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Frank Esser

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Beschreibung

Lukas Sontheim, der mittlerweile erfolgreich eine Detektei eröffnet hat, ermittelt in einem heiklen Fall von möglichem Versicherungsbetrug in Millionenhöhe. Doch als er von Hauptkommissar Jürgen Brenner zu einem Tatort gerufen und um inoffizielle Mithilfe bei der Aufklärung eines Falls gebeten wird, kann er die Bitte nicht abschlagen. Das Opfer wurde an ein Kreuz genagelt und zu Tode gefoltert. Hinter ihm an die Wand wurde ein Bibelvers gesprüht, der auf eine begangene Sünde des Opfers hindeutet. Schon bald wird eine weitere Leiche aufgefunden – dieses Mal eine Frau –, die ebenfalls an ein Kreuz genagelt wurde. Wieder befindet sich ein Bibelvers an der Wand. Offenbar hat das Ermittlerteam es mit einem religiösen Fanatiker zu tun, der sich für den Stellvertreter Gottes auf Erden hält und davon überzeugt ist, der Menschheit durch seine Taten einen Dienst zu erweisen. Trotz aller Bemühungen laufen die Ermittlungen immer wieder ins Leere. Für Brenner und die Mordkommission auf der einen und Sontheim auf der anderen Seite beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Können sie den Täter aufhalten, bevor er seine nächste grausame Tat begeht?

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Epilog
Nachwort
Weitere Veröffentlichungen

Frank Esser

Deine Sünde ist dein Tod

Über das Buch:

 

»Wer Sünde tut, der ist vom Teufel, denn der Teufel sündigt von Anfang an.«

Johannesevangelium. Kapitel 3, Vers 8

 

Lukas Sontheim, der mittlerweile erfolgreich eine Detektei eröffnet hat, ermittelt in einem heiklen Fall von möglichem Versicherungsbetrug in Millionenhöhe. Doch als er von Hauptkommissar Jürgen Brenner zu einem Tatort gerufen und um inoffizielle Mithilfe bei der Aufklärung eines Falls gebeten wird, kann er die Bitte nicht abschlagen. Das Opfer wurde an ein Kreuz genagelt und zu Tode gefoltert. Hinter ihm an die Wand wurde ein Bibelvers gesprüht, der auf eine begangene Sünde des Opfers hindeutet.

Schon bald wird eine weitere Leiche aufgefunden – dieses Mal eine Frau –, die ebenfalls an ein Kreuz genagelt wurde. Wieder befindet sich ein Bibelvers an der Wand. Offenbar hat das Ermittlerteam es mit einem religiösen Fanatiker zu tun, der sich für den Stellvertreter Gottes auf Erden hält und davon überzeugt ist, der Menschheit durch seine Taten einen Dienst zu erweisen.

Trotz aller Bemühungen laufen die Ermittlungen immer wieder ins Leere. Für Brenner und die Mordkommission auf der einen und Sontheim auf der anderen Seite beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Können sie den Täter aufhalten, bevor er seine nächste grausame Tat begeht?

 

Fesselnd, mysteriös und hochspannend – Der vierte Fall für Lukas Sontheim.

 

 

Der Autor:

 

Frank Esser, Jahrgang 1974, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zum Industriekaufmann und arbeitet seitdem in der Musikbranche. Er lebt in der Nähe von Aachen. Seine Liebe zu Krimis inspirierte ihn, seinen ersten Regionalkrimi zu schreiben, der in der Kaiserstadt spielt und 2017 veröffentlicht wurde. Mittlerweile veröffentlichte er neben seiner Aachen-Krimi-Reihe weitere Thriller und Krimis. Seit neuestem darf er sich stolzes Mitglied der Empire-Verlag-Familie nennen.

Frank Esser

Deine Sünde ist dein Tod

 

Ein-Lukas-Sontheim-Thriller

Band 4

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die

Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

April © 2023 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Christine Weber – https://www.textomio.de

Korrektorat: Heidemarie Rabe

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

http://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 104706727, Adobe Stock ID 286375793, Adobe Stock ID 285449098, Adobe Stock ID 313578944 und freepik.com.

Prolog

 

Mit fürchterlichem Brummschädel erwachte er aus einer tiefen Dunkelheit. Er konnte die schwach ausgeleuchtete Decke eines Raumes erkennen. Und etwas, das aussah wie eine Seilwinde. Er versuchte, den Kopf zu drehen. Erst nach links, dann nach rechts. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Es fühlte sich an, als steckte sein Schädel in einem Schraubstock. Jetzt, da sich sein Bewusstsein langsam wieder durch den Nebelschleier an die Oberfläche arbeitete, blitzten Erinnerungsfetzen auf und verschwanden ebenso schnell wieder. Er hatte die Haustür aufschließen wollen, als er von hinten mit einem harten Gegenstand am Kopf getroffen und ausgeknockt worden war. Er hatte den Angreifer nicht einmal kommen hören, geschweige denn gesehen.

Er wollte sich an den Hinterkopf fassen, dorthin, wo die pulsierenden Stiche am intensivsten waren. Doch irgendetwas hinderte ihn daran. Stattdessen durchzuckte ihn ein fürchterlicher Schmerz, der sich tsunamiartig über die Nervenbahnen Richtung Gehirn ausbreitete und ihm die Tränen in die Augen trieb. Er schrie auf und stöhnte, getrieben von unsäglicher Pein und unfähig, die Arme zu bewegen. Panik machte sich in ihm breit. Was zur Hölle ging hier vor? War er gelähmt? Befand er sich im Krankenhaus und war vorsorglich fixiert worden, weil er eine schwere Rückenmarkverletzung davongetragen hatte? Er versuchte, mit der anderen Hand die Kopfverletzung zu ertasten, mit demselben Ergebnis: Er konnte sie nicht bewegen. Stattdessen fuhr ein weiterer unerträglicher Schmerz durch seinen Körper, der ihm den Schweiß auf die Stirn trieb und ihn abermals laut aufschreien ließ.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, wie ihm allmählich bewusst wurde. Seine Arme waren auf unnatürliche Art und Weise zur Seite gestreckt worden. Die Beine, an den Knöcheln überkreuzt, ließen sich ebenso wenig bewegen und schmerzten irrsinnig. Überhaupt war sein Lager überaus unbequem, hart wie ein Brett und extrem schmal. Außerdem war ihm entsetzlich kalt. Offenbar hatte man ihm die Kleidung ausgezogen. Er spürte einen kühlen Luftzug auf der Haut am gesamten Körper. »Scheiße, Mann, was zum Teufel ist hier los?«, murmelte er.

»Wurde auch langsam Zeit«, ertönte hinter dem Kopfende die tiefe Bassstimme eines Mannes. »Dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.«

Dann gab es plötzlich einen Ruck und die Konstruktion, auf der er lag, begann sich langsam aufzurichten wie ein elektrischer Lattenrost, den man auf Knopfdruck verstellen konnte. Nur dass es sich in seinem Fall definitiv um etwas anderes handelte. Mit der leise quietschenden Vorrichtung brachte der Unbekannte ihn Zentimeter für Zentimeter in die Senkrechte. Jetzt registrierte er, dass der schwache Lichtschein, den er zuvor ausgemacht hatte, von Kerzen stammte, die auf dem schmutzigen Fußboden standen. Mehr als ein Dutzend konnte er ausmachen. Die Schmerzen in den Handgelenken und Füßen wurden immer unerträglicher. Und auch wenn er nach wie vor nicht in der Lage war, den Kopf zur Seite zu drehen, hatte er so langsam eine ungefähre Ahnung davon, was ihm der Unbekannte angetan hatte. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, das Blut rauschte in den Ohren. Man musste kein Genie sein, um sich darüber im Klaren zu werden, dass er einem Psychopathen in die Hände gefallen war. »Du krankes Schwein!«, rief er in den Raum. Dabei zerrte er an den Fesseln und bezahlte es sofort teuer. Unsägliche Schmerzen breiteten sich wie zuvor wellenartig aus.

»Na, tut's weh?«, fragte die Stimme aus dem Hintergrund, und fast zeitgleich wurde der Motor der Seilwinde gestoppt.

Er starrte auf die gegenüberliegende verdreckte Wand mit den Graffitis, Tapetenstreifen hingen in Fetzen herunter. Ein leer stehendes Gebäude, ging es ihm durch den Kopf. Er versuchte, die Ruhe zu bewahren, atmete zweimal tief durch. Nur nicht in Panik verfallen, ermahnte er sich im Geiste, was angesichts der Umstände leichter gesagt als getan war.

»Ich werde dir noch viel größere Schmerzen bereiten«, riss ihn die kalte monotone Stimme aus den Gedanken. Dann trat der Unbekannte in sein Sichtfeld. Er blickte in die Visage eines Mannes, eiskalter forscher Blick, das Allerweltsgesicht eingehüllt in eine Kapuze, die Teil eines Schutzanzuges war. Er konnte sich nicht erinnern, dem Kerl schon einmal begegnet zu sein. In der behandschuhten Hand wog der Unbekannte fast liebevoll einen Kugelhammer, wie ihn Handwerker zur Bearbeitung von Blechen benutzten, und streichelte mit den Fingerspitzen über den polierten Stahl des Werkzeugs.

»Warum wollen Sie das tun?«, fragte er mit bemüht fester Stimme. Der Anblick des Hammers ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Die Entschlossenheit in den Augen des Mannes flößte ihm zusätzlich Angst ein.

»Eine berechtigte Frage«, erwiderte der Unbekannte, legte den Kopf leicht schief und musterte ihn. »Natürlich habe ich damit gerechnet.«

»Und die Antwort?« Er musste den Kerl in ein Gespräch verwickeln und versuchen, auch trotz geringer Erfolgschancen Vertrauen aufzubauen, wie er es in der Polizeischule gelernt hatte.

