Die Linke und die Kunst - Jens Kastner - E-Book

Die Linke und die Kunst E-Book

Jens Kastner

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Beschreibung

»Was wollte und was will die Linke von der Kunst?« Die Frage, welche Rolle die Kunst in gesellschaftlichen Prozessen spielt, zieht sich durch eine Vielzahl von Texten linker Theoretiker*innen. Welcher Stellenwert wird der Kunst in der Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse darin jeweils eingeräumt? Und: Was wird jeweils von der Kunst erwartet? Ist sie Teil emanzipatorischer Veränderungen oder steht sie ihnen im Wege? Kenntnisreich präsentiert Jens Kastner die unterschiedlichen Positionen zur Kunst in den wichtigsten Strömungen linker Theorie. Diese Zusammenschau dient nicht nur als lebendig geschriebene Einführung in das Thema ›die Linke und die Kunst‹. Sie macht auch deutlich, dass innerhalb linker Theorie der Stellenwert der Kunst für die gesellschaftliche Transformation und Reproduktion gemeinhin sehr hoch angesetzt wird und die Hoffnungen auf emanzipatorische Effekte durch und mit Kunst erstaunlich groß sind.

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Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Jens Kastner (*1970), PD Dr. phil. habil., ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt in Wien. Er ist Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, soziale Bewegungen und Kulturtheorien. Er hat zwei Kinder.

Jens Kastner

Die Linke und die Kunst

Ein Überblick

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Jens Kastner

Die Linke und die Kunst

1. Auflage, Oktober 2019

ebook UNRAST Verlag, April 2020

ISBN 978-3-95405-061-1

© UNRAST-Verlag, Münster 2019

www.unrast-verlag.de – [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: cuore.berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

0.   Die Linke und die KunstZur Einleitung und Einführung

01. »wirksamer als hundert Flugschriften«Die Kunst bei Marx & Engels

02. »Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!«Kunst und anarchistische Theorie

03. Ein »konkretes und wirkliches Erfüllungsgebiet«Kunst im Marxismus-Leninismus

04. »im Protest gegen soziale Rezeption«Kunst in der Kritischen Theorie

05. »mit der praktischen Strömung zur Negation vereinigt«Kunst und die situationistische Theorie

Exkurs: Spiegelung und BrechungVon Lenin zum Poststrukturalismus

06. »because it’s what they know best«Kunst im Feminismus

07. »Ohne Unterdrückung und ohne Rassismus kein Blues«Kunst und Black Liberation

08.  »a recognition of related practices«Kunst und materialistische Praxistheorie

09. »veränderte Setzung«Kunst in der poststrukturalistischen Theorie

10.  »a lot like communism«Kunst im Postoperaismus

11. »die perfide Struktur kultureller Herrschaft«Kunst in der post- und dekolonialistischen Theorie

12. Zum Schluss: »Subjekte für den Gegenstand …«… und die drei Brüche in der linken Auseinandersetzung mit Kunst

Literatur

0.   Die Linke und die Kunst

Zur Einleitung und Einführung

»Nein: weder die Künstler noch ihre Historiker können von der Schuld an unseren Zuständen freigesprochen werden noch entbunden von der Verpflichtung, an der Änderung der Zustände zu arbeiten.«[1]

Bertolt Brecht, 1930  /  31

Was wollte und was will die Linke von der Kunst? Dieses Buch versucht nicht mehr, als diese lapidare und doch in mehrerlei Hinsicht rätselhafte Frage zu beantworten. Die Rätselhaftigkeit liegt sowohl in den Begriffen ›Linke‹ und ›Kunst‹ selbst, als auch in deren komplexen Verhältnissen zueinander begründet.[2]

Das Feld der Kunst erscheint heute, zumindest in seinen anerkannten, legitimen Bereichen, häufig als noch »exklusiver als Segelklubs«[3]. Rezipiert wird die bildende Kunst nicht von einer breiten Öffentlichkeit, sondern von kleinen Zirkeln ausgewählter SammlerInnen und Kunstfeldangestellten wie MuseumsdirektorInnen und GaleristInnen. Trifft die zeitgenössische Kunst doch mal auf eine größere Menge an Leuten, dann handelt es sich dabei meist um relativ gebildete und auch finanziell nicht eben arme Menschen. Bei Kunstmessen wie etwa der Art Basel handelt es sich um »praktisch rein ›akademische‹ Veranstaltungen«[4], Angehörige unterer sozialer Milieus finden sich dort überhaupt nicht. Sich der Kunst widmen zu können, Zeit und Wissen zu investieren und diese Investition auch irgendwie als lohnend empfinden zu können (also als sozial oder intellektuell gewinnbringend zu verbuchen), ist alles andere als selbstverständlich. Weil es sehr voraussetzungsreich ist, gelingt es nur vergleichsweise wenigen. Der Umgang mit Kunst ist ein Privileg – trotz wachsender Zahlen an BesucherInnen in Museen und bei Großausstellungen, auch trotz der steigenden Zahl solcher Veranstaltungen wie der Biennalen. Die Liebe zur Kunst ist weder eine über alle Zeiten hin stabile, anthropologische Konstante, noch ist sie jeweils aktuell überall im sozialen Raum anzutreffen. Sie muss erlernt und unbewusst antrainiert werden. In Anlehnung an den ironischen Titel, den Pierre Bourdieu und Alain Darbel in den späten 1960er-Jahren ihrer Studie zum Museumsbesuch gegeben hatten, schreiben Franz Schultheis u.a. in ihrer Studie zur Art Basel deshalb: In Wirklichkeit sei die von Bourdieu und Darbel sezierte ›Liebe zur Kunst‹ nichts anderes als »ein soziales Privileg, das seinerseits sozial privilegiert.«[5]

Das zur Kunstrezeption. Für die Seite der Produktion gilt insofern Ähnliches, als empirischen Studien zufolge bloß zwischen zwei und fünf Prozent aller AbgängerInnen von Kunsthochschulen auch von der Kunst leben können. Auch das KünstlerIn-Sein bedarf also einiger Voraussetzungen. Nicht nur finanzieller Art, sondern zudem erfordert die Tatsache, dass es irgendwie als erstrebenswert erscheint, sich zum Künstler oder zur Künstlerin ausbilden zu lassen, obwohl die Aussichten auf ökonomische Entlohnung und soziale Anerkennung miserabel sind, den Aufbau eines spezifischen Glaubens: daran, dass Kunst mit kreativer Selbstverwirklichung zu tun hat, dass Kreativsein trotz allem – Creative Industries, Kreativitätsdispositiv etc. – etwas Gutes ist, dass Kunstmachen vielleicht auch bloß weniger schlimm im Vergleich zu den ökologischen oder sozialen Folgen anderer Werktätigkeiten ist. Und es setzt einen immer bedeutsamer werdenden Glauben voraus, dass das kreative Tun auch bessere Subjekte hervorbringt als das vermeintlich stumpfe Angestelltendasein oder gar die körperliche Arbeit der weniger Privilegierten. Das erforderliche soziale Privileg scheint zumindest ein, wenn auch prekäres, gefühltes Privileg zur Folge zu haben.

So weit, so schematisch. Wenn nun Kunst – anschauen, aber auch machen – nicht bloß Privilegien voraussetzt, sondern selbst welche produziert, stellt sich selbstverständlich die Frage, warum überhaupt irgendjemand irgendetwas Positives im Sinne sozialer und kultureller Gleichheit oder emanzipatorischer Veränderungen von der Kunst erwarten sollte. Es gibt diese Jemands, und zwar nicht nur als Ausnahmen. Obwohl es also eigentlich erstaunlich sein könnte, warum sich linke, an Emanzipation und sozialer Gleichheit orientierte Menschen mit Kunst beschäftigen, haben sie es massenhaft getan und tun es immer noch. Und sie beschäftigen sich mit Kunst nicht nur in ideologiekritischer, Ausschluss und Privileg aufdeckender Absicht. Selbst Pierre Bourdieu schreibt, nachdem er in Die Regeln der Kunst deren elitären und exkludierenden Dynamiken analysiert hat, abschließend vom »Instrument der Freiheit«[6], als das Kunst (und Kultur insgesamt) auch begriffen werden müsse. Er nennt dies seine »normative Stellungnahme« und die hat, auch und gerade in Verbindung mit analytischen Beschreibungen dessen, was Kunst ist und ausmacht, Tradition. Die Beschäftigung mit Kunst fand und findet also auch im emphatischen Sinne statt: Kunst hat in vielerlei (normativer) Gestalt in die Narrative der Linken Eingang gefunden: als Mittel der Aufklärung, als Behälter von Wahrheit, als Entlarvungsgeste, als Teil von Emanzipationsprozessen, als Ermächtigungspraxis, als performatives Potenzial des Bruchs mit Konventionen, als Bestandteil sozialer und kultureller Neuzusammensetzung, als Instrument der Freiheit usw. usf. Bei denjenigen, die sich so stark und positiv auf Kunst bezogen haben, lassen sich (mindestens) drei Gruppen unterscheiden – die sich selbstverständlich auch überschneiden.

