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Klasse ist nie ganz da, aber immer wirksam. Es gibt sie als stets vorausgesetzte Einteilung und im Klassenkampf. Und es gibt Klasse vermittels von ›Bewusstsein‹, sei dieses nun Stolz oder Analyse, indiskrete Scham des Proletariats oder konkrete Schamlosigkeit der Bourgeoisie. Solche Aspekte von Klasse werden in diesem Band anhand von Wohnbauplanung, Kunst und Medien untersucht. Es geht um Kapitalien und Wir/Sie-Grenzen, politische Anschlüsse und soziale Ausschlüsse in Bauten, Bildern und Ausbildungsprozessen. Und es geht um Einstellungen – im Sinn von Film- und Video-Aufnahmen, von ideologischen Sichtweisen und Ausblendungen sowie von Einstellungsgesprächen und Bewerbungsschreiben als Einübungen in Machtverhältnisse.
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2022
Drehli Robnik (Hg.)
Klassen sehen
Soziale Konflikte und ihre Szenarien
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Drehli Robnik (Hg.)
Klassen sehen
1. Auflage, Juni 2021
eBook UNRAST Verlag, Juni 2022
ISBN 978-3-95405-109-0
© UNRAST-Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: Gabu Heindl/Drehli Robnik
Satz: Andreas Hollender, Köln
Drehli RobnikEinleitung: Klasse als Sicht und Sache
Ruth SondereggerMultiple Klass(e)ifizierungen in der (kunst-)universitären Bildung Plädoyer für eine Auflockerung
Markus TumeltshammerSelbst-Klassifizierungen und ihr BeschweigenDas Curriculum Vitae als Medium von Subjektivierung
Jens KastnerKlasse als Kampfbegriff: Zur Klassenausblendung (in) der bildenden Kunst
Gabu HeindlKlasse, Mitte, Masse: Aspekte einer massengeschneiderten Wohnbauplanung
Drehli RobnikClass Is Us: Zur Filmwahrnehmung von Klasse und Kampf – Versammlung, Verkörperung, Zerstreuung (anhand von Get Out und Us – Wir)
Renée WinterVideo mit Klasse›Arbeiterfernsehen‹ – Selbstoptimierungsinstrument und Zeugnis
Die Autor*innen
Anmerkungen
Klassen sehen: Zwei Lesarten verbindet der Titel des vorliegenden Bandes.[1] Zum einen: Klassen sehen, und zwar jeweils anders – also spezifisch im Verhältnis zu anderen Klassen oder Positionierungen, die ander(e)s sehen. Klasse ist da Subjekt eines Sehens in einer Beziehung von Unterscheidung, Abgrenzung, oft Konflikt, mitunter auch Affinität. Eine zweite Lesart führt zu der Frage: Kann ich – oder jemand anderes – Klassen sehen? Und wie? Klasse ist da Objekt, ›Sache‹, Thema. Und wie! Beides zusammen ergibt Klassen sehen.
Das Cover von Klassen sehen zeigt (zweifellos plakativ) Wein im Glas. Im Wein ist Wahrheit, hieß es früher. Im Glas wiederum ist hier Verzerrung, Spiegelung. Also so etwas wie Wahrheit, denn die liegt in der Brechung. Was also ist da unter dem Titel Klassen sehen zu sehen? Das Weinglas(trio) zeigt implizit Themen, die in den Beiträgen dieses Bandes erörtert werden. Klassen sehen ist nicht nur etwas Visuelles; es ist mehr als Sehen. Dafür stehen die ›Szenarien‹ im Buch-Untertitel Soziale Konflikte und ihre Szenarien: Sie sind Ensembles von Positionen im Raum. Konkret: von Gegen(über)-Positionen. Etwa in Wohnraum (siehe den Beitrag von Gabu Heindl). Klassen sehen ist mehr als Sehen, ist immer auch verwickelt ins Interpretieren von Positionierungen, also in Symbolisches und in Verkörpertes – und in deren wechselseitige Durchdringung.