Der Mann mit dem Hammer senkte den Kopf, für einen Moment ruhte das Kinn auf der Brust. Eine bedrückende Stille legte sich über den Raum. Schließlich zog er den Reißverschluss des Schutzanzuges auf und fischte ein Handy aus der Tasche der schwarzen Bomberjacke, die darunter zum Vorschein kam. Er erweckte das Display aus dem Tiefschlaf. »Deshalb«, sagte er und zeigte ihm zwei Fotos.

Ungläubig starrte er auf die Aufnahmen. Das war doch nicht möglich! »Wo … woher haben Sie das?«, stammelte er, die Augen weit aufgerissen.

»Als ob das eine Rolle spielt«, sagte der Fremde, während er fast zeitgleich mit dem Hammer ausholte und ihm mit einem gezielten Hieb ins Gesicht schlug.

Der Schlag war nicht einmal sonderlich fest, aber er spürte, wie das Jochbein brach. Sein lauter Aufschrei erfüllte den kleinen Raum. Das Gehirn hatte die Schmerzinformation noch gar nicht verarbeitet, da holte sein Peiniger ein weiteres Mal aus und zerschmetterte ihm die linke Kniescheibe. Er fühlte, wie die Knochen splitterten, und vor seinem geistigen Auge sah er einzelne Fragmente durch die aufgeplatzte Haut herausragen und Blut spritzen. Der Schmerz war unerträglich. Er schrie abermals laut auf und jaulte wie ein angeschossenes Tier.

Der Angreifer hielt inne und betrachtete zufrieden sein Werk. Dann machte er einen Schritt nach vorn, kam mit dem Mund ganz nah an sein Ohr und flüsterte: »Hast du wirklich geglaubt, dass deine Sünden ungesühnt bleiben?«

Kaum dass der Fremde die Worte ausgesprochen hatte, traf ihn ein weiterer Hammerschlag, der ihm den linken Oberarm zertrümmerte. Ein erneuter Hieb zerschmetterte auch noch den Unterarmknochen. Die Schmerzen übermannten ihn abermals, er spürte, wie sich die Currywurst samt Pommes, die er am frühen Abend gegessen hatte, die Speiseröhre hinaufarbeitete. Er kotzte dem Peiniger direkt vor die Füße, ein Teil landete auf dem Oberteil des Schutzanzuges. Fast zeitgleich entleerte sich auch die prall gefüllte Blase, er spürte, wie ihm der warme Urin die Beine hinab rann. Der vierte Schlag, der ihn traf, ließ ihn ohnmächtig werden, doch die Gnade der Bewusstlosigkeit hielt nicht lange. Mit einem Schwall eiskalten Wasser wurde er wieder in die Wirklichkeit zurückgeschleudert. »Aufhören … bitte!«, stammelte er.

Als Antwort erhielt er ein höhnisches Lachen, und fast zeitgleich traf ihn der nächste Schlag in die Rippen. Er spürte, wie sie brachen und sich förmlich in die Lunge bohrten. Warmes Blut lief den Bauch entlang. Seine Atmung beschleunigte sich, und ein stechendes Ziehen im Oberbauch gesellte sich zu den übrigen Schmerzen, die seinen gesamten Körper durchfluteten. Die Lunge kollabierte, er kannte das aus diversen Obduktionsberichten, die er von Berufs wegen gelesen hatte. Schon bald würde er unter Atemnot leiden.

»Keine Angst, daran wirst du noch nicht krepieren«, ertönte die Bassstimme des Irren. »Aber du wirst jede Sekunde denken, dass du ersticken wirst, deine Lungen werden pfeifen und höllisch brennen. Nicht schön.« Der Unbekannte lachte abermals sarkastisch auf. »Ich habe mich lange auf diesen Moment vorbereitet, musst du wissen. Die Schläge immer wieder geübt. Ist gar nicht so einfach, wie man denkt. Aber mit der richtigen Technik und dem passenden Werkzeug kann man im Grunde jeden Knochen eines Menschen gezielt brechen.«

»Fahr … zur … Hölle, du … Arschloch!« Die Worte auszuspeien bedeuteten eine immense Überwindung. Jede einzelne Silbe bereitete ihm Pein, von der Luftnot ganz zu schweigen.

»Diesen Weg wirst du wohl ohne mich bestreiten müssen«, erwiderte der Killer mit einem kalten Lächeln. Für einen kurzen Moment entschwand der Entführer aus seinem Blickfeld, um wenige Sekunden später wieder aufzutauchen. Statt des Hammers hielt er jetzt einen anderen Gegenstand in der Hand. Einen Dolch, wie er erkannte, als der Folterknecht die Stichwaffe direkt vor seinen Augen bedrohlich tanzen ließ. »Ich würde liebend gern noch mehr Zeit mit dir verbringen und ein bisschen plaudern, aber du wirst sicherlich verstehen, dass das nicht möglich ist.« Der Mann kicherte. »Ich werde jetzt deiner Leber einen kleinen Stich versetzen. Es wird nicht lange dauern, bis du an inneren Blutungen verreckst, noch bevor du wegen der perforierten Lunge ersticken würdest. In etwa zehn Minuten wird dein jämmerliches Leben zu Ende sein«, erklärte der Peiniger mit dem eiskalten Blick und stach zu, ohne mit der Wimper zu zucken.

Es kam ihm fast wie eine Erlösung vor, als die Klinge tief in ihn eindrang. Die Schmerzen waren nur noch Nebensache. Er wusste, dass sein Martyrium bald ein Ende finden und er sterben würde. Niemand ahnte, dass er entführt worden war, niemand suchte ihn. Er schloss die Augen und ergab sich seinem unausweichlichen Schicksal. Schon fühlte er, wie ihn die Lebensgeister verließen, spürte immer weniger die Kälte, die ihn umgab, als ihn eine unsichtbare Hand in einen tiefen Abgrund zog, aus dem er nie mehr auftauchen würde.

 

Zufrieden betrachtete er sein Werk. Es war vollbracht und es war ihm leichter gefallen als gedacht. Beim nächsten Mal würde er sich mehr Zeit lassen. Den Moment länger genießen, wenn die Erkenntnis bei seinem Opfer reifte, weshalb er es bestrafte. Zufrieden packte er seine Sachen. Er verließ das abrissreife Haus in Ossendorf im Westen von Köln, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Von Reue keine Spur.

Kapitel 1

 

Tag 1, Dienstag

 

Lukas Sontheim bog gedankenverloren in die Ikarosstraße ein, als er schon von weitem mehrere Einsatzwagen der Polizei mit rotierenden Blaulichtern entdeckte. Auch einen Leichenwagen konnte er ausmachen, ebenso den Kastenwagen der Spurensicherung. Dem ehemaligen Hauptkommissar der Kölner Mordkommission, der vor über einem Jahr erfolgreich ein Detektivbüro eröffnet hatte, war das Szenario, das sich ihm bot, mehr als vertraut – oft genug hatte er früher an solchen Einsätzen teilgenommen. Mit gemächlichem Tempo steuerte er seinen fast siebzehn Jahre alten klapprigen Mazda an den Einsatzfahrzeugen vorbei und entdeckte den Dienstwagen seines ehemaligen Partners Jürgen Brenner. Direkt neben dem BMW kauerte sein langjähriger Freund wie ein Häufchen Elend auf der Bordsteinkante. Leichenblass starrte der Mordermittler, der in einen weißen Schutzanzug gehüllt war, ins Leere und zog an einer Zigarette. Dabei hatte er erst vor wenigen Monaten mit dem Rauchen aufgehört.

Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht, dachte Sontheim und runzelte die Stirn. Er parkte am Straßenrand, sprang aus dem Wagen und eilte hinüber zu Brenner.

»Alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du ’nen Geist gesehen«, meinte er, als er den Leiter der Mordkommission fast erreicht hatte.

Der blickte nicht einmal auf, sondern zog stattdessen an seiner Kippe. »Mir ist nicht nach Scherzen zumute«, brummte der glatzköpfige Hauptkommissar.

Sontheim hockte sich unaufgefordert neben seinen Freund. »So schlimm?«

»Schlimmer.« Brenner schnippte die Zigarette weg und blickte ihn an. Offensichtlich kämpfte er mit den Tränen.

»Was zur Hölle ist da drin passiert, dass es dich dermaßen mitnimmt? Dich bringt doch sonst nichts so schnell aus der Fassung.« Sontheim deutete in Richtung des Hauses, in dem der mutmaßliche Tatort lag. Die Immobilie sah nicht bewohnt aus.

Der Mann mit dem gepflegten geschwungenen Schnauzbart schnaubte verächtlich. »Wie du schon sagst, die Hölle ist da drin passiert. Sie hat ihre Pforten geöffnet und das Böse auf die Welt losgelassen. David …« Brenner hielt inne, konnte offenbar nicht weitersprechen. Er vergrub den Kopf in den Händen.

»Was ist mit David?« Bei Sontheim läuteten die Alarmglocken. Oberkommissar David Jerat war seit sieben Jahren Brenners Partner.

Der Hauptkommissar blickte wieder auf. »Er ist tot«, spie er die Worte aus. »Regelrecht abgeschlachtet!« Verzweifelt sprang er auf. »Da drin hat ein einziges Gemetzel stattgefunden!« Der Chefermittler deutete auf das leer stehende Haus.

Sontheim musste die Worte erst mal sacken lassen. Er schaute seinen Freund mit weit aufgerissen Augen an. Dann erhob er sich. »Jerat ist tot?«

»Hast du mir gerade nicht zugehört? Er ist nicht einfach nur tot, man hat ihn niedergemetzelt«, fauchte der Ermittler gereizt.

