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Gewaltengliederung gilt gemeinhin als ein Prinzip, das vorhandene politische Herrschaft durch Recht formalisiert und einschränkt. Christoph Möllers stellt dieser letztlich vordemokratischen Sicht ein Konzept entgegen, in dem die politische, demokratieermöglichende Bedeutung der Teilung von hoheitlicher Herrschaft in drei Gewalten im Mittelpunkt steht. Unter dem zentralen Aspekt der demokratischen Herrschaftsorganisation ergeben sich daraus auch neue Einsichten zum Begriff der Demokratie, zum Verhältnis von Recht und Politik, zur Eigenlegitimation rechtlicher Formen und zur Anwendbarkeit des Gewaltenteilungsschemas jenseits des Staates.
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Seitenzahl: 698
Veröffentlichungsjahr: 2025
3Christoph Möllers
Demokratie und Gewaltengliederung
Studien zur Verfassungstheorie
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
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Originalausgabe© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-518-78265-1
www.suhrkamp.de
7[…] perché un principe che può fare ciò ch’ei vuole, è pazzo; un popolo che può fare ciò che vuole, non è savio.
Machiavelli, Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio, I/58
Die Gewalten des Staates müssen so allerdings unterschieden sein, aber jede muß an sich selbst ein Ganzes bilden und die anderen Momente in sich enthalten.
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §272 Z.
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Motto
Inhalt
Vorwort
I.
Demokratie
1. Expressive versus repräsentative Demokratie (2008)
2. Drei Dogmen der etatistischen Demokratietheorie (2013)
3. Demokratische Ebenengliederung (2011)
4. Krisenzurechnung und Legitimationsproblematik in der Europäischen Union (2015)
5. »We are (afraid of) the people«: verfassunggebende Gewalt und konstitutioneller Populismus in der deutschen Verfassungsgeschichte (2007)
6. Das Parlamentsgesetz als demokratische Entscheidungsform in Weimar – Ein Beitrag zur Institutionenwahrnehmung der Weimarer Republik (2000)
7. Der deutsche Traum von der französischen Souveränität. Abhängige Verfassunggebung in der neueren deutschen Geschichte (2023)
8. Zweckverfolgung und Zweckreflexion. Zur abgeleiteten Eigenlegitimität der Rechtsform jenseits demokratischer Legitimation (Originalbeitrag, 2024)
II.
Gewaltengliederung
9. Gewaltengliederung – eine theoretische Skizze in vergleichender Absicht (2019)
10. Hannah Arendts Theorie der Gewaltenteilung und ihre Bedeutung für das Verhältnis von Parlament und Regierung (2013)
11. Dogmatik der grundgesetzlichen Gewaltengliederung (2007)
12. Zur Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle – eine kritische Einführung (2025)
13. Individuelle Legitimation: Wie rechtfertigen sich Gerichte? (2012)
14. Verfassungsgerichte als Agenten der Klimaregulierung? (Originalbeitrag, 2024)
Epilog
1. Montesquieus viele Tode
2. Souverän ist, wer ausdifferenzierte Herrschaft zulässt
3. Allmacht durch Entfesselung
4. Von der Souveränität zur Oligarchie
5. Bürokratieabbau als politische Ersatzhandlung
6. Politische Begrenzung politischer Handlungskriterien
7. Gewalt in der Gewaltenteilung
8. Demokratie und Gewaltengliederung
Textnachweise
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Am 26. September 2024 trat der 8. Thüringer Landtag gut drei Wochen nach der Landtagswahl in Erfurt zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Diese wurde von einem Alterspräsidenten geleitet, der sich weigerte, aus dem Plenum kommende Anträge auf Feststellung der Beschlussfähigkeit und Festsetzung einer vorläufigen Tagesordnung zur Abstimmung zu stellen, weil er stattdessen den Landtag dazu bringen wollte, einen Präsidenten zu wählen. Nach Abbruch der Sitzung wandten sich alle Fraktionen des Landtages außer derjenigen des Alterspräsidenten an den Thüringer Verfassungsgerichtshof. Im Wege des Eilrechtsschutzes beantragten sie, den Alterspräsidenten unter anderem dazu zu verpflichten, die genannten Punkte zur Abstimmung zu stellen. Am folgenden Tag gab das Gericht den Anträgen jedenfalls in dieser Hinsicht statt. Nach Fortsetzung der Sitzung konnten die Beschlüsse gefasst werden.[1]
Man kann diesen Vorgang als ein Beispiel für die Rettung der Demokratie durch rechtsstaatliche Gewaltenteilung lesen, schließlich hat hier ein Gericht dem handlungsunfähigen politischen Prozess aus der Klemme geholfen. Freilich verstand sich das frisch gewählte Parlament nicht als neu geborenes demokratisches Subjekt, das mit Hannah Arendt gesprochen ungebunden einen politischen Anfang machte.[2] Selbst für das eigene Verfahren erkannte es die Autorität des Alterspräsidenten an, der diese Funktion einer Regel verdankte, die den neuen Landtag binden sollte, obwohl sie nicht von diesem gesetzt worden war. Abgesehen von der Frage, ob es bei dieser Regel verfassungsrechtlich mit rechten Dingen zuging, handelte das Parlament hier demokratietheoretisch mit erstaunlich bescheidenem Anspruch. Wer, wenn nicht die parlamentarische Mehrheit, kann über das parlamentarische Verfahren entscheiden? Und was wäre 10passiert, wenn Thüringen keinen Verfassungsgerichtshof gehabt hätte? Hätte sich das Parlament dann nicht selbst helfen müssen? Andere Parlamente haben Akte der Obstruktion alleine gelöst.[3] In unserem Fall scheint das Parlament durch das Gericht letztlich von seinem eigenen Legalismus befreit worden zu sein. Eine Deutung des Vorgangs als Sieg der Rechtsstaatlichkeit liefert hier wie auch sonst in der Verfassungstheorie nur eine halbe Wahrheit.
Namentlich im deutschen Verfassungsrecht wird Recht oft als Lösung, Politik als Problem verstanden. Die Überzeugung, dass dem nicht so ist, verbindet die Beiträge dieses Buchs. Liberal-demokratische Verfassungen sind demokratisch legitimiert und gewaltenteilig organisiert. Man könnte meinen, beide Elemente ließen sich schlicht auf die Unterscheidung zwischen Politik und Recht abbilden: hier die demokratische Politisierung, dort die gewaltenteilende Verrechtlichung – dass es jedoch so einfach nicht ist, findet sich in den hier abgedruckten Beiträgen aus den letzten zwanzig Jahren entwickelt. Demokratische Legitimation ist kein Produkt roher Politik. Weil sie ihren Charakter als demokratisch garantieren muss, ist sie in rechtsförmige Verfahren gefasst, die namentlich dafür Sorge tragen, dass die Meinungsbildung vor der Wahl frei und offen war und dass alle Stimmen gezählt werden und politisch zählen. Damit ist der Hinweis auf das Volk begrifflich immer auch der Hinweis auf einen komplexen Vermittlungsvorgang, der nicht in Rechtsform aufgeht, aber dieser doch bedarf. Rechtsförmige Verfahren allein verfassen ein demokratisches Volk, das sich in diesen Verfahren andere Verfahren – und damit auch ein anders konstituiertes Volk – schaffen kann und können muss. »Vor der Errichtung eines Staats existiert kein Volk […].«[4] Dieser Zusammenhang wird nicht dadurch einfacher, dass in föderalen Strukturen Völker vertikal miteinander verbunden sind. Wiederum liegt eine irreführende Vereinfachung nahe: Bestimmte demokratische Ebenen sind von anderen – souveränen – Ebenen nur abgeleitet. Letztere liefern den originalen Ausgangspunkt, den Ursprung, der demokratischen Legitimation der Gesamtordnung. Auch diese Ver11einfachung lässt sich nicht halten, schon weil sich die Entstehung des vermeintlich originären nationalen Volkes, ganz deutlich im deutschen Fall, nicht als unabgeleiteter legitimatorischer Urknall konstruieren lässt, sondern immer schon international und föderal eingebettet war.
