweifel, hier war drin, was draufstand. Nun befanden sich bereits eine großzügige Portion Metoclopramid und etwas Reis in meinem Magen, keinesfalls sollte mir unerwünschtes Erbrechen den ganzen Plan versauen.
Fast ehrfürchtig legte ich die ersten beiden Tabletten auf meine Zunge und trank einen kleinen Schluck Wein hinterher. Cabernet Sauvignon aus dem Nappa Valley, Jahrgang 2012. Ein Gedicht im Abgang, halbtrocken, um meine Verdauung nicht mit zu viel Säure zu reizen. Er sollte brav hinunter transportieren, was hinunter musste. Entspannen und schlucken, das Prozedere war vertraut, das Material austauschbar. Kurz brannten meine Augen, ich meinte, ein Kratzen im Hals zu spüren. War es das? Die Katharsis? Nein, doch nicht, es verging so schnell, wie es gekommen war. Na gut, dann eben ohne Tränen. Zunächst hatte ich die beiden edlen, silbernen Kerzenleuchter auf dem Tisch platziert - es schien mir richtig und notwendig, die passende Atmosphäre für mein Vorhaben zu schaffen. Doch bereits nach wenigen Minuten war es mir einfach zu albern und aufgesetzt vorgekommen, also hatte ich sie wieder ausgeblasen. Nun glänzte allein das kühle Licht der Pendellampe auf der blanken Kastanienholzplatte meines Esstisches und beleuchtete die runden, blauen Todesbringer.
Die zweite Portion war fällig. Als ich einen Blick auf die Wanduhr warf, wurde mir klar, dass ich mein Tempo steigern musste, wollte ich noch alle hinunterbringen, bevor die Wirkung ein- und mich außer Gefecht setzte. Rasch nahm ich vier Tabletten hintereinander, atmete tief durch und schluckte sofort die nächsten vier. Abgesehen vom Notwendigen war der Tisch gänzlich leer. Eine Weile hatte ich gegrübelt, ob es angemessen gewesen wäre, einen Brief zu verfassen. Irgendetwas Erklärendes, Entschuldigendes, Erlösendes, das meinen Tod in einen sinnvollen Kontext setzen würde. Leider gab es weder einen sinnvollen Kontext noch einen Adressaten. Vielleicht hätte ich Marie schreiben sollen, für die ich immerhin etwas empfand, das Liebe noch am nächsten kam. Andererseits hatte ich ihr in den letzten Jahren nicht vermitteln können, wie ich mich fühlte - warum also sollte es mir ausgerechnet in diesem speziellen Brief gelingen?
Die Maserung der Holzplatte verschwamm ein wenig vor meinen Augen. Es wurde höchste Zeit. Unsicher grabbelte ich die übrigen Tabletten in meine hohle Hand und kippte das letzte Glas Wein auf Ex. Schade drum. Aufzustehen erwies sich als überraschend große Herausforderung. Meine Gliedmaßen fühlten sich an wie mit Blei gefüllt. Jeder einzelne Muskel war weich und wabbelig. Schön. Der Gedanke, mich einfach auf den Boden zu legen und mein Gesicht in den dichten Hochflorteppich zu schmiegen, war unglaublich verlockend. Aber das war nicht der Plan, also zwang ich mich Schritt für Schritt weiter, bevor der Drang übermächtig wurde.
„Anny Bunny bringt sich um“ - ich kicherte benommen und merkte, dass ich vielleicht schon zu lange gewartet hatte. Der Raum schwabbelte und schwankte, ich schwabbelte und schwankte, alles schwabbelte und schwankte. Eine Hand an der Wand, tastete ich mich mühsam zum Bett entlang. Meine Augen fühlten sich unfassbar schwer an, ich schielte nur noch durch einen schmalen Schlitz unter den Lidern hervor, mein ganzer Körper war warm und taub. Schön. Ganz schön. Ich kroch unter die flauschige Daunendecke, fragte mich noch, ob
Mama und Papa stritten schon wieder. Sie taten es aus Rücksicht auf mich so leise wie möglich und ich wusste auch, dass es nicht lange dauern würde, hasste es aber trotzdem. Vor allem jedoch wünschte ich mir eine Tür, mehr noch als sonst. Unser Zuhause war eigentlich als Zweiraumwohnung gedacht gewesen, mit kleinem Schlaf- und großem Wohnzimmer, letzteres in „L“-Form. Das kurze Ende hatten meine Eltern mittels eines dicken Vorhangs abgetrennt, sodass ich über ein eigenes Reich und ein Minimum an Privatsphäre verfügte. Die Betonung lag auf Minimum. Schon vor Jahren hatte Papa den Vermieter gebeten, eine Schiebetür einbauen zu dürfen, doch der hatte abgelehnt. Wir könnten ja ausziehen, wenn es uns nicht passte. Konnten wir natürlich nicht. Ebenfalls vor Jahren hatten wir uns über WBS auf die Warteliste für eine 3-Zimmer-Wohnung setzen lassen. Da waren wir immer noch drauf.
Hier drinnen standen ein Bett, ein Sperrholzschrank, den ich auf der Matratze sitzend öffnen konnte, und dazwischen eingeklemmt ein kleiner Schreibtisch. Jedes übrige Stückchen Platz war mit Regalbrettern, Kisten oder Schubfächern genutzt worden, damit ich meine Sachen unterbringen konnte. In all dem war der Schrank das Einzige, das mir ein Lächeln abringen konnte - denn ich hatte ihn als Zeichen meiner Verehrung mit Postern von „Pink“ und den „No Angels“ tapeziert. Vor allem Sandy Mölling fand ich so megahübsch, dass ich sie jeden Morgen beim Aufwachen mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung betrachtete. So gerne wäre ich wie sie! Hübsch, reich und berühmt - die stieß sich nicht bei jeder Bewegung an irgendeiner lausigen Kante die Knie blau. Deren Wohnung könnte vermutlich problemlos als Fußballplatz dienen.
Draußen wurde es lauter, ich schloss die Augen und steckte mir Stöpsel in die Ohren. Es ging um Geld - es ging eigentlich immer um Geld - und ich wusste, dass sie am Ende beide resignieren würden. Als ich Ohrenschmerzen bekam, vertauschte ich die Kopfhörer. Einer von ihnen gab seit Wochen ein nervtötend hohes, lautes Pfeifen von sich, das Scheißteil schien erpicht darauf, mich in den Wahnsinn zu treiben. Aber gerade war wohl kaum der richtige Moment, meine Eltern um 10 Euro zu bitten, damit ich mir neue kaufen konnte. Nicht, dass es den jemals gegeben hätte. Ich hatte beim Lidl gefragt, ob ich nach der Schule Werbung austragen durfte. Aber die hatten behauptet, dass ich dazu erst 14 sein müsste - also hieß es noch ein paar Monate warten. Deppen. Als ob ich die Dinger dann irgendwie anders einwerfen würde.