»Das … tut mir leid.« Sontheim war hilflos, fand nicht die richtigen Worte. »Was genau ist passiert?«

Brenner atmete tief durch. »Das musst du selbst gesehen haben, um es zu verstehen. Es verstößt zwar gegen sämtliche Vorschriften, aber wenn du schon mal da bist … Was machst du eigentlich hier?« Er stutzte plötzlich.

»Ich war auf dem Weg zu einer Befragung gleich um die Ecke. Hat mit dem Fall zu tun, an dem ich arbeite. Mutmaßlicher Versicherungsbetrug.«

Der Kommissar nickte. »Mein Chef wird mir vermutlich den Kopf dafür abreißen«, fuhr er schulterzuckend fort. »Aber scheiß drauf, ich will unbedingt deine Meinung zu dem kranken Mist hören. Ist wie gesagt kein schöner Anblick, auch wenn du bereits so einiges gesehen hast. Deine Entscheidung.«

Sontheim warf einen Blick auf die Armbanduhr. Angesichts des flehentlichen Gesichtsausdrucks seines langjährigen Freundes musste er nicht lange überlegen. »Lass mich nur kurz telefonieren«, sagte er schließlich.

 

Der Privatermittler streifte vor der Eingangstür des Wohnhauses die Schutzkleidung für die Tatortbegehung über und trat anschließend mit Brenner ein. Wie er bereits vermutet hatte, wohnte hier niemand mehr, und das offenbar schon seit geraumer Zeit. Das Treppenhaus stank nach Urin und anderen undefinierbaren Gerüchen. Wortlos stiegen sie die maroden Betonstufen in den ersten Stock der ehemaligen Mietskaserne hinauf. Als sie die Wohnung betraten, in der David Jerat ermordet worden war, herrschte dort emsiges Treiben. Ein Mitarbeiter der SpuSi, der auf dem Boden kniete und damit beschäftigt war, Spuren im Flur zu sichern, blickte kurz verwundert auf, als er Sontheim erkannte, sagte aber nichts.

Auch hier stieg dem Privatdetektiv sofort der unangenehme Gestank von Urin in die Nase, er registrierte ebenso den metallischen Geruch von Blut sowie einen leichten beißend-süßlichen Verwesungsgeruch. Am Ende des Ganges bog Brenner nach links ab.

Sontheim folgte ihm. Als er den Raum betrat, zuckte er unweigerlich zusammen. Der oder die Täter hatten Oberkommissar David Jerat an ein Kreuz genagelt, er war gefoltert und schließlich ermordet worden. Erstochen, wie es auf den ersten Blick aussah. Der Tote war nur mit einem langen Hemd bekleidet, das an ein Nachthemd erinnerte. Mindestens genauso verstörend wie der Anblick des getöteten Polizisten war der Spruch, der mit schwarzer Farbe über das Kreuz gesprüht worden war: Wer Sünde tut, der ist vom Teufel, denn der Teufel sündigt von Anfang an. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.

»Heilige Scheiße«, entfuhr es Sontheim und die anwesenden Spurenermittler sowie die Gerichtsmedizinerin Doktor Jenny Fahrenhorst, die mit der Leichenschau beschäftigt war, drehten sich fast zeitgleich um. Sie hatten zuvor noch keine Notiz von ihm genommen.

»Was macht der denn hier?«, meinte Lukas Mayer von der SpuSi. Er hatte bereits bei der Truppe gearbeitet, als Sontheim selbst noch Leiter der Mordkommission gewesen war – bevor dieser nach dem gewaltsamen Tod von Frau und Tochter dem Alkohol verfallen und aus dem Dienst entlassen worden war.

»Geht auf meine Kappe. Ich will wissen, was Lukas darüber denkt. Hast du ein Problem damit?« Der Tonfall in Brenners Stimme ließ nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass er keinen Widerspruch duldete.

Mayer verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Dann schüttelte er den Kopf und widmete sich wieder seiner Arbeit.

»Und, was sagst du?«, wollte Brenner nach einem Moment des Schweigens wissen.

»Um ehrlich zu sein, fehlen mir gerade die Worte. Jerat und ich waren alles andere als Freunde, aber das …« Sontheim deutete in Richtung des Kreuzes. »Das hat niemand verdient. Erst recht nicht David.« Er seufzte. Immerhin verdankte er dem Mann sein Leben. Ohne Jerats kluges Handeln wäre er vor knapp drei Jahren einem Serienkiller zum Opfer gefallen. Jetzt war der Ermittler offenbar selbst an einen Psychopathen geraten und gestorben.

Schockiert betrachtete er das bizarre Bild des Mannes, den man ans Kreuz genagelt hatte wie Jesus. Fehlte nur die Dornenkrone. »Ihr habt es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem zutiefst gestörten Einzeltäter zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass für diese Schweinerei mehr als ein Mörder infrage kommt, der so krank ist. Der Typ scheint sich offensichtlich für Gott persönlich zu halten, wenn man den Spruch an der Wand berücksichtigt«, sagte Sontheim schließlich.

»Ein Zitat aus dem Johannesevangelium. Kapitel 3, Vers 8. Ich hab’s eben im Internet recherchiert«, warf Jenny Fahrenhorst ein.

»Also ein bibelfester Geistesgestörter«, schloss der Privatermittler.

»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, Lukas. Es könnte sich auch um eine gemeinschaftliche, von einer religiösen Sekte verübte Tat, handeln. Denk mal an Charles Manson und die Mitglieder der Manson-Familie, die mehrere Morde begangen haben.«

»Natürlich besteht diese Möglichkeit, allerdings sagt mir mein Bauchgefühl was anderes«, beharrte Sontheim auf seiner Meinung. »Aber wer auch immer dahintersteckt, hat das genau geplant. Die Seilwinde an der Decke, das Kreuz, die Kerzen – er wird das Zeug nicht erst zur Tat mitgebracht haben. Dafür brauchte er Zeit.«

»Wobei wir wieder bei der Theorie wären, dass mindestens zwei oder noch mehr Personen an der Tat beteiligt gewesen sein könnten«, meinte Brenner.

Sontheim dachte nach. »Ist nicht von der Hand zu weisen«, befand er diplomatisch. »Aber die Hauptfrage ist ohnehin eine andere.« Sein Freund sah ihn neugierig an. Auch die Gerichtsmedizinerin hielt einen kurzen Moment inne und starrte zu ihm. »Für welche Sünde wurde Jerat bestraft?«

»Darüber hab ich mir das Hirn zermartert, als du eben plötzlich aufgetaucht bist«, erwiderte Brenner.

»Und, irgendeine Idee?«, wollte Sontheim wissen.

»Lass uns rausgehen«, sagte der Leiter der Mordkommission leise und nickte unauffällig in Richtung der anwesenden Kollegen.

 

Sontheim wunderte sich über die Heimlichtuerei seines ehemaligen Partners. Erst als sie auf den Bürgersteig getreten und ein paar Schritte gegangen waren, sprach Brenner weiter.

»Es wird zwar bald ohnehin die Runde machen, weil es ermittlungsrelevant sein könnte, aber für den Moment reicht es, wenn ich mit dir darüber rede. Die unübersehbare religiöse Komponente bei dem Mord hat mich drauf gebracht. David war schwul.«

Sontheim klappte vor Überraschung die Kinnlade herunter. »Jetzt bin ich aber baff.«

»Das wissen auch nur wenige. Obwohl wir Kölner ja dafür bekannt sind, mehr als offen mit dem Thema Homosexualität umzugehen – schließlich sind wir die Hauptstadt der Schwulen und Lesben. Aber David wollte nicht, dass es sich unter den Kollegen rumspricht. Ein homosexueller Polizist wird nach seiner Überzeugung nicht ernst genommen. Vermutlich hatte er damit sogar recht. Er hat’s mir auch nur im Vertrauen erzählt. Aber worauf ich eigentlich hinauswill: Es ist kein Geheimnis, dass die Kirche selbst heutzutage nicht unbedingt für Toleranz beim Thema Homosexualität steht – gerade bei den Katholiken. Viele Kleriker deklarieren gleichgeschlechtliche Liebe als Sünde.«

»Willst du gerade andeuten, dass irgendein Geistlicher vom rechten Weg abgekommen ist und als Racheengel Jagd auf einen schwulen Polizisten gemacht hat, weil der seiner Ansicht nach in Sünde gelebt hat?« Sontheim runzelte die Stirn.

»Entweder das oder eine Gruppe religiöser Fanatiker. David ist … war der korrekteste Mensch, der mir je begegnet ist. Hat sich immer an die Vorschriften gehalten. Sein Mörder hat die Botschaft nicht ohne Grund an die Wand geschrieben. Ich wüsste nicht mal im Ansatz, welcher Sünde er sich sonst in dessen Augen schuldig gemacht haben sollte.«

»Starker Tobak, aber vor dem Hintergrund vielleicht gar nicht so weit hergeholt.« Sontheim kaute auf der Unterlippe. »Mich beschleicht allerdings das Gefühl, dass du mir die Schweinerei da drin nicht nur gezeigt hast, um meine Meinung zu den Tatumständen zu hören oder mit mir über deine ersten Vermutungen zu plaudern. Also?« Er hob fragend die rechte Augenbraue.

Brenner schaute sich einmal kurz um, aber sie waren allein. »Hast recht, da ist noch was. Du weißt, was passiert, wenn einer unserer Jungs ermordet wird. Jeder Polizist in Köln wird Überstunden schieben, bis der oder die Täter hinter Schloss und Riegel sitzen.«

Sontheim nickte, er hatte immer noch keinen blassen Schimmer, worauf sein Freund eigentlich hinauswollte.