Wenn Verfassunggebung auch ein Produkt von Recht ist, dann muss umgekehrt die so eingesetzte Verfassung Politik nicht nur begrenzen, sondern auch ermöglichen. Einen Staat in drei Gewalten zu gliedern bedeutet dann, Politik und Recht so zu integrieren, dass sie unterschiedliche Funktionen erfüllen, ohne gegenüber dem jeweils anderen einen normativen Vorrang beanspruchen zu können. Zur Gewaltengliederung gehört ein Ort der kollektiven politischen Zukunftsgestaltung ebenso wie einer der retrospektiven Beurteilung von individuellen Konflikten, Legislative also ebenso wie Judikative. Sowohl auf demokratische Legitimation als auch auf Rechtsform sind beide angewiesen, wenn auch in unterschiedlichem Maße: Ohne es konstituierende rechtliche Regeln kann ein Gesetzgebungsorgan nicht operieren, zugleich muss der in ihm vorgesehene politische Willensbildungsprozess offengehalten werden. Auch die Gerichtsbarkeit ist das Produkt einer politischen Entscheidung. Ihr Entscheidungsprozess soll aber nicht nur von informellem politischem Einfluss freigehalten, sondern idealiter allein vom geltenden Recht bestimmt werden. Beide Gewalten lassen sich als Pole eines sich wechselseitig ermöglichenden Nebeneinanders von individuellen und demokratischen Selbstbestimmungsanliegen verstehen. Zwischen diesen Polen operiert die vielgestaltige Exekutive – von der politisch gestaltenden Regierung bis zum rechtlich fest gebundenen Verwaltungsbeamten.
Die vorliegenden Beiträge entwickeln diese Zusammenhänge zunächst mit Blick auf den Demokratiebegriff als Kritik eines verdinglichten Volksbegriffs, der als etwas vorrechtlich Gegebenes repräsentiert werden soll (1., 2.), sowie als Analyse des Verhältnisses verschiedener demokratischer Ebenen zueinander, zwischen denen sich jedenfalls unter Berufung auf den Begriff der Demokratie selbst kein Vorrangverhältnis begründen lässt (3.) und der es deswegen gerade mit Blick auf die EU schwierig macht, demokratische Verantwortlichkeiten zuzurechnen (4.).
Demokratische Verfassungen müssen für sich beanspruchen, auch demokratisch entstanden zu sein. Der Blick in die deutsche 12Verfassungsgeschichte illustriert zwei Probleme eines solchen Anspruchs: Zum einen lässt sich die Behauptung der demokratischen Entstehung nicht einfach in die formale Ordnung einfangen. Überschießende Ansprüche können sich zur legalisierten Verfassungsordnung auch unter dem Grundgesetz in Konkurrenz stellen, so dass auch eine formalisierte Ordnung einen sie potentiell unterlaufenden Verfassungspopulismus produziert (5.). Welche Folgen es haben kann, wenn ein demokratischer Anspruch sich von der formalen Verfassungsordnung löst, zeigt sich im Austrocknen parlamentarischer Gesetzgebung in der Weimarer Republik (6.). Zum anderen lässt sich die Behauptung, die Verfassung sei demokratisch entstanden, vor den historischen Umständen nicht immer halten. So ist es im deutschen Fall. Glorreiche Momente demokratischer Verfassunggebung wurden mehrmals verpasst, diese Unterlassung führte aber nicht zu einer Anpassung der Idee der Verfassunggebung, sondern zu eigentümlichen Umdeutungen der historischen Abläufe im Namen einer französisch inspirierten Idee von Verfassunggebung, die auf den deutschen Fall nicht passt (7.). Noch einmal anders, nämlich rechtstheoretisch, setzt der letzte Beitrag des ersten Teils an: Erbringt die Form des Rechts eine eigene legitimatorische Leistung oder ergibt sich diese nur aus demokratischen Verfahren und der Durchsetzung politisch gesetzter Zwecke? Sie tut es, indem sie der Erfüllung demokratisch gesetzter Zwecke zugleich eine eigene institutionelle Reflexionsebene entgegenstellt (8.).
Dies führt zum zweiten Teil, in dem es um die oft missverstandene Figur der Gewaltenteilung, oder genauer: Gewaltengliederung, geht. Der verfassungstheoretische Gehalt der Figur dient auch als begriffliche Folie für den Verfassungsvergleich. Dies erfordert eine Rekonstruktion der individuellen und demokratischen Selbstbestimmungsanliegen, die sich hinter dem Grundsatz verbergen (9.). Dass es auch bei der Gewaltengliederung um Ermöglichung von Politik geht, wurde und wird selten verstanden, ausdrücklich aber von Hannah Arendt (10.). Dieser theoretische Unterbau ist auch für eine systematische Aufarbeitung der Gewaltengliederung des Grundgesetzes von Bedeutung, die vorführt, wie sich ein theoretischer Ansatz in eine rechtsdogmatische Rekonstruktion integrieren lässt (11.). Das im internationalen Kontext am intensivsten diskutierte Problem der Gewaltengliederung, nämlich die Frage der Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit, wird zumeist 13demokratietheoretisch traktiert. Das ist im Ansatz hilfreich, eine Rekonstruktion der Diskussion zeigt aber, dass man demokratietheoretische Argumente nur begrenzt aus ihrem verfassungsrechtlichen Kontext reißen kann. Die sehr abstrakt geführt Debatte entpuppt sich bei näherer Hinsicht als zu stark von spezifisch US-amerikanischen Vorannahmen geprägt (12.). Seltener wird die allgemeinere Frage untersucht, wie sich normale Gerichte als Agenturen zur Entscheidung weitgehend spezifizierter Konflikte rechtfertigen lassen – dies gelingt wohl nur, wenn man die Bedingung der Möglichkeit ihres Handelns, nämlich die Initiative eines den Rechtsstreit vortragenden Rechtsträgers, in den Blick nimmt (13.). Die abschließende Untersuchung widmet sich der Frage, inwieweit die besonderen regulatorischen Probleme des Klimawandels die verfassungsgerichtliche Kontrolle herausfordern (14.).
Die hier veröffentlichten Beiträge wurden zum größeren Teil bereits in anderen Zusammenhängen publiziert und werden insoweit allenfalls marginal korrigiert wieder abgedruckt. Dies gilt nicht für die drei Beiträge, die zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheinen (5., 9., 12.) und die mit ihrer Übersetzung von mir überarbeitet wurden. Hinzu kommen zwei noch nicht veröffentlichte Originalbeiträge (8., 14.).
Sehr viele Kolleginnen und Kollegen haben mich über die Jahre bei der Entwicklung meiner Überlegungen begleitet und unterstützt. Viele Beiträge konnte ich im Wissenschaftskolleg zu Berlin überdenken, einer entstand im Hamburger The New Institute (14.), einer im Thomas Mann House in Pacific Palisades in langen Diskussionen mit Rainer Forst und Michael Zürn (8.). Besonderer Dank gilt den Mitarbeitenden meines Lehrstuhls für viele Korrekturen, vor allem Max Lenz für seine entscheidende Hilfe bei der Fertigstellung dieses Bandes.
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Von der »Krise der Repräsentation« ist viel die Rede. Doch wird mit dieser Diagnose in der theoretischen Philosophie ganz etwas anderes verstanden als in der politischen Theorie: In der theoretischen Philosophie verweist sie auf eine grundsätzliche Kritik am Konzept der Abbildbarkeit, die sich subjekt- oder sprachphilosophisch formulieren lässt.[1] In der politischen Theorie steht sie dagegen für eine Krise der Möglichkeiten, demokratische Repräsentation unter bestimmten politischen Bedingungen – etwa der Globalisierung – noch institutionell verwirklichen zu können, selbst wenn der Gedanke der Repräsentation »an sich« stimmig bleibt.
Doch ist es nicht bloß schlechte Theorie, Begriffe zu bewahren, wenn Institutionen sich ändern? Vielleicht ist aus der sprachphilosophischen Kritik am Konzept der Repräsentation auch etwas für eine Demokratietheorie zu lernen, die sich mit der Internationalisierung des Rechts auseinanderzusetzen hat und die über die Legitimation des Nationalstaats hinausgehen will.[2] Und vielleicht muss, ganz ähnlich wie in der theoretischen Philosophie[3] , der Begriff der Repräsentation für die politische Theorie nicht völlig aufgegeben, sondern nur modifiziert werden, wenn man diesen theoretischen Schritt gehen will.[4]
Diese Vermutung soll im Folgenden in drei Schritten expliziert werden: Zunächst sind Mängel und Leistungen des Repräsentationskonzepts in der Demokratietheorie in Erinnerung zu rufen (1). Anschließend kann auf dieser Grundlage ein Konzept der Weiterentwicklung formuliert werden, das im Anschluss an Robert Brandom als expressive Demokratie zu bezeichnen ist (2). Schließlich 18sind vor einer Bilanz (4) zwei konkretere institutionelle Konsequenzen dieser Umformulierung vorzuführen (3).
