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Seit einigen Jahren ist ein regelrechter Boom dekolonialistischer Ansätze zu verzeichnen: In den theoretischen Debatten der Kultur- und Sozialwissenschaften werden die alten Fragen sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte und ihrer Effekte neu verhandelt. In den politischen Aktivismen ist der Ruf »decolonize!« nicht mehr zu überhören. Aber was ist dekolonialistische Theorie? Was sind ihre zentralen Begrifflichkeiten und Problemstellungen? Worin unterscheidet sich dekolonialistische von postkolonialistischer Theorie? Die Struktur der globalen Machtverhältnisse ist bis heute vom Kolonialismus geprägt. Der peruanische Soziologe Aníbal Quijano nennt diese Prägung die »Kolonialität der Macht«. Sie schafft und reproduziert sozial wirksame Klassifizierungen und prädisponiert gesellschaftliche Konflikte. Um die Kolonialität offenzulegen und gegen sie anzugehen, bedarf es eines »epistemtischen Ungehorsams« (Walter Mignolo). Dekolonisierung kann in Formen des uneindeutigen »Grenzdenkens« (Gloria Anzaldúa) münden, andererseits kann aber auch der Kampf um »die Bejahung des Anderen als Anderen« (Enrique Dussel) eine Schlussfolgerung dekolonialistischer Anliegen sein. Das Buch zeichnet die wichtigsten Debatten nach und diskutiert die von ihr ausgehende wie die an ihr geübte Kritik.
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2022
Jens Kastner (*1970), PD Dr. phil. habil., ist Soziologe und Kunsthistoriker. Er arbeitet als Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Akademie der Bildenden Künste Wien und als Privatdozent an der Leuphana Universität Lüneburg. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (u.a. Jungle World, springerin, ak – analyse & kritik). Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Sozialtheorien, Kunstkritik sowie Geschichte und Theorie sozialer Bewegungen, Anarchismus und Latin American Studies. Seit 2005 ist er koordinierender Redakteur von Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien).
Jens Kastner
Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika
Einführung und Kritik
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Jens Kastner:
Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika
1. Auflage, Januar 2022
eBook UNRAST Verlag, September 2022
ISBN 978-3-95405-130-4
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Mit freundlicher Unterstützung der
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung
sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
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Umschlag: cuore.berlin
Satz: Andreas Hollender, Köln
Vorwort
Einleitung
1. Klasse und KlassifizierungZur Entstehung der dekolonialistischen Theorie aus den Debatten innerhalb des Marxismus
Probleme einer ÜbersetzungExkurs zum pueblo
2. Der dekolonialistische Diskurs der Moderne
3. Eurozentrismus und epistemischer Bruch
4. »Wir sind keine Töchter der Aufklärung«Kolonialismus, Geschlecht und die Rolle des Feminismus in der dekolonialistischen Theorie
5. Konsequenzen dekolonialistischer Analyse: Delinking, Bejahung des Anderen, Border thinking
»Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf«Exkurs zum Zapatismus
6. Die umstrittene Praxis
Literatur
Anmerkungen
»So go ahead and label me an asshole ’cause I can / accept responsibility for what I’ve done / but not for who I am / Don’t call me white, don’t call me white /Don’t call me white, don’t call me white«
NOFX, »Don’t call me white« (punk in drublic, 1994).
Die Debatten um das Fortwirken kolonialer Strukturen und Denkweisen scheint mittlerweile allgegenwärtig. Aktivist*innen haben das Thema der Dekolonisierung, das in den ehemaligen Kolonien selbstverständlich ohnehin seit Langem präsent ist, nicht nur in den USA, sondern auch in Westeuropa in die städtische Öffentlichkeit und ins Feuilleton gebracht. Straßennamen und Denkmäler, Museumsbauten und Kunstsammlungen, aber auch die tödliche Flüchtlingspolitik der Europäischen Union werden zum Anlass genommen, um über Kontinuitäten kolonialistischer Politiken zu diskutieren. Allein der akademische Diskurs hinkt in seiner strukturellen Behäbigkeit den aktuellen Diskussionen hinterher. Zwar sind postkoloniale Studien auch im deutschsprachigen Raum mittlerweile seit rund zwanzig Jahren (mehr oder weniger) etabliert. Dekolonialistische Theorien aus Lateinamerika aber werden kaum bis gar nicht gelehrt und besprochen. Das liegt einerseits an der relativen Abgeschlossenheit akademischer Diskurse, ist andererseits aber sicherlich auch ganz einfach auf mangelnde Sprachkenntnisse und fehlende Übersetzungen zurückzuführen. Dieses Buch soll als Übersetzungsleistung verstanden werden und zu weiteren anregen.
Mit ein paar Worten sei auf die sich aufdrängende Frage eingegangen, warum ich als weißer, europäischer Mann dieses Buch über Theorie und wissenschaftliche wie politische Praktiken aus Lateinamerika schreibe. Es handelt sich dabei nicht um eine simple Frage nach persönlichen Präferenzen hinsichtlich des Gegenstandsbereiches, mit dem man sich nun einmal beschäftigt – hier ließe sich mein Interesse an sozialen Kämpfen in Lateinamerika anführen, das spätestens vom Zapatistischen Aufstand 1994 ausgelöst worden war. Es geht hier vielmehr um eine Frage der Legitimität. Und die ist nicht leicht zu beantworten. Der eingangs zitierte NOFX-Song bringt die Krux dieser Legitimationsfrage schön auf den Punkt: Auch wenn die Liedzeile insofern als Leitlinie dienen kann, als dass man für die eigenen Taten Verantwortung übernehmen kann und es zugleich politisch wenig zielführend ist, jemanden für das eigene Sein verantwortlich zu machen, so macht es sich das Lied doch zu einfach, weil jedes Tun auf einem Sein, also auf sozioökonomischen, kulturellen Existenzweisen beruht, die es durchaus zu hinterfragen gilt.
Es mag manchen wie eine paradoxe Situation erscheinen: Auf der einen Seite fordern marginalisierte Gruppen und soziale Bewegungen Jahrzehnte lang die Anerkennung ihrer Lebensweisen, das Hören ihrer Forderungen und die Inklusion ihrer Anliegen in den hegemonialen Diskurs. Greifen dann andere als die Betroffenen selbst diese Perspektiven auf, steht der Vorwurf schnell im Raum, sich das Wissen der Anderen anzueignen und damit das eigene symbolische Kapital aufzustocken, whitesplaining zu betreiben und auf Kosten jener, denen man vorgeblich zu Gehör verhilft, sein Auskommen zu erwirtschaften.