Heute hatte ich Langtag, daher war Mama schon da, als ich nach Hause getrödelt kam. Sie saß rauchend draußen und legte den Finger auf die Lippen, als sie mich entdeckte - ich verstand, Papa schlief. Also schlich ich in die Küche, schob mein Mittagessen in die Mikrowelle und verzog mich in mein Zimmer. Der mp3-Player, den ich mir zu Weihnachten gewünscht hatte, weil er im Sonderangebot gewesen war, rettete mir echt das Leben: Ich konnte nun endlich Musik hören, wenn Papa von der Schicht kam.
Außerdem war Freitag und Freitag war generell ein guter Tag: Mama schaute auf dem Rückweg von der Arbeit in den Möbel- und Modehäusern vorbei und sah nach, ob es neue Kataloge für mich gab. Ehrlich, ich liebe Kataloge! Behutsam zog ich den dicken Ordner unterm Bett hervor und schlug ihn auf. Im Inneren befanden sich unzählige Klarsichthüllen, thematisch durch Ordnertrenner sortiert. Bewaffnet mit einer Schere ging ich in aller Ruhe die Seiten durch, begutachtete kritisch die neue Ware, um dann sorgfältig auszuschneiden, was mir gefiel - und dabei war ich verdammt anspruchsvoll! Bei mir gab es spezielle Abteilungen für Möbel und andere Einrichtung, für Häuser, Wohnungen, Kleidung, Schmuck, Accessoires, Kosmetik ... Zu jeder einzelnen existierten selbstverständlich schöne, saubere Listen - vielleicht das Einzige, das ich sogar noch mehr liebe als Kataloge.
Schon als ich klein war, war der Höhepunkt des Tages das Erstellen der Einkaufsliste gewesen. Mit acht vermochte ich den Inhalt all unserer Schränke, inklusive Gefrierfächer, stets auswendig aufzusagen und aus den jeweiligen Sonderangeboten die perfekte Liste für die besten und günstigsten Mahlzeiten zusammenzustellen. Mama nannte mich gelegentlich scherzhaft die Königin der Listen und ich war insgeheim furchtbar stolz darauf. In diesem Fall dienten Ordner und Listen jedoch einzig meinen ganz privaten, elaborierten Traumwelten. Kaum ein Abend, an dem ich mir die Stunde bis zum Einschlafen nicht damit versüßte, das perfekte Outfit oder die schönste Wohnung von allen zu kreieren.
Ich hatte Magenschmerzen - den ganzen Tag lang schleppte ich mich durch die Schulstunden und fühlte mich wie ausgekotzt. Nicht, weil ich wirklich krank war, sondern weil Papa heute Morgen wieder gehustet hatte. Diesmal schien der Anfall kein Ende nehmen zu wollen, ich saß wie jedes Mal im Bett, die Fäuste im Schoß, und wusste nicht, was ich tun sollte. Natürlich war mir klar, dass Raucher husteten, und meine Eltern rauchten richtig viel. Extra für mich gingen sie immer auf den Balkon, sogar im Winter, und ich hatte ihnen schwören müssen, selbst nie damit anzufangen. Bis jetzt hatte ich mich daran gehalten.
Beide waren nicht mehr so jung, genau genommen hatte keiner in meiner Klasse einen älteren Vater. Als ich geboren wurde, war Mama schon 40 und Papa sogar 50 gewesen. Sie hatten eigentlich keine Kinder bekommen können, obwohl sie es gewollt hatten. Einmal, vor ein paar Jahren, hatte Mama mich angeguckt, war ganz ernst geworden und hatte gemeint, ich sei die einzige echte Überraschung und zudem das Beste in ihrem Leben gewesen. Ihr Wunder. Ich hatte überhaupt nicht gewusst, was ich sagen sollte, doch sie hatte mich gleich darauf in den Arm genommen und damit war alles gut gewesen. Trotzdem hatte ich jedes Mal einen Knoten im Bauch, wenn Papa so arg hustete oder Mamas Beine so dick waren und so wehtaten, dass sie sie hochlegen musste.
In zwei Wochen hatte ich Geburtstag, doch für diese Jahreszeit war es noch verdammt kalt. Fröstelnd zog ich die Jeansjacke enger um meine Schulter und lief einen Schritt schneller durch die Dunkelheit. Es war ein schöner Tag gewesen. Einmal in der Woche ging ich nach der Schule mit zu Marie, meiner besten Freundin seit Ewigkeiten. Wirklich allerbesten, denn ihr konnte ich beinahe alles erzählen. Außerdem gab es noch Johann, meinen besten Freund, und eine Handvoll anderer Leute, die irgendwie auch meine Freunde waren. Aber eher so, dass man halt in der Schule zusammengluckte, tratschte und sich gegenseitig zum Geburtstag einlud. Nicht so, dass man zu verraten wagte, wenn es einem richtig mies ging.
Maries Eltern hatten mehr Geld als meine - was zugegebenermaßen nicht schwer war - und wohnten in einer hübschen Wohnung, in der Marie ein echtes eigenes Zimmer hatte. Es war kein stetiges sich aneinander Vorbeidrücken und -quetschen wie bei uns. Trotzdem oder auch deshalb fühlte ich mich wohl bei ihr, zumal mir ihre Eltern immer das Gefühl gaben, willkommen zu sein. Ihre Mutter war eine runde, blonde und unaufgesetzt herzliche Dame, die sich stets Zeit nahm, sich mit mir zu unterhalten und zu fragen, wie es mir ging. Außerdem konnte sie unheimlich lecker kochen. Nach dem Essen verkrochen wir uns in Maries Zimmer, guckten Serien, hörten Musik und lasen Zeitschriften, uns gegenseitig bei diversen Psychotests abfragend. Was wäre dein Charaktertier? Welcher Filmstar wärst du? Welche Farbe hat deine Persönlichkeit? Natürlich kicherten wir uns halb zu Tode. Außerdem diskutierten wir über Gott, die Welt und Jungs. Ok, eigentlich vor allem über Jungs. Darüber, ob unsere Brüste vielleicht doch noch wachsen würden - hoffentlich! -, wobei Marie einen klaren Vorsprung hatte. Und ob wir wohl bald einen Freund bekommen würden, mit dem wir ins Kino gehen oder auf den Maientagen Zuckerwatte essen könnten.
Mama saß am Küchentisch und sortierte Rechnungen. Um das zu wissen, brauchte ich die Post nicht erst genauer zu betrachten, ihr besorgter Gesichtsausdruck genügte. Sie hatte drei Jobs als Kassiererin, aber jeder nur für 7,50 Euro in der Stunde und 400 Euro im Monat. Brutto. Schon die Fahrtkosten zwischen den drei Läden fraßen einen guten Teil auf, von der Zeit ganz zu schweigen. Sie sagte, dass die Discounter sparten, wenn sie sie nicht sozialversicherungspflichtig einstellten. Ich wusste nicht genau, was das hieß, nur, dass sie ziemlich viel arbeitete und am Monatsende ziemlich wenig Geld übrig war. Oder auch fehlte.