Mit dem Konzept demokratischer Repräsentation handeln wir uns theoretische Probleme samt praktischen Konsequenzen ein: Jede Theorie demokratischer Repräsentation leidet an all den Defiziten, an denen der Repräsentationsbegriff in der Subjekt- und Sprachphilosophie krankt. Praktisch verselbstständigt sich die Idee der Repräsentation entweder von der Demokratie oder sie belastet die Demokratietheorie mit Erwartungen, die – wenn überhaupt – nur von geschlossenen Nationalstaaten zu erfüllen sind. Nicht zufällig ist der Begriff der Repräsentation ein fester Bestandteil aller Konzeptionen, die Demokratie auf Nationalstaatlichkeit zu beschränken suchen.[5] Trotzdem bewahrt das Konzept der Repräsentation die Demokratietheorie vor technokratischen oder rationalistischen Verkürzungen. Es hütet einen Bedeutungsüberschuss, der auch für eine Demokratietheorie jenseits des Nationalstaats noch gebraucht wird: Die Idee der Repräsentation schützt vor der Reduktion von Demokratie auf Vernünftigkeit, Richtigkeit oder Effizienz und fungiert somit als die alt gewordene Wächterin des demokratischen Voluntarismus. Jede Arbeit an einer den Nationalstaat überschreitenden Demokratietheorie bedarf deswegen, so steht zu vermuten, keiner Aufgabe, aber doch einer deutlichen Modifikation des Repräsentationskonzepts. All dies ist nunmehr eingehender zu betrachten.
In Verfahren demokratischer Re-Präsentation,[6] wörtlich der Ver-Gegenwärtigung, findet das Legitimationssubjekt zur Institution wie das Ich zur Außenwelt.[7] Die Repräsentante dient als Spiegel der 19Politik – oder gar als Spiegel des Volkes. Sie ist »die Arena, in der jede Meinung der Nation sich in vollem Licht produzieren kann«.[8] In der Repräsentante tritt der Volkswille sich selbst gegenüber für alle sichtbar zutage. Er wird dort nicht produziert, sondern enthüllt.
Solche und ähnliche Formulierungen laden zu einer Form der Kritik ein, die wir aus der Diskussion um die Selbstvergegenwärtigung, die »lebendige Gegenwart«, des Subjekts kennen;[9] aber auch zur Dekonstruktion einer Metaphorik, die bestimmte räumliche Gegebenheiten mit Licht,[10] Licht aber mit Wahrheit identifiziert.[11] Man wird mit solcherart Analysen sehr vorsichtig umgehen müssen, zumal sie auch in der theoretischen Philosophie keineswegs als Entlarvung eines eigentlich unmetaphorisch zu denkenden Denkens gedacht sind. Trotzdem mögen sie eine andere Perspektive auf die Idee demokratischer Repräsentation bringen: Es ist klar, dass ein Paradigma der Repräsentation, der Abbildbarkeit, das auf einer dualistischen Weltkonstruktion beruht und zugleich für den Zusammenhang zwischen beiden Teilen, sei es innen und außen oder Text und Referenz, ein eindeutiges Vermittlungsverfahren voraussetzt, stets mit schweren konstruktiven Problemen zu kämpfen hat – Probleme, in denen die Vermittlung der beiden Seiten ihren Dualismus stets zu konsumieren droht.[12] Anders formuliert: Zwei kategorial distinkte Entitäten können in ein angemessenes, eben »repräsentatives« Verhältnis wohl nur um den Preis ihrer kategorialen Distinktheit gebracht werden. Der ontologische Status mindestens einer der beiden Kategorien ist in einem dualistischen Modell zumindest prekär.
20Übersetzt in die Problematik demokratischer Legitimation stellen sich entsprechende Fragen: Wie ist der Dualismus zwischen kollektivem Willen und seiner Repräsentation zu konzipieren? Wie hängt der demokratische Willen mit bestimmten Verfahrensmechanismen zusammen? Solche Fragen sind weder praktisch irrelevant noch werden sie durch einen Verzicht auf den Repräsentationsbegriff überflüssig. Das Konzept der Repräsentation scheint sie eher zu provozieren als zu beantworten.
Das Problem kann man an der Frage veranschaulichen, wie sich ein Wille vergegenwärtigt – eine Frage, die man eben nicht nur für das Individual-, sondern auch für das kollektive Legitimationssubjekt (»Volk«) stellen kann und anhand deren Beantwortung sich institutionelle Aporien des Repräsentationskonzepts zeigen. So scheint es ebenso unbefriedigend, die Vergegenwärtigung des Volkswillens auf den Moment des Wahlakts zu beschränken wie auch sie mit einem permanenten plebiszitären Populismus zu identifizieren. Hier zeigt sich ein alter theoretischer Konflikt, dessen Pole man theoriegeschichtlich etwa zwischen der Deliberationstheorie Edmund Burkes[13] und dem Gedanken des plébiscite de tous les jours bei Ernest Renan[14] festmachen könnte. Bei Burke wird die demokratische Legitimation aus der parlamentarischen Repräsentation weitestgehend zurückgedrängt, bei Renan findet sich jedenfalls im Ansatz Erstere gegen Letztere ausgespielt. Es ist gleichfalls unklar, wie wir den Wahlakt mit Blick auf parlamentarische Entscheidungen zeitlich verstehen sollen: als eine in die Zukunft gerichtete Programmierung des öffentlichen Handelns[15] oder als demokratisches Urteil über vergangene politische Entscheidungen.[16] Solche Fragen werden, wenn überhaupt, eingehend in der deskriptiven politischen Theorie, etwa mit Mitteln der Rational 21Choice,[17] diskutiert, doch zu wenig in einer sich normativ verstehenden Demokratietheorie. Repräsentation ist für diese Fragen nur ein unexplained explainer,[18] der dazu dient, eine Lösung zu unterstellen, ohne sie explizit machen zu können.
In dieser Problemsicht zeigen sich auch institutionelle Probleme des Repräsentationskonzepts, von denen hier nur drei angeführt seien:
Zum Ersten scheint die Vermittlungsleistung politischer Repräsentation auch nach ihren eigenen theoretischen Voraussetzungen nur zu gelingen, wenn man irgendeine materielle oder objektive Übereinstimmung zwischen Repräsentierten und Repräsentierendem annimmt: Theoretiker wie Locke, Sieyes oder Mill legten jedenfalls ausdrücklich Wert darauf, dass Repräsentation nur funktionieren könne, wenn alle an ihr Beteiligten ein gemeinsames objektives Interesse verbinde.[19] Diese Modelle vertrauen sich in durchaus typischer Weise nur sehr eingeschränkt einer reinen Verfahrenskonzeption demokratischer Legitimation an. Dass dies bis in die Gegenwart folgenreich ist, zeigt sich nicht zuletzt an der erstaunlichen Langlebigkeit des Gemeinwohlbegriffs:[20] Gemeinwohl ist eine Chiffre für den objektiven Interessenüberhang, der Repräsentation erst ermöglichen soll, obwohl es andererseits repräsentativer Verfahren doch genau deshalb bedarf, weil objektive Gemeinwohldefinitionen nicht zur Verfügung stehen.[21]
Zum Zweiten ist Repräsentation keineswegs notwendig gerade mit demokratischer Legitimation verknüpft. In späteren Strängen der theoretischen Diskussionen wird der objektivistische Kern 22der frühen Repräsentationskonzepte zu einem existenzialistischen Politikbegriff ausgebaut, namentlich in manchen Teilen der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik bei Autoren wie Gerhard Leibholz[22] oder Carl Schmitt.[23] Für diese verselbstständigt sich Repräsentation von Verfahren egalitärer demokratischer Beteiligung. Dies ist theoriegeschichtlich kaum zufällig, denn der Gedanke repräsentativer Herrschaft ist deutlich älter als derjenige repräsentativer Demokratie, und auch in der repräsentativen Monarchie ist es keine ungewöhnliche Vorstellung, dass der König das Volk repräsentiert.[24]
Diese Hypostasierung von Politik gegenüber Demokratie mittels des Repräsentationsbegriffs führt, zum Dritten, wenn nicht zu einem existenzialistischen Demokratiekonzept wie bei Schmitt, dann gerade umgekehrt zu einer Verengung demokratischer Mitbestimmungskonzeptionen, die ihren gängigsten Ausdruck in den Gegenüberstellungen von repräsentativer versus plebiszitärer oder repräsentativer versus partizipativer Demokratie finden. In solchen Formulierungen ist Demokratie nur noch als Repräsentation denkbar – mit der fatalen Konsequenz, dass dort, wo diese nicht gelingt, Demokratie eben unmöglich ist und man auf nicht demokratische Substitute der Herrschaftsorganisation zurückgreift. Dies ist genauer zu betrachten.