Es waren erstens selbstverständlich KunstproduzentInnen selbst, die immer wieder ihre Ansprüche auf sozialen Wandel proklamiert haben. Die Geschichten der Avantgarden und ihrer Manifeste und Praktiken sind voll von verschiedensten Versionen des Anspruchs darauf, die Kunst als Betrieb oder System oder sonst wie erfahrenen Rahmen zu verlassen und soziale Effekte zu zeitigen. Die Liste von engagierten Künstlerinnen und Künstlern ist unendlich lang. Und sie reicht von kunstfeldexternen, organisierten Zusammenschlüssen wie der Gewerkschaft revolutionärer Maler, Bildhauer und Grafiker, die 1923 in Mexiko gegründet wurde, bis zu kunstfeldinterner Institutionskritik á la Hans Haacke und Andrea Fraser. Dazwischen finden sich diverse Strategien, um mit der und aus der Kunst heraus soziopolitische Wirkung zu erzielen.

Zweitens haben auch soziale Bewegungen, allen voran die ArbeiterInnenbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts ihre Ansprüche auf sozialen Wandel mit einer Erneuerung von Kultur im Sinne von allgemeinen Lebensweisen verknüpft: Als Mittel dazu war nicht selten Kultur im engeren Sinne literarischer und künstlerischer Werke vorgesehen. Sie sollten, ebenfalls grunderneuert, zu emanzipatorischen soziopolitischen Verhältnissen beitragen. Im Austromarxismus der 1920er-Jahre etwa sollten »alle Anstrengungen der fortgeschrittendsten Schichten der Arbeiterklasse [unterstützt werden], sich die Errungenschaften der Wissenschaft und der Kunst anzueignen und sie mit den sich allmählich aus den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse selbst entwickelnden, vom Geist ihres Befreiungskampfes erfüllten Kulturelementen zu Keimzellen der werdenden proletarisch-sozialistischen Kultur zu verschmelzen.«[7] So steht es im Linzer Parteiprogramm der sozialdemokratischen SDAPÖ von 1926. Auch im nicht weniger massentauglichen spanischen Anarchismus der gleichen Zeit spielte Kultur in beiden Bedeutungen (als Lebensweise und Sinngebungsprozess wie auch in Form künstlerischer Arbeiten) eine enorme Rolle. Die großen Sympathien, die der Anarchismus in Spanien genoss, gründeten geradezu auf den Erwartungen an die Verbreitung einer proletarischen Kultur, einer Ästhetik, die »die Kunst mit dem Leben in Beziehung setzte.«[8] Bei dem Anspruch, diese erneuerte und erneuernde Beziehung herzustellen, ging es nicht bloß um ein funktionalistisches Kunstverständnis, bei dem Kunst möglichst effektiv die Ziele der Bewegung zu kommunizieren und schließlich durchzusetzen gehabt hätte. Kunst im Kontext von emanzipatorisch gedachten Bildungsprozessen wurde nicht bloß als Kommunikation verstanden, sondern sollte durchaus auch der Entfaltung all jener kognitiven wie affektiven Aspekte der Persönlichkeit dienen, die als von Kapital und  /  oder Staat unterdrückt analysiert wurden.

Drittens waren es aber auch die TheoretikerInnen der Linken, die in ihren allgemeinen sozial- und kulturtheoretischen Entwürfen der Kunst oder künstlerischen Praktiken einen besonderen Stellenwert einräumten. Oder sie befassten sich sogar gesondert und speziell (in eigenen Studien oder Traktaten) mit Kunst. Um diese soll es im Folgenden vor allem gehen.

Das ist eine wichtige Eingrenzung, um solch eine Überblicksarbeit überhaupt beginnen zu können. Es geht um die Rolle der Kunst in linker Theorie, es geht nicht um künstlerische Manifestationen und auch nicht um Bewegungspraktiken. Allerdings tun sich auch bei einer solchen Einschränkung sehr schnell grundlegende Probleme auf, die es gleich einleitend zu benennen gilt. Die Problembereiche sind, kurz gesagt, erstens die Theorie, zweitens die Linke und drittens die Kunst. In allen drei Fällen versteht sich keinesfalls von selbst, was der jeweilige Begriff eigentlich bezeichnet. Es ist erläuterungsbedürftig, was gemeint ist, wenn von Theorie, von der Linken und von Kunst die Rede ist, wenn über die Frage gesprochen werden soll, wie die drei Bereiche zusammenhängen.

Erstens die Sozialtheorie: Sie entwickelt Modelle zum Verständnis sozialer Ordnung, sozialen Handelns und sozialer Transformation und reagiert auf aktuelle Entwicklungen, die nicht bloß Entwicklungen in der Theorie sind. Theorie, insbesondere und gerade linke Theorie, steht selbstverständlich nicht für sich. Theorie ist, wenn sie sich als Gesellschaftstheorie versteht, immer Teil ihres Gegenstandes. Auch die Theorie bleibt nicht unberührt von sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen, sie reagiert vielmehr auf diese. Nachzuzeichnen, wie und inwiefern das in Bezug auf die Kunst geschah, kann hier allerdings nicht geleistet werden und müsste in einzelnen Studien überprüft und eingeholt werden. Anders gesagt: Einerseits werden im Folgenden Ereignisse, die für die Theorie in der Linken Einschnitte waren – von der Pariser Commune über die Oktoberrevolution und den Spanischen Bürgerkrieg und die Dekolonisierung bis zu den Revolten um 1968 und der Entstehung der Zweiten Frauenbewegung –, hier nur am Rande erwähnt. Andererseits kann auch der gesellschaftliche Kontext der jeweiligen Positionen nicht ausführlich geschildert werden, wohl wissend, dass der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts auch für die Kunst anderes bedeutete als die Gesellschaftsformation der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen oder gar der kognitive, postfordistische Kapitalismus der Gegenwart. Das alles nur skizzieren zu können, bringt das Format der Einleitung und Einführung mit sich.

Weil die Einflüsse auf die Theorie immer auch aus anderen gesellschaftlichen Bereichen als jenen der Theorieproduktion kommen und von nicht-sozialwissenschaftlichen Praktiken ausgehen, können sie auch aus der Kunst kommen. Das ist einer der Gründe dafür, dass sich GesellschaftstheoretikerInnen der Kunst zugewandt haben. Linke TheoretikerInnen haben sich manchmal KünstlerInnen ihrer Zeit gewidmet (mit denen sie häufig auch befreundet waren), um aus der Beschäftigung mit künstlerischen Arbeiten auch Aussagen über die soziale Welt insgesamt treffen zu können: Pierre-Joseph Proudhons Ausführungen zu Gustave Courbets Malerei wären dafür ein Beispiel oder auch Jean-Paul Sartres Texte zur Kunst Alberto Giacomettis.[9] Linke TheoretikerInnen haben aber auch ganz allgemein zur Rolle und Funktion von Kunst geschrieben und einzelne Arbeiten dabei nur sporadisch, bloß zur Bebilderung oder sogar gar nicht beschrieben. Paolo Virnos Konzept der Virtuosität etwa erwähnt zwar irgendwo Glenn Gould, es geht aber ganz allgemein um die »Abwesenheit eines ›fertigen Produkts‹, die unmittelbare und unausweichliche Beziehung zur Gegenwart«[10], die die konzeptuelle und performative bildende Kunst überhaupt auszeichnet und die sich im Postfordismus verallgemeinert habe. Linke Theorie entwickelt sich also auch entlang von Kunst weiter, selbst dann, wenn sie sie nicht direkt zum Gegenstand zu hat. Aber zum Gegenstand hat sie sie selbstverständlich auch. Darunter fallen nicht zuletzt auch die Praktiken und Erzeugnisse linker KunsthistorikerInnen, linker KunstsoziologInnen und -philosophInnen und kunstaffiner AktivistInnen, die ein gewissermaßen professionelles Interesse am Wechselverhältnis (oder der Dialektik oder den Überlappungen und Verkettungen) von Kunst und sozialer Welt haben, insbesondere im Hinblick auf dessen transformatorische Aspekte. So hat etwa Peggy Phelan die Geschichte feministischer Ansätze in der Kunst des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet und dabei angemerkt, dass es sich bei feministischem Schreiben über Kunst immer darum handle, »eine Sprache zu formen, die sich der Bewegung am Rand dieser Ordnung [der Kunst] bewusst ist«[11]. All die Studien der letzten Jahre, die sich mit Kunst und Aktivismus beschäftigen, ließen sich hier ebenfalls anführen.[12]