Papa arbeitete als Wachmann im 2-Schichtsystem und da wusste ich sehr genau, was das hieß: Er war immer müde. Ich kannte ihn nicht einmal nicht müde. Selbst an den Tagen, an denen er frei hatte, lief er ständig herum wie ein Schlafwandler. Letztes Jahr hatte ich ihn deshalb angeschrien. Ich wusste heute nicht einmal mehr, warum ich eigentlich so sauer gewesen war, und war ehrlich gesagt auch nicht sicher, ob ich es damals gewusst hatte. Bloß, dass ich furchtbar zornig gewesen war und ihn angebrüllt hatte: Dass er nie Zeit für mich hatte, dass er mir nie zuhörte, dass ich mir nie kaufen konnte, was ich haben wollte, dass sie ewig nur mit dem verdammten Geld beschäftigt waren ... Am Ende meiner Explosion hatte ich vor Wut geheult und es noch mehr als sonst gehaßt, dass ich keine Tür zum Knallen hatte.
Später am Abend hatte Papa sich zu mir aufs Bett gesetzt, so blass und traurig, dass mir übel wurde vor lauter bohrendem Gewissen. Ich wusste doch, dass er nicht absichtlich so erschöpft war. Trotzdem entschuldigte er sich mit rauer Stimme, streichelte meine Schulter und meinte, dass er auch gerne mehr Zeit mit mir verbringen würde. Schließlich sahen wir uns verlegen an und drückten einander. Klar war oft alles doof, aber wir mussten doch zusammenhalten, oder?
Seit einem Monat trug ich nun Werbung aus, einmal pro Woche, drei Stunden lang. Wenn ich das lange genug machte und nicht zu viel Geld für Unsinn raushaute, würde ich mir vielleicht Punkt eins auf meiner Liste leisten können: Einen Computer.
Was ich haben will:
Computer
mp3-Player
-
Harry Potter und der Orden des Phönix
Von hier an blind (Helden)
Diesel Zero Plus
Beim Parfum hatte ich so richtig Glück - normalerweise hätte ich mir das von meinen 2 Euro Taschengeld in der Woche nicht leisten können. Aber bei eBay hatte ich als Höchstbietende mit gerade mal 6 Euro eine Flasche erstanden, die noch fast voll war. In der Schule war ich das einzige Mädchen, das die Informatik-AG gewählt hatte. Eigentlich war ich nicht sehr gut, aber zumindest die Grundlagen verstand ich recht ordentlich - außerdem machte es mir irgendwie Spaß. Der übrige Kurs bestand zur Hälfte aus Freaks, die irgendwelche Programme schrieben und sich gegenseitig darin überboten, möglichst ausgefeilten Code zu entwickeln. Die andere Hälfte nutzte die Zeit im Computerraum, um UT und GTA zu zocken. So oder so faszinierten mich die Möglichkeiten, die ein Rechner ganz allein für mich mit sich brachte, ausreichend, als dass der Wunsch Platz eins meiner Liste erobert hatte.
So schlecht sah mein Zeugnis nicht aus, fand ich. Je eine Drei in Mathe und den anderen Naturwissenschaften, dafür eine Eins in Sport, Zweien in Deutsch, Englisch, Ethik und Kunst. Außerdem waren meine beiden AGs Informatik und Polnisch darauf vermerkt. Polnisch belegte ich wegen Papa, der erst seit 24 Jahren hier lebte. Er hatte nur selten die Gelegenheit, mir etwas von seiner Muttersprache beizubringen, doch ich hätte gerne mehr gelernt, da kam mir der Kurs zupass. Meine Mama kam aus dem Ruhrpott und das hörte man manchmal auch. Natürlich hatte ich das Blättchen mit Marie - wie immer besser als ich - und Johann - wie immer schlechter als ich - verglichen. Meinen Eltern waren die genauen Noten egal, sie lobten mich schon, weil es keinen blauen Brief gegeben hatte, nahmen mich in den Arm und Papa drückte mir einen Fünfer in die Hand. Ein willkommener Bonus.
Seine Kumpel nervten. Nicht erst seit gestern oder letzter Woche, sondern bestimmt schon ein Jahr lang waren sie schlichtweg unerträglich, kaum machten sie die Klappe auf. Anfangs hatte er geglaubt, dass es sich nur um eine Phase handeln würde, wie die Affinität für Center Shocks oder Counter Strike. Doch im Gegensatz dazu ermüdete ihr Interesse leider nicht. Jede Diskussion, jedes noch so belanglose Gespräch schien plötzlich eine spezielle Konnotation zu haben, die alle außer ihn in heftiges, unwillkürliches Lachen ausbrechen ließ. Phillip verzweifelte daran, sich ständig zum Idioten zu machen, weil er die schlüpfrigen Andeutungen entweder nicht verstand oder, wenn doch, nichts damit anzufangen wusste. Manchmal saß er mit hochrotem Kopf zwischen ihnen und wünschte sich einfach zum Mars. Plötzlich fühlte er sich einsam, mitten unter ihnen.
Eine Zeit lang versuchte er aktiv die Unterhaltungen auf andere Themen zu lenken, doch es misslang meistens, bis er irgendwann resigniert aufgab. Ok, dann war das eben so. Es würde von selbst vorbeigehen. Auf Dauer gab es doch wirklich Wichtigeres als die Frage, wie man ein Mädchen am besten ins Bett bekam und was man dort tat, oder? Aber dann entdeckten seine Kumpel die Welt der Internetpornografie und das versaute ihm endgültig jeden gemeinsamen Abend. Er war der Erste von ihnen, der 16 geworden war, und daher fürs Bierorganisieren zuständig. Spätestens nach zwei Flaschen begannen sie über diese Filmchen zu reden und sie kurz darauf unweigerlich abzuspielen - nur um sie kichernd und seibernd zu kommentieren. Für Phillip sahen die Szenen alle gleich aus. Er bemühte sich, so unauffällig wie möglich wegzugucken, und fühlte sich unwohl, manchmal kämpfte er mit Übelkeit. Wie konnten sich die anderen das ansehen, ohne dass es ihnen genauso erging? Es war ihm ein Rätsel. Zu fragen, wäre unmöglich gewesen, ihm war klar, dass er sich damit bis auf die Knochen blamieren würde.
Phillip hätte nicht sagen können, ob es das war, was den Grundstein für sein Sich-seltsam-Fühlen legte, oder ob es schon früher angefangen hatte. War er denn nicht eigentlich ganz normal? Beinahe schon zu durchschnittlich? Auf jeden Fall spürte er die zunehmende Isolation, und dass er immer öfter begann, den Treffen mit seinen Kumpeln auszuweichen, Ausreden erfand, weshalb er keine Zeit hatte. Gleichzeitig bedauerte er diese Entwicklung: Obwohl er gerne allein war, traf er sich ebenso gerne mit Leuten und genoss das Zusammensein mit den Jungs eigentlich. Nicht wenige davon spielten mit ihm Fußball oder gingen in seine Stufe.
Letztendlich war - wie so oft - Lisa sein Rettungsanker. Sie waren schon im Kindergarten beste Freunde gewesen, hatten sich in unterschiedlichen Grundschulen aus den Augen verloren und im Gymnasium wieder zusammengerauft. Es hatte keine zwei Wochen gedauert, dann waren sie so unzertrennlich, dass die anderen sie gelegentlich damit aufzogen. Mit Lisa konnte man immer reden, sie war nicht komisch geworden.