Eine solche Sicht impliziert den Ausschluss plebiszitärer Verfahren mangels Repräsentativität,[25] obwohl auch Plebiszite dem demokratischen Grundkriterium gleicher Freiheit genügen. Es ist kein Zufall, dass solche Argumentationsgänge, die repräsentative Demokratie als »eigentliche« Demokratie verstehen, ganz massiv 23mit philosophischer Subjekttheorie arbeiten,[26] ohne sich mit der Kritik an dieser in der theoretischen Philosophie des 20.Jahrhunderts wirklich auseinanderzusetzen. Diese Argumentation kann in der Feststellung gipfeln, die Repräsentante sei das »bessere Ich« des Volkes. Da Repräsentation nicht fern ist von Mimesis, darf man sich hier an eine Feststellung des Aristoteles zum Portrait erinnert fühlen: »Denn auch diese geben die individuellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner ab.«[27]
Auch in der Unterscheidung zwischen repräsentativer und partizipativer Demokratie setzt sich der Repräsentationsgedanke durch, jedoch mit ganz anderen Beweislasten und abweichenden Konsequenzen: Die Unterscheidung spielt sowohl in der Globalisierungsdebatte als auch in der demokratietheoretischen Diskussion des Verwaltungsrechts eine Rolle.[28] Hier wird Demokratie mit Hilfe des Repräsentationskonzepts nicht selten derart anspruchsvoll definiert, dass am Ende Partizipation als einzig praktisch »mögliches« Konzept übrig bleibt. Dabei wird mit Partizipation aber zumeist ein Entscheidungsverfahren bezeichnet, das Betroffenen zwar die Gelegenheit zur Anhörung gibt, nicht aber ein wirkliches Entscheidungsrecht. Vulgo lautet in dieser Argumentation der Schluss: Wo demokratische Mitbestimmung in Form der Repräsentation unmöglich ist, nämlich außerhalb des Nationalstaats, muss Partizipation durch Anhörung und die Einspeisung von Argumenten genügen, um ausreichende Legitimation zu stiften. Diese Argumentation durchzieht die Globalisierungsdebatte.[29]
Warum hat die theoretische Kritik der Repräsentation die politische Theorie nicht wirklich erreicht? Warum ging es in der politischen Theorie zumeist darum, das Konzept der Repräsentation derart stark zu machen, dass der Anwendungsbereich demokratischer Standards beschränkt wurde? Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es hilfreich, an die eingangs dieses Versuchs gemachte Behauptung 24zu erinnern: Unter einer Krise der Repräsentation versteht man in der politischen Theorie etwas ganz anderes als in der theoretischen Philosophie. In der politischen Theorie bezeichnet Krise der Repräsentation die institutionell-praktischen Probleme eines eigentlich stimmigen Konzepts, dem der angemessene Kontext abhandengekommen ist, namentlich durch die De-Nationalisierung politischer Entscheidungen. In der theoretischen Philosophie handelt es sich dagegen um eine Krise des Konzepts selbst. Dieser unterschiedliche Umgang dokumentiert eine terminologische Ungleichzeitigkeit innerhalb ausdifferenzierter Disziplinen. Sie hat mit den Kontexten beider Diskurse zu tun, mit kategorialen Unterschieden zwischen Wahrheits- und Rechtfertigungsdiskursen.[30]
Doch der Umstand, dass eine grundsätzliche Kritik des Konzepts der Repräsentation für die politische Theorie nicht wirklich durchgeschlagen hat, mag auch einen der politischen Theorie immanenten Grund haben: Denn mit dem Verzicht auf den Begriff der Repräsentation droht auch ein Verzicht auf jeden demokratischen Voluntarismus einherzugehen, auf die Idee eines demokratischen Willens, der so, aber auch anders entscheiden kann, ohne sich externen Standards der Rationalität oder Moralität zu beugen. Auch für die repräsentative Demokratie gilt: sit pro ratione voluntas.[31] Der Verweis auf den demokratischen Willen hat die Demokratietheorie immer wieder davor bewahrt, Demokratie auf eine Sozialtechnologie mit besonders herausgehobenen Problemlösungskapazitäten zu reduzieren,[32] sie als einen bloßen Liberalismus von Verfahrensanforderungen zu verstehen, in dem die Willkür des Kollektivs individualrechtlich aufgesogen wird,[33] oder sie auf den Austausch von Rechtfertigungsgesichtspunkten zu beschränken.[34] All diesen 25Konzepten konnte und kann die Theorie repräsentativer Demokratie, aber auch die Praxis demokratischer Verfassungsstaaten, die Willkür kollektiver Willensbildung entgegensetzen. Das Gegeneinander von Regierung und Opposition, der legitime Anspruch, eine politische Praxis zu unterbrechen und rückgängig zu machen, lassen sich nicht auf solche Instrumentalisierungen demokratischer Selbstbestimmung reduzieren. Dies scheint aber infrage gestellt, will man sich ernsthaft auf die oben skizzierte Kritik des Repräsentationsbegriffs einlassen. Denn natürlich sind von der Philosophie des 20.Jahrhunderts zusammen mit dem Repräsentationskonzept in Mitleidenschaft gezogene Konzepte wie Intentionalität, Autonomie und Subjekt von einer voluntaristischen Demokratietheorie als Qualitäten der an demokratischen Verfahren beteiligten Individuen und als Eigenschaften eines demokratischen Kollektivsubjekts gleich doppelt vorausgesetzt. Am Begriff der Repräsentation hängt demnach etwas, auf das wir ungern verzichten – jedenfalls solange Demokratie mit dem Selbstzweck der Selbstbestimmung notwendig verbunden bleibt.
Aber wie notwendig ist dieser Zusammenhang? Hängt das Erbe der voluntaristischen Demokratietheorie wirklich an der Idee der Repräsentation oder schleppen wir die Kategorie nicht doch aus einer Art emanzipatorischer Sentimentalität mit uns herum, die sich auch dann ungern von den Errungenschaften des späten 18.Jahrhunderts trennt, wenn sie nicht mehr wirklich weiß, was mit ihnen anzufangen ist? Diese Vermutung scheint sich auch mit Blick auf die einschlägige Literatur zu bestätigen, die fast nur ideengeschichtlich vorgeht, ohne eigene begriffliche Angebote zur theoretischen Konzeption von Repräsentation zu machen.[35] Man wird demnach nach Ansätzen suchen müssen, die das Erbe des demokratischen Voluntarismus bewahren, ohne die Probleme des Repräsentationsbegriffs mitzunehmen.
26
Der erste Abschnitt von Robert Brandoms Buch Making it Explicit liefert eine pragmatistische Erörterung des Ausdrucks »we«, die sicherlich nicht als Beginn einer Demokratietheorie gemeint ist, aber ohne weiteres so gelesen werden kann. Dort ist zu lesen:
In understanding ourselves we should look for conditions at once more abstract and more practical, which concern what we are able to do, rather than where we come from or what we are made of. Candidates for recognition as belonging among us should be required to share only fundamental abilities that make possible participation in those central activities by which we (thereby) define ourselves.[36]
Diese Passage bietet demokratietheoretisch Folgendes: Demokratien sind Gemeinschaften von Personen, die auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung operieren, die nur minimalen Voraussetzungen genügt. Diese Gemeinschaften dienen der Definition von Gemeinsamkeiten, vor allem der Möglichkeit, gemeinsam zu handeln. Beschrieben wird eine Form elementarer demokratischer Ursituation, die dadurch, dass sie regelbildend tätig wird, auch eine freiheitskonstituierende Wirkung hat.[37]
Brandoms Theorie, die hier auch nicht im Ansatz dargestellt werden kann,[38] übernimmt aus der philosophischen Diskussion des 20.Jahrhunderts[39] eine Kritik des Repräsentationsbegriffs als Kategorie der Sprachphilosophie, also der Vorstellung, Sprache bilde Realität ab. Das philosophische Gegenangebot enthält den Versuch, dieses Problem dadurch zu lösen, dass die Wahrheit von Aussagen und die Rationalität von Praktiken nur als Ergebnis bestimmter Selbstverpflichtungen verstanden werden kann. Aus diesen folgen bestimmte Ansprüche und bestimmte inhaltliche Konsequenzen, die aber immer nur innerhalb einer Praxis zu bestimmen sind. An diesen Praktiken nehmen diejenigen teil, die durch das Geben und Nehmen von Gründen anzeigen, dass sie für eine Praxis Verant27wortung übernehmen können. Handlungsfähigkeit im Sinne von Begründungsfähigkeit ist also das Erfordernis zur Teilnahme an der Gemeinschaft, im vorliegenden Fall der demokratischen Gemeinschaft.