Gemeinsam mit einigen Kommiliton*innen und Genoss*innen diskutierte ich in den mittleren 1990er-Jahren in Münster im Rahmen einer selbstorganisierten Studiengruppe die von Klaus Viehmann und anderen herausgegebenen Texte zum Verhältnis von Klassenwiderspruch, Geschlechterverhältnissen und Rassismus (ein Vorläuferbuch der im deutschsprachigen Raum erst später akademisierten Intersektionalitätsforschung). In dem Text »Drei zu Eins« werden einige Debatten um die Frage der Wechselverhältnisse zwischen den drei Unterdrückungsdynamiken zusammengefasst und diskutiert. Darin heißt es am Ende unter anderem: »Ständig problematisiert wurde und wird [in den Debatten, J.K.], inwieweit Männer bzw. Weiße fähig und berechtigt sind, Themen mitzudiskutieren, die Frauen bzw. Schwarze in erster Linie betreffen«[1]. Diese vor mehr als dreißig Jahren aufgeworfene Frage wird hier weder mit Ja noch mit Nein beantwortet. Sie ist nicht einfach und schon gar nicht endgültig zu beantworten. Die Diskussion über die Legitimität von Wortergreifungen sollte zumindest dann nicht aufhören, wenn man einerseits daran festhält, dass politische Aktion und wissenschaftliches Tun nicht an essenzialistisch verstandene Identitätskonzepte gebunden sein sollten, und wenn man zugleich andererseits sich nicht hinter einem wissenschaftlichen Neutralitätsgebot versteckt, das die sozioökonomischen und geografisch-kulturellen Grundlagen jedes Sprechens und Schreibens ausblendet. Das vermeintliche Paradox ist also keines. Es geht vielmehr um notwendige Debatten um strukturelle Bedingungen, von denen aus wissenschaftliches (und alles andere) Tun möglich wird, und damit auch um Machtverhältnisse.
In ihrem aktuellen Buch Dekolonialer Feminismus schreibt die französische Philosophin und Aktivistin Françoise Vergès auch als Entgegnung auf paternalistische Hilfsangebote von weißen Feministinnen (und Weißen überhaupt): »Die Arbeit der Wiederentdeckung und der Wertschätzung von Wissensformen, Philosophien, Literaturen, Vorstellungswelten hat nicht mit uns begonnen. Aber eine unserer Aufgaben liegt in dem Bemühen, sie kennenzulernen und bekannt zu machen«[2]. Angesichts der Absenz politischer und sozialwissenschaftlicher Theorie aus Lateinamerika im Mainstream des deutschsprachigen Diskurses sei mir dies ein legitimierender Aufruf – auch wenn das »Wir« in diesem Zitat sich zunächst auf dekolonialistische Feministinnen bezieht. Die Auseinandersetzung mit Kolonialität und Kolonialismus denjenigen zu überlassen, die deren Opfer waren und sind, würde letztlich bedeuten, das Privileg, sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, zu einer Tugend zu machen.
Neben diesen inhaltlichen gilt es noch, zwei formale Anmerkungen vorwegzuschicken: Ich habe sämtliche Zitate aus spanischsprachigen Texten ins Deutsche übertragen, englischsprachige Texte habe ich im Original zitiert. Das folgt rein pragmatischen Überlegungen der Lesbarkeit und soll keine Wertung darstellen. Namen der zitierten Autor*innen habe ich nicht angeglichen, d.h. es tauchen in meinem Text sowohl Catherine Walsh und Walter Mignolo als auch Catherine E. Walsh und Walter D. Mignolo auf, je nachdem, wie sie sich in ihren jeweiligen Texten selbst genannt haben.
Dieses Buch basiert auf zwei am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften (IKW) der Akademie der bildenden Künste Wien durchgeführten Seminaren – »Andere Positionierungen?! Kulturtheorie und Kritik aus Lateinamerika« (Wintersemester 2013/14) und »Kolonialität, Klassifizierung, Konflikt. Konzepte und Politiken dekolonialistischer Kultur- und Sozialtheorien« (Wintersemester 2018/19) sowie auf einem am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien gegebenen Seminar gleichen Titels (Wintersemester 2018/19) und einer an der Akademie gehaltenen Vorlesung zum Thema (Sommersemester 2021). Ich danke allen Studierenden für die Diskussionen, die mit Sicherheit in dieses Buch eingeflossen sind. Außerdem möchte ich einmal explizit meinen Kolleginnen und Kollegen am IKW danken: Auch wenn wir nicht ständig im Austausch über alle inhaltlichen Fragen stehen, so ist doch die überaus angenehme Atmosphäre, die wir uns im Laufe der gemeinsamen Jahre geschaffen haben, eine der Grundlagen, auf denen ein Buch wie dieses entstehen konnte! Danke Anette Baldauf, Sabeth Buchmann, Diedrich Diederichsen, Doris Guth, Moira Hille, Jakob Krameritsch, Christian Kravagna, Elisabeth Priedl, Dunja Reithner, Elisabeth von Samsonow, Ruth Sonderegger, Andreas Spiegl, Felicitas Thun-Hohenstein und Ingeburg Wurzer! Dem Rektorat der Akademie der bildenden Künste Wien danke ich für den finanziellen Beitrag zu diesem Buchprojekt.
Für Hinweise auf Texte und inhaltliche Anmerkungen danke ich außerdem Dario Azzellini, Hannah Katalin Grimmer, Georg Grünberg, Max Jorge Hinderer Cruz, David Mayer und Karina Ochoa Muñoz. Mein größter Dank gilt wie immer Lea Susemichel und unseren Kindern Dario und Eda!
Seit einigen Jahren ist ein regelrechter Boom dekolonialistischer Theorie zu verzeichnen: In den theoretischen Debatten der Kultur- und Sozialwissenschaften werden die alten Fragen sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte und ihrer Effekte neu verhandelt.[3] In den politischen Aktivismen ist der Ruf »decolonize!« nicht mehr zu überhören, er bezieht sich auf Gegenstandsbereiche wie ›die Stadt‹, auf Ereignisse wie die ›Revolten von 1968‹ oder auch auf akademische Disziplinen wie die Soziologie. Aber was ist dekolonialistische Theorie? Was sind ihre zentralen Begrifflichkeiten und Problemstellungen? Wo liegen ihre Ursprünge, was macht ihre Genese aus? Worin unterscheidet sich dekolonialistische von postkolonialistischer Theorie? Was bedeutet Dekolonisierung, wenn damit nicht nur das Ende des militärisch-politischen Kolonialismus gemeint ist? Diese Fragen werden im Folgenden diskutiert und zum Teil sicherlich auch beantwortet.
Das Denken gegen den Kolonialismus ist selbstverständlich so alt wie dieser selbst. Denn bereits mit der militärischen Eroberung jener Weltgegenden, die seitdem als Amerika bekannt sind, haben Menschen nicht nur Widerstand geleistet. Von Beginn an fanden systematische Überlegungen dazu statt, wie das gewaltsame Aufeinandertreffen der verschiedenen Gruppen von Menschen zu interpretieren ist und welche langfristigen Effekte es hat. Auseinandersetzungen über die Bedingungen von Unterwerfung und Gegenwehr, von Ausbeutung und Auslöschung, aber auch von Kooptation und Integration finden seit Jahrhunderten auf verschiedenen Ebenen statt.