Beschwingt traf ich mich mit Johann in unserem Stammcafé, um Milchshakes zu schlürfen. Es tat mir leid, dass meine Eltern arbeiten mussten, aber ich genoss das tägliche Ausschlafen, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Johann war ein wirklich eigenartiger Mensch, aber ein netter. Schüchtern zudem und von den meisten für einen arroganten Snob gehalten. Aber ich war mir mittlerweile sicher, dass das eben Johanns Art war, mit seiner Unsicherheit umzugehen. Er konnte auch richtig charmant sein. Manchmal wusste ich nicht genau, warum er mich mochte - vielleicht einfach, weil ich ihn mochte. Denn eigentlich gehörte ich nicht zu seiner üblichen Gesellschaft, das nahm ich wenigstens an.
Unsere Schule lag genau dazwischen. Und mit dazwischen meine ich, dass eine ganze Menge so richtig reicher Leute aus dem Süden Neuköllns hingingen, deren Eltern Anwälte, Ärzte, Beamte oder Wissenschaftler waren. Und dann waren da noch die Leute wie ich, die aus dem echten Neukölln im Norden kamen. In manchen Wohnblocks nannten sich die Jungs und Mädels, die so alt waren wie ich, Gangs und trafen sich nachts heimlich, um zu kiffen und Wodka zu trinken. Ich fand das albern, außerdem hätten mich meine Eltern erschlagen. Jedenfalls ergab es sich normalerweise von selbst, dass die aus dem Süden und die aus dem Norden an der Schule nicht viel miteinander zu tun hatten. Manchmal wurde geflüstert, dass die Schule uns nur nahm, weil sie irgendwelche Beihilfen dafür bekam.
Ich wusste nicht genau, ob das stimmte, aber wenn wir so was wie das klebrige Zeug am Boden von einem Glas waren, gehörte Johann eher zur Schaumkrone. Seine Eltern waren irgendwie im Management, hatten ziemlich viel Geld und obwohl er keine halbe Stunde zu Fuß von mir weg wohnte, hatte ich immer das Gefühl, als sei es eine ganz andere Welt, die ich betrat. Umgekehrt würde ich Johann auf keinen Fall mit in unsere Plattenbauwohnung nehmen, bester Freund hin oder her. Er war aber, glaube ich, selbst auch nicht besonders scharf drauf.
Trotzdem hatte er keinen guten Stand in der Klasse und war eher Außenseiter, so wie ich auch. Seiner überheblichen Art, aber auch seiner zahllosen Neurosen wegen. Ehrlicherweise empfand selbst ich ihn gelegentlich als anstrengend, aber ich konnte mit ihm über alles reden und das war das Wichtigste. Warum auch immer, auf mich sah er nicht herab. Aber er war empfindlich und sehr schnell beleidigt, das hatte ich rasch begriffen und passte ein bisschen auf, was ich sagte. Nie hatte ich jemanden kennengelernt, der vor so vielen Sachen Angst hatte. Da waren Stürme, enge Räume, Knöpfe, Toiletten und - in Berlin wirklich nicht praktisch - Ratten. Am Anfang hatte ich gedacht, dass er nur so tat, vor allem bei dem Ding mit den Knöpfen, aber er meinte es absolut ernst und geriet richtig in Panik. Die anderen behandelten ihn deshalb wie eine zerbrechliche Vase, schubsten ihn nie oder machten grobe Scherze. Manchmal war ich neidisch darauf, vor allem, wenn mir alles zu viel wurde in der Schule. Andererseits nahm ihn niemand für voll, gerade die Jungs betrachteten ihn größtenteils mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu. Darauf war ich bestimmt nicht neidisch. Ich war mir nicht sicher, ob er das merkte - keinesfalls wollte ich diejenige sein, die es ihm sagte.
Urlaub war das Tollste überhaupt. Mir war egal, dass die anderen immer viel weiter weg fuhren, dass Marie in Griechenland und Johann in Venedig war - ich genoss die Woche. Naja, fast egal jedenfalls. Wir waren jedes Jahr im selben Ort an der Ostsee, seit ich denken konnte. So lange, dass er mir ein wenig wie eine zweite Heimat vorkam. Ich kannte das kleine Appartement wie meine Westentasche, die schmalen Wege durch weiße Dünen und Schilf hinab zum Meer und das Städtchen mit den Cafés und Museen. Zugegeben, manchmal saß ich im Abendsonnenschein am Strand und stellte mir vor, ganz woanders zu sein. Wie es wohl wäre, in einem Land zu sein, dessen Sprache ich nicht kannte. Oder gar auf einem anderen Kontinent! Egal, ich mochte das hier wirklich. Ich war Mama und Papa dankbar, dass sie sich das ganze Jahr über Mühe gaben ein paar Euro zurückzulegen, damit wir uns den Urlaub leisten konnten. Außerdem mochte ich, dass sie ein bisschen weniger fertig aussahen und wir uns ab und zu richtig unterhalten konnten.
Ich durfte die Klassenfahrt in den Spreewald mitmachen. Das war gut. Weniger gut war, dass Frau Roselieb im Zuge dessen freudestrahlend vor der ganzen Klasse verkündet hatte, dass der Förderverein einer Beihilfe zugestimmt hatte. Nur Vadim hatte dasselbe Schicksal erlitten. Aber er war einer von den Harten, ein zäher Russlanddeutscher, der bis vor drei Jahren in Sibirien gelebt hatte. In der Pause verpasste er unten bei den Spinden zwei Jungs, die es gewagt hatten, einen dummen Kommentar abzugeben, eine blutige Nase. Damit hatte er seine Ruhe und meinen Neid. Trotz des ganzen Geschwafels über Gleichberechtigung - es war für Mädchen nicht ok, sich zu schlagen. Mädchen, die sich schlugen, waren hysterisch, verrückt oder Mannsweiber. Dabei hätte ich bestimmt gekonnt, und sowieso gewollt, denn ich war schnell, stark und nicht so eine Zimperliese. Im Jugendzentrum gab es ein paar Sportkurse umsonst, deswegen ging ich zweimal die Woche zum Handball und es machte mir nichts aus, wenn ich danach mit ein paar blauen Flecken heimkam. In der Schule warf mir trotzdem nie jemand den Ball zu - der ungeschriebenen Regel folgend, nach der man den Ball nicht an Mädchen abgab, selbst wenn sie freistanden.
Aber mich faszinierte Vadim noch aus einem anderen Grund: Mir gefiel sein schwerer, russischer Akzent. Meine Freundinnen standen alle auf Französisch, weil das ja sooo eine romantische Sprache wäre. Aber für mich war Russisch viel schöner, weil es immer klang wie ein raues, melancholisches Gedicht. Allerdings war im Moment nicht er das Objekt meiner Schwärmerei, sondern Boris, ein drahtiger Ukrainer mit wunderhübschen, langbewimperten Augen. Den ich mich natürlich niemals anzusprechen traute.