Von expressiver statt repräsentativer Demokratie soll im Folgenden gesprochen werden, weil diese demokratische Ausgangssituation nur immanent funktioniert. Das bedeutet, dass wir eine bestimmte Verfahrenspraxis auf ihren demokratischen Gehalt prüfen können, ohne dass wir die Möglichkeit hätten, sie mit etwas zu vergleichen, einer politischen Realie oder Referenz, die über diese Praxis hinausgeht. Wir können nichts repräsentieren, weil wir nichts voraussetzen können, was repräsentiert werden soll. Wir fragen also nicht danach, was eine demokratische Praxis repräsentiert, sondern was sie zum Ausdruck bringt, nicht, wofür sie steht, sondern was sie bedeutet. Einige demokratietheoretische Implikationen dieses Ansatzpunkts können wir im Folgenden entwickeln.
(1) Für die Frage nach der demokratischen Wertigkeit einer gesellschaftlichen Praxis haben wir nur das Kriterium der Einbeziehung aller der Gemeinschaft Zugehörigen,[40] damit auch der gleichen Beteiligungschance, da die Einbeziehung kein Distinktionskriterium vorsieht. Anders als im Brandom’schen Modell, muss in einem demokratischen Verfahren diese Gleichheit durch einen besonderen Sanktionsmechanismus gesichert werden. Man könnte auch sagen, aus dem allgemeinen Regelwerk des kommunikativen Umgangs heraus wird eine demokratische Sonderregel zur Erzeugung von Regeln herausgenommen, die die normative Gleichheit besonders hervorhebt und die mit einem speziellen Sanktionsmechanismus versehen wird,[41] die man in bestimmten Zusammenhängen als Staat bezeichnen kann. Anders als in gesellschaftsvertraglichen Konstruktionen, ist der demokratische Zustand aber permanent und fluide. Das bedeutet, dass im Prinzip alle Regeln jederzeit disponibel sind. An diesem Punkt ist zwischen einer demokratischen Ursprungsentscheidung und dem durch diese Entscheidung konstituierten weiteren Entscheidungsverfahren 28zu unterscheiden: Auf Grundlage einer demokratischen Primärentscheidung können Sekundärverfahren eingerichtet werden, die ihrerseits bestimmte Verfahren als demokratisch definieren können. Die Kriterien freier Gleichheit geben nur eine weite, wenn auch vergleichsweise deutliche Grenze vor. Was darüber hinaus unter demokratischer Praxis verstanden wird, steht der Definition der Gemeinschaft offen. Man kann in diesem Zusammenhang zwischen der demokratischen Legitimation einer konstitutiven Primärentscheidung, die bestimmten Minimalkriterien genügen muss, und der durch diese Entscheidung definierten demokratischen Bedeutung von Sekundärverfahren unterscheiden. Beispielhaft: Die Regeln zur Wahl von Abgeordneten müssen in einem egalitären Verfahren definiert werden. Wie sie definiert werden, ist durch diese Standards nicht abschließend determiniert. Ob Abgeordnete durch ein Mehrheits- oder ein Verhältniswahlrecht gewählt werden, ist unabhängig von deren Legitimation auch für die Bedeutung von Demokratie in der jeweiligen Gemeinschaft wichtig. Aber es kann aus den demokratischen Basiskriterien nicht hergeleitet werden. Umgekehrt kann ein Vorgang demokratische Bedeutung erlangen, ohne demokratische Legitimation beanspruchen zu können: Wenn in einer gegebenen Gemeinschaft bestimmte Entscheidungsprozeduren von allen Beteiligten als relevant betrachtet werden, ohne dass sie egalitär legitimiert sind, so mag die Notwendigkeit erkannt werden, diesen durch die Anbindung an egalitäre Verfahren auch demokratische Legitimation zu verleihen. Die Frage, welche Praktiken demokratischer Legitimation bedürfen, ist im Prinzip offen und ihrerseits demokratischer Entscheidung bedürftig. Dabei entstehen unvermeidlich Asymmetrien und Ungleichzeitigkeiten zwischen der Praxis demokratischer Legitimation und der Beobachtung demokratischer Bedeutung. Dem unvermeidlichen Auseinanderfallen von demokratischer Legitimation und demokratischer Bedeutung entspricht in einer anderen Formulierung die Schwierigkeit, Demokratie und Populismus scharf zu unterscheiden.[42]
Im Ergebnis definiert sich jede demokratische Praxis selbst durch einen Prozess, der von all denjenigen mitbestimmt wird, die in der Lage sind, einen eigenen Willen zu bilden, also für Entschei29dungen Gründe geben zu können.[43] Die beiden Grundkriterien der demokratischen Selbstbestimmung, Freiheit und Gleichheit, sind der Praxis von Beginn an eingeschrieben, ohne dass man daraus bereits folgern könnte, dass diese deswegen grundsätzlich demokratisch oder egalitär wäre.
(2) Kommunikative Praktiken, und damit auch demokratische, können also nicht über sich hinaus verweisen. Sie können insbesondere nichts abbilden, was bereits apriorisch als gegeben angenommen werden kann. Die Vermutung eines bestehenden Volkswillens, dem man sich mit bestimmten Verfahren – vielleicht besser, vielleicht schlechter – annähern könne, ist ausgeschlossen. Damit fällt aber das zentrale Element jeder anspruchsvollen Theorie demokratischer Repräsentation fort. Vielmehr bildet sich ein kollektiver Wille erst in einer bestimmten demokratischen Praxis[44] – und zwar je nach Praxis durchaus unterschiedlich: Das bedeutet, demokratische Verfahren dienen der Explizitmachung von nach egalitären Verfahren zu ermittelnden Gemeinsamkeiten aller an der demokratischen Gemeinschaft Beteiligten. »At least in the more interesting cases, specification of what is implicit may depend on the possibility of making it explicit. […] On such a view, what is expressed must be understood in terms of the possibility of expressing it.«[45] Daraus folgt einerseits ein normativer Individualismus, denn nur Individuen sind, bis auf weiteres, in der Lage, Gründe zu geben und zu nehmen, und damit Ausgangspunkt jeder demokratischen Praxis. Daraus folgt andererseits aber auch, dass die Bedeutung individueller Beiträge nicht fest definiert ist, sondern nicht unabhängig von der Kenntnis des Verfahrens verstanden werden kann, zu dem sie beitragen. Dies ist eine Fassung der – vielleicht nicht ganz glücklich bezeichneten – Gleichursprünglichkeit von individueller und demokratischer Selbstbestimmung.[46] In einer Demokratie erkennen sich Individuen als im Prinzip gleichberechtigte Wesen an, die über die Fähigkeit zum 30Geben und Nehmen von Gründen verfügen. Was darüber hinaus Gegenstand demokratischer Entscheidung ist und was nicht, ist – bis auf die Anerkennung der Fähigkeit zum Begründen, der Personalität – potenziell Gegenstand demokratischer Entscheidungen.[47] Es ist diese Grenze des demokratischen Zugriffs auf die Beteiligungsfähigkeit durch Begründung, die unter dem Stichwort Menschenwürde diskutiert wird.[48] Der Zusammenhang zwischen individueller und kollektiver Willensbildung ist damit nur wechselseitig zu verstehen, derart, dass beide auf beide Rückwirkung nehmen. Er ist nicht stabil definierbar, sondern immer wieder Gegenstand eines Verfahrens, das sich seinerseits als demokratisch rechtfertigen muss – eines anaphorischen oder rekursiven Verfahrens.[49] Anders als bei jedem Konzept von Repräsentation ist damit ausgeschlossen, dass sich kollektiver Wille einfach aus den individuellen Beiträgen vorhersehbar zusammensetzt. Die Wechselseitigkeit ist vielmehr mit dem stets nur einsinnig zu denkenden Konzept der Repräsentation durch Abbildung nicht vereinbar. Die größere Dauerhaftigkeit individueller Selbstbestimmung ist wohl auf die Körperlichkeit von Individuen zurückzuführen, die dieser Willensbildung eine andere Beständigkeit gibt. Die Bindung von Personalität an Körper ist stabiler als die Bindung an bestimmte überindividuelle Institutionen.