Die Bezeichnung dekolonialistische Theorie hingegen ist noch relativ jung. Dekolonialistische Theorie ist damit ein zugleich neues und sehr altes Phänomen. Die dekolonialistische Kritik der Moderne wurde in den 1990er-Jahren durchaus noch im Zusammenhang mit postmoderner Kritik geäußert, ein Sammelband mit dem Titel The Postmodern Debate in Latin America vereint Autor*innen aus den späteren Reihen der dekolonialistischen Theorie wie Enrique Dussel und Aníbal Quijano ohne Weiteres mit tonangebenden Theoretiker*innen aus den Estudios Culturales wie etwa Nelly Richard.[4] Von der im Kontext der Postmoderne bzw. poststrukturalistischer Theorie geäußerten Kritik wird allerdings später die Abgrenzung gesucht. Ähnliches gilt für die Kritik unter dem Banner des Postkolonialismus. Noch 2008 erschien ein großer Sammelband mit Beiträgen vieler Stichwortgeber*innen und zentraler Akteur*innen der heutigen dekolonialistischen Theorie aus Lateinamerika unter dem Titel Coloniality at Large. Latin America and the Postcolonial Debate.[5] Hier war noch die ›postkoloniale Debatte‹ das gemeinsame Feld, das bearbeitet wurde, von dekolonialer Debatte ist noch keine Rede. Wenig später allerdings wurde die Abgrenzung zur postkolonialistischen Theorie gesucht und der »Bruch mit Postmoderne und Postkolonialität«[6] verkündet. (Ich komme darauf zurück)
Während das akademische Label ›Decolonial Theory‹ also kaum mehr als zehn Jahre alt ist, sind die Inhalte, die dabei disziplinenübergreifend verhandelt werden, häufig beinahe so alt wie der Kolonialismus selbst. Die heutige dekolonialistische Theorie hat daher einen sehr langen Vorlauf und verschiedene Quellen und Bezugspunkte. Welche das sind, ist umstritten und Teil der theoretischen Debatten. Unter dem Label werden im Wesentlichen Texte und Autor*innen aus Lateinamerika zusammengefasst, ungeachtet der Tatsache, dass es selbstverständlich auch Theorieansätze aus Afrika und Asien gibt, die zweifelsohne als dekolonialistisch bezeichnet werden könnten oder tatsächlich so bezeichnet werden. Ein zum Kanon der postkolonialistischen Theorie zählendes Buch wie das des kenianischen Schriftstellers und Kulturtheoretikers Ngũgĩ wa Thiong’o etwa trägt mit Dekolonisierung des Denkens[7] einen Titel, der heute eine zentrale Forderung der lateinamerikanischen dekolonialistischen Ansätze ist. Wie die postkolonialistische Theorie fußen auch die dekolonialistischen Ansätze auf den Praktiken der antikolonialistischen Bewegungen, sodass es sowohl in den Gegenstandsbereichen und Methoden als auch in den politischen Ansprüchen viele Überschneidungen gibt.
Neben der Schwierigkeit – und zuweilen auch Überflüssigkeit –, eindeutige Genealogien herzustellen und deutliche Abgrenzungen vorzunehmen, ist zudem sicherlich infrage zu stellen, ob es sich überhaupt um eine Theorie im engeren Sinne, also um ein geschlossenes und relativ konsistentes Netz aus wissenschaftlichen Gegenstandsbereichen, Methoden und Untersuchungsergebnissen handelt oder nicht vielmehr um eine relative Bandbreite theoretischer Ansätze aus den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften.
Wie alle Anfänge von sich herausbildenden Forschungsrichtungen waren auch die Anfänge der dekolonialistischen Theorie durch Abgrenzungskämpfe von bestehenden Ansätzen gekennzeichnet – Kämpfe, die selbstverständlich nie aufhören, die aber ihre Konjunkturen haben. Die produktivsten Abgrenzungen sind dabei sicherlich diejenigen, die zugleich eine positive Bezugnahme voraussetzen, also einige Grundannahmen teilen, dann aber Erweiterungen, Ausdifferenzierungen und Fokusverschiebungen einklagen. Solche Abgrenzungen hat die dekolonialistische Theorie mindestens von den folgenden – in sich selbstverständlich ebenfalls sehr vielfältigen – Ansätzen vorgenommen, auf die sie sich auch positiv bezieht:
von den Debatten innerhalb des Marxismus – in Theorie, Bewegungen und Parteien – und des Anarchismus im 20. Jahrhundert. In diesen Debatten wurde schon früh – und immer wieder – die besondere Situation der lateinamerikanischen Länder in Bezug auf Sozialstruktur, Ungleichheit, kulturelle Kodierung und Rassismus im Unterschied zu Europa diskutiert, auch um daraus Schlüsse für die Frage gesellschaftlicher Transformation zu ziehen. Als Erster wies wahrscheinlich der peruanische Marxist und Gründer der sozialistischen Partei Perus, José Carlos Mariátegui (1894–1930), bereits in den 1920er-Jahren darauf hin, dass die Effekte kultureller Kodierung – Menschen als ethnisiert/rassialisiert zu betrachten – für die soziale Ungleichheit und damit auch für die (marxistische) Sozialtheorie eine entscheidende Bedeutung hat bzw. haben sollte. »Der Indio«, schrieb Mariátegui 1929 in »Das Problem der Rassen in Lateinamerika«, »ist in 90 % der Fälle nicht Proletarier, sondern Leibeigener.«
[8]
Dieser zunächst banal erscheinende Satz und die ihm zugrunde liegende Wirklichkeit hatten enorme Konsequenzen für die politische wie auch theoretische Auseinandersetzung der Linken in Lateinamerika. Im Anarchismus ist bereits von der Pariser Kommunardin Louise Michel (1830–1905), wie der Lateinamerikanist Alfredo Gómez Muller herausgestellt hat, ein »ethischer antikolonialer Anspruch«
[9]
in die europäische Arbeiter*innenbewegung getragen worden, der sich bis in die Praxiskonzepte der dekolonialistischen Theorie zieht. Auch Louise Michel hatte ihre Erfahrungen mit den ethnisch ›anders‹ Klassifizierten, den Einwohner*innen von Neu-Kaledonien, wohin sie nach ihrer Beteiligung an der Pariser Kommune verbannt worden war, zum Ausgangspunkt für diese Forderung nach ethischer Gleichheit gemacht.
von einer akademischen Anthropologie, die die indigenen Bevölkerungsgruppen im Wesentlichen als Objekte und nicht als Subjekte ihrer eigenen Geschichte wahrnahm und die aufs Engste verknüpft war mit den hegemonialen Politiken der Nationalstaatsbildung in Lateinamerika, die auf Assimilation statt Anerkennung indigener Lebenswelten ausgerichtet waren. In Abgrenzung vom staatlichen Indigenismo
[10]
wie auch vom Mainstream der Ethnologie/Anthropologie formulierte 1971 eine Gruppe von Anthropolog*innen die »Deklaration von Barbados«, in der die (Selbst-)Befreiung der indigen Bevölkerungsgruppen gefordert wurde. Der Begriff der Dekolonisierung taucht im Titel eines Buches auf, das diese Gruppe im Anschluss an das zweite gemeinsame Symposium 1977 herausgegeben hatte:
Indianidad y Descolonización en América Latina. Documentos de la segunda reunión de Barbados
(1979)
[11]
. Befreiung und Dekolonisierung wurden auch von Indigenen selbst als zusammenhängende Prozesse beschrieben, so etwa im Kontext des ersten Kongresses der Indigenen Bewegungen Südamerikas 1974.