Immerhin sagte zu mir keiner was wegen der Klassenfahrt, auch später nicht. Aber die mitleidigen Blicke entgingen mir nicht. Zwar hatten die Eltern einiger anderer auch wenig Geld. Aber eben nicht so wenig. Das machte immer noch einen kleinen Unterschied in der Hackordnung aus.
Die Klassenfahrt war trotzdem cool. Also einmal waren die Wanderungen durch den Wald und die Kahnfahrt zum Freilichtmuseum superschön - auch wenn ich natürlich nie dumm genug gewesen wäre, das laut zu sagen. Denn außer Johann überboten sich alle darin festzustellen, wie unglaublich schrecklich und langweilig die Ausflüge waren, also nickte ich brav. Eigentlich war ich unheimlich gern draußen, ging am Wochenende mit Johann spazieren oder allein im Park joggen. Abgesehen davon machten mir vor allem die Abende einen Heidenspaß. Auf den Zimmern spielten wir Flaschendrehen, um uns die schlimmsten, peinlichsten Geheimnisse zu entlocken, Lippenstifte durchzuprobieren und einander grausige Aufgaben zu stellen. Ich hoffte sehr, dass die anderen bis nächste Woche vergessen hatten, dass ich versprochen hatte, Kondome zu kaufen, sonst müsste ich sicherlich sterben!
Vadim hatte uns - natürlich gegen ein saftiges Trinkgeld - Bier besorgt und ich mit schlechtem Gewissen eine Packung Drehtabak von Papa für ihn mitgehen lassen. Unsere Mädelsgruppe kam prima aus, obwohl uns vor ein paar Jahren eigentlich nur verbunden hatte, dass wir alle nicht cool waren. Entweder waren wir zu doof oder zu schlau - dann jedoch nicht reich genug, um schlau sein zu dürfen -, zu seltsam, zu hässlich oder, in meinem Fall, zu arm. Marie wiederum war, mit ihrer Vorliebe für Hornbrillen und Strickpullover, zu altbacken und lesbisch. Ich allerdings liebte diese Pullis. Manchmal, wenn wir bei ihr einen heißen Kakao tranken, lieh ich mir einen und stellte mir vor, dass wir zusammen mit unseren Ehemännern in einem Haus wohnten. So einem richtig süßen mit blau lackierten Fensterläden, Sonnenblumen, Holzzaun und Reetdach, wie ich es an der Ostsee gesehen hatte. Egal was geschah, uns würde nie etwas trennen können.
So oder so waren wir Mädels aus dem einen oder anderen Grund alle unsichtbar.
Notgedrungen war ich bei Johann zu Hause. Meistens trafen wir uns irgendwo draußen, aber heute war es nicht nur kalt, es graupelte auch noch ganz ekelhaft. Ehrlichgesagt war ich sehr ungern bei ihm. In seiner Straße gab es nur geräumige, freistehende Einfamilienhäuser mit guter Alarmanlage, deren Besitzer eine Garage für ihren BMW und eine für ihren Benz oder Porsche hatten. Johanns Eltern waren nett zu mir, sie gaben sich Mühe und hatten nie etwas Blödes gesagt. Aber ich spürte den Unterschied trotzdem, sie schienen mich heimlich neugierig zu beäugen. Ich kam mir immer vor wie ein exotisches Tier.
Johann hingegen wurde von ihnen behandelt wie ein kleiner Gott, sodass es fast peinlich war. Unabhängig davon war er trotzdem oft traurig. Er war recht groß, dabei aber so unfassbar dünn, dass er an eine Spinne oder eins dieser magersüchtigen Models aus den Modezeitschriften erinnerte. Der ganze Mensch war eine einzige schlaksige Sorge. Er redete oft schlecht über die anderen Jungs, aber ich dachte mir insgeheim, dass er in Wirklichkeit nur befürchtete, selbst nie als richtiger Mann durchzugehen. Mir war das eh scheißegal, für mich war ein guter Freund einer, der zu einem stand, wenn alles scheiße war, und das traute ich ihm zu. Eben weil er eigenartig war, ich konnte ihm auch meine Seltsamkeiten und wirren Gedanken anvertrauen, ohne dass er darüber lachte.
Zugegeben, ein Kerl für mich wäre er auch nicht gewesen, ich mochte robustere Jungs. Vielleicht hätte ich mich deshalb sogar mies gefühlt, wenn es umgekehrt nicht genauso gewesen wäre. Wenn ich bei ihm übernachtete und wir Popcorn kauend Filme auf dem Riesen-Flatscreen seiner Eltern ansahen, schwärmte er stets für kleine, niedliche und vor allem elegante Frauen. Ich war viel zu praktisch und wenn ich nach einem großen Schluck Cola ordentlich rülpste, guckte er mich jedes Mal an, als hätte ich ein Robbenbaby geschlachtet. Ich lachte bloß darüber und machte es trotzdem - ich musste mit ihm klarkommen, er mit mir. Wenn wir uns sahen, unterhielten wir uns meistens einfach nur oder ich half ihm bei den Hausaufgaben. Es war nicht so, dass er dumm war, im Gegenteil, in manchen Bereichen hatte er eine erstaunliche Faktenmenge im Kopf gesammelt. Zum Beispiel konnte er alle Hubschraubertypen erkennen und benennen. Oft bewunderte ich seine Allgemeinbildung. Aber ihm fehlte Durchhaltevermögen - wenn etwas nicht klappte, verzweifelte er sofort, während ich mich durchbiss, bis der Mist endlich funktionierte.
„Anna!“ erklang es quer durch den Flur und ich schreckte zusammen - ich war in der Freistunde auf dem Sofa im Aufenthaltsraum eingedöst. Es war Marie, die grinsend und irgendwelche Blätter schwenkend auf mich zukam. Ach verdammt. Dieses Berufsorientierungsding. Ich hatte es immer noch nicht ausgefüllt - weniger aus Faulheit als mehr, weil ich einfach nicht wusste, was ich hineinschreiben sollte. Ehrlich, keine Ahnung, was ich werden wollte! Etwas, bei dem ich viel Geld verdienen würde auf jeden Fall. Allein schon, um mir eine richtig schöne Wohnung leisten zu können, eine große, in der ich mich wie ein Seestern auf den Boden legen und mit Armen und Beinen wedeln konnte. Außerdem könnte ich dann Gäste einladen! Vielleicht würde ich sogar reisen und etwas von der Welt sehen ... Vor allem aber würde ich meinen Eltern helfen. Ihnen würde ich auch einen ordentlichen Urlaub spendieren und ein neues Auto dazu - der Passat, mit dem Papa zur Arbeit fuhr, löste sich quasi in seine Bestandteile auf.
So träumte ich vor mich hin, bis mir peinlich bewusst wurde, dass Marie mich seit geraumer Zeit mit schräg gelegtem Kopf anstarrte. Sekundenschnell bekam ich eine rote Birne. Sie jedenfalls musste meiner Meinung nach Psychologin werden. Einfach, weil sie lieb und gemütlich war, vor allem aber vernünftig zuhören konnte, ohne nach zwei Sätzen ungeduldig zu werden oder das Thema zu wechseln. Sie sah das allerdings anders, betrachtete die Welt eher aus rationaler, logischer Sicht und wollte „irgendwas mit Naturwissenschaften“ machen. Aber ich?