Ein mögliches Klassenszenario, das sich auf dem Cover zeigt, sieht so aus: Bei einem Gläschen Rotwein blättern wir – in unserem Wohnraum – in dem Buch Klassen sehen. Soll vorkommen. Dieses Buch ist aus klassenherrschaftskritischen Impulsen entstanden, das versteht sich quasi von selbst. Sein plakatives Cover gilt einer anderen, ironischen, Selbstverständlichkeit, nämlich der, dass Klassen sehen unweigerlich Bildungsprivilegien mitartikuliert (wie sie Ruth Sonderegger unter anderem thematisiert): Wir, die wir Bücher wie dieses lesen, sind etwas, das das spiegelnde Glas auf dem Cover auch zeigt: Bildung, Habitus, Klassenlogiken von Herkunft oder Aufstieg, mithin Biografie (das Thema von Markus Tumeltshammer).
Eine Frage von ›Klassen-Sehen‹ ist auch, mit wieviel Genuss oder aber Aversion man das Coversujet vielleicht verbindet. Das Cover zeigt einen ›alten Bestand‹: einen gut gealterten Roten, wie die Kenner*innen sagen. Auch die, die sich paradigmatisch auf Wein verstehen, sind Klasse: also – um nicht gleich Adelige oder (Wein-)Bäuer*innen zu beschwören – das Bürger*innentum, gar die »Profitabhängigen« (Wolfgang Streeck). Für Leute, die klassenherrschaftskritisch denken und schreiben, liegen allerdings meist lohnabhängige, besitzlose Klassen näher, wenn es exemplarisch um Klasse geht; die erste Assoziation mit dem K-Wort ist da meist die »Arbeiterklasse« – auch diese Assoziation ist, zumal männlich gegendert, ›alter Bestand‹; überhaupt, wenn sie in Rot gedacht ist.
Hier kommen Projektionen wie auch deren Brechungen zur Wirkung (beides gehört zu Klassenszenarien): Reflexhaft Wein mit der Expertise und dem Reichtum besitzender Klassen zu assoziieren oder Rot mit Armen und Arbeiter*innen, das ist so heute nicht mehr stichhaltig. Sprich: Unter den Schwerarbeiter*innen trinken manche auch teures Zeug, und viele wählen und äußern sich rechts, nicht rot.[2] Es gilt, eingefahrene Klassenzuschreibungen und -identifizierungen skeptisch zu sehen, mit Aufmerksamkeit für Verschiebungen von Positionierungen, etwa im Politischen und Habituellen – aber: Das sollte uns nicht dazu bringen, die Hartnäckigkeit von Klassengrenzen, z.B. das ›Vererben‹ von Klassenstatus (von Schul- und Uni-Bildung, von Niedriglohnarbeit), zugunsten der Vorstellung zu verkennen, alle gesellschaftlichen Verortungen seien permanent und ausschließlich ›im Fluss‹. Systematisches Nicht-Sehen von Klasse (dem sich Jens Kastner unter anderem widmet), das Ausblenden von Determinierungseffekten sozialer Aufteilungen und Hierarchien, ist vom ›Klassen-Sehen‹ ebenso wenig zu trennen wie ein gewisses ›Geistersehen‹. Geister sieht, wer Klassen sieht: Ich meine damit, zumal nochmal mit Seitenblick auf die Raumspiegelung im Weinglas auf dem Cover, ein Sehen von etwas, das nicht als Gegebenheit mitpräsent ist, sondern aus Spuren und Unschärfen, aus dem Umgebenden, auch ›Atmosphärischen‹ herauszulesen ist; wie in der Phänomenalität, den Logiken des Erscheinens, vieler Horrorfilme (siehe meinen Beitrag) oder alter Home Videos (siehe Renée Winters Beitrag), in denen klassengesellschaftliche Alltage ›rauschen‹. Ganz zu schweigen von dem ›Schein‹ und den ethnisierten Unsichtbarkeiten, die für heutige Klassenverhältnisse spezifisch sind: Ausbeutung unabgesicherter Niedriglohnarbeitender, die etwa im Versandhandel als Unternehmer*innen firmieren (»Scheinselbständige«), oder Ausbeutung von politisch – bei Wahlen – rechtlosen, sozial deklassierten, (Corona-)propagandistisch diffamierten Menschen mit Migrationserfahrung, die in reichen Regionen Ernte, Pflege und Putzen besorgen.