[12]
Diese Abgrenzung von paternalistischen, assimilatorischen Modellen im Hinblick auf die indigenen Bevölkerungsgruppen und deren Konzeptualisierungen spiegelt sich nicht zuletzt bis heute in der starken Bezugnahme dekolonialistischer Ansätze auf die indigen geprägte Bewegung der Zapatistas in Chiapas/Mexiko – ein Aufgreifen, dem daher in diesem Buch auch ein eigener Exkurs gewidmet ist.
von der Philosophie der Befreiung, die vor allem von Enrique Dussel (*1934) in Auseinandersetzung mit der westlichen Subjektphilosophie und der Theologie der Befreiung begründet wurde. Während die religiösen und theologischen Implikationen Dussels u.a. für die dekolonialistische Theorie kaum mehr eine Rolle spielen, sind doch zwei Grundannahmen als zentrale Charakteristika in die dekolonialistische Theorie eingegangen: erstens die These bzw. die Einsicht, dass die Vorstellung eines handelnden Subjekts ein Produkt der westlichen Aufklärung ist, das auf radikalen Ausgrenzungen (der als die ›Anderen‹ kategorisierten Menschen) beruht: »The conquistador«, schreibt Dussel in
The Invention of the Americas
, »was the first modern, active, practical human being to impose his violent individuality on the Other«
[13]
. Der zweite Aspekt des Ansatzes von Dussel, der zum Bestandteil der dekolonialistischen Theorie wurde, ist die daran anschließende praxistheoretische Perspektive: So wie die Moderne und Lateinamerika
er
funden (nicht
ge
funden), also durch Praxis erzeugt wurden, ist auch Veränderung durch Praktiken möglich. Befreiung kann sich demnach nie bloß im Denken vollziehen – wenn auch die Epistemologie einen zentralen Stellenwert einnimmt, dazu später mehr –, sie braucht auch eine (außerwissenschaftliche) Praxis, ja Dussel geht davon aus, dass jede Theorie »eine Praxis
voraussetzt
«
[14]
.
von der postkolonialistischen Theorie, die sich in Bezug auf den Kolonialismus ebenfalls, wie Stuart Hall resümiert, mit »der gleichzeitigen Gegenwart
eines Regimes und seiner Nachwirkungen
«
[15]
beschäftigt. Die postkolonialistische Theorie hat zwar – wie die dekolonialistische Theorie – die Folgen und Effekte des Kolonialismus zum Gegenstand, fokussiert aber vor allem den britischen und den französischen Kolonialismus ab dem 19. Jahrhundert. Die dekolonialistische Theorie nimmt hier eine geografische und damit auch eine historische Verschiebung auf Lateinamerika und den Zeitraum ab 1492 vor. Diese geografische und historische Schwerpunktverlagerung ist meines Erachtens auch der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Strömungen. Es gibt demgegenüber aber Versuche, die dekolonialistische Theorie von ihren postkolonialistischen Vorläufer*innen abzusetzen, die im Wesentlichen mit zwei Argumenten unternommen werden: Zum einen wird behauptet, die postkolonialistische Theorie stelle den Kolonialismus als »überwunden«
[16]
dar, was nicht nur mit dem gerade zitierten Hall-Gedanken widerlegt ist, sondern auch logisch als wenig plausibel erscheint. Womit sollten sich postkolonialistische Studien sonst beschäftigen, wenn nicht auch mit dem Fortwirken des Kolonialismus? Zum anderen wird den Postcolonial Studies nachgesagt, sie betrieben bloß Wissenschaft und hätten keinerlei politischen Anspruch, es handle sich also, wie Walter D. Mignolo unterstellt, um ein Projekt »von der Akademie für die Akademie«
[17]
. Dieser Abgrenzungsversuch erscheint allerdings selbst als akademisches Manöver, das die eine Positionierung zwecks Selbstbehauptung gegen die andere setzt, ohne wirklich stichhaltige Gründe dafür anbringen zu können.
[18]
Die Abgrenzung ist inhaltlich nicht überzeugend, zeichnen sich doch sowohl die Texte als auch die außeruniversitären Aktivitäten der Hauptvertreter*innen postkolonialistischer Studien durch starke politische Ansprüche aus. Die politische Verortung postkolonialistischer Theorie im Antikolonialismus hat nicht zuletzt Robert J. C. Young in seiner großen Studie
Postcolonialism. An Historical Introduction
[19]
nachgezeichnet.
von den dependenztheoretischen Ansätzen, die in den 1960er- und 70er-Jahren die Abhängigkeiten Lateinamerikas von Europa und den USA vor allem auf ökonomischer und politischer Ebene untersucht haben. Hier nehmen die dekolonialistischen Theorieansätze vor allem eine epistemologische und kulturtheoretische Ergänzung bzw. Erweiterung vor. Der marxistische Interpretationsrahmen der dependentistas habe, schreibt etwa Ramón Grosfoguel, die ökonomische und politische Sphäre bevorzugt gegenüber den und auf Kosten von »cultural and ideological determinations«
[20]
. Mit Kultur ist dabei zweierlei gemeint: Zum einen beschreibt der Begriff die spezifischen Lebensweisen bestimmter Bevölkerungsgruppen, nämlich vor allem die der indigenen Gruppen. Diese seien von der Dependenztheorie nicht weniger vernachlässigt worden als von den Modernisierungstheorien, gegen die sich die dependenztheoretischen Ansätze gerichtet hatten. Armut, Ausbeutung und Abhängigkeit sei aber gerade in Lateinamerika auch an ethnische Zugehörigkeiten gebunden, die eine Analyse nicht außer Acht lassen dürfe, so die Kritik. Zum anderen ist Kultur aber noch in einem weiteren Verständnis gemeint, nämlich als allgemeine Denk-, Gefühls- und Wahrnehmungsweisen. Auch diese Ebene der Abhängigkeit sei den Dependenztheorien entgangen.
von der Weltsystemanalyse im Anschluss an Immanuel Wallerstein (1930–2019).