Zweitens muss klar sein bzw. hiermit erklärt werden, dass die Linke selbstverständlich kein einheitlicher, deutlich umgrenzter und einfach fassbarer Gegenstand ist. Im Gegenteil, man muss nicht der (falschen) These anhängen, dass die politischen Zeichen ›links‹ und ›rechts‹ ihre Bedeutung verloren haben, um Probleme zu haben mit der Eingrenzung dessen, was als links bezeichnet werden kann. Inhaltliche Unterscheidungen wären vorzunehmen, historische und geografische Differenzen wären aufzuführen und Grenzbereiche zu benennen, in denen linke und nicht-linke Positionen sich nebeneinander und in Abgrenzung zueinander entwickelt haben. Das würde selbstverständlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Um sie dennoch schreiben zu können, lässt sich weniger ›die Linke‹, denn ›linke Theorie‹ definieren und zwar als solche, die die soziale Welt als komplexe, dynamische Konstellation ohne natürliche Gesetzmäßigkeiten, aber mit praktisch erzeugten und strukturell verfestigten Ungleichheiten auffasst und die in diese Konstellation mittels ihrer selbst eingreifen möchte. Linker Theorie ist demnach zum einen immer an der De-Naturalisierung sozialer Verhältnisse und andererseits an Intervention in diese Verhältnisse gelegen. Das ist selbstverständlich bloß eine Minimaldefinition. Sie ermöglicht aber, ein recht breites Spektrum an Schriften, Werken, Andeutungen zur Kunst in Betracht zu ziehen, ohne sich auf bestimmte Denkschulen oder Theorieansätze im Vorhinein festlegen zu müssen. Marx und verschiedenen Marxismen allerdings kommt selbstverständlich so oder so eine besondere Bedeutung zu. Aber es gibt auch linke Theorie, die nicht (mehr) im engeren Sinne marxistisch ist. Es liegen sicherlich nicht nur Jahrzehnte, sondern auch theoretische und politische Welten zwischen etwa Leo Trotzkis Literatur und Revolution (1923) und Gerald Raunigs Kunst und Revolution (2005) – doch hier brüchige Kontinuitäten und potenzielle rot-schwarze Fäden zwischen verschiedenen linken theoretischen Formationen nachzuzeichnen, darin liegt auch ein Reiz dieses Vorhabens.

Drittens ist zu (er-)klären, dass das Ausgefranste und Undeutliche, das schon den Gegenstand ›Linke‹ auszeichnet, auch für das gilt, was unter ›Kunst‹ zu verstehen ist. Hierbei muss Kunst nicht unbedingt bildende Kunst sein – Malerei und Grafik, Bildhauerei und Architektur, plus Video, Performance, Installation und all ihre Mischvarianten. Viele marxistische TheoretikerInnen haben sich etwa dem Theater oder der Literatur gewidmet und dabei von der Kunst gesprochen. Beschreibungen und Ansprüche bezogen sich dabei häufig auf das eine wie das andere, also auf kulturelle Praktiken im engeren Sinne von Kultur: auf Praxis, die im Feuilleton besprochen wird, weil sie nicht Politik, Wirtschaft oder Recht (in je engem Sinne) ist, sondern eigene, relativ autonome Traditionen sowie die daraus erwachsenen Anerkennungs- und Legitimationsmodi aufweist. Vielleicht paradigmatisch spricht Herbert Marcuse diese Position aus, wenn er in Die Permanenz der Kunst anmerkt, er schreibe eigentlich über Literatur und sei gar nicht qualifiziert, über Malerei, Skulptur und Musik zu sprechen, um dann hinzuzufügen, »trotzdem aber glaube ich, daß das am Beispiel der Literatur Gesagte mutatis mutandis auch für diese Künste gilt.«[13] Zwar ist tatsächlich in Texten von Marx bis Negri von ›Kunst‹ im allgemeinsten Singular die Rede und es kann der Eindruck entstehen, als handele es sich bei all diesen Schriften um Behandlungen ein und desselben Gegenstands. Aber Kunst ist selbstverständlich – auch mit dem einschränkenden Adjektiv ›bildende‹ davor – kein einheitlicher und kein statischer Gegenstandsbereich. Zwar galten etwa die Gemälde Manets zu Zeiten ihrer Entstehung als Kunst (wenn auch noch nicht als gute, legitime Kunst) und sie tun es heute auch noch bzw. umso mehr. Zugleich aber hat sich der Status und Stellenwert eines Gemäldes im Kontext aller anderen visuellen Objekte seit dem 19. Jahrhundert mehrmals gewandelt. Nicht nur im Vergleich zu anderen (kunstinternen) Genres wird die Malerei anders gewertet als im 19. Jahrhundert, auch haben Gemälde in Relation zu anderen Bildern einen völlig anderen (und wesentlich weniger bedeutsamen) Stellenwert als vor der Erfindung der Fotografie und des Films und des Fernsehens und Instagram. Kunstinterne Entwicklungen – ready made und konzeptuelle Kunst, performative und partizipative Kunst – haben also auch das verändert, was als ›Kunst‹ beschrieben wird. Und zugleich haben kunstexterne technologische und soziopolitische Entwicklungen (von der Fotografie bis zu Facebook) in den Selbstverständigungsprozess über das, was Kunst ist, eingegriffen und damit nicht zuletzt auch den sozialen Stellenwert der Kunst verändert. Wie die ›Kunst‹ konzipiert ist, muss daher letztlich immer auch als Teil der Auseinandersetzung um ihre Potenziale und Effekte begriffen werden.

Bei aller Vielgestaltigkeit und bei allen poröser werdenden Grenzen ist das, was als ›bildende Kunst‹ bezeichnet wird, vor allem das historische Produkt europäischer Diskurse und Praktiken seit der Renaissance – mit ihren Anleihen an und Bezügen auf, Abgrenzungen zu und vor allem wohl Unterdrückungen von andere(n) Traditionen außerhalb ihrer selbst. Sie hat sich, wie der peruanisch-mexikanische Kunsttheoretiker Juan Acha es genannt hat, als eines von drei »spezialisierten ästhetischen Produktionssystemen«[14] herausgebildet (neben Handwerk und Design und in Abgrenzung von ihnen). Die Produktion, Rezeption und Distribution von Kunst geschieht innerhalb konkret-historischer sozioökonomischer Herrschaftsverhältnisse (ohne dass sie sich direkt von diesen ableiten ließe). Die chilenische Kulturkritikerin Nelly Richard beschreibt diese »international imbalances in cultural power«[15] als erstens eine Form von sozioökonomischer Struktur, die die Teilnahme am Kunstgeschehen je nach Nähe und Entfernung zu Europa-Nordamerika wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht, und zweitens als Praktiken jener, die in das »international network of management of ›symbolic capital‹«[16] involviert sind. Diese Praktiken fungieren zugleich als »network of authority«[17], das auch die kulturelle Wertigkeit, d.h. die Legitimität von Prozessen gewährleistet. Dementsprechend herrscht auch in der linken Theorie zur Kunst ein unübersehbarer Eurozentrismus vor, der einerseits gewissermaßen strukturell dem (eurozentrischen) Gegenstand geschuldet ist, andererseits aber auch auf Ignoranz gegenüber künstlerischen Entwicklungen wie auch gegenüber linken Positionen von außerhalb des westeuropäisch-nordamerikanischen Theorie-Universums gründet. Ich habe mich bemüht, zumindest Positionen aus Lateinamerika zu integrieren. (Einem potenziellen Anspruch, linke Theorie aus Lateinamerika, Afrika und Asien auch nur annähernd gleichberechtigt darzustellen, werde ich hier nicht gerecht.)

Sicherlich reagiert Kunst auf sozialen Wandel und politische Aufbrüche und ist durch sozioökonomische Bedingungen präfiguriert. Allerdings ist mit den meisten linken TheoretikerInnen auch davon auszugehen, dass die Entwicklungen innerhalb der Kunst immer bloß stark vermittelte Bezüge zu wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Situationen aufweisen. Die Geschichte der künstlerischen Produktion, der Stilentwicklung und auch der Rezeptionsakte, schrieb der marxistische Kunstsoziologe Arnold Hauser (1892–1978), »rührt nicht von einem Antagonismus zwischen den gesellschaftlichen und den künstlerischen Interessen her, sondern ist die Folge von Konflikten innerhalb der künstlerischen Absichten, Probleme, Lösungsmöglichkeiten und Darstellungsmittel, kurz, das Ergebnis einer individuellen Differenzierung, eines Geschmacks- und Stilwandels, zu welchen die gesellschaftliche Entwicklung bloß den Anlaß gibt, die aber nicht von einer Widersprüchlichkeit zwischen Kunst und Gesellschaft ausgehen.«[18] Auch wenn ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ weniger als zwei stabile Blöcke verstanden werden, dessen kleinerer (Kunst) sich im größeren (Gesellschaft) bewegt, und auch wenn es kein direkt ableitbares Einflussverhältnis zwischen dem Allgemeinen (Gesellschaft) und dem Besonderen (Kunst) gibt, besteht doch ein irgendwie gearteter Zusammenhang, eine gegenseitige Durchdringung. Die Frage, die sich linken TheoretikerInnen im Gegensatz zu anderen, mit Kunst befassten Menschen stellt, ist nun allerdings nicht nur die danach, wie die Vermitteltheit zwischen ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ aussieht und zu begreifen ist, sondern auch, wie sie aussehen sollte. Nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ an die Kunst heranzutreten, vereint alle im Folgenden besprochenen Ansätze. Diese normative Haltung ist ein häufig nicht explizit gemachter Anspruch in der Beschreibung von Kunst. Wie in künstlerischen Selbstbeschreibungen oder Museumstexten wird auch in theoretischen Texten nicht selten stillschweigend (oder auch lauthals) vorausgesetzt, was im Grunde prinzipiell zur Debatte steht: dass ein bestimmtes Gemälde oder eine Installation irgendwelche Effekte auf die Wahrnehmung (nicht nur) der BetrachterInnen hat, dass es oder sie den Raum, in dem es oder sie hängt, erweitert oder überhaupt erst formt, dass Performances neue Kollektivitäten evozieren o.Ä. Es wird also angenommen, dass Kunst, vor allem gute Kunst, ins Soziale eingreift. Die Kultur im spezifischen Sinne von beispielsweise Praktiken bildender Kunst, so wird behauptet, formt oder gestaltet Kultur im allgemeinen Sinne, verstanden als umkämpfte Prozesse der Sinn- und Bedeutungsproduktion. An diesem Punkt lässt sich durchaus nachhaken. Theorie – ob philosophische, soziologische oder ästhetische – adressiert sehr gerne ›die Kunst‹. Ein so allgemeiner Gegenstand ist im Hinblick auf allgemeine Aussagen über allgemeine Funktionen sicherlich legitim. Aber es muss auch die Frage gestellt werden, welche Art von Kunst in welcher Situation eigentlich gemeint ist. Es lässt sich dann durchaus auch die ganz konkrete Frage stellen, inwiefern eine Skulptur von Giacometti oder von Damian Hurst auf die soziale Welt oder die bestehende »Aufteilung des Sinnlichen« (Jacques Rancière) einwirkt, ob sie es überhaupt tut und wenn ja in welcher Weise. Tut sie es anders als ein Gemälde von Courbet? Und eine Performance von Andrea Fraser? Gibt es künstlerische Praktiken, die, falls sie es überhaupt merklich tun, auf möglicherweise bessere (emanzipatorische) Art ins Soziale eingreifen als andere? Solche konkreten Fragen werden innerhalb linker Theorie, wie sich zeigen wird, ebenso aufgeworfen wie auch verdeckt, diskutiert wie auch ausgeblendet.