Geister kehren wieder, ob als Spuk-Fiktion oder Theorie-Trope; das sind wir mittlerweile gewohnt. Dass Klasse als Kategorie der Analyse und Interpretation wiederkehrt, ist noch relativ neu, ein wenig ungewohnt. Class is back. Dabei war sie nie weg (wie auch?). Wenn heute wieder mehr Verbreitung und Plausibilität von Klasse-Begriffen zu beobachten ist, dann ist dies (Stichwort: Klassen sehen) im vollen Sinn zu beobachten: Reflektierte Betrachtung erfordert also der Präsenz-Anspruch solcher Begriffe und Redeweisen (und mehr noch ein Alarmismus, der unterstellt, nun sei ›endlich‹ Klasse ins Auge zu fassen anstatt dieser oder jener anderen Kategorie von Herrschaftserfahrung, die zu viel an Aufmerksamkeit beansprucht habe). Prägnantes zur neuen Gängigkeit, Wieder-Gängigkeit, des Konzepts Klasse formulieren Ulrike Bergermann und Andrea Seier 2018 in ihrem medientheoretisch-machtkritischen Zugang:
»Die strategische Wiederverwendung des Klassenbegriffs […] steht daher für eine Skandalisierung der Klassenvergessenheit und/oder für den Beginn einer Neubestimmung« – und zwar in kritischer Haltung gegenüber der zeitgenössischen »Tendenz, den Primat des Ökonomischen gegen sogenannte Identitätspolitiken auszuspielen, anstatt diese Felder konstruktiv miteinander zu verbinden. […] Die Klassenfrage neu zu denken, hieße, sie nicht in einen (neoliberalen) Primat des Ökonomischen einzutragen, sondern sie gerade nicht losgelöst von anderen Trennungs- und Fluchtlinien zu erörtern.«[3]
Class is back – ja, aber viel deutlicher im Diskurs intellektueller Eliten als etwa im Vokabular großer Parteien, Verbände und Bewegungen. Klasse ist kein Massendiskurs. Wie viel an Rückbesinnung, Ausarbeitung, Verknüpfungs- und Verbreitungsfähigkeit als Großbegriff in Klasse steckt, wird sich zeigen. In dem Spektrum zwischen engen und weiten Fassungen von Klassenbegriffen[4] tendieren die Texte in diesem Band zu Zweiterem; insbesondere nähern sie sich Klassenverhältnissen über Konfliktmomente und Momente von Szenarien, Positionierungen bis hin zu ›Inszenierungen‹, in sozialen und diskursiven Räumen.
Das umfasst Jens Kastners Fokussierung auf Fragen von Klassenkampf im Kunstfeld – mitbedenkend, dass auch nichtbesitzende Klassen oft für keineswegs emanzipatorische Ziele kämpfen – ebenso wie Artikulationen von Widerstand gegen neoliberale Zwänge in den Untersuchungen Markus Tumeltshammers und Renée Winters, die jeweils »Zeugnisse« thematisieren: CVs, also Lebensläufe, bzw. dokumentarische Videos. Es umfasst Probleme der Verkörperung und »Zerstreuung« von Agency im Klassenkampf, die Spielfilme aufwerfen, in meinem Beitrag, sowie intersektionale Verknüpfungen von Klassen(kampf)aspekten urbaner Wohnbauplanung bei Gabu Heindl. Und schließlich Ruth Sondereggers Votum dafür, Klasse über Prozesse einer Vergesellschaftung durch hierarchische
Klassifizierung zu verstehen und Solidarität als eine Gegenmachtformation im Zeichen gerade der Auflockerung zu betrachten.