[21]
In vielen Texten der heutigen dekolonialistischen Theorie wird Bezug genommen auf das Werk des US-amerikanischen Soziologen und Sozialhistorikers, der selbst auch an die dependenztheoretischen Arbeiten anknüpfte. Arbeit und Arbeitsteilung ebenso wie Produktionsweisen stehen im Fokus von Wallersteins marxistisch inspirierter Geschichtsschreibung. Auch wenn er vor allem die Entwicklung der Märkte, weltwirtschaftliche Konjunkturen und die Bedeutung politischer Regulationen im Blick hat, sind diese Prozesse auch für Wallerstein schon verknüpft mit Veränderungen auf anderen Ebenen, die wir hier zunächst behelfsweise und zusammenfassend als Ebenen kultureller Ordnungen verstehen können. In Bezug auf die Dekolonisierungsprozesse in den Amerikas gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Zuge derer fast alle Kolonien in Lateinamerika zu souveränen Nationalstaaten wurden, hält er fest, dass diese Dekolonisierung »unter Ausschluß nicht nur der indigenen Bevölkerung, sondern auch der dorthin verschleppten Afrikaner […] [erfolgte] […] und somit ausschließlich in der Hand der europäischen Siedler«
[22]
lag – mit Ausnahme von Haiti, wo 1804 nach einer Revolution der erste von ehemaligen Sklav*innen gegründete, unabhängige Staat entstand. Diese Ausschlüsse zeitigen ihre Effekte bis heute. Zudem bietet der Wallerstein’sche Ansatz einen möglichen Ausweg aus dem »methodologischen Nationalismus« der klassischen Soziologie, der mittlerweile auch in deren Mainstream kritisiert wird:
[23]
Gesellschaft soll nicht mehr als eine Einheit verstanden werden, die durch den modernen Nationalstaat geografisch-juridisch begrenzt wird – und diesen damit legitimatorisch immer wieder absichert, so die Kritik –, sondern eben als Welt-System.
[24]
von den Estudios Culturales Latinoamericanos und den Latin American Subaltern Studies, die sich bereits von den britischen und US-amerikanischen Cultural Studies logischerweise in ihrem regionalen Fokus, aber auch hinsichtlich der stärkeren Inklusion sozialer Bewegungen absetzten. Der argentinisch-mexikanische Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini kritisierte etwa den »Textualismus« in den US-amerikanischen Cultural Studies, also Begriffe wie das Populäre, das Nationale, die Hybridisierung usw. vor allem als Narrationen zu interpretieren, »while the cultural and social movements to which such concepts allude are rarely studied«
[25]
. García Canclini fordert für die Estudios Culturales Latinoamericanos zudem die Untersuchung »of the condition under which knowledge and, in a separate context, critical thought«
[26]
generiert werden, ein. Die Subaltern Studies radikalisieren die Ansprüche der Estudios Culturales zum Teil, lassen sich zugleich aber sowohl inhaltlich als auch personell nicht sehr scharf von jenen abgrenzen (weshalb sie hier auch gemeinsam gelistet sind). Latin American Subaltern Studies sind in den Worten von Ilena Rodriguez in der Einleitung zum gleichnamigen Reader »postmodern and postrevolutionary attempts to understand the limits of previous hermeneutics [der bürgerlichen, liberalen, modernen Epistemologien, J.K.] by challenging culture to think of itself from the point of view of its own negations«
[27]
. Die dekolonialistischen Theorieansätze greifen sowohl die kulturtheoretische Wende in den Sozialwissenschaften auf als auch die Fokussierung auf kulturelle Praktiken, Wissensproduktion und soziale Bewegungen aus den Estudios Culturales und Subaltern Studies. Sie richten ihren Schwerpunkt dabei auf die Effekte kolonialer Herrschaft im weitesten Sinne.
von den internationalen Debatten um die Grundlagen und Strategien des Feminismus. Hier setzen dekolonialistische Feministinnen letztlich doppelt an: Zum einen reihen sie sich ein in die Kritiken an den konstitutiven Ausgrenzungen, die ein weißer, bürgerlicher, ›westlicher‹ Feminismus in Bezug auf indigene und Schwarze Frauen, afrodesciendentes und andere Frauen* produziert hat. Sie knüpfen dabei an antikolonialen, intersektionalistischen und postkolonialistischen Diskursen an, wie etwa die in Northridge/Kalifornien als Professorin für Gender Studies forschende Breny Mendoza nachzeichnet.
[28]
Zum anderen setzen dekolonialistische Feministinnen aber auch an der Ausblendung der Existenz von Frauen* ebenso wie jener von Geschlecht und Sexualität für gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse an, die auch in den anderen dekolonialistischen Ansätzen (und ihren zuvor genannten sieben Bezugsfeldern) virulent sind. Diesem Desiderat wird mit feministischen Interventionen in die Debatte begegnet, wie sie besonders von Theoretikerinnen wie María Lugones direkt im Anschluss an Quijanos Modelle vorgenommen wurden. Zugleich wird aber auch auf geschlechterpolitische, gendertheoretische und feministische Positionen Bezug genommen, die bereits lange vor der im engeren Sinne dekolonialistischen Debatte existierten, wie etwa die Arbeiten der bolivianischen Soziologin und Aktivistin Silvia Rivera Cusicanqui (* 1949), die sich selbst zwar nicht der dekolonialistischen Theorie zurechnet, aber doch eine ihrer wichtigsten Stichwortgeberinnen ist. Auch andere feministische Arbeiten, die parallel bzw. zeitgleich zu den explizit dekolonialistischen Ansätzen ähnliche Fragestellungen behandeln, dienen als Bezugspunkt, wie etwa jene von Rita Laura Segato (* 1949), die für den von ihr diagnostizierten Krieg gegen die Frauen auch ein »kolonial-modernes kollektives Imaginäres«
[29]
mitverantwortlich macht. Vor dem Hintergrund solcher feministischen Beiträge und auch der Vielfalt ihrer konkreten Formen kann durchaus von einem achten Bezugs- und Schwerpunkt für die dekolonialistischen Ansätze gesprochen werden. Daher wird der dekolonialistischen Geschlechtertheorie auch ein eigenes Kapitel in diesem Buch gewidmet.