»Aber du kannst dir auch ausmalen, dass wir einen schweren Stand bei unseren Ermittlungen haben werden, sollten wir tatsächlich einen oder mehrere Würdenträger der Kirche ins Visier nehmen und gegen ihn oder sie ermitteln. Gerade hier im erzkonservativen Bistum Köln, wo der Klerus eine Menge Macht und Einfluss hat. Denk nur mal dran, wie das Erzbistum mit dem Vorwurf der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in den eigenen Reihen umgegangen ist.«

Sontheim machte ein ernstes Gesicht. Er wusste genau, worauf Brenner anspielte. Intransparenz und Vertuschungsvorwürfe im Umgang bei der Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe waren dem Erzbischof von Köln vor knapp drei Jahren vorgeworfen worden. Nicht zuletzt, da ein wichtiges Gutachten zurückgehalten wurde, das sich mit den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs befasste.

»Als du eben hier so überraschend aufgetaucht bist, hab ich die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, weil du für deine unorthodoxen Ermittlungen bekannt bist«, fuhr Brenner fort. »Du könntest vielleicht auf eigene Faust Untersuchungen anstellen und unter dem Radar der Kirche bleiben.«

»Moment mal«, unterbrach Sontheim ihn. »Bittest du mich grade ernsthaft und höchst inoffiziell um meine Mitarbeit?« Er blickte Brenner mit großen Augen an.

Der nickte nur. »David hat dir mal den Arsch gerettet, sonst könnten wir dieses Gespräch hier gar nicht führen. Auch wenn wir über genügend Leute verfügen werden, um den Mord aufzuklären, will ich für den Fall gewappnet sein, dass uns jemand in die Parade fährt. Und um ehrlich zu sein, fehlt mir in unseren Reihen eine Spürnase wie du. Du denkst über den Tellerrand hinaus, und du nimmst auch keine Rücksicht auf Obrigkeiten, wenn’s drauf ankommt. Genauso jemanden brauche ich jetzt.«

»Und das hast du dir mal ebenso überlegt, weil ich zufällig hier aufgetaucht bin?«

Brenner nickte.

»Ich stecke mitten in eigenen Recherchen …«, erwiderte Sontheim noch etwas zögerlich.

»Wenn's um Kohle geht, ich bezahl dich auch«, fiel ihm sein Freund ins Wort. Es klang schon fast flehend.

»Quatsch, das ist es nicht.« Der Privatermittler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber ich werde kaum Zeit haben. Mein eigener Fall«, sagte er entschuldigend.

»Verdammt«, knurrte der Leiter der Kölner Mordkommission. »Dachte wirklich, du würdest drauf brennen, im Hintergrund was zur Aufklärung beitragen zu können. So kann man sich irren.« Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich muss wieder rein«, sagte er dann, drängte sich an Sontheim vorbei und verschwand kurz darauf in dem leer stehenden Haus, in dem David Jerat auf brutale Weise ermordet worden war.

Kapitel 2

 

Selbstverständlich konnte er Jürgens Bitte nicht abschlagen, eigene verdeckte Ermittlungen im Mordfall David Jerat anzustellen. Noch bevor er sich auf den Weg zu der Befragung von Olaf Bergers Sekretärin machte, schrieb er seinem Freund eine SMS mit den Worten „Ich mach‘s“.

Berger war vor knapp zwei Monaten bei einer Bootstour an der holländischen Küste drei Seemeilen vor Cadzand, dem niederländischen Ort nahe der belgischen Grenze, bei einem schweren Unwetter verunglückt und galt seitdem als vermisst. Trotz intensiver Suche war bisher auch kein Leichnam gefunden worden. Fachleute hatten das Wrack des kleinen Segelbootes inzwischen geborgen und Hinweise entdeckt, dass das Boot offenbar nicht infolge des Sturms gesunken, sondern ganz bewusst versenkt worden war. Da der verschuldete Geschäftsmann nur wenigen Monate vor dem angeblichen Unfall eine Risikolebensversicherung über 1,2 Millionen Euro abgeschlossen hatte, witterte das Versicherungsunternehmen, das Sontheim beauftragt hatte, Betrug.

Seit zwei Wochen ging er bereits jeder erdenklichen Spur nach. Er war davon überzeugt, dass die Ehefrau den Plan mit ihrem Mann ausgeheckt hatte, aber beweisen ließ sich das bisher nicht. Einen Hinweis auf den möglichen Aufenthaltsort Bergers, der vermutlich nicht als Fischfutter auf dem Meeresgrund geendet hatte, gab es bis dato auch nicht. Die Befragung der Sekretärin, die erst am Vortag aus dem Urlaub zurückgekehrt war, blieb allerdings ohne die erhofften neuen Erkenntnisse. Sie war die letzte Person aus dem unmittelbaren Umfeld des Geschäftsmannes gewesen, die er befragen wollte. Der Fall frustrierte ihn. Und jetzt noch die Sache mit Jerat, die Sontheim mehr zu schaffen machte, als ihm lieb war. Auf der Fahrt in die Höhenberger Straße, wo er in einem ehemaligen Kiosk ein kleines Detektivbüro eingerichtet hatte, kreisten seine Gedanken unentwegt um die mysteriöse Bluttat. Warum war der Ermittler auf eine derart abscheuliche Art und Weise abgeschlachtet worden? Dass Brenner regelrecht gefleht hatte, ihn im Hintergrund bei den Recherchen zu unterstützen, setzte ihm zusätzlich zu. Wie hätte er diese Bitte, so ungewöhnlich sie auch war, abschlagen können?

Nachdem er in der Nähe der Detektei einen Parkplatz gefunden und sich kurz darauf auf seinem Schreibtischstuhl niedergelassen hatte, wählte er die Nummer von Andreas Lichtenstein. Ali, wie er den Computerfachmann und ehemaligen szenebekannten Hacker nannte, war neben Brenner sein einziger wirklicher Freund. Das Computergenie unterstützte ihn bei seinen Ermittlungen, wann immer er dessen Hilfe brauchte. Dabei hielt Ali sich längst nicht an gesetzliche Vorgaben, ganz im Gegenteil. Er scheute sich nicht einmal davor, sich ins interne Polizeinetzwerk zu hacken, wenn er das für nötig hielt. Seit Sontheim dem Mann vor zwei Jahren das Leben gerettet hatte, war die Verbindung zwischen ihnen noch enger geworden.

»Hey, Lukas. Was geht?«, tönte Alis warme Stimme aus dem kleinen Lautsprecher des Smartphones.

»David Jerat wurde ermordet. Besser gesagt, auf bestialische Art und Weise hingerichtet.« Sontheim kam gleich zur Sache und sparte sich lange Vorreden.

Ali schwieg einige Sekunden und atmete tief durch. »Sag das noch mal«, raunte er schließlich.

»Schon richtig gehört. Polizeioberkommissar David Jerat wurde gekreuzigt, gefoltert und anschließend ermordet.«

»Scheiße«, murmelte der IT-Fachmann.

»Jürgen ist völlig am Boden zerstört. Ich war eben auf dem Weg zu einer Befragung, als ich zufällig am Tatort vorbeigekommen bin. Wie ein Häufchen Elend hat er auf dem Bürgersteig gehockt.«

»Kein Wunder, Jerat war immerhin schon seit ein paar Jahren sein Partner.«

»Jürgen hat mich gebeten, in der Sache zu ermitteln. Inoffiziell natürlich. Deswegen rufe ich an«, erwiderte Sontheim.

»Brenner hat was?« Ali sog geräuschvoll die Luft ein.

»Er hat seine Gründe, aber das würde jetzt zu weit führen. Würdest du mich bei den Recherchen unterstützen?«

»Was für ’ne Frage! Was soll ich tun?«

»So einiges, um ehrlich zu sein. Kannst du mir ein Dossier über Jerat zusammenstellen? Ich interessiere mich vor allem für sein Privatleben. Die Tat könnte nämlich damit im Zusammenhang stehen, dass er schwul war.«

»Jerat war was? Das hätt ich jetzt wirklich nicht gedacht.«

»Ich war genauso überrascht, als mir Jürgen davon erzählt hat. Es wussten wohl auch nur eine Handvoll Leute.«

»Wieso glaubt der Oberbulle von der Mordkommission, dass sein Partner wegen seiner Homosexualität ermordet wurde?«, wollte Ali wissen.

»Der oder die Täter haben eine Botschaft an die Wand gepinselt, die Raum für Spekulationen in die Richtung lässt.«

»Aha, und wie lautet die?«

Sontheim legte die Stirn in Falten und versuchte angestrengt, sich an das Bibelzitat zu erinnern. Mehr als der Anfang des Spruchs wollte ihm allerdings nicht einfallen. Wieso hatte er kein Foto davon gemacht, nachdem Brenner ihn gebeten hatte, auf eigene Faust zu ermitteln? »Ich krieg’s nicht mehr komplett zusammen. Wer Sünde tut, der ist vom Teufel – irgendwas in der Art. Stammt wohl aus dem Johannesevangelium.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, hörte er Ali auch schon auf der Tastatur klappern.

»Wer Sünde tut, der ist vom Teufel, denn der Teufel sündigt von Anfang an. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre«, las Ali nach wenigen Sekunden vor.

»Genau, das ist es!«, bestätigte Sontheim.

»Sehr mysteriös, aber jetzt versteh ich Brenners Denkansatz. Ein bibeltreuer Fanatiker, der Jagd auf Homosexuelle macht. Wäre möglich«, sinnierte Ali.