„Hast du schon ein Praktikum?“
Ein wenig hilflos zuckte ich die Schultern. Bislang hatte ich mich nur bei einem Frisör beworben, ohne wirklich Lust darauf zu haben. Dummerweise galt das auch für alles andere. Es schien einfach nichts zu geben, das ich mochte oder gut konnte. Ok, ich ging gerne in den Park und las viel, aber das war’s dann auch. Am liebsten wollte ich Schauspielerin werden, aber das war natürlich albern. Ich war ja nicht einmal in der Theater-AG. Egal, ich war 14, ich musste das noch gar nicht wissen, oder?
Vier Monate noch. Wenigstens, wenn ich mich verdammt noch mal zusammenriss. Denn eigentlich hätte ich den Rechner schon zusammenhaben müssen - bloß hatte ich mit meinen Vorsätzen gebrochen und etwas von dem Zeitungsgeld für andere Dinge ausgegeben: Ein paar Mal für Süßkram oder Zeitschriften, zwei neue Lippenstifte, einen Nagellack und ein schickes Top, dem ich nicht hatte widerstehen können. Es war schön, aber auch seltsam und unheimlich, so viel Geld zu haben. Abstruserweise machte es mich ein bisschen nervös und ich war beinahe erleichtert, wenn ich es endlich ausgeben konnte. Zum Geburtstag hatte ich schon Maus und Tastatur bekommen, die nun verwaist auf meinem Schreibtisch herumlagen. Vier Monate noch.
Endlich hatte ich zum ersten Mal gevögelt! Also nicht, dass es dringend gewesen wäre - ich war weder die Erste noch die Letzte unter meinen Freundinnen. Vor allem hatte ich unbedingt gewollt, weil es so nach Verwegenheit und Erwachsensein geklungen hatte, nach genau der Aufregung, die mein langweiliges Leben brauchte. Irgendwie hatte ich erwartet, mich am nächsten Tag anders zu fühlen. Nagut, das war nicht wirklich der Fall gewesen. Bereut hatte ich es jedoch auch nicht.
Boris hatte ich nicht bekommen, dafür aber Marcello, für den ich nun schon seit ein paar Wochen schwärmte, weil er süß und schlau war. Er ging auf die Nachbarschule, kannte aber einen aus meiner Klasse. Wir hatten ein Eis zusammen gegessen, ganz unschuldig und beide total unsicher. Auf dem Rückweg hatten sich unsere feucht geschwitzten Hände ineinander geschlichen und irgendwann danach hatten wir beschlossen, dass wir ein gutes Paar abgäben. Ich mochte alles, was er war, seine Vorliebe für Mathematik - zuvor unverständlich -, seine Erzählungen über die alte Heimat in Italien und vor allem, wenn er für mich Gitarre spielte. Er war einfach wunderbar.
Der Sex allerdings war irgendwie verkrampft - vermutlich, weil wir beide nicht genau wussten, was wir hier eigentlich taten und wie es richtig ging. Dafür tat es weniger weh, als ich befürchtet hatte. Als ich danach aufs Klo ging, war ich fast überrascht von dem Blut am Toilettenpapier. Alles in allem war es irgendwie nett, warm und nah - ich fand, dass ich mich gut daran würde gewöhnen können.
Lisa wollte Sex mit ihm. Eine Weile hatte er sich damit rausreden können, sie nicht drängen zu wollen. Dummerweise drängte sie jetzt ihn - wenn auch auf ihre liebe, geduldige Art. Seine Kumpel laberten ihn sowieso bei jeder sich bietenden Gelegenheit voll und meinten, er solle es ihr ordentlich besorgen - gerade hatte keiner von ihnen eine Freundin und das merkte man. Phillip unterdrückte mühsam seinen Ekel bei den dummen Sprüchen, doch ein paar Mal verlor er die Geduld und drohte ihnen, dass demnächst die Fresse poliert bekäme, wer sie nicht halten könne. Das half, wenn auch nur kurz, denn er war der Stärkste von ihnen.
Mit Lisa war es schwieriger. Selbstverständlich hatte sie recht und er sollte bald mit ihr schlafen. Es war ja auch nicht so, dass er sich vor ihr ekelte, ganz im Gegenteil: Lisa war bildhübsch. Er sah sie gerne an, er nahm sie gerne in den Arm, er streichelte sie gerne. Bloß die Sache mit dem Sex ... Natürlich wusste er mittlerweile, wie das theoretisch ging, was wohin sollte, welche Geräusche dabei entstehen sollten ... Man kam ja kaum darum herum, selbst wenn man wollte! Aber tatsächlich wirkte es absurd, das mit ihr zu machen. Dass sie zusammengekommen waren, erschien ihm hingegen völlig natürlich, eine sinnvolle Weiterentwicklung ihrer Beziehung. Und das war nicht etwa platonisch gemeint - er war bis über beide Ohren in sie verliebt.
Er hätte vorher nie geglaubt, dass man einen Menschen, den man bereits so lange kannte, von einem auf den anderen Tag vorwarnungslos aus einer derart neuen Perspektive betrachten konnte. Plötzlich wurde Phillip nervös, wenn sie sich trafen, überlegte, was sie reden sollten und schnupperte noch einmal rasch unter seine Achseln, bevor er aufbrach. Wenn sie unbefangen das Top vor ihm wechselte, hatte er sich bereits einige Male rasch setzen müssen, um in keine peinliche Situation zu geraten. Wie albern! - bei einem Mädchen, das er vor zehn Jahren mit Bauklötzen beworfen hatte. Lisa schien sich dessen durchaus bewusst zu sein, grinste ihn armen Wurm kokett an und fragte harmlos, ob ihr der neue BH gut stünde.
Sein Glück hatte er der Hausparty eines Kumpels zu verdanken. Hauspartys waren im letzten Jahr sozusagen die sozialen Höhepunkte schlechthin: Kaum waren irgendwelche Eltern verschwunden, stand der Spross in der Pflicht. Dank ihrer ließen sich Ausweiskontrollen vermeiden, Geld sparen und vor allem literweise unterschiedlichster Alkoholika ausprobieren. Sie führten diese Tests mit allem gebotenen wissenschaftlichen Eifer, Ernst - Bierbong! - und großem Enthusiasmus - wer kennt die meisten Wodkasorten? - durch.
Am nächsten Morgen hatte der jeweilige Junior das große Vergnügen, Übernachtungsgäste aus Betten und Badewannen zu befördern, Möbel und Bilder zu richten sowie vereinzelten Kotzflecken zu Leibe zu rücken. Beim letzten Mal hatte sich Lisa morgens fast zu Tode erschreckt, weil sich irgendein Bekloppter zum Schlafen in einen dicken Teppich eingerollt und damit wie ein Mafiaopfer ausgesehen hatte. Vor allem aber hatten sie sich zum ersten Mal richtig geküsst.