Diese genealogischen Herleitungen mit ihren acht Schwerpunkten sind eine Setzung, deren Plausibilität sich im Folgenden erweisen wird. Aber sie ist sicherlich nicht unumstritten.[30] Als sich Ende der 1990er-Jahre die Gruppe modernity/coloniality als transnationales Forschungsnetzwerk[31] zusammenfand – mehr dazu in Kapitel 2 –, griff es auf die genannten Strömungen zurück, nahm aber bereits deutliche Abgrenzungen vor, vor allem zu den Postcolonial Studies. Mittlerweile wird auch dieses Forschungsnetzwerk, dessen Vertreter*innen häufig an US-amerikanischen Universitäten arbeiten, selbst als Form eines »akademischen Kolonialismus«[32] kritisiert, das die Wissensproduktion der Subalternen, aber auch die Geschichte der antikolonialen Kämpfe in Lateinamerika ausblende. Wenn hier also von dekolonialistischer Theorie die Rede ist, geht es nicht allein um die Arbeiten der Mitglieder des besagten Forschungsnetzwerks, sondern auch um die Kritik, die an ihnen formuliert wurde. Es geht also letztlich um ein ganzes Feld von theoretischen wie auch praktischen Interventionen in die Auseinandersetzung um die Folgewirkungen des Kolonialismus und die Frage, was gegen sie zu unternehmen ist. Die Arbeit der modernity/coloniality-Gruppe ist mittlerweile durch viele, auch nicht rein akademische Arbeiten und Untersuchungen ebenso wie durch weitere Forschungsnetzwerke ergänzt und erweitert worden, für die etwa die in Caracas situierte »Escuela Internacional de Formación Ecosocialista y Pensamiento Crítico Descolonial Nuestramericano« (»Internationale Schule für ökosozialistische Ausbildung und (unser-)lateinamerikanisch kritisch-dekolonialistisches Denken«) nur ein Beispiel ist.[33]
All die Ansätze, die hier und im Folgenden also zugleich verkürzend und verallgemeinernd als dekolonialistische Theorie bezeichnet werden, teilen zwei wesentliche Anliegen: Erstens sind sie angetreten, die Folgen und Effekte des Kolonialismus zu beschreiben und zu verstehen. Auf den Begriff gebracht, werden diese Folgen und Effekte nach dem Ende der militärisch-politischen Besatzung »Kolonialität«[34] genannt – ein Begriff, den der peruanische Soziologe Aníbal Quijano (1928–2018) geprägt hat. Die Kolonialität ist das Weiterwirken kolonialer Denk- und Wahrnehmungsweisen auch nach dem Ende politisch-militärischer Kolonialherrschaft. Sie schafft und reproduziert sozial wirksame Klassifizierungen und prädisponiert gesellschaftliche Konflikte. Kolonialität, so die grundlegende These, prägt nicht nur die Denk- und Wahrnehmungsweisen der Menschen in den ehemals kolonisierten Ländern, sondern sie erweist sich auch als das Fundament für die globale Arbeitsteilung bis in die Gegenwart hinein. Insofern sie das Augenmerk auf die koloniale Grundlage aller modernen Gesellschaften legt, füllt die dekolonialistische Theorie auch eine Lücke, die für den sozialwissenschaftlichen Mainstream bis heute konstitutiv ist. Denn die Diskussion über die Beschaffenheit der Moderne und ihre Effekte, die im (deutschsprachigen) sozialwissenschaftlichen Mainstream geführt wird, kommt nach wie vor ohne nennenswerte Hinweise auf die Rolle des Kolonialismus aus – das gilt für die Entwürfe von Jürgen Habermas[35] und Armin Nassehi[36] ebenso wie für die neueren Ansätze von Hartmut Rosa[37] und Andreas Reckwitz[38]. Die sozial- und kulturtheoretische Bedeutung der dekolonialistischen Theorie wird vielleicht erst deutlich, wenn sie mit diesen gesellschaftstheoretischen Ansätzen in Beziehung gesetzt wird.
Zweitens haben sich die dekolonialistischen Ansätze konstituiert, um die von ihnen beschriebenen Effekte des Kolonialismus zu lindern oder gar abzuschaffen, sie wollen also selbst dekolonisierend wirken. Damit wird einerseits eines der fundamentalen Anliegen aller kritischen Theorie reaktiviert: mittels der eigenen Tätigkeit in den behandelten Gegenstandsbereich auch eingreifen zu wollen. Dieser Anspruch, die beschriebenen Gesellschaften mittels und/oder durch die Beschreibung auch zu verändern oder Veränderungen dadurch anzustoßen, teilen die dekolonialistischen Ansätze mit der Kritischen Theorie, dem linken Poststrukturalismus, der Kultur- und Sozialtheorie Pierre Bourdieus und anderen.
Andererseits wird dieses Anliegen aber auch historisch und geografisch verortet: Die konkreten Ausgangspunkte von Theoriebildung und Wissensproduktion werden nicht nur benannt, sondern auch als entscheidend für die inhaltliche Ausrichtung angesehen. Damit verbunden ist der Anspruch, andere als vom ›Westen‹ – zur Problematik eines solch vereinheitlichenden Konzepts später – entwickelte Grundlagen des Denkens und der Erkenntnis zu entwickeln. Es bedarf demnach, um die Kolonialität offenzulegen und gegen sie anzugehen, nicht nur eines »epistemischen Ungehorsams« (Walter D. Mignolo), sondern auch einer »Epistemologie des Südens« (Boaventura de Sousa Santos), die sich gegen ein eurozentrisches Verständnis von Wissen und Wissensproduktion richtet.
Diese interventionistische Haltung äußert sich, so eine der hier vertretenen Thesen, in drei wesentlichen Strategien: Die Dekolonisierung kann erstens als Praxis des delinking (Entkoppelung) verstanden werden – ein Begriff, den unter anderem Walter D. Mignolo vom ägyptisch-französischen Politökonomen Samir Amin (1931–2018) aufgegriffen hat. Damit soll eine Abkehr von ›westlichem‹ Denken vollzogen und eine Hinwendung zu pluriversalen Konzepten erreicht werden. Zweitens kann Dekolonisierung in Formen des uneindeutigen »Grenzdenkens« (Gloria Anzaldúa) münden, das die Klassifizierung als zentrales Problem ansieht und daher starre bzw. essenzialistische identitäre Zuschreibungen zu unterlaufen versucht. Drittens kann aber auch der Kampf um die Aufwertung und Anerkennung des bisher Unterdrückten und Ausgeschlossenen die Agenda der Dekolonisierung bestimmen – von Enrique Dussel in die Formel der »Bejahung des Anderen als anderer«[39] gebracht – und eine Schlussfolgerung dekolonialistischer Anliegen sein.