Wien-Erdberg, zwischen Lockdown 2 und 3
(Dezember 2020)
Sie ist zu mir gekommen. Oder genauer gesagt: Sie war immer schon da, wobei es länger dauern kann, bis man sie wirklich bemerkt. Wie bei vielen Menschen aus dem unteren Kleinbürgertum hat es bei mir sehr lange gedauert. Weil man zu den Aufsteiger*innen gehören will, verleugnet man den niederen Klassenhintergrund. Verstärkt bzw. erleichtert wurde diese Leugnung in meinem Fall durch die historische Tatsache, dass ich den Weg aus einer Bauern-, Arbeiter- und Angestelltenfamilie in die Universität in genau jenen Jahren gefunden habe, die man heute in Österreich als die Kreisky-Ära[5] bezeichnet. Diese bedeutete für mich: Der Wechsel an ein Gymnasium war – oder vielmehr: schien – ebenso unkompliziert wie der Beginn des Studiums. Die Betonung liegt auf »schien«, denn mit zunehmender Lektüre von Pierre Bourdieu am Ende meines Studiums wurden mir retrospektiv jede Menge klassistische Erfahrungen in der Schule und an der Universität bewusst.
Als ich 1985 mit dem Studium begann, gab es keine Studiengebühren, und es war auch keine unüberwindliche Hürde, sich an einer Universität einzuschreiben; auch dann nicht, wenn in der eigenen Familie noch nie jemand eine Universität besucht hatte. Trotzdem hatte ich beim Einschreiben übergroße Angst, ein Formular falsch auszufüllen oder eine Frist zu verpassen und damit möglicherweise für immer die Aufnahme an eine Universität zu verspielen. Ich habe mich sehr darüber gewundert, wie entspannt die Menschen um mich herum in den Warteschlangen vor den Einschreibeschaltern waren – zumindest erschienen sie mir so. Beim Warten wollte ich jemanden fragen, ob man sich ein Semester später noch einmal einschreiben kann, falls man beim ersten Mal etwas falsch gemacht hat. Aber letztlich habe ich mich nicht getraut, mir diese Blöße zu geben. Immerhin gab es keine Aufnahmeprüfungen, kein angedrohtes Rausprüfen in der ersten Phase des Studiums, keine Notwendigkeit, einen Kredit aufzunehmen, den man später zurückzahlen müsste. Das Maturazeugnis, das ich in der Warteschlange vor den Einschreibeschaltern immer in der Jackenasche spürte und das durch meine regelmäßig sich versichernde Hand immer verknitterter wurde, war Eintrittsticket genug.
Erst viel später, als ich anfing, mich mit der Entstehung des postfordistischen und zunehmend Wissen, Kreativität und Emotionen abschöpfenden Kapitalismus[6] zu beschäftigen, ist mir klar geworden, dass ich von einem kurzen Zeitfenster des zumindest in Westeuropa relativ egalitären Hochschulzugangs profitiert hatte. Es ist das Fenster der Massenuniversitäten, welches sich erst nach den politischen Kämpfen von 1968 auftat (weil der kognitive Kapitalismus ab den 1970er-Jahren ohnehin mehr Kopfarbeiter*innen brauchte). Allerdings, so muss man mittlerweile ergänzen, wird diese massive Zugänglichkeit spätestens ab der sogenannten Bologna-Reform seit 2001 auch wieder sukzessive zurückgenommen. Sie wird limitiert zugunsten der Rückkehr jener Elitenreproduktion, die über Jahrhunderte das bewährte Programm von Universitäten war. Ich fing also in dem Moment an, mich mit der Klassenpolitik der Universitäten zu beschäftigen, als jenes Milieu, das ich als befreiend, politisierend und – uneingestandener Maßen – sicher auch als Ausbruchs- und Aufstiegsmöglichkeit erfahren hatte, im Begriff war, zu verschwinden.