»Ist zumindest ein Anfang. Kannst du bitte versuchen, rauszufinden, ob es bereits ähnliche Taten in der Vergangenheit gab? Außerdem wär’s nett, wenn du mir ein wenig Anschauungsmaterial zum Thema Kreuzigung zusammenstellen könntest? Ich frag mich nämlich, warum man Jerat genau auf diese Weise getötet hat.«

»Wird erledigt«, sagte Ali. »Sonst noch was?«

Sontheim dachte kurz nach. »Nein, das wär's für den Anfang. Meld dich, sobald du was für mich hast. Danke schon mal.«

»Für dich doch immer, mein Freund. Bis später.« Dann war die Leitung tot, Ali hatte das Gespräch beendet.

Kapitel 3

 

14:15 Uhr

 

Brenner hatte persönlich der Obduktion seines ermordeten Kollegen beigewohnt. Jenny Fahrenhorst hatte sich umgehend an die Untersuchung des Leichnams gemacht, nachdem die sterblichen Überreste ins Rechtsmedizinische Institut überstellt worden waren. Das Ausmaß der ganzen Brutalität, der David vor seinem Tod ausgesetzt war, in allen grausamen Details von der Gerichtsmedizinerin zu hören, hatte dem erfahrenen Ermittler erheblich zugesetzt. Gestorben war sein langjähriger Partner schließlich an inneren Blutungen als Folge einer Leberruptur, herbeigeführt durch eine lange, scharfe Klinge. Bei der Tat war eine Menge Hass im Spiel gewesen, das war offensichtlich. Als er kreidebleich Davids Wohnung in der Zülpicher Straße betrat, war das Team der Spurensicherung gerade im Begriff, die Arbeit zu beenden.

»Irgendwelche Hinweise?« Der Hauptkommissar hatte sich den erstbesten Mitarbeiter der SpuSi geschnappt, der ihm über den Weg gelaufen war.

»Wir haben Blut unten auf der Stufe an der Haustür gefunden. Könnte vom Kollegen stammen«, entgegnete der Mann mit betretener Miene.

Brenners Neugier war sogleich geweckt. »Das klingt doch schon mal vielversprechend. Gibt’s Kameras hier in der Gegend?«

Der Angesprochene reagierte nur mit einem Schulterzucken. »Nicht meine Baustelle. Musst du deine Kollegen fragen. Die sind aber noch unterwegs, Anwohnerbefragung.«

»Habt ihr in der Wohnung irgendwas Auffälliges gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«

Ein Kopfschütteln. »Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Wir bringen den Computer jetzt ins Labor, vielleicht bringt die Auswertung was.« Der SpuSi-Mann deutete auf den Laptop in seiner behandschuhten Rechten.

»Danke«, murmelte Brenner und eilte weiter bis ans Ende des Flurs, wo er ins Wohnzimmer abbog. Auch hier war eine im Schutzanzug gekleidete Mitarbeiterin der Spurensicherung gerade damit beschäftigt, ihre Ausrüstung in den Instrumentenkoffer zu packen. Brenner grüßte die Frau kopfnickend, ließ den Blick durch den Raum schweifen und sank dann niedergeschlagen aufs Sofa. Schon oft hatte er in diesem Zimmer gesessen, ein Bier mit David gezischt und über aktuelle Ermittlungen gesprochen, wenn sie mal wieder in einer Sackgasse steckten. Jetzt war der Kollege tot, er konnte es immer noch nicht fassen. Seufzend vergrub er den Kopf in den Händen. »Wer hat dir das angetan?«, murmelte er, offenbar nicht leise genug.

»Wer immer es war, wir werden es herausfinden, garantiert«, sagte die Frau von der Spurensicherung. Dann verließ sie mitsamt ihrem Instrumentenkoffer das Zimmer.

Brenner bekam das schon gar nicht mehr mit, in seinem Kopf rotierten die Gedanken. Kannten sich Täter und Opfer? War der Killer männlich oder weiblich, oder handelte es sich um mehrere Täter? Gab es ähnliche Morde in der Vergangenheit, und hatten sie es möglicherweise mit einem Wiederholungstäter zu tun? Hatte David Feinde? Schwierigkeiten finanzieller oder persönlicher Art? – Polizeiroutine halt. Aber wie auch immer die Antworten auf diese Fragen ausfielen, er und seine Kollegen wollten so schnell wie möglich alles daran setzen, sie zu finden. Eine Sonderkommission, die SoKo „Kreuz“, war bereits eingerichtet worden und arbeitete auf Hochtouren, um ein Täter- und Opferprofil zu erstellen. Nur in einem Punkt glaubte Brenner die Antwort zu kennen: David war gewiss kein Zufallsopfer. Die Botschaft an der Wand am Tatort ließ im Grunde nur diesen Schluss zu.

Der Hauptkommissar war gerade im Begriff, die Wohnung in der Zülpicher Straße zu verlassen und sie mit dem Polizeisiegel zu verschließen, als jemand die Treppe hochgelaufen kam und seinen Namen rief.

»Gut, dass du noch da bist!« Der Leiter der Mordkommission drehte sich um und erkannte den Kollegen Becker von der Sonderkommission. Der übergewichtige Mann schnaubte wie ein Rennpferd. »So wie es aussieht, können wir den Zeitpunkt der Entführung eingrenzen«, japste der Ermittler. Brenner hob erwartungsvoll die Augenbrauen. »Eine ältere Dame, die schräg gegenüber wohnt, hat beobachtet, wie ein offensichtlich Betrunkener von der Haustür dieses Wohnhauses von einem Mann zu einem Auto geschleppt wurde. Sie sprach von einem Lieferwagen, möglicherweise weiß, jedenfalls irgendeine helle Farbe.«

»Konnte sie die beiden beschreiben oder wenigstens einen von ihnen?«

»Leider nein, es war zu dunkel, und offenbar ist die Straßenlaterne vor Davids Haus defekt. Aber dafür konnte sie sich an die Uhrzeit erinnern. Es war gegen 21 Uhr, sie wusste das so genau, weil da gerade ihre Lieblingssendung im Fernsehen zu Ende war. Sie ist ans Fenster, um noch mal zu lüften, und da hat sie das beobachtet.«

»Sie könnte tatsächlich Davids Entführung mitbekommen haben.« In Brenners Stimme schwang so etwas wie Hoffnung mit. Hatten sie einen ersten wichtigen Hinweis entdeckt?

»Es wird noch besser«, fuhr Becker fort. Seine Atmung beruhigte sich allmählich. »Nur eine Straße weiter von hier gibt’s eine Verkehrsüberwachungskamera. Hab schon mit den Kollegen gesprochen. Kurz nach neun ist dort ein Lieferwagen zu sehen, der mit großer Geschwindigkeit die Kamera passiert.«

»War der Fahrer zu erkennen?«, unterbrach Brenner den Oberkommissar ungeduldig.

»Leider nicht, aber dafür haben wir Teile des Kennzeichens entziffert.«

Brenner konnte es kaum fassen, das klang mehr als vielversprechend. Er klopfte Becker anerkennend vor die Brust. Dann stürmte er an seinem Kollegen vorbei und eilte die Stufen hinunter. »Na los, Becker. Was stehst du noch da rum, wir müssen einen Mörder schnappen«, rief er über die Schulter hinweg. Zum ersten Mal an diesem Tag kehrte seine Zuversicht zurück.

Kapitel 4

 

Später Abend

 

»Jerats Privatleben ist wie ein Buch mit sieben Siegeln. Er hatte nicht mal einen Facebook- oder Instagram-Account«, begann Ali und trank einen großen Schluck Cola, die er täglich literweise in sich hineinschüttete. Trotzdem sah man ihm das nicht im Geringsten an, er war rank und schlank, obwohl er noch dazu ein Sportmuffel war. Sein Freund hatte die Informationen zusammengetragen, um die er ihn gebeten hatte. Jetzt saßen sie zu vorgerückter Abendstunde, es war fast elf, auf Alis schwarzer Ledercouch, und der Hacker fasste grob zusammen, was er bisher herausgefunden hatte. Neben ihm auf der Couch lagen diverse Ausdrucke, das Ergebnis seiner bisherigen Recherche. »Ich hab so gut wie nichts über Jerat gefunden, er hat im Netz kaum digitale Fußabdrücke hinterlassen. Ich bräuchte Zugang zu seinem Handy oder PC.«

»Werden wir wohl kaum bekommen, jedenfalls nicht, solange die Erkenntnisse der Kölner Ermittler nicht aktenkundig sind«, grummelte Sontheim und fuhr sich durch den braunen Haarschopf. »Du hast doch noch Zugriff aufs Polizeinetz?« Der Privatdetektiv profitierte bei seiner Arbeit nicht zuletzt davon, dass sich Ali immer wieder in das polizeiinterne Datennetz hackte, um jederzeit auf Informationen zugreifen zu können, zu denen Privatpersonen keinen Zugang hatten.

»Jo, hab ich. Obwohl die wirklich stets darum bemüht sind, ihre Sicherheitslücken zu schließen.« Ali grinste schelmisch wie ein Honigkuchenpferd.

»Den Zugriff auf die Daten werden wir auf jeden Fall brauchen. Jürgen war bisher auch nicht unbedingt eine Hilfe, wenn’s darum geht, uns Infos von Jerat zukommen zu lassen. Wir haben vorhin noch telefoniert, ist aber nicht viel bei rumgekommen. Dafür, dass die beiden seit Jahren Job-Partner waren, wusste Jürgen verdammt wenig über seinen Kollegen. Dass Jerat regelmäßig ins Fitnessstudio ging, war jetzt nicht wirklich eine spektakuläre Neuigkeit. War ja mehr als offenkundig, wenn man bedenkt, was er für ein geballtes Muskelpaket war.«

»Was ihm leider auch nichts genutzt hat.« Ali seufzte. Er hatte den Polizisten gemocht. Er hatte ihn vor knapp zwei Jahren kennengelernt, weil Jerat als Personenschützer für ihn fungiert hatte, nachdem er ins Visier eines Serienmörders geraten war.