Dekolonialistische Theorie wird hier als transnationalistische, transdisziplinäre und transversale Wissensproduktion verstanden. Transnationalistisch ist sie, weil sie Kolonialismen und ihre Effekte als transnationales Phänomen begreift und in ihren Studien bemüht ist, den vielfach kritisierten methodologischen Nationalismus der Sozialwissenschaften, der Gesellschaft als nationale Einheit denkt, zu vermeiden. Es ergäbe demnach wenig Sinn, von ›bolivianischer‹ oder ›mexikanischer‹ dekolonialistischer Theorie zu reden, auch wenn Forscher*innen in diesen Ländern leben und Fallstudien durchaus konkrete, regionale Gegenstandsbereiche haben. Transdisziplinär ist die dekolonialistische Theorie insofern, als sie neben soziologischen, philosophischen und theologischen auch politik- und literaturwissenschaftliche Ausgangs- und Schwerpunkte hat. Diese überlagern und überkreuzen sich häufig. Als transversal lässt sich die dekolonialistische Theorie insofern beschreiben, als sie nicht nur disziplinenübergreifend agiert, sondern auch jenseits wissenschaftlicher und akademischer Theorie und Forschung agiert, also quer dazu liegt und Akteur*innen aus den sozialen Bewegungen ebenso einbezieht wie alltägliche Praktiken, und zwar nicht nur als Gegenstand, sondern als eigenständige Wissensproduzent*innen.
Um ein Panorama dessen zu entwerfen, was dekolonialistische Theorie derzeit auszeichnet, habe ich mich für eine Herangehensweise entschieden, die sich nicht im engeren Sinne an Personen und ihren Positionierungen ausrichtet, sondern die sich entlang von inhaltlichen Fragestellungen entwickelt. Damit soll zugleich ein systematischer wie auch ein undogmatischer Zugang gewährleistet sein. Undogmatisch ist dieser Zugang in dem Sinne, als dass bestehenden Zuordnungen – wer gehört dazu, wer nicht – nicht unbedingt gefolgt wird (so teile ich etwa nicht das anti-marxistische Dogma Mignolos und auch nicht die dogmatische Abgrenzung gegenüber der postkolonialistischen Theorie vieler anderer). In der Diskussion der zentralen Fragen sollen jeweils auch die Abgrenzungen und Anwendungen der oben genannten acht Vorläufer*innen herausgearbeitet werden.
Die Fragen sind die Folgenden:
Kapitel 1. Klasse und Klassifizierung. Zur Entstehung der dekolonialistischen Theorie aus den Debatten innerhalb des Marxismus: Inwiefern entwickelt sich die dekolonialistische Theorie aus den marxistischen Debatten heraus? Welches waren die entscheidenden Konzepte und Begriffe, aus denen heraus ein dekolonialistischer Standpunkt sich entwickelte? Wie wurde das Konzept der Klasse erweitert (begrifflich in Richtung Klassifikation, konzeptuell um race und gender)? An welchen marxistischen Traditionslinien wurde angeknüpft, welche Rolle spielen etwa die dependenztheoretischen Debatten, welche die Kritische Theorie?
Probleme einer Übersetzung. Exkurs zum pueblo: Ständige Referenz in den Diskursen der lateinamerikanischen Linken wie auch der dekolonialistischen Theorie ist el pueblo – das Volk. Aber welche Konnotation des Wortes führt zu dieser Bezugnahme und wie unterscheidet sich das pueblo im Spanischen vom Volk im Deutschen? Sind die Probleme mit dem Hinweis auf die unterschiedliche Verwendungsweise des Begriffes aus der Welt geschafft?
Kapitel 2. Der dekolonialistische Diskurs der Moderne: Wenn es als eine der wesentlichen Errungenschaften der dekolonialistischen Theorie betrachtet werden kann, die Kolonialität als Schattenseite der Moderne benannt zu haben, welche Moderne ist dann eigentlich gemeint? Wie greifen Moderne als zeitdiagnostische Signatur von technologischem, politischem, sozialem und kulturellem Fortschritt und Moderne als philosophischer Diskurs von Aufklärung, Emanzipation, Subjektivierung usw. ineinander? Wohin führt die dekolonialistische Kritik?
Kapitel 3. Eurozentrismus und epistemische Brüche: Einer der zentralen Einsätze der dekolonialistischen Ansätze ist die Verschiebung von Fragen ökonomischer Abhängigkeit hin zu Fragen epistemischer Hegemonie oder »epistemischer Gewalt« (Spivak). Warum ist der Fokus auf Epistemologie so wichtig und wieso nimmt er in der Auseinandersetzung mit der Kolonialität einen zentralen Stellenwert ein? Ist die »epistemische Gewalt«, die die postkolonialistische Theorie ausgemacht hatte, eine andere als die, gegen die Mignolo den »epistemischen Ungehorsam« proben will? Wenn mit der epistemischen Gewalt gebrochen werden kann und soll, wie sehen diese Brüche aus und wer führt sie durch, wer sind also ihre Träger*innen? Soziale Bewegungen oder indigene Bevölkerungsgruppen oder andere? Ist eine dekolonialistische Theorie nicht ein Widerspruch in sich, weil Theorie immer ›westliches Denken‹ ist? Was bedeutet »Epistemologie des Südens« (de Sousa Santos)?
Kapitel 4. »Wir sind keine Töchter der Aufklärung«. Kolonialismus, Geschlecht und die Rolle des Feminismus in der dekolonialistischen Theorie: Wie konzeptualisiert die dekolonialistische Theorie die Geschlechterverhältnisse? Welche Anleihen an den und welche Abgrenzungen zum ›westlichen‹ Feminismus gibt es, der auch von (nicht im Kontext dekolonialistischer Ansätze argumentierenden) Schwarzen Feministinnen schon als weiß, mittelschichtsbezogen und europäisch kritisiert wurde? Wie stehen die Klassifizierungen nach Ethnizitäten und jene nach Sexualitäten und Geschlechtern zueinander in Beziehung? Ist die dekolonialistische Theorie eine feministische Theorie? Was ist feminismo comunitario?
Kapitel 5. Konsequenzen dekolonialistischer Analyse: delinking, Bejahung des Anderen, border thinking: Welche Konsequenzen werden aus der Analyse der Kolonialität als Schattenseite der Moderne gezogen? Es sind drei Konzepte auszumachen, die immer wieder auftauchen und aufgegriffen werden: Was ist delinking, was ist border thinking, was ist die Bejahung der Anderen? Welche theoretischen Implikationen werden mit diesen Konzepten transportiert und verfochten? Welche Praxisformen entstehen aus diesen Konzepten? Welche Strategie ermöglicht die beste Dekolonisierungspraxis? Handelt es sich um falsche Alternativen?
»Wir sind das Ergebnis von 500 Jahren Kampf«. Exkurs zum Zapatismus: Die soziale Bewegung des Zapatismus spielt in vielen Texten dekolonialistischer Theoretiker*innen eine große Rolle – warum eigentlich?
Kapitel 6. Dekolonisierung als Praxis: Welche Rolle spielt die Praxis (gegenüber der Theorie) und was ist damit gemeint? Inwiefern wird die Praxis zum Maßstab für die Theorie? Ist die Unterscheidung von Dekolonisierung (als staatlich getragener Prozess) und Dekolonialität (als von unten organisiert) triftig? Welche Rolle spielen Strukturen? Welche Rolle nehmen soziale Bewegungen in Theorie und Forschung ein? Wieso ist der Praxisbegriff so zentral? Welche Probleme bringt die starke Fokussierung auf (außerakademische) Praxis mit sich?