Das war schön gewesen - doch nun ließ Lisa das Thema Sex immer öfter mehr oder weniger unauffällig in ihre Gespräche einfließen. Phillip war der Meinung, es sei viel zu früh, aber wenn er seine Bedenken vorbrachte, grinste sie bloß und drückte ihn an sich.
„Es macht nichts, wenn’s nicht gleich funktioniert, ich weiß, dass viele Männer dabei nervös sind, ich werd’ dich nicht auslachen!“
Das glaubte er ihr, nichtsdestotrotz machte ihm die Vorstellung, mit ihr zu schlafen, eine Heidenangst, ohne dass er genau hätte sagen können, weshalb. Das war doch nicht normal, er hätte sich eigentlich darauf freuen müssen, oder? Lange konnte er es jedenfalls nicht mehr abwenden.
Er war da! Er war tatsächlich da, stand monolithisch und still unter meinem Schreibtisch. Nachdem ich mit meinem Freudentanz quer durchs Wohnzimmer fertig war, rief ich Marcello an und bat ihn, mir beim Anschließen zu helfen. Er kam sofort vorbei und erweckte das Monstrum zu summendem und piependem Leben. Herrlich. Ich bestand darauf, dass er mir jeden Schritt genau zeigte und erklärte, denn ich wollte es danach alleine können, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein. Aus der Informatik-AG konnte ich zwar mit der notwendigen Software umgehen, mit der Hardware hatten wir uns jedoch nie beschäftigt, sodass nun jeder Handgriff wichtig und spannend aussah.
Am nächsten Tag richtete ich alles genau so ein, wie ich es mir überlegt hatte, und war begeistert. Keine Ahnung wieso - ich tat im Grunde nichts Besonderes damit, spielte nicht einmal. Gut, für eBay war es praktisch, denn ich sah mich oft nach Dingen um, die ich mir neu nicht leisten konnte. Außerdem war ich zum Quatschen in zwei Chatrooms und fand es doof, sie in der Schule zu nutzen, weil ich immer das unangenehme Gefühl hatte, jemand würde mir über die Schulter gucken. Aber letztendlich ging es ohnehin nicht darum. Der Rechner bedeutete Freiheit, der Bildschirm war mein Fenster zur Welt, zu allem, was ich mir sonst nur vorstellen konnte. Mein kleines Zimmer war plötzlich egal, solange das leuchtende Ding darin auf mich wartete: Mehr noch als meine Kataloge zeigte es alles, was ich mir wünschte. Ich konnte mir Bilder vom Okawango-Delta ansehen, von exotischen Wasserfällen und luxuriösen Villen - um meine eigenen Geschichten daraus zu bauen.
Meinen Eltern hatte ich erklärt, dass ich den PC vor allem für die Schule brauchen würde, zum Lernen oder um Referate zu erstellen. Sie hatten wohlwollend genickt und mich dann gefragt, ob ich ihnen den Umgang mit dem Gerät vielleicht ein wenig beibringen könnte. Das tat ich natürlich ebenso gern wie stolz. Außerdem hatte ich gelernt, wie man versteckte Ordner anlegte. Das war gut, denn Papa fragte, ob es mich stören würde, wenn er sich später einige Male allein daran setzen würde, um zu üben - natürlich nicht. In einem halben Jahr würde er in Rente gehen und ich wusste echt nicht, wer in der Familie am erleichtertsten darüber war. Vielleicht war es mir vorher bloß weniger aufgefallen, aber in den letzten Monaten schien er sich nur noch durchs Leben zu schleppen.
Das Praktikum - ich machte es letzten Endes wirklich bei dem Frisör - war sogar noch blöder, als ich befürchtet hatte. Das lag nicht einmal an der eigentlichen Arbeit, die zwar meistens langweilig, aber manchmal dann doch interessant war. Ok, wirklich nur manchmal, denn allein in den vier Wochen wiederholten sich die Tätigkeiten viel zu oft. Nach dem dritten aufgepufften Altdamen-Kurzhaarschnitt in zartem Weißblau musste ich echt das Gähnen unterdrücken.
Was mich aber viel mehr störte, war die gefressene Zeit. Plötzlich wurde der Raum zwischen Heimkommen und Zubettgehen unglaublich klein. Ich konnte duschen, essen und etwas Hausarbeit erledigen, dann blieb mir vielleicht noch eine knappe Stunde mit einem Buch oder dem PC, bis ich schlafen musste und das Ganze von vorne anfing. Mir taten die Füße und der Rücken weh und die Vorstellung, so etwas tagein, tagaus mein ganzes Leben lang zu tun, war schlicht schrecklich. Vielleicht stellte ich mich an. Vielleicht war es Gewöhnungssache, vielleicht war es auch etwas ganz Anderes, wenn man einen Job hatte, der wenigstens Spaß machte. Aber für mich war es eine echt deprimierende Erkenntnis.
Marcello, der Idiot, hatte einfach Schluss gemacht. Also eigentlich war er kein Idiot, eigentlich hatte ich ihn beschissen lieb, weswegen er dann doch wieder ein Idiot war. Er hatte mir nicht einmal eine ordentliche Begründung gegeben, bloß gesagt, er habe sich eben entliebt. Entliebt, was sollte das überhaupt für ein verdammter Kack sein? Wenn er wenigstens eine Andere gefickt hätte, die ich jetzt hätte hassen können. Ich hatte versucht, ruhig zu bleiben und keine Szene zu machen. Stattdessen hatte ich ihn nur gefragt, ob ich etwas verändern konnte, ob er mit dem Sex oder mir unzufrieden war. Er hatte bloß den Kopf geschüttelt und war gegangen, mich traurig sitzen lassend. Ich wusste einfach nicht, was ich hätte besser machen sollen.
Immerhin war er so nett gewesen, einen Freitag zu wählen. Ich vergrub mich zwei Tage lang am Rechner, weinte, wenn meine Eltern schliefen, und war sicher, dass nie wieder einer kommen würde, der so gut war wie er. In der Schule gelang es mir, ok auszusehen - ich war schon immer gut darin gewesen, ok auszusehen, egal wie es mir ging. Den anderen berichtete ich ganz beiläufig von der Trennung, so cool wie möglich die Schultern zuckend. Ich verschwieg, wie mies ich mich fühlte, und niemand fragte danach. Marie jedoch passte mich auf dem Heimweg ab und nahm mich zur Seite.
„Sagmal, du bist doch nicht wirklich in Ordnung, oder?“
Ich wusste mir nicht zu helfen, also schüttelte ich bloß stumm den Kopf. Marie beschloss, dass ich mit zu ihr kommen würde, und dort saßen wir dann bis zum Abend, während ich ihr mein Leid klagte. Natürlich konnte sie auch nichts an all dem ändern, trotzdem fühlte ich mich hinterher besser.
Johann hingegen war zurzeit der total falsche Ansprechpartner - er hatte seit drei Wochen seine erste Freundin und war damit für mich quasi unerreichbar.