»Nein, hat es nicht. Ich habe mich am frühen Abend mal diskret in dem Fitnessstudio umgehört, hat allerdings nichts gebracht. Jerat hat dort zwei- bis dreimal die Woche trainiert, aber auf private Kontakte wohl keinen großen Wert gelegt. Einen festen Partner hatte er laut Jürgen auch gerade nicht. Da Jerat versucht hat, seine Homosexualität weitgehend geheim zu halten, hat er seine Partner vermutlich auch nicht in Köln oder der näheren Umgebung gesucht. Ich hör mich trotzdem später mal in den Gay-Bars um, vielleicht erkennt ihn doch jemand wieder. Irgendwo muss der Killer auf ihn aufmerksam geworden sein, wenn sein Tod tatsächlich damit zusammenhängt, dass er schwul war.«

»Kann nicht schaden. Obwohl ich glaube, dass er neue Bekanntschaften eher online in entsprechenden Foren gefunden hat. Aber ohne den geringsten Hinweis auf seinen Nicknamen hab ich keine Chance, da was herauszufinden.« Ali löste den Haargummi, das lange blonde Haar fiel ihm auf die Schultern. Den Gummi schmiss er auf den modernen verchromten Glastisch. »Brenners Theorie erscheint mir nach aktuellem Kenntnisstand auf den ersten Blick auf jeden Fall plausibel. Jerat hat ein derart unspektakuläres Leben geführt, dass es mir schwerfällt, eine andere Erklärung dafür zu finden, welcher Sünde er sich sonst in den Augen des Killers oder der Mörder schuldig gemacht haben könnte. Der Typ hat noch nicht mal ein Knöllchen fürs Falschparken bekommen.« Der Hacker schüttelte den Kopf.

»All das könnte natürlich auch mit einem alten Fall zu tun haben, an dem Jerat gearbeitet hat. Ich habe Jürgen gebeten, mir ein paar Infos zukommen zu lassen. Er wollte sehen, was er da für uns machen kann.« Sontheim nippte nachdenklich an dem Wasser, das vor ihm auf dem Tisch gestanden hatte. »Hast du einen Hinweis darauf gefunden, dass es in der Vergangenheit andere Morde gegeben hat, bei denen das Opfer gekreuzigt wurde?«

»Negativ. Genauso wenig wie die Bullen, weder hier in Deutschland noch im Ausland. Ich bin sogar dreißig Jahre zurückgegangen. Es gab nichts Vergleichbares. Hab allerdings einen interessanten Fall aus 2020 in Gießen entdeckt.« Ali blätterte in seinen Unterlagen, bis er den entsprechenden Artikel gefunden hatte. »Ein homophob motivierter Mord an einem Sechzigjährigen. Der Täter gab an, dass Gott ihm aufgetragen habe, einen bösen Menschen – einen Homosexuellen – zu töten. Ein Gutachten hat übrigens belegt, dass der Täter psychisch krank ist.«

Sontheim rieb sich das Kinn. »Könnte natürlich sein, dass sich in unserem Fall ein Schwulenhasser mit psychopathischen Zügen ausgetobt hat, der die ganze religiöse Schiene nur fährt, um später auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren zu können, sollte man ihn schnappen.«

»Würde ich jedenfalls im Hinterkopf behalten. Wer weiß schon, was im Kopf einer Person vorgeht, die zu so einer Tat fähig ist? Oder wir befinden uns auf dem Holzweg und etwas ganz anderes steckt dahinter.« Ali zuckte mit den Schultern. »Ich hab dir jedenfalls einige interessante Infos zum Thema Kreuzigung zusammengetragen. Findest du alles in den Unterlagen.« Ali deutete auf einen Schnellhefter, in dem er die Ausdrucke fein säuberlich für ihn eingeheftet und auf den Tisch gelegt hatte.

»Und die Kurzform?« Er würde sich die Dokumente später anschauen, dazu hatte Sontheim jetzt weder Zeit noch Lust.

»Kreuzigungen sind so alt wie die Welt. Klar, wir kennen alle die Geschichte von Jesus. Aber gekreuzigt wurde schon tausend Jahre vor Christi Geburt. Im Grunde hätte es gar nicht des Bibelzitats aus dem Johannesevangelium bedurft, um den Bullen eine Botschaft zu senden. Der Akt der Kreuzigung und die Symbolik des Kreuzes selbst wären als Hinweise schon eindeutig genug gewesen, wenn du mich fragst.«

Sontheim runzelte die Stirn. »Okay, was die Hinrichtung am Kreuz angeht, kann ich dir noch folgen, Tötung eines Verurteilten für ein Vergehen, um ihn dann möglichst langsam und grausam zu exekutieren. Aber welche Symbolik versteckt sich denn hinter dem Kreuz selbst? Ich dachte immer, es wäre Ausdruck des Christentums.« Sontheim rieb sich nachdenklich die Schläfen.

»Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Kreuz zu deuten. In der christlichen Theologie ist es vor allem eng mit dem Thema Schuld und Sühne verbunden.«

»Wieder der Hinweis auf ein Fehlverhalten Jerats. Wer auch immer für seinen Tod verantwortlich ist, wollte mit aller Macht demonstrieren, dass es in seinen Augen einen triftigen Grund dafür gibt.«

»Vielleicht ein ewig Gestriger, wenn das Motiv der Hinrichtung tatsächlich eine Anspielung auf Jerats Homosexualität ist. Immerhin standen selbst in Deutschland homosexuelle Handlungen bis 1994 unter Strafe. Wusstest du, dass bis zur Abschaffung von Paragraf 175 des Strafgesetzbuches knapp hundertvierzigtausend Männer inhaftiert worden sind?«

Sontheim verneinte. »Man muss schon ziemlich verblendet sein, einem Menschen wegen seiner sexuellen Neigung Derartiges anzutun. Andererseits leben wir in einer kranken Welt.« Er lehnte sich zurück, schloss für einen Moment die Augen und massierte sich den verspannten Nacken. »Trotzdem müssen wir mehr über Jerat rausfinden«, sagte er energisch, als er die Lider wieder öffnete. »Sein Leben ist der Schlüssel zur Aufklärung dieses Irrsinns.«

Kapitel 5

 

Tag 2, Mittwoch

 

Nachdem Sontheim bei Ali aufgebrochen war, hatte er sich ins Kölner Nachtleben gestürzt, wo er erfolglos einige der einschlägigen Klubs der Schwulen- und Lesbenszene der Domstadt abgeklappert hatte.

Niemand hatte David Jerat auf dem Foto erkannt, das er gefühlt hundertmal vorgezeigt hatte. Bei seinen Recherchen hatte er sich diversen Anmachversuchen erwehren müssen, die er jedoch mit einer Prise Humor abgewehrt hatte – er stand halt nicht auf Männer. Ein Problem mit Homosexuellen hatte er allerdings nicht im Geringsten, jeder sollte nach seiner Façon glücklich werden. Todmüde war er Viertel nach drei ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.

Trotzdem wachte er bereits um sieben in der Früh an diesem Morgen wieder auf. Es war der zweihundertvierte Tag, an dem er trocken war, nach seinem unfreiwilligen Rückfall vor knapp acht Monaten. Er war gekidnappt und gezwungen worden, eine Flasche Schnaps zu trinken, um das Leben eines Mädchens zu retten. Nach seiner Befreiung hatte er sich sofort wieder seinen Dämonen gestellt und eine Sitzung bei den Anonymen Alkoholikern besucht. Nie wieder wollte er dem Alk die Kontrolle über sein Leben überlassen. So wie damals, als er den Boden unter den Füßen verloren hatte, nachdem seine geliebte Frau Nina und sein kleines Engelchen Linda von einem Serienmörder umgebracht worden waren. Er hatte als Leiter der Kölner Mordkommission gegen den Mann ermittelt. In den sechs Jahren nach ihrem tragischen Tod war ihm sein Leben komplett entglitten, was ihn nicht zuletzt den Job gekostet hatte. Nur mühsam hatte er die Kontrolle über sich wieder zurückgewonnen.

Er konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als er damals in der Küche seines Einfamilienhauses gesessen hatte, das er früher sein Eigen nannte. Die halb geleerte Flasche Whisky und ein volles Glas mit der goldbraunen Flüssigkeit vor sich auf dem Tisch. Minutenlang hatte er auf den Trostspender gestarrt, wie er den Alkohol irrtümlich immer genannt hatte, und mit seinem inneren Schweinehund gerungen. Dann war er aufgestanden, hatte den Whisky in den Abfluss geschüttet, eine Dusche genommen und seinen Hausarzt aufgesucht. Das war der Anfang gewesen, um sich zurück ins Leben zu kämpfen. Er hatte es nicht zulassen wollen, dass sich der Mörder seiner Frau und seiner Tochter über deren Tod hinaus noch ein weiteres Opfer holte. Es war ein langer und steiniger Weg, der hinter ihm lag, aber die Mühen hatten sich am Ende ausgezahlt.