Was damit auch schlagartig verschwand, war mein merkwürdig naiver Fortschrittsglaube daran, dass Universitäten und andere Bildungsinstitutionen seit den und wegen der Errungenschaften von 1968 immer inklusiver werden würden und dass ich in dieser Veränderung eine Rolle spielen könnte. Es war auch der bis dahin zumindest noch halbwegs intakte Glaube daran, dass gute Argumente helfen und Nachweise von Widersprüchen etwa zwischen dem inklusiven Anspruch einer Universität einerseits und den realen sozialen Hintergründen ihrer Studierenden, Lehrenden oder faktisch unterrichteten Kanons andererseits, irgendwelche Höheren und verwaltend Herrschenden erröten lassen und über kurz oder lang zu Veränderungen führen würden. Ich konnte mir lange nicht vorstellen, dass jemand vollmundig sagt: Wir nehmen für uns und die Unsrigen mehr vom Kuchen – schlicht und einfach, weil wir in einer Vorteilsposition beim Zugreifen sind; und die Tatsache, dass andere deshalb leer ausgehen, kümmert uns einen Dreck. Also genau das, was in Österreich stolz als Regierungsposition verkündet wird, wenn etwa festgelegt wird, dass Arbeitslose, die noch nicht einmal Kurzarbeit beantragen dürfen, in der Corona-Krise noch mehr benachteiligt werden als ohnehin schon. Einmal ganz abgesehen davon, dass ein Löwenanteil der in dieser Krise ausgeschütteten Gelder bevorzugt an jene Konzerne geht, deren Spitzen sich zeitgleich saftige Boni abgreifen.
In der Bildungspolitik artikuliert sich solch beherztes Zugreifen freilich anders. Zum Beispiel indem man qua Schulsystem festlegt, dass ideal unterstützte Kinder nach der Grundschule für immer von den benachteiligteren Kindern getrennt werden, damit die an kulturellem, sozialem und finanziellem Kapital reicheren Nachkommen noch mehr Vorteile bekommen. Nationale Schulsysteme, die – wie etwa das österreichische – auf diesem Prinzip aufbauen, indoktrinieren alle Kinder in dem Sinn, dass diese lernen, zu glauben, die bei der Geburt zufällig zugefallenen und durch das Schulsystem normalisierten Unterschiede zwischen ihnen hätten einen Grund: Auf der einen Seite stünden die Schlauen und Fleißigen, auf der anderen die weniger Begabten und Faulen.[7] Das ist nichts anderes als eine Variation der von Adam Smith verbreiteten Mär, die schon Karl Marx kritisiert hat: die Mär von der ursprünglichen Akkumulation, wonach die Kapitalbesitzer*innen reich sind, weil sie viel gearbeitet haben, und die Arbeiter*innen arm, weil sie sich nicht angestrengt haben. Mit Grund spricht Marx deshalb von dieser Akkumulation als einer »sogenannten« und erläutert sie als blutiges Gewaltverhältnis statt als Aufteilung nach Verdienst.
Die gewaltvolle Auf- und Zuteilung hört nach der Zulassung zu sogenannten höheren oder eben nicht hohen Schulen selbstredend nicht auf, sondern verfeinert sich. Neben vielen subtilen Ausschlüssen, die ich mit Blick auf Kunsthochschulen diskutieren werde, verschärfen sich gegenwärtig aber auch die immer dreisteren zahlenmäßigen Beschränkungen bei der Zulassung zu Universitäten: Gebühren, Aufnahmetests oder die neuerdings in Österreich propagierte und kurz vor der Umsetzung stehende »Studienplatzbewirtschaftung«, die für eine Verknappung des Zugangs bei angeblich qualitativer Verbesserung der wenigen übrig gebliebenen Plätze sorgen und die Massenuniversität zum Spielplatz der Schmuddelkinder degradieren, sie letztlich abschaffen will. Zwar klingt »Bewirtschaftung« irgendwie gut, aber tatsächlich geht es um die Beschneidung der finanziellen Ausstattung jener, die gerne studieren möchten, zugunsten einiger Auserwählter – wieder nach dem bewährten Prinzip: Wer schon zum Club gehört, dem soll noch mehr gehören. Ganz abgesehen davon, dass der Begriff der Bewirtschaftung so tut, als wäre da, wo jetzt die Wirtschaft kommt, vorher Brachland gewesen.