Ich beschränke mich in diesem Buch aus pragmatischen Gründen auf bildende Kunst und die Frage, wie sie in linker Theorie auftaucht. Das grenzt zwar enorm ein, bietet allerdings noch ausreichend weiteren Klärungsbedarf. Denn selbst bei einer Beschränkung auf bildende Kunst muss nicht unbedingt jene ausschließliche und ausschließende Praxis gemeint sein, die mit großen Namen und hohen Preisen verbunden ist, die heute große Teile des internationalen Kunstfeldes prägt und von der eingangs die Rede war. Bildende Kunst existiert auch in unzähligen und ungezählten Varianten individuellen und kollektiven Schaffens jenseits der großen Ausstellungshäuser und jenseits von Kunstmessen. Und sie motiviert auch noch ganz andere AkteurInnen als SammlerInnen oder KunstkritikerInnen zu Bezugnahmen, sie interveniert in andere Felder oder Systeme und wird selbstverständlich auch von diesen beeinflusst und verändert. Einerseits ragen etwa Praktiken aus dem Kunstfeld heraus in den politischen Aktivismus, andererseits fließen aber auch Praxismuster, Wertmaßstäbe aus anderen kulturellen Feldern wie der Mode oder auch aus kulturfernen Bereichen wie der Ökonomie in die Kunst ein. Dabei ist all dies, inklusive der gebrauchten Begrifflichkeiten, bereits Teil der Debatte, die im Folgenden erst am Beispiel linker Theorie ausgeführt werden soll.

Schließlich möchte ich noch einige Bemerkungen dazu anbringen, wie ich das Thema die Linke und die Kunst angegangen bin. Es geht in diesem Buch nicht in erster Linie um linke Kunsttheorie, sondern um den Stellenwert der Kunst in linker Theorie insgesamt. Erst die Tatsache, dass linke Theorie sich mit Politik und Ökonomie, auch mit Kultur insgesamt, aber gerade nicht schwerpunktmäßig mit Kunst beschäftigt hat (und beschäftigt), macht die Frage nach ihrem Stellenwert zu einer reizvollen und vielversprechenden. Karl Marx, Leo Trotzki oder Simone de Beauvoir und Frantz Fanon waren keine KunsttheoretikerInnen, aber die Kunst kommt dennoch in ihren gesellschaftstheoretischen Entwürfen und politischen Schriften vor. Auf disziplinäre Zuordnungen (Soziologie, Philosophie, Ästhetik, Kulturwissenschaften etc.) wird in dieser Arbeit zunächst keine Rücksicht genommen. Insofern ist sie also weder Überblick über linke Kunstsoziologie, noch eine Skizze historischer ästhetiktheoretischer Entwürfe. Dieses Vorgehen, bloß allgemeine linke Theorie (und nicht linke Kunsttheorie) auf Kunsterwähnungen hin abzuklopfen, ist allerdings auch nicht ganz konsistent durchzuhalten. Das liegt weniger an der Analysemethode als am Gegenstand selbst. Denn spätestens ab den 1960er-Jahren, im Grunde aber schon drei bis vier Jahrzehnte früher, sind ästhetische Fragestellungen und kulturtheoretische Überlegungen, die sich jeweils nicht nur, aber auch um Kunst drehen, längst nicht mehr marginalisiert in der linken Theorie. Zwar lässt sich das Ausblenden kultureller Aspekte etwa in den ökonomischen Analysen der marxistischen Dependenztheorien der 1960er- und 70er-Jahre beklagen, gleichzeitig existierte aber eine transnationale marxistische Ästhetikdebatte und die durch die Kritische Theorie oder auch durch Antonio Gramsci aufgeworfenen, kulturtheoretischen Fragestellungen in der Gesellschaftstheorie waren längst etabliert. Kunst kam darin auch immer vor. Darüber hinaus tritt auch linke Kunsttheorie verstärkt nicht mehr länger allein als Theorie über Kunst, sondern eher als von Kunst ausgehende Theorie über Gesellschaftsformationen sowie Strukturen und Praktiken auch außerhalb künstlerisch-ästhetischer Bereiche auf. Man würde etwa Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels (1967) falsch interpretieren, läse man es bloß als Kunsttheorie. Von Debord bis Martha Rosler sind zudem linke KünstlerInnen selbst die ProduzentInnen linker Theorie. Eine Trennung wäre hier also nicht nur albern akademisch, sondern sinnlos. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, habe ich mit den einzelnen Kapiteln nicht nur Positionen einzelner AutorInnen beschrieben, sondern jeweils ein ganzes Geflecht aus kunsttheoretischen Einlassungen nachvollziehbar zu machen versucht.

Es versteht sich wohl von selbst, dass dabei in keinerlei Hinsicht so etwas wie Vollständigkeit gewährleistet werden kann: Weder die Liste der vorkommenden Namen, der behandelten Positionen, noch jene der Problematiken, die im Verhältnis von der Linken zur Kunst aufgetreten sind und auftreten, ist in irgendeiner Weise komplett. Dennoch hege ich selbstverständlich die Hoffnung, einen plausiblen Überblick liefern zu können.

Einerseits soll eine gewisse Chronologie gewahrt (bzw. auch hergestellt) werden. Auch wenn Marx nicht der erste linke Theoretiker der Geschichte ist, bedarf es vielleicht nicht allzu großer Rechtfertigungen, mit seinen Positionen zu beginnen. Mit der De-Naturalisierung und der Historisierung der Kunstpraxis (Produktion wie Rezeption) leitet Marx eine Abkehr von Kunstbetrachtungen im Anschluss an Kant und Hegel ein, die es rechtfertigt, diese beiden Vorläufer und wichtigen Bezugspunkte auch heutiger Auseinandersetzungen in dieser Arbeit auszuklammern. Um dem Marxismus in all seinen Formen aber auch nicht das Monopol auf linke Theorie zuzuschreiben, setze ich das Buch mit dem Anarchismus fort, der einen weiteren – gerade für die künstlerischen Avantgarde-Bewegungen mindestens ebenso wichtigen – Strang von linker Theorie etablierte. Wenn dann vom Marxismus-Leninismus über Feminismus bis hin zur post- und dekolonialistischen Theorie verschiedene Debattenfelder, also theoretische Formationen benannt und beschrieben werden, soll damit nicht gesagt sein, dass sie jeweils abgeschlossen für sich existiert haben (und existieren) oder dass das eine Feld das andere historisch obsolet hat werden lassen. Theoretische Formationen entstehen aus gemeinsam geteilten Fragestellungen, bestehen aus gemeinsamen Grundannahmen und Methoden und sind dennoch nicht scharf abgrenzbar, sie sind methodologisch und historisch immer dynamisch und sie überlappen einander.