Seit einiger Zeit trauten wir uns abends in die Cocktailbars der Stadt, neugierig und unsicher wie bei der Erkundung eines fremden Kontinents. Die Hälfte von uns Mädels war noch keine 16, doch wir hatten schnell raus, welche Läden auf einen Ausweis bestanden und welche uns durchwinkten, wenn wir nur kokett genug lächelten. Sogar ich konnte es mir leisten, gelegentlich mitzugehen. Denn von dem Zeitungsgeld bezahlte ich zwar den Internetanschluss, doch meine Eltern schossen mir netterweise zehn Euro dazu und so blieben mir fast zwanzig im Monat übrig - die ich mir sorgfältig einteilte. Gelegentlich schanzte mir Marie unauffällig ein Getränk zu, wenn sie wusste, dass ich wieder blank war.
So saßen wir auch an diesem Wochenende in einer der großen, anonymen Abfüllstätten, die an langen Holztischen wässrige Cocktails für 3,50 Euro verkauften. Kichernd bewunderten wir die Getränke in allen Regenbogenfarben mit Schirmchen und „Gemüse“ am Rand: Wir kamen uns sehr erwachsen vor. Gemeinsam saugten wir Pina Colada und Mojito durch Strohhalme, den neusten Klatsch austauschend. Vor allem ging es natürlich darum, wer auf wen stand - ich schluckte die Gedanken an Marcello hinunter und redete munter mit.
„Ach Anna, du kriegst doch eh jeden!“, schallte mir unvermutet entgegen.
Ich grinste, verlegen über das Kompliment. Trotzdem wusste ich schon irgendwie, was gemeint war: Ich war schlank, hatte eine gute Figur, perfekte Haut und dicke, weiche Locken, die mir dunkelbraun bis auf die Schultern fielen. Manchmal waren mir zwar meine Nase zu dick, meine Brüste zu klein oder meine Zehen zu krumm, aber eigentlich war mir klar, dass ich mich nicht beschweren konnte. Eine Zeit lang hatte ich sogar ernsthaft überlegt, ob ich nicht Model werden sollte, auch wenn ich es niemandem verraten hatte - ich wollte nicht ausgelacht werden.
Dummerweise hatte ich vor einem Jahr mit genau einem Meter und zweiundsiebzig Zentimetern aufgehört zu wachsen. Ich hatte meinen Kinderarzt gefragt, möglicherweise sogar ein wenig angefleht, doch er war sich sicher gewesen, dass es das - nachdem ich früh geschossen war - wohl gewesen sei. Bis jetzt behielt er dummerweise recht. Also nix mit Model. Außerdem: Bei Marcello hatte es nicht gelangt, um ihn zu halten, also was war das alles schon wert?
Ich habe mich von Mirko abschleppen lassen. Nicht, weil ich in ihn verliebt war oder ihn auch nur hübsch fand - er war blond und blonde Jungs hatte ich noch nie wirklich schön finden können. Er war nett, ja, fast schon zu nett - auch nichts, was ich mochte. Der einzige ehrliche Grund, warum ich mit ihm ins Bett gegangen war, war seine Freundschaft mit meinem Ex. Marie hatte mir offen gesagt, dass sie das kindisch und dumm fand, aber mir war das egal gewesen. Ich wollte, dass Marcello eifersüchtig war, dass er litt, weil er mich hatte leiden lassen.
Anfangs schämte ich mich kein bisschen dafür, doch dann geschah etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Mirko verliebte sich in mich, ganz ohne dass ich es wollte. Plötzlich bekam ich Rosen geschenkt - so süß! - und treuherzige Liebesschwüre ins Ohr geflüstert. Marcello hatte ich das Herz brechen wollen und nicht ihm! Ich fühlte mich richtig beschissen dabei, traf mich noch einen Monat mit ihm, schlief mit ihm, ging mit ihm ins Kino, nur weil ich es nicht über mich brachte. Als ich es ihm dann doch endlich gestand und mich seinem traurigen Blick stellen musste, fühlte ich mich fast beschissener als wegen des ganzen Liebeskummers. Wenigstens ersparte mir Marie ein „Hab ich’s doch gesagt!“, wofür ich dankbar war.
Ausnahmsweise saß ich nicht mit den Mädels in der Bar, sondern mit Johann. Der trank für gewöhnlich keinen Alkohol, höchstens eine Weißweinschorle - was ganz gut zu ihm passte. Heute jedoch lud ich ihn auf einen Cocktail ein, den ich ihn auch zu trinken nötigte, denn gerade drei Stunden zuvor hatte er mir gesimst, dass er endlich seine Jungfräulichkeit verloren hatte. Grund genug, anzustoßen. Eine Weile quetschte ich ihn über das zurückliegende Ereignis aus, dann wandten wir uns ernsteren Themen zu. Zu sehr bedrückte mich die Entwicklung der letzten Wochen.
Denn Papa hatte seinen Rentenbescheid bekommen - in einem Monat war es endlich soweit. Doch was darin stand, trieb uns nicht etwa die Freudentränen in die Augen, sondern allesamt an den Küchentisch. Natürlich war seine Arbeitszeit in Polen nicht angerechnet worden, das hatte er vorher gewusst. Die fünf Jahre in der DDR jedoch ebenfalls nicht - angeblich lagen keinerlei Unterlagen darüber vor. So kam er alles in allem auf 850 Euro, 700 Euro blieben nach Abzug des Krankenkassenbeitrags übrig. Auch zusammen mit den 950 Euro, die meiner Mama im Monat blieben, und den 150 Euro Kindergeld reichte das einfach nicht für uns drei, so oft wir auch rechneten. Ich bat meine Eltern um die Erlaubnis, noch einen Job am Wochenende annehmen zu dürfen, doch sie lehnten kategorisch ab. Mittlerweile wusste ich, wann es sich lohnte zu diskutieren - hier würde ich auf Stein beißen.
„Ich werde mir einfach etwas Kleines suchen, das ist doch nicht schlimm, ich werde trotzdem viel mehr Zeit als vorher haben, ihr müsst euch keine Sorgen um mich machen.“
Dabei klang Papa so flehentlich, dass es mir fast das Herz brach und ich, genau wie Mama, lieber nickte. Schon eine Woche später hatte er mit seiner alten Firma ausgemacht, dass er eine 12-Stunden-Schicht pro Woche übernehmen konnte. Einerseits klang das natürlich irgendwie ok. Andererseits machte es mich trotzdem traurig, dass er überhaupt würde weitermachen müssen, obwohl er sich die Ruhe doch so sehr verdient hatte.
Johann hörte sich geduldig meinen Frust an und nickte mitfühlend. Er sprach häufig über Sozialismus sowie die Ungerechtigkeit der Kapitalwirtschaft und konnte sich dabei regelrecht in Rage reden - ich hatte den Eindruck, dass er viel mehr Ahnung davon hatte als ich. Ein Getränk spendierte er mir trotzdem und seines horrenden Taschengelds nicht. Ich vermutete, dass er damit Rücksicht auf meinen Arbeiterstolz nehmen wollte, oder etwas in der Art. Es hätte zumindest gepasst.