Die politischen Kämpfe in den späten 1960er-Jahren, die keineswegs ausschließlich – nicht einmal maßgeblich – von Universitäten ausgegangen sind,[8] haben allerdings gerade die Institution der Universität massiv neuen sozialen Gruppen zugänglich gemacht. Das geschah zu einer Zeit und in einem politischen Kontext, der den (orthodox) linken Klassenbegriff radikal infrage gestellt hat. Es wurde nicht nur angeprangert, dass Parteilinke und Gewerkschaften die unterdrückte und damit angeblich auch am ehesten kämpferische Klasse mit weißen, männlichen Industriearbeitern identifiziert hatten; das konnte in Zeiten massiver antikolonialer Kämpfe und neuer feministischer Bewegungen kaum mehr überzeugen. Zugleich wurde auch die Vorstellung von Klasse als feststehender, soziologisch identifizierbarer Gruppe ganz generell kritisiert. Hinzu kam, dass sich seit den ersten operaistischen Texten langsam herumsprach, dass sich auch die Zusammensetzung der Industriearbeiter*innen im Zug der Entwicklung des wissensbasierten, d.h. primär Wissen ausbeutenden Kapitalismus massiv veränderte. Operaistische Theoretiker*innen fingen schon in den frühen 1960er-Jahren an, darauf hinzuweisen, dass in den Arbeitsverhältnissen der Gegenwart und sich ankündigenden Zukunft nicht länger die Produktion in der Fabrik das Zentrum der Ausbeutung ist. Vielmehr schickte sich der Postfordismus an, das Wissen, die Affekte und – worauf die Feminist*innen der Bewegung aufmerksam machten – die reproduktiven Arbeiten des Pflegens und Kümmerns, also das ganze gesellschaftliche Leben auszubeuten. Statt daraus die pessimistisch-totalisierende Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Kapitalismus immer neue subversive Kräfte vereinnahmt, machten die Operaist*innen allerdings darauf aufmerksam, dass es die sozialen Kämpfe sind, welche den Kapitalismus fortlaufend zur Reaktion und Transformation zwingen und den Kapitalismus also gewissermaßen vor sich her treiben.
Zumindest im Rückblick lässt sich allerdings nicht leugnen, dass die durchaus beachtenswerten Erfolge der Proteste von 1968 in Bezug auf die Öffnung der Universitäten in Richtung Massen, die den Menschen meiner Generation den Zugang zur Universität eher leicht gemacht hat, bei Weitem nicht so emanzipatorisch waren, wie erhofft. Denn diese Öffnung muss auch als Rekrutierung neuer gesellschaftlicher Schichten für den kognitiven und kreativen Kapitalismus begriffen werden. Es ging also kaum um Gleichbehandlung oder Bildungsgerechtigkeit, wie man besonders gut am Beispiel Großbritanniens sehen kann. Dort versprach Tony Blair, das ehemalige Empire mithilfe der Kreativindustrie wieder zur Weltmacht zu machen. In genau diesem Kontext sind die vielen britischen Neugründungen von Kunst- und Designhochschulen in den 1970er- und 1980er-Jahren zu sehen. Sie richteten sich zwar durchaus auch an jene, die bislang keinen Universitätszugang hatten. Doch an ihnen kann man zugleich studieren, wie schnell trotz zahlenmäßiger Öffnung auch wieder neue Grenzen eingezogen wurden: etwa zwischen Universitäten und Fachhochschulen, zwischen Fine Art, d.h. hoher Kunst, und Design als bloß angewandter Kunst etc. Nicht zuletzt ging es dabei auch um das Durchsetzen von Grenzen, die die einen Abschlüsse hochwertiger als die anderen machten.[9] Auf der anderen Seite nehmen sich viele universitätspolitische Errungenschaften der 1970er- und -80er-Jahre aus heutiger Perspektive geradezu phantastisch aus: sowohl was die universitäre Mitbestimmung verschiedener Statusgruppen betrifft als auch etwa mit Blick auf die britischen Widening Participation-Programme. Diese Affirmative-action-Programme an Hochschulen waren nicht nur auf die Klassenbenachteiligung bezogen, sondern wollten auch rassistischen und migrationsfeindlichen Ausschlüssen entgegenwirken.