Immer noch müde schälte er sich aus dem Bett, zog die Rollläden hoch und schaute in den trüben morgendlichen Septemberhimmel von Köln. Es nieselte, was ihn allerdings nicht davon abhalten konnte, seine allmorgendliche Joggingeinheit zu absolvieren. So ließ sich die Müdigkeit am besten aus dem Körper treiben. Er zog die Laufklamotten an, schnappte sich sein Handy, nahm den Schlüssel vom Haken und begab sich auf die Laufrunde. Bruce Dickinson begleitete ihn auf seiner fast sechs Kilometer langen Runde. Er liebte Senjutsu, das aktuelle Iron-Maiden-Album. Sontheim hoffte inständig, dass die Engländer bei der kommenden Tour einen Abstecher in die Domstadt machten, er würde ganz bestimmt bei dem Konzert dabei sein.

Als er die Wohnungstür nach der Laufrunde wieder aufschloss, hatte er einen Plan gefasst, wie er weiter vorgehen wollte. Er streifte die nassen Klamotten ab, sprang unter die heiße Dusche und gönnte sich anschließend ein ausgiebiges Frühstück: Speck mit Ei, Toast und Müsli. Schon sein alter Herr pflegte immer zu sagen, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages war. Recht hatte der Mann, zu dem er genauso wie zu seiner Mutter nach wie vor ein herzliches Verhältnis hatte, auch wenn sie sich nur selten sahen. Während er genüsslich das Müsli in sich hineinschaufelte, recherchierte er im Internet nach der Adresse eines alten Freundes seiner Eltern: Pastor Rainer Nothberg. Sontheim war von dem Mann getauft worden, hatte den Kommunionsunterricht bei ihm besucht und auch die Firmung von ihm erhalten. Unmittelbar danach hatte Sontheim der Kirche allerdings abgeschworen. Weder glaubte er an Gott, noch war er sonderlich religiös. Ganz im Gegenteil zu seinen Eltern, die versucht hatten, ihn im Sinne eines gläubigen Katholiken zu erziehen.

Ali hatte ihm zwar ausführliches Material zu Kreuzigungen und der Symbolik des Kreuzes in der Theologie zusammengestellt, aber Sontheim hatte Fragen, die weit darüber hinaus gingen und direkt im Zusammenhang mit dem Mord an David Jerat standen. Wer konnte ihm da besser helfen als ein Vertreter Gottes auf Erden? Nur wenige Klicks später erschienen die Adresse und Telefonnummer auf dem Bildschirm, so konnte er sich den Umweg über seine Eltern sparen. Er wählte die Nummer, und bereits nach dem vierten Klingeln nahm Pastor Nothberg das Gespräch entgegen. Sontheim trug sein Anliegen vor, und der alte Mann stimmte sofort einem Treffen zu. Eine knappe Stunde später machte sich der Ermittler auf den Weg nach Efferen, einen Stadtteil von Hürth.

 

Er wusste selbst nicht warum, aber er war tatsächlich ein klein wenig nervös, als er auf den Messingklingelknopf an dem alten Einfamilienhaus mit den rotbraunen Klinkern drückte. Es dauerte einen Moment, bis geöffnet wurde. Bei dem gütig dreinschauenden Mann mit dem mondrunden Gesicht und dem schlohweißen Haarkranz, der ihn in Empfang nahm, handelte es sich eindeutig um den alten Pastor. Ein wenig in die Jahre gekommen natürlich, immerhin war er weit über siebzig. Der Mann trug schon am frühen Morgen eine Anzughose und ein schneeweißes Hemd.

»Willkommen, Lukas. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen«, begrüßte ihn der alte Mann.

»Seit der Beerdigung von Nina und Linda, um genau zu sein«, erwiderte Sontheim mit traurigem Blick.

Die fröhliche Miene Nothbergs war einem ernsten Gesichtsausdruck gewichen. »Komm doch bitte rein.« Der ehemalige Pastor ließ ihn eintreten und führte ihn ins Wohnzimmer, einen gemütlich eingerichteten Raum ohne viel Schnickschnack.

Sontheim nahm Platz auf einem bequemen Ledersessel, Nothberg auf dem passenden Gegenstück direkt gegenüber. Der Blick des Privatermittlers fiel zuerst auf das schnörkellose Holzkreuz, das über einem Sideboard an der gegenüberliegenden Wand hing. Auf dem kleinen runden Couchtisch aus Nussholz standen eine Kaffeekanne und zwei leere Tassen, daneben ein Milchkännchen.

»Ich war so frei, uns einen Kaffee zuzubereiten. Du trinkst doch Kaffee?«, fragte der alte Mann. Sontheim nickte. »Ich muss sagen, dass mich dein Anruf ganz schön überrascht hat. Zudem noch diese mysteriösen Andeutungen, die mich zugegebenermaßen neugierig gemacht haben.« Der ehemalige Pastor goss ihnen ein.

Während Nothberg einen Schuss Milch in die Tasse füllte, verzichtete Sontheim, er mochte ihn lieber schwarz. Er nippte sofort am Kaffee, der genauso köstlich schmeckte, wie er roch.

»Mysteriös dürfte in diesem Zusammenhang noch die Untertreibung des Jahres sein«, tastete er sich dann langsam vor. Da die Polizei aus ermittlungstechnischen Gründen keine Details zur Ermordung Jerats an die Presse weitergegeben hatte, musste er genau abwägen, was er sagen durfte. Am Telefon hatte er zuvor nur davon gesprochen, dass er Hilfe bei den Ermittlungen in einem Mordfall mit möglicherweise religiösem Hintergrund brauchte. Dann kam ihm eine Idee. »Als ehemaliger Pastor waren Sie doch dazu verpflichtet, die Ihnen im Rahmen der Beichte anvertrauten Geheimnisse für sich zu behalten. Habe ich Ihr Wort, dass nichts von dem, was ich jetzt erzähle, diese vier Wände verlässt?«

Nothbergs Augen weiteten sich. »Hast du etwas mit diesem Mord zu tun, von dem du am Telefon erzählt hast? Ich praktiziere nicht mehr, wie du weißt, und das hier ist keine Beichte, Lukas. Ich wäre im Fall der Fälle gezwungen, die Polizei zu informieren.« Auf der Stirn des alten Mannes bildeten sich tiefe Furchen.

»Um Himmels willen, nein, ich habe natürlich nichts mit dem Mord zu tun.« Sontheim hob beschwichtigend die Hände. Wie konnte Nothberg das ernsthaft in Erwägung ziehen? »Sollen wir meinen alten Partner, Hauptkommissar Brenner, anrufen? Der kann bestätigen, dass er mich inoffiziell beauftragt hat, in dem Fall zu ermitteln.«

Rainer Nothberg atmete erleichtert auf. Langsam legte er die Hände in den Schoß und nickte. Die Gesichtszüge des Mannes mit dem trotz vorgerückten Alters fast faltenfreiem Gesicht entspannten sich wieder. »Ich werde schweigen wie ein Grab«, versprach er schließlich.

Dann legte Sontheim los und berichtete seinem Gegenüber von dem Mord an David Jerat, wobei er bewusst darauf verzichtete, die Grausamkeiten bis ins letzte Detail zu schildern. Trotzdem war dem Mann anzusehen, wie sehr ihm die Schilderungen zu schaffen machten. Als Sontheim geendet hatte, genehmigte er sich erst mal einen Schluck Kaffee. Nothberg hatte seine Tasse noch nicht einmal angerührt, der ehemalige Pastor saß eine Weile sprachlos da und schaute ihn mit wachem Blick an. Dann räusperte sich der alte Mann.

»Wie du bereits selbst gesagt hast, wurde bei der Ausführung der Tat viel Wert auf die Symbolik gelegt. Das Kreuz, das in mehrfacher Hinsicht gedeutet werden kann. Der Vorgang der Kreuzigung an sich als symbolträchtige Form der Hinrichtung und das Zitat aus dem Johannesevangelium. Nicht zu vergessen das Büßerhemd.«

»Büßerhemd?« Sontheim verstand nicht, wovon Nothberg sprach.

»Du hast erzählt, dass der Tote in ein Nachthemd gekleidet war. Es dürfte sich um ein sogenanntes Büßergewand handeln, Cilicium genannt, oder es sollte einem solchen Hemd ähneln. Es besteht normalerweise aus grob gewebtem Ross- beziehungsweise Ziegenhaar und wird direkt auf der Haut getragen, weil es sich unangenehm anfühlt, was auch Sinn und Zweck ist. Man trägt das Hemd, wie der Name schon sagt, um Buße zu tun oder als Zeichen der Reue, aber aus asketischen Gründen.«

»Das ist interessant«, murmelte Sontheim. Wer auch immer für die Tat verantwortlich war, legte verdammt viel Wert darauf, herauszustellen, dass Jerat nicht nur zufällig zum Opfer geworden war. »Es gibt bisher kaum Hinweise auf das Motiv. Brenner hat mir allerdings anvertraut, dass Jerat homosexuell war, und er zieht in Betracht, dass er deshalb sterben musste. Ich halte das für eine ziemlich gewagte Theorie, aber es ist im Moment der einzige Hinweis, dem ich nachgehen kann.«

Nothberg zog die Stirn kraus. Dann fuhr er sich durch den Haarkranz. »Nun, die These ist längst nicht so gewagt, wie du vielleicht denkst.«

Sontheim glaubte, Besorgnis in der Mimik des Mannes zu erkennen. Unvermittelt stand der ehemalige Pastor auf und steuerte auf das Sideboard zu. Als er sich wieder umwandte und zum Sessel zurückging, hielt er ein Smartphone in der Hand. »Hast du schon mal von christlichen Fundamentalisten gehört?«, fragte er schließlich und schaute ihn neugierig an.

»Gehört ja, aber ich weiß nicht wirklich viel darüber.« Sontheim hob entschuldigend die Hände.