Neben der Ausrichtung an diesen mit Labels wie Kritische Theorie oder Postoperaismus beschriebenen theoretischen Formationen orientiert sich der Text andererseits aber auch an Problematiken, die im Verhältnis von linker Theorie und Kunst zentral waren und sind, argumentiert entlang thematischer Schwerpunkte und versucht, einige Grundbegriffe der Debatte zur Kunst innerhalb der Linken zu (er-)klären. Dabei müssen notgedrungen Vereinheitlichungen vorgenommen werden, die in anderem Rahmen wieder zu entwirren und auszudifferenzieren wären: Während ein zusammenfassendes Label wie Kritische Theorie längst relativ gefahrlos benutzt werden kann, auch wenn selbstverständlich nie abschließend zu klären ist, wer und welche Positionen noch dazu gehören und welche nicht, sind Bezeichnungen wie Black Liberation oder auch Feminismus selbstverständlich wesentlich offener und größer. Dementsprechend gewagt ist es, sie für kleine Kapitel zu benutzen, da mit Erwähnungen und Auslassungen selbstverständlich in den Diskurs um den Gegenstand eingegriffen (und dieser nicht nur abgebildet) wird. Zum Zwecke einer Überblicksdarstellung lassen sich solche Zusammenfassungen aber nicht vermeiden. Auch wenn sich auch über die Triftigkeit der jeweiligen von mir sogenannten theoretischen Formation sicherlich streiten lässt, ergeben sich ihre Plausibilitäten dann inhaltlich.

Dieser Überblick liegt mit dem Fokus auf theoretische Formationen quer zu den Debatten um ›Kunst und Politik‹. Es geht eher darum, allgemeine Bedingungen des Verhältnisses zwischen beiden zu beschreiben als spezifische Fälle künstlerischer Politik vom »Surrealismus im Dienste der Revolution« oder dem Verhältnis von Joseph Beuys zur Partei Die Grünen bis zum sogenannten Artivismus zu diskutieren.

Es werden die groben Linien theoretischer Herangehensweisen – durchaus auch entlang konkreter künstlerischer Arbeiten oder spezifischer Fragestellungen – nachgezeichnet, die den alltäglichen Auseinandersetzungen im Kunstfeld und darüber hinaus zugrunde liegen. Die ausgewählten theoretischen Formationen werden vor allem hinsichtlich dreier Fragen diskutiert: Erstens: Welches Verständnis von Kunst wird vertreten? (I) Zweitens: Welcher Stellenwert wird der so verstandenen Kunst in der Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse eingeräumt? Wie verhält sich die Kunst zu anderen Strukturbereichen und anderen Praktiken, die nicht Kunst sind? Und welche Kunst ist überhaupt gemeint? (II) Und drittens: Was wird von der Kunst erwartet? Ist sie Teil emanzipatorischer Veränderungen oder steht sie ihnen im Wege? (III)

Damit soll dieser Überblick Folgendes leisten: Es wird erstens deutlich werden, dass Kunst überhaupt eine wichtige, wenn auch nur selten eine zentrale Rolle in linker Theorie gespielt hat (und spielt). Bei Marx  /  Engels und Proudhon angefangen, spielt die Kunst in der Theorie der Linken keine unbedeutende Rolle, sie taucht in unzähligen gesellschaftstheoretischen Entwürfen auf und ihr werden gleichermaßen befreiende wie regressive, emanzipatorische wie verschleiernde und verdinglichende Potenziale zugeschrieben. Um das nachzuzeichnen, werden zweitens die unterschiedlichen Argumentationslinien nachvollzogen, mit denen diese jeweilige Rolle und Funktion begründet wurde, und es wird aufgezeigt, wie genau diese eigentlich definiert wurde. Wenn auch über den Stellenwert der Kunst für die jeweilige Gegenwartsgesellschaft häufig nicht sehr viel in Erfahrung zu bringen ist, so ist es doch auffällig, wie stark die Bezüge zur Kunst sind, wenn es um Prozesse und Praktiken der Emanzipation geht. Diese Tatsache fällt vielleicht in ihrer Deutlichkeit erst in der Zusammenschau der so unterschiedlichen Ansätze auf. Die Positionen zur Kunst werden drittens nicht nur für einzelne AutorInnen, sondern anhand einer ganzen Reihe linker theoretischer Formationen nachgezeichnet – eben von Marx und Engels über den Anarchismus, den Feminismus, Black Liberation bis hin zum Postoperaismus und zur post- und dekolonalistischen Theorie.

Auch wenn es mir in erster Linie um eine Überblicksdarstellung geht, ist der Text selbstverständlich nicht frei von eigenen Stellungnahmen. Eine These, die sich aus der Darstellung ergeben hat und die sich durch das Buch zieht, ist die, dass es im Wesentlichen drei Brüche oder Risse gab und gibt, die die linke, theoretische Auseinandersetzung mit der Kunst geprägt haben und prägen. Die Produktion und Rezeption von Kunst werden bereits von Marx gegenüber idealistischen Ansätzen zu ihrer Erklärung als historisch und sozial ausgewiesen. Diese Historizität und Sozialität der Produktions- und Rezeptionspraxis von Kunst werden in der Folge dann etwas verengt als Widerspiegelung interpretiert – Werke wie auch der Umgang mit ihnen spiegeln demnach soziale Verhältnisse wider. Der erste Bruch, der sich in der Konzeptionalisierung von Kunst in der Linken ergibt, ist jener mit dem Widerspiegelungstheorem. Während im Anschluss an Marx und Engels und in vielen Varianten des Anarchismus, vor allem aber im Marxismus-Leninismus Kunst als (Mittel der) Widerspiegelung gedacht war, bricht vor allem die Kritische Theorie mit dieser Herangehensweise. Kunst spiegelt demnach nicht länger Wirklichkeit wider, womit auch der normative Fokus auf die Frage, wie sie die Widerspiegelungsfunktion erfüllen soll – etwa in Form von realistischen Darstellungen – seine dringende Relevanz verliert. Kunst wird als Gegenstand mit eigensinniger Logik und eigenständiger Wahrheit konzipiert. (In dieser Konzeption wird letztlich wieder an Kant und Hegel angeknüpft.) Der zweite Bruch verabschiedet dieses Verständnis vom eigensinnigen, autonomen Kunstwerk. Er beginnt mit Walter Benjamin, der infrage stellt, dass nach der technischen Reproduzierbarkeit so etwas wie ein Kunstwerk überhaupt noch sinnvoll ohne seinen institutionellen Kontext untersucht werden kann. Hier trennen sich marxistische Ästhetik, die sich nach wie vor dem autonomen Kunstwerk widmet, und materialistische Kunstsoziologie, die auf dessen Kontexte, sprich Produktionsverhältnisse ausgerichtet ist. Dieses Kunstverständnis wird in den materialistischen Praxistheorien ausgeführt. Der dritte Bruch oder Riss erweitert diese Herangehensweise. Ausgelöst von feministischen und Black-Liberation-Theorien, aber auch – unabhängig von diesen – innerhalb der materialistischen Praxistheorien, wird der Kontext (das Feld) als konstitutiv für die Produktion und Rezeption von Kunst begriffen. Sie erweist sich dabei nicht nur generell als sehr voraussetzungsreich, sondern letztlich als soziales Privileg vergleichsweise weniger. Post- und dekolonialistische Ansätze vertiefen diesen Bruch, indem sie darauf hinweisen, dass die bildende Kunst überhaupt nur im Zusammenhang mit der Herausbildung einer politischen und symbolischen Ordnung unter ›westlicher‹ Hegemonie zu verstehen ist. Die Brüche – von der Widerspiegelung zum autonomen Kunstwerk, vom autonomen Kunstwerk zur Institution Kunst und von der Kunst als Institutionengefüge zur Kunst als privilegiertes Praxisfeld – lassen sich zwar chronologisch beschreiben, es gibt aber jeweils auch Ideen und Konzepte, die sie vorbereiten. Und sie sind auch keine absoluten Brüche im Sinne von Paradigmenwechseln: Vom autonomen Kunstwerk wird auch nach der kunstsoziologischen Wende noch gesprochen und nicht jeder Fokus auf Kunst als Privileg ist zugleich eine feld- oder institutionenkritische Analyse. Deshalb ist es vielleicht sinnvoller, von Rissen zu sprechen, die sich durch die Auseinandersetzung mit Kunst innerhalb linker Theorie ziehen und die mal mehr, mal weniger aufklaffen. Die eingangs erwähnte Exklusivität jedenfalls wurde auch vom Anarchisten Michael Bakunin bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Kunst moniert – mehr dazu im Anarchismuskapitel.

Um die Darstellung nicht mit der eigenen These zu überfrachten, greife ich sie vor allem im Schlusskapitel wieder auf. Vor allem geht es in diesem Buch um die Zusammenschau der verschiedenen Ansätze, die so meines Wissens noch nicht gemeinsam dargestellt und in Beziehung gesetzt wurden. Auf der Suche nach einer Einführung zum Thema ›die Linke und die Kunst‹ war ich erfolglos geblieben. Das war die zentrale Motivation, sie selbst zu schreiben.

01. »wirksamer als hundert Flugschriften«

Die Kunst bei Marx & Engels

I.