Während der Aufschwung dekolonialistischer Ansätze in Forschung, Theorie und Politik der Gegenwart kaum zu bezweifeln ist, mehren sich auch die Kritikpunkte an ihnen: So wird an der dekolonialistischen Theorie beispielsweise ihre Tendenz zur Vereinheitlichung sehr unterschiedlicher geopolitischer Situationen bemängelt, die mit dem Anspruch der dekolonialistischen Theorie auf Pluriversalität und Dezentralität durchaus in Spannung, wenn nicht in Widerspruch gerät. Die Besonderheiten von etwa karibischen im Gegensatz zu kontinentalen Gesellschaften oder von jenen Gesellschaften mit einem hohen Anteil indigener Bevölkerungsgruppen und jenen, in denen dieser Anteil sehr niedrig ist, werden häufig unterschlagen und verwischt, wenn von Lateinamerika bzw. Abya Yala als identitätsstiftende Einheit ausgegangen wird. Darüber hinaus und daran anschließend wird die Verabsolutierung von Differenz kritisiert, die kulturtheoretische Errungenschaften vergangener Jahrzehnte, wie etwa die antirassistisch motivierte Wendung gegen Essenzialismen aller Art negiert bzw. zurückschraubt.[40]
Schließlich und nicht zuletzt wird auch der Antisemitismus, der beispielsweise in der Einschätzung von Israel als kolonialem Staat zum Ausdruck kommt, kritisiert.[41] Damit einher geht auch die Kritik an unreflektierten Bezugnahmen auf den politisierten Islam. Mignolo etwa bezieht sich im Kontext seiner Moderne-Kritik mehrmals positiv auf den ägyptischen Theoretiker Sayyid Qutb, ohne dessen offen antisemitische und jihadistische Positionen auch nur zu erwähnen. Auch wenn hier nicht davon ausgegangen wird, dass antisemitische Positionierungen eine logische Konsequenz der Moderne-Kritik sind, so erscheint es doch dringlich geboten, sie zu benennen und zu kritisieren. Die Kritik an der Moderne-Kritik der dekolonialistischen Ansätze wird im Anschluss an das Kapitel zur Moderne ausgeführt.
Solche und andere Kritiken werden im Folgenden referiert, sie fließen in den darstellenden Text ein. Darüber hinaus werden aber auch meine eigenen Kritikpunkt als solche ausgewiesen. Besonders hervorzuheben ist dabei jene an der Vermischung von analytischen und politischen, von deskriptiven und normativen Positionen in Bezug auf die stärker in den Fokus gerückten marginalisierten und/oder subalternen Bevölkerungsgruppen und damit zusammenhängend in Bezug auf die Kategorie ›Volk‹. Weil sie, kurz gesagt, im analytischen Sinne für Politik »offensichtlich unentbehrlich«[42] ist, wie Enrique Dussel richtig schreibt, wird die Kategorie ›Volk‹ positiv aufgeladen und als dekolonialistischer Akteur gedacht. Diese Schlussfolgerung aber, aufgrund der analytischen Unentbehrlichkeit eine politisch positive Rolle in Bezug auf gesellschaftliche Transformationen nahezulegen, erscheint mir höchst problematisch. Denn sie vereinheitlicht und legt inhaltlich fest, was letztlich erst Ergebnis analytisch-empirischer Untersuchung sein müsste. Solch positive Zuschreibungen an das ›Volk‹ und/oder die Subalternen und/oder die Marginalisierten als emanzipatorische Akteur*innen sind jedoch kein Spezifikum der dekolonialistischen Ansätze: Sie ziehen sich, so eine der hier vertretenen Thesen, vom antiimperialistischen Diskurs über die Latin American Subaltern Studies bis in die Diskurse der Gegenwart. Die deutlichen Spuren, die der Antiimperialismus in der dekolonialistischen Theorie hinterlassen hat, werden daher auch immer wieder Thema in dieser Einführung sein. Hinsichtlich der Latin American Subaltern Studies kommt diese doppelte Problematik, zu vereinheitlichen und dabei politisch zuzuschreiben, etwa in Rodriguez’ Beschreibung einer subaltern history als »to think in ungouvernability as insurrection, disobedience, or indisciplince«[43], paradigmatisch zum Ausdruck. Von subalterner Geschichte oder der Geschichte der Subalternen auf diese Weise zu sprechen, unterstellt eine gewissermaßen subalterne Essenz, die ganz bestimmte Effekte hat, nämlich keine angepassten, disziplinierten Praxisformen zu produzieren. Auch Silvia Rivera Cusicanquis emphatische Beschreibung, »indigene Gesellschaften [sind] selbstverwaltet und antiautoritär«[44], mag sicherlich auch über die Aymara-Gemeinden in Bolivien hinaus, die sie dabei im Blick hat, vielfach zutreffend sein. Verallgemeinerbar ist sie nicht – oder eben nur auf Kosten einer extrem ahistorischen, homogenisierenden Perspektive. Die Kritik an diesen vereinheitlichenden, normativen Zuschreibungen wird immer wieder an konkreten Beispielen ausgeführt und die gesamte Darstellung durchziehen.
Abschließend ist es wohl kaum notwendig zu sagen, dass dieses Buch keinen Anspruch darauf erhebt, ein Feld theoretischer Ansätze oder auch nur eine über viele Jahre und viele geografische Räume hinweg geführte Debatte vollständig abzubilden. Wie jedes Überblickswerk fordert auch dieses dazu heraus, die Lücken und Auslassungen aufzuspüren und zu kritisieren. Das Buch beansprucht allerdings durchaus, einige der zentralen Achsen freizulegen und nachvollziehbar zu machen, entlang derer die Auseinandersetzungen geführt wurden, die sich inzwischen unter dem Label ›dekolonialistische Theorie‹ etabliert haben. Es soll eine Grundlage schaffen, auf der die Rezeption dieser Ansätze, die im deutschsprachigen Raum im Grunde gerade erst begonnen hat, vertieft werden kann.[45]
Es ist nicht so, als habe die ›westliche‹ Linke den Kolonialismus aus ihrem Denken, Schreiben und sonstigem Tun völlig ausgeblendet. Bekanntlich hatte sich bereits Karl Marx an verschiedenen Stellen seines Werkes über den Kolonialismus geäußert und ihm wesentliche Bedeutung für die Entstehung des Kapitalismus zugeschrieben: »Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in (Süd- und Mittel-)Amerika«, heißt es etwa im Kapital, »die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära«.[46] Er beschreibt diese Prozesse als »Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation«[47]. Der Kolonialismus erscheint bei Marx als Folge einer inneren Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, die auf beständige Ausdehnung drängt. »Die Bourgeoisie reißt durch die Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation«, heißt es schon im kommunistischen Manifest.[48]