(3) Unzweifelhaft folgt aus dem Expressionskonzept eine – in solchem Zusammenhang durchaus gefährliche, aber eben auch unvermeidliche – kulturalistische Öffnung des Demokratiebegriffs auf der zweiten der beiden Ebenen. Die Bedeutung bestimmter demokratischer Verfahren ist kontextabhängig. Schon die Frage, ob sich ein demokratisches Verfahren so verdichtet, dass dabei so etwas wie ein stabiles kollektives Legitimationssubjekt, ein Staatsvolk, entsteht, ist offen. Die Frage ist im Vergleich zwischen Kontinentaleuropa und den USA, über deren Unterschiede man nicht zuletzt mit Hilfe des Repräsentationsbegriffs leicht hinweg theoretisieren kann, ganz unterschiedlich zu beantworten. Von einem 31einheitlichen Staatsvolk kann man etwa im US-amerikanischen Verfassungsrecht mit seiner föderalen Gliederung und seiner Dreiteilung der Wahlverfahren kaum sprechen.[50]
Mit dieser Einsicht in die Kontextabhängigkeit verbindet sich auch eine mögliche Umkehrung der Lernrichtung nicht nur von der Demokratietheorie zur Demokratie, sondern auch umgekehrt von Praxen, die als demokratische Anerkennung finden, zur Demokratietheorie. Die politische Philosophie muss damit beginnen, von konkreten Verfahren zu lernen. More geometrico – auch das ist eine Konsequenz des anaphorischen Charakters von Demokratie – lässt sich ein richtiges demokratisches Verfahren nicht herleiten. Es ist allein auf der ersten Ebene möglich, seine Entstehung und seine Änderbarkeit in einem egalitären Verfahren zu verlangen. Daraus folgt ein dezidierter demokratietheoretischer Agnostizismus, ein Vorrang der Demokratie vor der Demokratietheorie.[51] Die Frage, ob ein Verfahren demokratisch ist, kann nicht unabhängig vom Selbstverständnis, das in einem bestimmten Verfahren zum Ausdruck kommt, definiert werden, von bestimmten Kontexten, die dem Verfahren selbst nicht entnommen werden können. Dies ist nichts Neues, bedenkt man etwa die Vielfalt von Wahlsystemen und föderalen Ausgestaltungen in verschiedenen Systemen, denen man doch die – natürlich widerlegbare – Vermutung zubilligt, in gleicher Weise demokratisch zu sein.
(4) Wenn die Fähigkeit zum Geben und Nehmen von Gründen auch konstitutiv für eine demokratische Praxis ist, so bedeutet dies nicht, dass ein rechtlich sanktionierter demokratischer Prozess diese Fähigkeit abrufen müsste. Es gibt Gründe, warum er es tun kann, etwa in einem Gesetzgebungsverfahren, aber das ist für den demokratischen Charakter nicht konstitutiv. Wenn man einmal die Zugehörigkeit zur demokratischen Gemeinschaft erlangt hat, erscheint jedenfalls jede Verpflichtung, Gründe zu geben, auch als eine Beschränkung der partizipativen Gleichheit. Zentraler als Begründungserfordernisse sind Koordinationsleistungen,[52] in denen 32verschiedene Beiträger übereinander erfahren und sich aufeinander einstellen können. Es geht um den Austausch von Positionen, nicht um einen darüber hinausgehenden Begriff von Verständigung.[53] Es kann gerade undemokratisch, weil gleichheitswidrig sein, von Teilnehmern für bestimmte Formen von institutionalisierter Selbstbestimmung wie der Abgabe einer Stimme Gründe zu verlangen. Soll nur die Stimme gültig sein, die Gründe angeben kann? Soll nur demonstrieren dürfen, wer zur Meinungsbildung beiträgt? Insoweit hat auch die Beteiligung der Öffentlichkeit eine relative kognitive, nicht normative Wertigkeit. Sie ist nicht demokratie-konstitutiv, sondern ein Mittel der wechselseitigen Information über kollektive Entscheidungen. Darüber hinaus ist vor einem für Repräsentationstheorien typischen Fehlschluss zu warnen: wo Öffentlichkeit, dort Demokratie. Denn natürlich können demokratische Verfahren auch eine entsprechende Öffentlichkeit provozieren.
(5) Verschiedene demokratische Verfahren können sich vertikal und horizontal überlappen. Individuen können an verschiedenen demokratischen Verfahren teilnehmen, an Verfahren, die im Ganzen Teil eines übergeordneten Verfahrens sind, aber auch an Verfahren mit sich überschneidenden Teilnehmern. Hier entstehen Probleme im Verhältnis der Verfahren zueinander, für die es keine rein demokratietheoretische Lösung gibt. Zwei Probleme liegen auf der Hand: Zum Ersten das ungewisse Verhältnis übergreifender, etwa nationaler Prozesse, zu besonderen, etwa kommunalen, demokratischen Prozessen. Hier liegt das klassische Souveränitätsproblem in demokratisch-föderalen Mehrebenen-Rechtsordnungen. Zum Zweiten stellt sich die Frage nach den Beteiligungsmöglichkeiten von Teilnehmern, die horizontal zwischen verschiedenen Prozessen wechseln, aber nicht sofort in das neue Verfahren integriert werden. Ein Beispiel ist die Frage nach politischen Rechten für Ausländer. Beide Probleme bedürften zu ihrer Lösung eines aussagekräftigen Begriffs kollektiver Identität:[54] Eines Begriffs, der rechtfertigen könnte, warum eine der Ebenen den anderen vorgeht, und einen 33Begriff, der rechtfertigt, warum nicht jeder vielleicht nur einmalig in den Entscheidungsbereich einer demokratischen Einheit geratene Betroffene schon dadurch Mitglied dieser Gemeinschaft wird. Nach der hier vertretenen demokratietheoretischen Modellierung kann es einen solchen Begriff demokratischer Identität nicht geben. Vielmehr bedarf auch diese Frage demokratischer Entscheidung, die sich dann allenfalls nach Kriterien wie Selbstwidersprüchlichkeit oder Reziprozität der Regelungen beurteilen lassen könnte. In jedem Fall hätten sich andeutende demokratische Identitäten Anspruch auf Verfahren, in denen sie sich artikulieren könnten, auch um überhaupt erkennen zu können, ob Interesse an einer solchen Identität besteht. Wie gesagt: Es gibt anders als in der klassischen Repräsentationstheorie kein Volk, keine Nation, die sich ein Organ schafft. Umgekehrt müssen sich gegebenenfalls überlappende, institutionelle Angebote daraufhin beobachtet werden, ob um sie herum kollektive egalitäre Willensbildungsprozesse entstehen oder nicht.
Welche institutionellen Konsequenzen hat diese Re-Formulierung? Zwei sollen genannt werden, eine vertikale und eine horizontale. Sie betreffen das Verständnis von Gewaltenteilung (1) und den Umgang mit demokratietheoretischen Problemen der Internationalisierung von Politik und Rechtserzeugung (2).
In keiner staatstheoretischen Figur ist der subjekttheoretische Überschuss des demokratischen Repräsentationskonzepts so wirkmächtig wie in der Gewaltenteilungslehre. Dass der Gesetzgeber gleichsam der Kopf ist, der denkt, vor allem aber will, während die Exekutive handelt, ist eine in der Literatur des 18.Jahrhunderts gängige Formulierung[55] mit institutionell durchaus handfesten Konsequenzen. Denn einerseits ist die Unterscheidung zwischen 34Wille und Tat durchaus geeignet, das wollende Organ zu entmachten, es also von der Tat zu befreien: Mit diesem Argument lehnt etwa Mill Initiativrecht und Änderungsbefugnis des Parlaments ab, das einem Gesetz nur zustimmen oder es ablehnen können soll.[56] Auf der anderen Seite kann sich mit dem Begriff der Repräsentation immer auch die Privilegierung der Institution verbinden, in der Repräsentation im Sinne einer Willensbildung stattfinden kann. Dies evoziert eine metaphorische Vorstellung, die in der Diskussion nach wie vor besonders gängig ist, wenn Verfassungsrecht auf politische Theorie trifft: Demokratisch repräsentiert wird der Wille des Volkes in den lichten Hallen parlamentarischer Deliberation, während er sich irgendwo zwischen den Büros der Regierung und den Stuben nachgeordneter Beamten langsam verflüchtigt, um in einem Gerichtssaal endgültig verloren zu gehen. Der Repräsentationsbegriff legt es offensichtlich nahe, die Gewaltenteilung als eine langsame Ausdünnung demokratischer Willensbildung zu verstehen, die eine graduelle Abnahme der Legitimation staatlichen Handelns erzeugt. Jedenfalls Letzteres ist kaum eine angemessene Vorstellung.[57] Sie suggeriert, dass eine Omnipräsenz parlamentarischer Entscheidungen allein aus praktischen Gründen nicht möglich ist, demokratietheoretisch aber wünschenswert wäre, damit die Sonne kollektiver Selbstbestimmung auch in den letzten Winkel der Ordnung scheinen könnte. Zugleich verbindet sich mit dem Begriff ein Generalverdacht gegen die Exekutive, vielleicht auch deswegen, weil das Parlament, das nach altem Repräsentationsverständnis nur wollen, aber nicht handeln muss, davon freigestellt ist, Demokratie als eine Form von Herrschaft zu praktizieren.[58]
In der gängigen, aber durchaus unglücklichen Unterscheidung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung begleitet uns diese Dichotomie von Wille und Tat weiterhin. Mit dieser Unterscheidung stoßen lokale Prozeduren staatlichen Handelns wie Gerichts- oder Verwaltungsverfahren jedoch auf ein zu geringes 35demokratietheoretisches Interesse. Sie sind bloß tote Enden eines letztlich legitimatorisch irrelevanten unpolitischen Anwendungsvorgangs. Praktisch unterschätzt diese Vorstellung den notwendig immer rechtserzeugenden Gehalt jedes Umgangs mit Recht, also auch durch Gerichte und Verwaltungen.[59] Es gibt keine Dichotomie zwischen der Setzung und der Anwendung von Recht, sondern allenfalls eine arbeitsteilige Konkretisierung des Rechts zwischen Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichten, die auch nicht in jedem Fall gleich ausgestaltet sein muss. Legitimationstheoretisch kann eine solche Vorstellung der legitimationsstiftenden Funktion anderer als parlamentarischer Verfahren nicht gerecht werden. Das Handeln von Exekutiven und Gerichten lässt sich nicht auf die Anwendung eines demokratischen Gesetzesbefehls reduzieren. Wäre es anders, wäre das Ideal des demokratischen Rechtsstaats nicht mehr als ein Parlament mit einer hierarchischen Verwaltung. Es ist deswegen auch kein Zufall, dass sich viele Repräsentationstheorien schwertun, den Unterschied zwischen Gerichten und Verwaltungen begrifflich zu fassen, weil beide nur mit Anwendung beschäftigt sind.