»Habe ich mir schon gedacht«, fuhr der Freund seines Vaters fort und entsperrte das Handy. »Da staunst du, was? Auch ein altes Fossil wie ich kennt sich mit moderner Technik aus.« Er tippte ein paarmal aufs Display und nickte zufrieden. »Da haben wir's schon.«

Sontheim erhob sich und ging neben dem alten Mann in die Hocke, wobei seine Knie unangenehm knackten. Seine morschen Knochen machten ihm in letzter Zeit immer öfter zu schaffen, auch wenn er es geflissentlich zu ignorieren versuchte. Nothberg zeigte ihm die Treffer der Suchmaschine zum Thema christlicher Fundamentalismus – mehr als 970.000 Quellen – und scrollte ein wenig hinunter zu neueren wie älteren Berichten in renommierten Zeitungen, diversen Blogeinträgen sowie Videos auf Youtube.

Sontheim stieß einen Pfiff aus, während der Pastor im Ruhestand einen Artikel über eine Youtuberin öffnete und ihn überflog. Schon nach wenigen Sekunden deutete er auf eine Textstelle, die ihm ins Auge gefallen war. »Ablehnung von Homosexualität, kein Sex vor der Ehe, Verbot von Abtreibungen«, las der Privatermittler laut vor, und das waren nur einige der Punkte, die dort aufgelistet waren. Der Bericht handelte von einer dreiundzwanzigjährigen christlichen Frau, die sich selbst als »ultrakonservativ« bezeichnete, und er schüttelte den Kopf. »Das ist in der Tat eine interessante Information«, meinte Sontheim, als er sich aus der Hocke erhob und sich wieder im Sessel niederließ. Seine Gedanken rotierten, er musste unbedingt Ali auf diese Spur ansetzen und auch Brenner informieren. Möglicherweise hatte sich einer dieser Agitatoren im Netz nicht mehr nur mit Worten begnügen wollen, sondern diesen jetzt Taten folgen lassen.

»Ich möchte keineswegs jemanden unter Generalverdacht stellen«, riss ihn der Freund der Familie aus den Gedanken, »aber ich wollte dir nur klarmachen, dass es innerhalb und außerhalb der Kirchen genügend Leute gibt, die ein riesiges Problem mit nicht traditionell kirchlich übermittelten Lebensweisen haben.« Nothberg legte das Handy auf den Tisch und warf Lukas einen forschenden Blick zu.

Sontheim nickte. »Es muss ja auch nicht zwingend jemand dahinterstecken, der so einen Unsinn verfasst. Ein fanatischer christlicher Fundamentalist, der sich nicht öffentlich positioniert, käme natürlich genauso in Betracht. Scheint eine Menge Leute da draußen zu geben, die dieses krude Weltbild vertreten. Diese Youtuberin hat alleine über zwanzigtausend Follower«, erwiderte er nachdenklich. »Dabei war ich eigentlich aus einem ganz anderen Grund hier«, gestand er.

»Du fragst dich, ob der Mörder ein Talarträger sein könnte?«

Bewundernswert, wie messerscharf der Verstand des alten Mannes arbeitete. »Genau«, bestätigte Sontheim. »Es ist ja kein Geheimnis, dass es gerade innerhalb der Katholischen Kirche auch kontroverse Meinungen zu sensiblen Themen wie Homosexualität oder Abtreibungen gibt. Toleranz wird nicht bei allen Priestern, Pastoren und Bischöfen gleich groß geschrieben, wie man immer wieder lesen kann. Ist Ihnen vielleicht in Ihrer Amtszeit eine Person begegnet, die solch radikale Ansichten teilt und möglicherweise sogar von einer Kanzel gepredigt hat? Oder ist Ihnen hier in Köln mal so was zu Ohren gekommen?«

Jetzt nippte Nothberg ebenfalls an seinem Kaffee. »Es gab da tatsächlich einen Kandidaten, der mit seiner Meinung im Gottesdienst nicht hinter dem Berg halten konnte. Wer es verstand, zwischen den Zeilen zu lesen, vermochte die Botschaft zu verstehen. Allerdings kommt er als Täter kaum in Betracht. Der ehemalige Kollege ist mittlerweile weit über achtzig. Außerdem leidet er an Demenz.«

»Und wie sieht es mit den heutigen Dienern Gottes aus?«, hakte Sontheim nach.

»Da muss ich leider passen, werde mich aber gern mal umhören.«

»Danke, das weiß ich wirklich zu schätzen«, sagte Sontheim und holte eine Visitenkarte aus dem Portemonnaie, die er auf den kleinen Couchtisch legte. »Ich muss jetzt los. Sie können mich jederzeit erreichen«, fuhr er fort, trank aus und verabschiedete sich.

Kaum dass er auf den Bürgersteig getreten war, klingelte sein Handy. Ali. »Das war Gedankenübertragung«, begrüßte er seinen Kumpel.

»Weil?«

Sontheim erzählte in kurzen Worten von dem Gespräch mit Nothberg und bat Ali darum, herauszufinden, ob es christliche Fundamentalisten in oder rund um Köln gab, die im Internet offen ihre Hasstiraden gegen Homosexuelle verbreiteten.

»Ich klemm mich dahinter, sobald ich Zeit habe. Das muss aber ein bisschen warten, hab selbst nachher ein Treffen mit einem Kunden. Er möchte, dass ich seine Firma IT-technisch auf Vordermann bringe. Hackerangriff, es wurde wohl eine Menge sensibler Daten abgegriffen. Vorher wollte ich dir aber 'ne wichtige Info geben.« Sontheim verband sein Handy mit der Freisprecheinrichtung und startete den Motor des alten Mazda. »Die Bullen gehen der Frage nach, woher das Holz von dem Kreuz stammen könnte, an das Jerat genagelt wurde. Kein schlechter Gedanke, aber ich denke, die sind im Moment noch buchstäblich auf dem Holzweg.«

»Lass die Scherze, die sind in diesem Fall wirklich unangebracht«, fuhr der Privatermittler dazwischen.

Ali räusperte sich. »Sorry, hast natürlich recht. Ich glaub, ich weiß, woher das Holz stammt. Aus einem Einbruch in eine Zimmerei. Vor knapp sechs Wochen ist jemand bei denen eingestiegen. Fünf große Holzbalken wurden dort geklaut. Der Dieb hat offenbar sogar die Dreistigkeit besessen, mit einer Motorsäge das Holz noch direkt vor Ort zurechtzuschneiden. Holzdiebstahl kommt bei den massiv gestiegenen Preisen zwar momentan häufiger vor, aber wenn du mich fragst …« Er ließ die Worte im Raum stehen. »Die Firma liegt in einem Industriegebiet, und der Einbruch hat am Wochenende stattgefunden. Niemand hat was davon mitbekommen«, erklärte Ali.

Sontheim kam ein Gedanke. »Steht da irgendwo, wie lang die Balken waren?«

»Genau das ist der springende Punkt. Vier Meter fünfzig. Wenn der Dieb die mit der Säge auf die richtige Größe zugeschnitten hat, passen die in einen kleinen Lieferwagen. Der Längsbalken von Jerats Kreuz maß knapp zwei Meter zwanzig. Der Querbalken hundertneunzig Zentimeter.«

»Scheiße, du könntest recht haben. Wie viele Balken wurden geklaut, sagtest du?«

»Fünf.«

Sontheim stockte der Atem. »Fuck. Wenn du recht haben solltest …«

»… sind möglicherweise vier weitere Kreuzigungen geplant«, beendete Ali den Satz.

»Sofern sich der Typ nicht noch woanders Holz beschafft hat oder beschaffen wird. Im schlimmsten Fall gilt jetzt also, das Leben von vier Menschen zu retten«, brachte es Sontheim auf den Punkt.

»Angesichts der wenigen Hinweise kommt das allerdings einer Herkulesaufgabe gleich«, meinte Ali und sie verabschiedeten sich.

Sein Freund hatte recht, aber es lag nun an ihnen, die Ausgangslage zu verbessern. Hastig wählte er Brenners Nummer. Weder wurde das Gespräch entgegengenommen noch auf die Mailbox weitergeleitet. »Na prima«, murmelte Sontheim und drehte die Musik lauter.

Kapitel 6

 

Unmittelbar nach dem Gespräch mit dem Pastor hatte sich Sontheim auf den Weg zum Walter-Pauli-Ring gemacht. Er wollte unbedingt mit Brenner über Alis Erkenntnisse zur möglichen Herkunft des Holzes für das Kreuz reden, und sein ehemaliger Partner hatte immer noch nicht zurückgerufen. Bei der Gelegenheit wollte er ihm auch von seinem Besuch bei Rainer Nothberg berichten, und das lieber in einem Vier-Augen-Gespräch als am Telefon. Während der Fahrt überdachte er das weitere Vorgehen im Fall Olaf Berger. Wollte er dem Geheimnis über die Hintergründe zu dem Segelunfall des Geschäftsmannes auf die Spur kommen, würde er nach Holland reisen müssen, an den Ort des Geschehens. Er musste sich eingestehen, dass er das schon früher hätte tun sollen. Lediglich im direkten Umfeld des Mannes in Köln zu graben, würde ihn höchstwahrscheinlich nicht ans Ziel bringen. Er musste die Spur vor Ort aufnehmen und den Fluchtweg nachvollziehen, den Berger vermutlich genommen hatte, um in sein mutmaßliches Versteck zu gelangen. Eigentlich passte ihm das zeitlich überhaupt nicht in den Kram, da er Brenners Wunsch nachkommen wollte, ihm bei der Suche von Jerats Mörder zu helfen. Aber Berger war nun mal sein anderer Fall, der zudem auch noch gut bezahlt wurde.