In einem Aufsatz von 1846 lobt Friedrich Engels das Bild des Düsseldorfer Malers Carl Wilhelm Hübner (1814–1879) »Die schlesischen Weber« (1844  /  45) als eines, das »verständlicherweise so manches Gemüt für soziale Ideen empfänglich gemacht«[19] habe. Das Gemälde zeigt eine Gruppe armer Weberinnen und Weber, die einem ebenfalls dargestellten Verleger die Produkte ihrer Arbeit anbieten. Der zweigeteilte Bildaufbau zeigt links den potenziellen Käufer in der Pose eines Aristokraten und mit der Mimik eines unerbittlichen Geschäftsmanns, in der rechten Bildhälfte die armen und verzweifelten Weberinnen und Weber, die ihm ausgeliefert sind. Während der Verleger auf einem Teppich vor seinem im Hintergrund sichtbaren, gut ausgestatteten Wohnbereich steht, kauern die Weberinnen und Weber auf kargem Steinfußboden. Der Klassenantagonismus ließe sich kaum deutlicher ins Bild setzen. Engels hielt Hübner für »einen der besten deutschen Maler« und sagte über das Bild – das in drei Versionen existiert und auch in zeitgenössischen Ausstellungen zu sehen war –, es habe »wirksamer für den Sozialismus agitiert […] als hundert Flugschriften.«[20]

Der bildenden Kunst wird hier enorme soziale Relevanz zugesprochen. Sie kann nicht nur empfänglich machen für neue Denkweisen, sondern diese Ideen sogar zur Wirkung bringen, ohne es – anders als beispielsweise Flugschriften – in besonderer Weise darauf angelegt zu haben. Trotz dieses Potenzials, das Engels ihnen hier zuspricht, haben künstlerische Arbeiten in der marxistischen Theorie nicht gerade eine Hauptrolle gespielt. Marx und Engels waren keine Kunsttheoretiker und Kunst kommt in ihren Werken kaum vor. Auch im Gros der marxistischen Gesellschaftswissenschaften spielt Kunst keine entscheidende Rolle. Aber es gibt auch Ausnahmen: Eine Vielzahl marxistischer AutorInnen verschiedenster Schulen und akademischer Disziplinen beschäftigten sich mit Kunst und ihrem gesellschaftlichen Stellenwert: von theorieaffinen PolitikerInnen wie Lenin, Plechanow, Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci über Soziologen wie Arnold Hauser bis zu Philosophen wie Adolfo Sánchez Vázquez oder Theodor W. Adorno. Der marxistische Historiker Perry Anderson hat sogar die Aufmerksamkeit für Kultur als zentrales Charakteristikum der ganzen Tradition des von ihm sogenannten ›westlichen Marxismus‹ ab den 1920er-Jahren ausgemacht – und kritisiert. Anderson sah in der Hinwendung marxistischer TheoretikerInnen zu Literatur und Kunst ein Symptom für die Abwendung des Marxismus »von jeder revolutionären Praxis.«[21] Nicht nur die Ökonomie wurde laut Anderson durch die Hinwendung zur Kultur vernachlässigt, auch die Verbindung der Theorie zur ArbeiterInnenbewegung wurde gekappt. Allerdings kommt Anderson nur deshalb zu diesem negativen Urteil, weil er hier Kunst und Kultur fälschlicherweise weitgehend gleichsetzt. Er sieht nicht (oder will nicht sehen), dass mit Kultur nicht nur spezifische Praktiken gemeint sind (wie eben Kunstmachen und -rezipieren), sondern dass Kultur auch als ein alle Denk- und Wahrnehmungsweisen betreffendes Terrain von Kämpfen verstanden werden kann (und von den ›westlichen‹ MarxistInnen verstanden wurde). Ich komme darauf zurück.

Zugleich jedenfalls gab und gibt es auch neben der allgemeinen Kulturaffinität (›westlicher‹) marxistischer TheoretikerInnen eine spezifische marxistische Kunstgeschichte. Hier lassen sich beispielsweise mit Warren Carter die drei Phasen der »interwar, post-68 and contemporary incarnations«[22] unterscheiden. Auch wenn es spezifische Auseinandersetzungen mit künstlerischen Arbeiten und Fragen des Kunstpublikums und der Kunstinstitutionen gab und gibt, muss die marxistische Kunstgeschichte allerdings in allen drei Phasen immer als eine bloß tendenziell von anderen disziplinären Feldern wie der Soziologie oder der Philosophie abgegrenzte begriffen werden. Wäre marxistische Kunstgeschichte nicht immer auch die Geschichte anderer Produktionsverhältnisse (oder zumindest in ihre Fragestellungen verwoben), wäre sie wohl nicht mehr marxistisch. Da Marxismus für die Linke selbstverständlich ein zentraler, wenn nicht überhaupt der Bezugspunkt schlechthin ist, werden im Folgenden zunächst einige weitere Grundzüge marxistischen Kunstverständnisses skizziert. Die sich entwickelnden Differenzen und Differenzierungen innerhalb marxistischer Debatten sind jeweils expliziter Gegenstand späterer Kapitel.

Der marxistische Literaturkritiker und Philosoph Michail Lifschitz (1905–1983) macht in der Einleitung seines Buches Karl Marx und die Ästhetik (1931) eine erstaunliche Bemerkung. Er schreibt: »Die Bedeutung der Theorie von Marx wäre selbst dann für die Philosophie der Kunst enorm gewesen, wenn wir nichts von den ästhetischen Ansichten der Begründer des Marxismus wüßten.«[23] Wie kann die enorme Bedeutung zustande kommen, muss man sich fragen, wenn man nichts darüber weiß bzw. wüsste, worauf sie sich im Konkreten gründen könnte? Lifschitz, der in den 1930er-Jahren mit Georg Lukács befreundet war und später zu einem führenden marxistisch-leninistischen Theoretiker in Sachen Kunst und Ästhetik in der Sowjetunion wurde – ab 1975 leitete er die Kunstakademie der UdSSR –, begründet diese These so: Historisch hat die Ästhetik da ihren Wert und ihre Relevanz, wo das Bürgertum um individuelle Freiheit kämpft. Wie verschleiert auch immer, werden in Fragen der Kunst die Fragen menschlicher Emanzipation verhandelt. Dann aber tritt das Proletariat auf die Bühne der Weltgeschichte, und die Frage der Emanzipation wendet sich dem Funktionieren von Ausbeutung und ihrer Aufhebung durch das neue Subjekt der Geschichte zu. Insofern Marx und Engels ihre Aufmerksamkeit auf diese Frage richten und sich von der Kunst abwenden, befinden sie sich (nach Lifschitz) »auf der Höhe der geschichtlichen Aufgaben«[24]. Vor dem Hintergrund der fortschrittsorientierten Geschichtsauffassung von Marx ist die Beschäftigung mit Kunst derjenigen mit dem Klassenkampf klar untergeordnet.

Dennoch, und damit beschäftigt sich Lifschitz im Folgenden wie viele andere auch, gibt es bei Marx eine intensive Beschäftigung mit Ästhetik, Kultur und auch mit Kunst im engeren Sinne. Die Frage, wie die Kunst in Bezug auf die materiellen Verhältnisse, die Kontrolle über die Arbeit und hinsichtlich Ausbeutung und Entfremdung zu begreifen ist, versteht sich auch dann nicht von selbst, wenn man, wie Lifschitz, das unbezweifelbare Primat der Ökonomie ausruft. Auch wenn die kapitalistische Arbeitsteilung die materiellen Grundlagen jeder, auch der künstlerischen Produktion bestimmt, ist absolut erklärungsbedürftig, inwiefern die konkrete Form dieser künstlerischen Arbeit davon betroffen, beeinflusst und geprägt ist. Und schließlich folgten selbst viele MarxistInnen dieser vermeintlich logischen Festlegung auf eine ökonomische Letztinstanz nicht immer und klagten eine relative Autonomie des Kulturellen ein, wie sich im Verlaufe dieses Textes zeigen wird.

Auch wenn in der Geschichts- und Gesellschaftstheorie Marx’ »die theoretische Bestimmung von Kunst unklar und widersprüchlich geblieben«[25] ist, wie Otto Karl Werckmeister betont, so gibt es doch einige Stellen bei Marx, anhand derer von einer Marx’schen Kunstauffassung gesprochen werden kann. Dabei geht es zunächst um eine bestimmte Art und Weise der Aneignung von Welt, Marx spricht von der »künstlerisch-, religiös-, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt«.[26] Jeder tätige Eingriff in vorhandene Wirklichkeit ist eine kulturelle Praxis. Marx bemerkt schon in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« (1844), der »Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, […] ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit in der Form, […] erst menschlicher Genüsse fähige Sinne« würden durch den »gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesen« geschaffen, »teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt.«[27] Historische kulturelle Praxis bringt demnach die Werkzeuge für weitere Produktion als auch die Mittel zur Aneignung, zum Genuss dieser Produktion hervor. Damit formuliert Marx auch ein gegen die Anthropologie und ihre Wesensannahmen gerichtetes Verständnis des Menschen und seiner Produktion und Konsumtion.