Für die Theorie der Gewaltenteilung bindet der Repräsentationsbegriff also zu viel Aufmerksamkeit beim Parlament, ohne damit das Parlament notwendig zu stärken. Es geht damit auch darum, den Parlamentarismus vor den überzogenen Erwartungen des Repräsentationsbegriffs zu bewahren.[60] Keine Gewalt ist näher am Volk als eine andere. Alle sind gleich nah. Es ist sinnlos, ein Organ innerhalb einer demokratischen Ordnung als Repräsentationsorgan den anderen gegenüberzustellen. Es gibt keine demokratische Vorhand der Legislative.
Probleme des Repräsentationskonzepts zeigen sich auch vertikal, in der Internationalisierung von Recht und Politik. Der Begriff der Repräsentation impliziert eine eindeutige Zuordnung von Legitimationssubjekt (Volk) und Organ, die ihrerseits die Kontextlosigkeit demokratischer Prozeduren, eine Geschlossenheit und Isolierung des Willensbildungsprozesses, voraussetzt. Der Repräsentationsvor36gang ist ein geschlossener Vorgang der Abbildung des Volkswillens. Die Bedeutung demokratischer Äußerungen ist nicht durch Ereignisse verfremdet, die sich außerhalb der demokratischen Gemeinschaft abspielen. In der oben skizzierten Unterscheidung: Demokratische Legitimation und demokratische Bedeutung fallen in ihm zusammen. Eine solche Annahme hat ihre Plausibilität durch die Internationalisierung nationaler Gesellschaften ebenso verloren wie durch die wechselseitige Verschränkung nationaler Rechtsordnungen. Sie war zudem für viele föderale Rechtsordnungen niemals überzeugend. Anders als mit einem repräsentativen kann mit einem expressiven Demokratieverständnis beschrieben werden, dass sich die Bedeutung nationaler Legitimationsverfahren auch dann wandeln kann, wenn die Verfahren selbst unangetastet bleiben, sich aber ihr Kontext verändert.
Was bedeutet das? Nehmen wir das Referendum über den Verfassungsvertrag in Frankreich als Beispiel. Hier erzeugte ein klassisches Repräsentationskonzept eine interessante Koalition zwischen Gegnern der europäischen Integration und Anhängern einer rein expertokratisch legitimierten Europäischen Union.[61] Für Erstere ist das Referendum nicht nur die demokratische Ablehnung der Integration, sondern eben auch Ausdruck der Tatsache, dass es demokratischen Ausdruck nur auf einer nationalen Ebene geben kann. Mit dem Referendum hätte sich demnach ein nationaler demokratischer Politikprozess selbst als einzig möglicher beschrieben. Für die Zweitgenannten ist das Referendum gleichfalls ein Hinweis darauf, dass demokratische Politik nicht in die europäische Politik gehört. Stattdessen setzen sie, wie die Europäische Kommission, auf technokratische und korporatistische Formen der Entscheidungsfindung.[62] Beide Ansätze setzen ein enges Konzept repräsentativer Demokratie voraus: Repräsentation als eindeutige Abbildung einer geschlossen definierten Gemeinschaft in ihren politischen Prozeduren – und eben auch umgekehrt solche Abbildbarkeit als die einzige Möglichkeit, Demokratie zu organisieren. Eine mit diesem Repräsentationskonzept nicht zu erfassende Entwicklung der Europäischen Integration besteht jedoch darin, dass sich die Bedeutung na37tionaler demokratischer Entscheidungen auch geändert hat, wenn die Verfahren gleich geblieben sind. Mit der Entscheidung über nationale Politik wird immer auch über Europapolitik entschieden. Damit gewinnen nationale demokratische Entscheidungen ebenfalls für andere Demokratien an Bedeutung, in einem gewissen Sinn werden aus nationalen transnationale Völker.[63]
Die Ablehnung des europäischen Verfassungsvertragsentwurfs durch das französische Volk ist insoweit eine durchaus mehrdeutige – aber trotzdem demokratische – Entscheidung. Die französische Entscheidung kann nicht als eine rein innenpolitische abgetan werden: Die Vieldeutigkeit der demokratischen Antwort ist Ausdruck der Vieldeutigkeit einer Frage, die die nationale Politik über eine europäische Frage stellt. So gesehen ist das Ergebnis eben die Ablehnung der französischen Europapolitik. Aus ihr folgt sicher das Ende des Verfassungsvertrags als Ausdruck dieser Politik, doch eben keine Aussage über die Art des Fortgangs der Integration. Vielleicht eher eine Fortsetzung der Integration mit mehr egalitären Mitentscheidungsmöglichkeiten, also etwa eine Parlamentarisierung der Europäischen Union.
Diese Vieldeutigkeit demokratischer Entscheidung ist ein Problem, weil die Interpretation einer demokratischen Entscheidung ihrerseits kein demokratisches Mandat hat: demokratietheoretische Überlegungen haben keine demokratische Legitimation. Aber dieses Problem stellt sich nur auf den ersten Blick dringlicher als gewohnt, denn zum einen ist der formale Ausgang eines Verfahrens fast immer klar, keine Zustimmung Frankreichs zum Verfassungsvertrag. Wie oben entwickelt, ist die demokratische Legitimation mit einem Sanktionsmechanismus versehen. Zum anderen ist der über diese hinausgehende Überschuss, eben die demokratische Bedeutung, immer undeutlich und seine Interpretationsbedürftigkeit ebenso unvermeidlich, aber so lange erträglich, wie die relevanten Interpreten ihrerseits demokratisch verantwortlich sind.
Diese demokratische Bedeutungsamalgamierung ist für ebenenverschränkte föderale Systeme typisch. Ähnliche Zusammenhänge erkennen wir etwa bei der bundespolitischen Bedeutung von Landtagswahlen. Egalitäre Verfahren demokratischer Selbstbestimmung können in ebenengegliederten Strukturen, in denen 38die obere durch die untere Ebene konstituiert wird, gar keine eindeutig zurechenbaren Entscheidungen erzeugen. Je mehr wir eine Internationalisierung des Rechts und eine Internationalisierung der Wahrnehmung haben, desto mehr wird diese Vieldeutigkeit zum demokratischen Alltag gehören.