Während die progressive Linke im Umkreis des Operaismus im Italien der 1960er-Jahre dafür plädierte, die Klassenzusammensetzung neu zu denken, lässt sich in Frankreichs damals junger Linker – v. a. bei den einflussreichen Schülern Louis Althussers, die heute meist unter dem Label des Postmarxismus diskutiert werden – eine Verabschiedung des Klassenbegriffs feststellen.[10] So unterschiedliche Protagonisten dieser Richtung wie etwa Alain Badiou, Michel Foucault oder Jacques Rancière teilen die nicht zuletzt gegen Althusser gerichtete Auffassung, dass der politische Widerstand nicht länger mit dem Proletariat identifiziert werden könne oder gar mit Notwendigkeit aufträte, wenn die Ausbeutung ein bestimmtes Maß überschreite. Während Foucault von einem aufständischen »Plebejischen« spricht, das sich jeder (soziologischen) Fixierung entzieht, geht es bei Badiou um aus dem Nichts auftauchende, so ereignishafte wie revolutionäre Wahrheitsereignisse, denen es widerständig die Treue zu halten gilt. Bei Rancière wiederum ist von der explosiven Kraft jenes immer vorhandenen Teils der Anteilslosen die Rede, der die herrschende Machtaufteilung herausfordern kann. Während Foucault die plebejische Kraft jedoch immer historisch denkt und also keinesfalls als immer und überall potenziell anwesend begreift, ebnen Theoretiker wie Badiou und Rancière (und mit ihnen im Tandem etwa auch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) den Weg zu einer ahistorischen Ontologisierung des Widerstands unter dem Titel des Politischen, womit eine Klassenanalyse im Sinn des historischen Materialismus endgültig verabschiedet wird.
Wiederum anders verläuft die theoriepolitische wie auch praktische Entwicklung in den USA. Hier sind es insbesondere die Feminist*innen of Color, die im Gefolge des Civil-Rights-Movement das für den Kapitalismus kennzeichnende Zusammenwirken der Herrschaftsvektoren Klasse, Geschlecht und race immer stärker ins Zentrum stellen[11] – nicht unähnlich den Thesen, die Silvia Federici in ihrer feministischen Kritik des männlich dominierten Operaismus ungefähr zeitgleich entwickelte. Diese Verkomplizierung – oder vielleicht eher: durchaus explosive Anreicherung – der Klassenfrage findet sich exemplarisch im Combaheer River Collective Statement von 1977.[12] Durchaus in Einklang mit Marx sowie gänzlich ohne Verabschiedung der Klassen-Kategorie – und darin unterscheidet sich das Combahee River Collective eklatant vom sogenannten Postmarxismus – entwickelt das Collective das, was später Intersektionalität genannt wurde: die Forderung, jeweils zeit-, orts- und phänomen-spezifisch das Ineinander verschiedener Dimensionen der Ungleichheit und Ausbeutung zu untersuchen, statt nur Klasse als ›Hauptwiderspruch‹ des Kapitalismus. Damit argumentiert das Collective selbstredend auch gegen die bloße Addition verschiedener Ungleichheitsparameter.[13] Den Protagonist*innen des Combahee River Collective Statement zufolge bedeutet es im Chicago der 1980er-Jahre beispielsweise etwas durchaus anderes, als Schwarze Frau ausgebeutet zu werden, als etwa in Boston, und zwar aufgrund der Differenz in der sozialen und medizinischen Versorgung von Women of Color in den beiden Städten. Je stärker die Forderung, Fragen von Klasse, Geschlecht und race