Künstlerische Produktion ist eine besondere Form kultureller Praxis. In ihr wird das Gestalten zum »konstitutiven Spezifikum«: »Künstlerische Produktion«, schreibt der marxistische Kulturtheoretiker Thomas Metscher erläuternd, »ist kompositorisches Machen: gestalthaftes Formen künstlerischer Welt, das Bilden einer ästhetischen Weltgestalt.«[28] Dabei ist nicht stark genug zu betonen, dass dieses gestalthafte Formen keineswegs das Monopol künstlerisch-kreativer AkteurInnen ist, sondern dass auch dieses immer im Kontext jener Formierung von »öffentlicher Moral und der damit korrespondierenden Produktion von Körpern, Gefühlen und Empfindungen«[29] zu sehen ist, die der Kapitalismus als soziales Verhältnis leistet – worauf der mexikanische Marxist Alberto Híjar Serrano hinweist.

Einerseits sind die Produktions- und Eigentumsverhältnisse die Grundlage jeder Kunstproduktion, andererseits determinieren sie aber weder die Produktion noch die Konsumtion. Darauf weist Marx hin, wenn er mit Blick auf die Kunst der griechischen Antike betont, dass die Wirkungen und Effekte bestimmter Kunst relativ unabhängig von den Bedingungen ihrer Entstehung sind: »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Erscheinungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.«[30] Mit einer einfachen ökonomistischen Ableitung ist diese Schwierigkeit nicht zu bewältigen. Die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und der sozialen Formationen determiniert also weder die Kunstproduktion noch ihre Rezeption.

Für die marxistische Auseinandersetzung mit Kunst werden verschiedene Fragen auf unterschiedlichen Ebenen zentral: Erstens stellt sich die Frage, wie sich die künstlerische Produktion von anderen Produktionsformen unterscheidet und was sie mit ihnen gemeinsam hat. Hier geht es um die Frage der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Ob ein »Individuum wie Raffael sein Talent entwickelt«, schreibt Marx in Die Deutsche Ideologie, »hängt ganz von der Nachfrage ab, die wieder von der Teilung der Arbeit und den daraus hervorgegangenen Bildungsverhältnissen der Menschen abhängt.«[31] Marx hebt hier generell hervor, dass die Rezeption bzw. der Konsum konstitutiv ist für die Kunst(verhältnisse). Die gesellschaftliche Nachfrage bedingt letztlich auch die Möglichkeiten des Kunstschaffens selbst. Zugleich wird das Moment der Bildung als Voraussetzung für Kunstproduktion und -rezeption eingeführt. Dies bleibt ein zentraler, wenn auch manchmal nur am Rande behandelter Topos innerhalb linker Auseinandersetzungen mit Kunst. Er prägt aber ganz wesentlich die kritische Kunstsoziologie, die Bildung als Voraussetzung für den Kunstkonsum stark in den Fokus rückt. Zweitens steht viel auf dem Spiel, wenn kulturelle Produktion die Sinne zu ihrer eigenen Wahrnehmung erst erzeugt. Können diese erzeugten Sinne die Welt erkennen, wie sie wirklich ist, oder sehen sie nur, was bestimmte kulturelle Produktionen ihnen vorgeben zu sehen? Das ist die Frage nach Wahrheit und Schein, universellem Geltungsanspruch von Erkenntnis und Ideologie. Kunstproduktion und -rezeption ist also immer in die Produktion von Wahrheit und Ideologie verstrickt. Welcher Seite sie eher zuarbeitet, der Wahrheit oder der Ideologie, ist keineswegs ausgemacht. Hier schwankte Marx selbst zwischen einer idealistisch-utopischen Auffassung, die die »Emanzipation der Kunst von gesellschaftlicher Organisation als solcher«[32] für möglich und wünschenswert hielt einerseits, und einem historisch-deterministischen Kunstverständnis, das »Kunst als eine unter anderen Formen von Ideologie«[33] begriff, andererseits. Dieses Schwanken findet sich letztlich in der gesamten materialistischen Kunsttheorie bis hin zum Poststrukturalismus, in dem versucht wurde, die Dichotomie von Wahrheit und Ideologie zu umgehen bzw. ihr zu entfliehen. Drittens ergibt sich daraus selbstverständlich auch die Frage, welche Rolle künstlerische Praxis – so marginal sie auch insgesamt für die Produktionsverhältnisse sein möge – in der Transformation dieser Verhältnisse spielen kann. Stärkt sie eher die Wahrheit oder die Ideologie? Und falls sie als wahrheitsfördernd erachtet – auch wenn man im Neomarxismus an den unbedingten Wahrheitsansprüchen nicht unbedingt festhalten will – und für den Umsturz der kapitalistischen Verhältnisse für tauglich gehalten wird, wie und auf welche Weise, in welcher Form ist die Kunst dann revolutionstauglich? Muss sie realistisch sein? Und was bedeutet dann Realismus? Oder sollte sie sich gerade nicht der bestehenden Wirklichkeit andienen und stattdessen experimentell und  /  oder verneinend sein? Massentauglich oder avantgardistisch? Einerseits durchziehen diese Fragen die marxistische (und allgemein die linke) Beschäftigung mit Kunst. Andererseits werden diese Fragen nach konkreten Formen – nicht nur verstanden als Stil, sondern allgemein als Art und Weise der Produktion – häufig ausgespart und die essenzialisierende Rede von ›der Kunst‹ überwiegt eindeutig gegenüber Versuchen, bestimmte Kriterien für gelingende künstlerische Arbeit zu formulieren. Viertens drängt sich daran anschließend noch die Frage auf, mit welchen Bündnispartnern sich die Kunstproduktion einlassen könnte und sollte, in welchen Allianzen, mit welchen Praktiken welcher Milieus sie sich verbinden, überlappen, kurzschließen könnte oder müsste, um gesellschaftlich effektiv zu interagieren. Das war zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Kunstproduktion und ArbeiterInnenbewegung. Daran anschließend entstand auch wesentlich allgemeiner die Frage nach dem Zusammenhang der Kunstproduktion mit sozialen Bewegungen, wie sie verstärkt seit den 1960er-Jahren von so unterschiedlichen Theoretikerinnen und Theoretikern wie der US-amerikanischen Kunstkritikerin und Kuratorin Lucy Lippard und dem marxistischen mexikanischen Aktivisten und Theoretiker Alberto Híjar Serrano aufgeworfen und bis heute im Kontext des linken Poststrukturalismus etwa bei Gerald Raunig, Brian Holmes und Stevphen Shukaitis diskutiert und theoretisiert wird.

II.

Karl Marx hatte in »Grundrisse. Einleitung in die Kritik der politischen Ökonomie«, ohne sich kunstsoziologischen Fragen ausführlicher zu widmen, auf die Wechselwirkung zwischen konkreten Praktiken und allgemeiner Organisation des Sozialen hingewiesen. Es geht also um das Verhältnis konkreter Praktiken der Kunstproduktion und -rezeption zu den allgemeinen Formen sozialer Organisierungen und Beziehungen, aus denen heraus sie entstehen und in die sie (möglicherweise) eingreifen. Bezogen auf die künstlerische Produktion schreibt er: »Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis. Wenn die Konsumtion aus ihrer ersten Naturrohheit und Unmittelbarkeit heraustritt […], so ist sie selbst als Trieb vermittelt durch den Gegenstand. Das Bedürfnis, das sie nach ihm fühlt, ist durch die Wahrnehmung derselben geschaffen. Der Kunstgegenstand – ebenso jedes andere Produkt – schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.«[34]

Aus meiner Sicht ist dies eine der wichtigsten Stellen bei Marx zur Kunst überhaupt. Denn in der Marx’schen Betonung der Historizität der Sinne wird die Grundlage für sozialanalytische Herangehensweisen an das Kunstgeschehen gelegt. Produktion  /  ProduzentIn, Werk und Rezeption  /  RezipientIn stehen sich nicht länger als drei separate Einheiten gegenüber oder gar chronologisch nachgereiht in der Wirklichkeit, sondern sie sind ineinander verzahnt und letztlich gleichursprünglich. Marx beschreibt weniger drei Einheiten als eine soziale Dynamik. Dass auch »ein Subjekt für den Gegenstand« geschaffen wird, eröffnet den ganzen Bereich kultursoziologischer Fragen darüber, wie das Publikum, aber auch wie der  /  die KünstlerIn, der  /  die schließlich ebenfalls ein »Subjekt für den Gegenstand« ist, konstituiert sind. Sie werden nicht als gegeben angenommen. Auch Lifschitz bemerkt diese Stelle und hebt hervor, dass nach Marx »das ästhetische Bedürfnis […] nicht etwas biologisch Gegebenes [ist] vor jeder gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist ein historisches Produkt, das Resultat einer langen materiellen und geistigen Produktionsentwicklung.«[35] Er zieht dann allerdings kaum Konsequenzen aus dieser Einsicht.

Marx’ Beschreibung unterstellt immerhin bereits bestimmte, differenzierende Effekte der Produktion: Das Kunstpublikum muss erst erzeugt werden und wenig deutet darauf hin, dass klassenübergreifend bei allen Kunstsinnigkeit und Schönheitsgenussfähigkeit gleichermaßen ausgebildet werden. Hier wird also der Weg für die Beobachtung verschiedener, kollektiver Zugangsweisen zu Produktion und Rezeption von Kunst geöffnet. Mit dem »Subjekt für den Gegenstand« stellt Marx also auch Fragen der Subjektivierung, wie sie später Michel Foucault aufgeworfen hat – Subjektivierungsweisen als »Techniken und Technologien des Selbstverhältnisses«[36] – und macht sie zu einem Bestandteil kunsttheoretischer Auseinandersetzungen. Die Frage nach der Konstitution des Subjekts stellt sich auch deshalb, weil Kunst immer als Teil des kulturellen Prozesses insgesamt aufgefasst wird. Der kulturelle Prozess, schreibt Thomas Metscher, bewirkt »nicht nur eine Transformation des Subjekts, die Entwicklung seiner Potenzen, die Bildung nicht zuletzt seiner individuellen Identität, er bewirkt auch die Transformation der objektiven Welt – der natürlichen wie der bereits kulturell geformten –, in der sich der Prozess der Kultur vollzieht, die Transformation damit auch seiner natürlichen Grundlagen […].«[37] Die kulturellen Prozesse und ihre Auswirkungen auf die Konstitution von Individuen und Kollektiven ließen sich – von der Kunst ausgehend – nachvollziehen. Der Hinweis auf die Notwendigkeit eines erst zu schaffenden Kunstpublikums wird allerdings von der klassischen marxistischen Ästhetik kaum aufgegriffen und erst später bei Pierre Bourdieu, im Feminismus und mit der postkolonialistischen Theorie systematisch angegangen.

Bei Marx wird die Kunst zwar als besondere Aneignung und »Transformation der objektiven Welt« (Metscher) benannt, es wird aber wenig dazu gesagt, wie diese besondere Aneignungsweise zu den allgemeinen, den anderen Formen der Weltaneignung im Verhältnis steht. Wie groß der Anteil der Produktionsverhältnisse von Kunst insgesamt am kulturellen Prozess ist, wird nicht recht deutlich. Anders gesagt: Zum Stellenwert künstlerischer Produktion in der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft schreiben Marx und Engels nicht viel. Zwar ist davon auszugehen, dass sie den Kapitalismus für wenig kunstfördernd halten, dass Privateigentum und spezifische Arbeitsteilung also entfremdend wirken und nicht lebendige Arbeit[38] ermöglichen. Frank Biewer nennt das die These von der »Kunstfeindlichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft«[39]. Damit ist aber wenig darüber gesagt, welche Rolle und Funktion der künstlerischen Produktion – verglichen mit anderen Produktionsformen – in dieser Gesellschaft zukommt. Aus diesem Schweigen lässt sich zumindest mutmaßen, dass der Stellenwert auch nicht allzu hoch eingeschätzt wurde. Trotzdem hat sich immerhin Engels auch Fragen der Kunst zugewandt.

Die Stelle, an der vom »Subjekt für den Gegenstand« die Rede ist, ist aber noch aus einem weiteren Grund bedeutend. Neben der Grundlegung einer sozialanalytischen Herangehensweise an Kunst liegt schließlich, wenn auch »ein Subjekt für den Gegenstand« geschaffen wird, aus politisch-emanzipatorischer Sicht die Frage nahe, wie dieser Gegenstand beschaffen sein könnte, um eine bestimmte Form von Subjekten hervorzubringen, nämlich befreite. Diese Frage ist im Anschluss an Engels auch anarchistischen und neomarxistischen Kunst- bzw. Kulturtheorien gemeinsam und unterscheidet sie vom Großteil der Kunstgeschichte wie auch von der (sich nicht-normativ gebenden) empirischen Kunstsoziologie. Neben der analytischen eröffnet die Stelle aus der Einleitung zu den Grundrissen also auch die politische Dimension im Umgang mit Kunst in der linken Theorie. Die normativen Ansprüche, die Marx und Engels an das Kunstschaffen anlegten – oft konkretisiert an Auseinandersetzungen mit literarischen Werken, weniger der bildenden Kunst –, kommen in einem Brief von Friedrich Engels an Minna Kautsky recht deutlich zum Ausdruck. Engels schreibt hier (1885) über den Tendenzroman: Er erfülle seinen Zweck, wenn er »durch treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden konventionellen Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert, den Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht, auch ohne selbst direkt eine Lösung zu bieten, ja unter Umständen ohne selbst Partei ostensibel zu ergreifen.«[40]

Entscheidend scheint mir daran zweierlei, und zwar erstens der proklamierte Zweck der Kunst: Sie soll die »konventionellen Illusionen« über die Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit zerreißen und dazu beitragen, dass diese nicht als natürlich wahrgenommen werden. Dieser Anspruch auf Entnaturalisierung des Sozialen, also das Insistieren darauf, dass die Dinge und Verhältnisse nicht naturgegeben sind wie sie sind, ist und bleibt ein zentrales Motiv jeder linken Herangehensweise an Kunst. Zweitens allerdings knüpft Engels die Verwirklichung dieses Zwecks an gleichermaßen inhaltliche wie formale Vorgaben: »die treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse«. Ein Realismus wird hier implizit zur besten Waffe gegen die Naturalisierung des Sozialen erklärt. Es wird also angenommen, dass eine ganz bestimmte Herangehensweise an künstlerisches Schaffen dem ihr zugrunde gelegten Zweck am besten dienen kann. Hier hat die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts allerdings einige begründete Zweifel gesät, indem eine Vielzahl von Formsprachen und inhaltlichen Ausrichtungen entwickelt wurden, deren Ziel im Aufdecken und Angreifen der konventionellen Illusionen und der illusionären Konventionen bestand. Auch wenn Engels auf der anderen Seite das direkte Partei-Ergreifen unter Umständen ebenso wenig für nötig hält wie konkrete Handlungsanleitungen: Der besondere Stellenwert des Realismus (für den linken Umgang mit Kunst) scheint vorgezeichnet.

III.

Warum erhoffen sich marxistische TheoretikerInnen von der Kunst irgendwelche emanzipatorischen Effekte? Um den Marx’schen Standpunkt zu verstehen, ist vielleicht ein Blick auf das Verständnis künstlerischer Arbeit beim (marxistischen) spanisch-mexikanischen Philosophen Adolfo Sánchez Vázquez (1915–2011) hilfreich. Das Kunstwerk ist nach Sánchez Vázquez wegen seines individuellen und konkreten Charakters von anderen Ergebnissen menschlicher Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen zu unterscheiden. Es ist das Ergebnis einer bestimmten Form von Arbeit und nicht auf allgemeine abstrakte Arbeit zu reduzieren. Es generiert einen Gebrauchswert, der sich aus der Handhabung des Materials durch die  /  den KünstlerIn ergibt, den es durch sie  /  ihn sozusagen bekommt. Aber es generiert noch einen anderen Wert, den »aesthetic value«: »The aesthetic value of a work of art embodies social and human relations in all their richness and universality.«[41] Er ergibt sich aus der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der künstlerischen Arbeit. Diese Qualitäten werden dann allerdings vom Tauschwert eingeebnet, das Kunstwerk ist auf dem Markt bloß als Ware gefragt und sein »true value« wird »ignored or denied«[42]. Auch Sánchez Vázquez geht also von der Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus aus, er spricht im Anschluss an Marx von der »hostility of capitalism to art«[43], weil der Kapitalismus jede Produktion dem Tauschwert unterwirft. Sánchez Vázquez weist allerdings auch darauf hin, dass diese Feindseligkeit nie total ist, sonst wären schließlich all die großen künstlerischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts nicht denkbar gewesen. Unter anderen als kapitalistischen Bedingungen aber, so wird impliziert, könne dieser ästhetische Wert zur Geltung gelangen. Das Kunstwerk wird so zum verschlossenen Behälter, in dem wahre Menschlichkeit steckt, nämlich diejenige, die auf nicht entfremdeter Arbeit beruht. Diesem Motiv sind schließlich auch marxistische Kunst- und GesellschaftstheoretikerInnen der Moderne wie Theodor W. Adorno und Clement Greenberg verpflichtet. Deren Ansatz, dem modernen Kunstwerk eine Autonomie zuzuschreiben, verdankt sich vor allem dieser normativen Haltung: dass die Künste sich vor ihrer waren- und unterhaltungslogischen Vereinnahmung (ebenso wie gegen religiöse und therapeutische Indienstnahmen) nur verwehren könnten, »indem sie«, wie Greenberg 1960 meinte, nachweisen, »daß die Art von Erfahrung, welche sie ermöglichten, ihren eigenständigen Wert besaß«[44].

Während einerseits die Kunst als Hoffnungsträgerin fungiert, wird sie andererseits der Schein- und Ideologieproduktion überführt. »Die Auffassung, dass Kunst Wahrheit verkörpert,« schreibt Thomas Metscher, »ist seit der Antike mit der entgegengesetzten konfrontiert, dass Kunst Wahrheit verschließt, wesenloser Schein, gar bewusste Täuschung oder Lüge sei; in moderner Terminologie könnte von Kunst als Ideologie (im Sinne falschen Bewusstseins oder entfremdeter Vergesellschaftung) gesprochen werden.«[45]