Was folgt daraus institutionell? Jedenfalls nicht, dass man von einem definierten Volk, einer Nation, ausgehend Institutionen bauen soll, wie es von einer klassischen Theorie demokratischer Repräsentation nahegelegt wird. Schon eher liegt es nahe, dass institutionelle Angebote egalitärer Beteiligung auf verschiedenen föderalen Ebenen gemacht werden müssen, deren politische Relevanz sich entwickeln kann, aber nicht muss. Verschiedenen Zugehörigkeiten können jeweils Verfahren angeboten werden. Ihre demokratische Bedeutung kann sich nur aus einem offenen Prozess ergeben. Ein Beispiel für eine solche Entwicklung ist das Europäische Parlament. Wer will sagen, ob es ein »europäisches Volk« gibt, geben wird oder geben soll? Es ist vielmehr ein wesentlicher Ertrag des Verzichts auf den Repräsentationsbegriff, dass schon diese Frage sinnlos erscheint. Auf der ersten Ebene kann das Europäische Parlament demokratische Legitimation beanspruchen, weil es nach einem egalitären Verfahren kreiert wurde.[64] Auf der zweiten Ebene stellt sich die Frage nach der demokratischen Bedeutung seiner Entscheidungen. Hier lässt sich gut erkennen, wie ein egalitäres institutionelles Angebot angenommen wird und damit seine demokratische Bedeutung wandelt, im Fall des Europäischen Parlaments einerseits mit einer geringen Wahlbeteiligung, andererseits mit einer langsam entstehenden Willensbildung, die sich von nationalen Zusammenhängen emanzipiert und die Rechts-links-Unterscheidung auf Fragen der europäischen Gesetzgebung oder der Bestätigung der Europäischen Kommission anwendet.[65] Die demokratische Wertigkeit des Europäischen Parlaments wandelt sich durch die Praxis des Parlaments und dieser Wandel kann auch die relative demokratische Wertigkeit im Verhältnis zu anderen Organen betreffen.
Auch für die Diskussion auf internationaler Ebene bedeutet 39dies, dass die – wie gesagt sinnlose – Feststellung, es gäbe kein globales Legitimationssubjekt, kein Universalvolk, keine institutionellen Folgen hat, sondern vielmehr der Bedeutungswandel einer Institution wie des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen auf seine demokratische Wertigkeit zu untersuchen ist. Dies führt zu einem demokratischen Experimentalismus,[66] in dem man über institutionelle Angebote globaler Beteiligung nachdenken sollte, und in dem bestehende Institutionen wie etwa der Sicherheitsrat sowohl auf ihre interne Willensbildung als auch auf ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit hin beobachtet werden müssen. In der öffentlichen Wahrnehmung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen während des Irak-Krieges konnten wir das Entstehen demokratischer Bedeutung ohne demokratische Legitimation erkennen. Der Sicherheitsrat wurde als das Forum wahrgenommen, in dem die Frage der Intervention zu erörtern und zu entscheiden war, von den USA, die zunächst versuchten, eine Legitimation über den Sicherheitsrat zu erhalten, und von den anderen, die ihre Kritik am Krieg mit der fehlenden Entscheidung des Sicherheitsrats begründeten und begründen. Demokratische Bedeutung erhält eine Institution dadurch, dass sie tatsächlich benutzt wird, dass sie etwa damit beginnt, ihre Kompetenzen eingehend zu nutzen.[67] Dies ist beim Sicherheitsrat ebenso der Fall[68] wie eine globale öffentliche Wahrnehmung, die in diesem Organ die Stelle erkennt, die bestimmte Entscheidungen treffen sollte.[69] Damit kann die Diskussion um seine demokratische Legitimation, also um die Frage der Anbindbarkeit der Vereinten Nationen an egalitäre Verfahren, erst beginnen.
Das hier nur skizzierte Konzept ist nicht grundsätzlich neu. Allerdings bedurfte es der Explikation, warum ein starkes Konzept demokratischer Repräsentation bei einer Weiterentwicklung demokratietheoretischer Fragestellung eher ein Hindernis darstellt 40und in welche Richtungen es weiterentwickelt werden könnte. Eine demokratische Praxis kann ihrem eigenen Anspruch nach, der eben immer auf eine Rechtfertigung durch die an ihr Beteiligten beschränkt ist, auch nicht über sich hinausweisen. Kann sie aber nicht über sich hinausweisen, dann bedarf sie des Begriffes der Repräsentation nicht. Daraus folgt für die Demokratietheorie eine institutionell-pragmatistische Wende, ein größeres Interesse an einzelnen Verfahren und an der Beobachtung demokratischer Praxis. Theoriegeschichtlich formuliert: weniger Theorie à la Kant und Rousseau und mehr institutionelle Sensibilität à la Madison und Brunkhorst. Die Treue zum ergebnisoffenen voluntaristischen Gehalt eines egalitären Demokratiekonzepts hängt nicht am Begriff der Repräsentation.
41
Drei demokratietheoretische Dogmen finden sich in der juristischen Demokratietheorie, namentlich in der staatsrechtlichen Kritik an der europäischen Integration und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Diese Dogmen sind, so die hier zu begründende These, nicht richtig: Weder kann die Demokratie auf einen definierten Volksbegriff zurückgreifen (1.) noch bilden demokratische Repräsentationsmechanismen einen Volkswillen ab (2.) noch funktionieren demokratische Institutionen notwendig nach einem einfachen Schema von Mehrheit und Minderheit oder Regierung und Opposition (3.). Dass diese Dogmen nicht richtig sind, bedeutet aber umgekehrt weniger für die Demokratisierung der Europäischen Union, als man auf den ersten Blick annehmen sollte (4.).
Die These, dass es kein europäisches Volk »gebe«, setzt die Figur des demokratischen Legitimationssubjekts in den Status des Faktischen, wenn nicht Naturwüchsigen. Aber die Eigenschaften, die im Angebot sind, um zu erklären, wie denn ein so gegebenes Volk beschaffen sein müsste, erweisen sich in unserer vielfältigen Welt demokratischer Ordnungen als weder notwendig noch hinreichend. Demokratien müssen weder ethnisch homogen sein noch müssen sie in einer gemeinsamen Sprache sprechen, sie müssen weder sozial ausgeglichen sein noch einer gemeinsamen religiösen Tradition entstammen, sie müssen noch nicht einmal ein säkulares Verständnis von Politik und Religion unterhalten: Indien, die Schweiz, die Vereinigten Staaten oder Israel aus der Kohorte demokratischer Ordnungen wegzudefinieren, und dies wäre die Konsequenz einer Anwendung der genannten Kriterien, erscheint nicht nur im Ergebnis irritierend, es ist vor allem systematisch wenig überzeu42gend:[1] Denn Theorien demokratischer Legitimation, die mit materiellen Kriterien der Konstitution eines Volkes argumentieren, verkennen die entscheidende Größe jeder Demokratietheorie: eben den politischen Charakter demokratischer Selbstbestimmung.[2] Ein demokratisches Legitimationssubjekt ist die Form der Konstruktion einer Entscheidungseinheit, die sich so oder anders hätte konstituieren können. Ein demokratisches Volk ist weder eine Sprach- noch eine Religionsgemeinschaft, noch nicht einmal eine ökumenische. Hierin liegt im Übrigen ein bekannter Selbstwiderspruch der Schmitt’schen politischen Theorie, die auf der einen Seite einen emphatisch offenen Politikbegriff entwickelt hat, um diesen dann ethnisch oder national zu verengen. Jenseits aller berechtigten moralischen Einwände erscheint dies auch theoretisch inkonsequent.[3]
Mit der Anwendung solcher Kriterien verbindet sich auch eine für Theorien juridischen Ursprungs eigentümliche Kategorialität auf einem Gebiet, auf dem man nur in Abstufungen sprechen kann. Zwar kann eine Norm nur gegen das Demokratieprinzip verstoßen oder nicht, tertium non datur; trotzdem ist es völlig unproblematisch, im Entstehen und Vergehen graduelle Demokratisierungsprozesse beobachten zu können. Den dichotomischen Charakter des juridischen Denkens auf die politische Theorie zu übertragen, bleibt so daher unergiebig. Im Ergebnis verfehlt der Versuch zu definieren, wo ein Volk beginnt und wo es endet, beides, die Realität eines Vergemeinschaftungsprozesses und die Normativität des Volksbegriffs, weil er am jeweils falschen Ende normativ respektive empirisch argumentiert: Die zu normative Selbstdefinition als Legitimationssubjekt wird empirischen Kriterien unterworfen, der 43empirische Vergemeinschaftungsprozess dagegen in ein zweiseitiges normatives Raster gepresst.
Das deutsche Verfassungsrecht hat mit der Figur der Erfolgswertgleichheit im Verfassungsrecht eine Kategorie entwickelt, die gebietet, dass jeder Stimme grundsätzlich »ein anteilsmäßig gleicher Erfolg zukommt«.[4] Dieses Kriterium führt zu Ende gedacht zu einer Repräsentationskonzeption, die die im Wahlrecht zu verwirklichende demokratische Repräsentation als möglichst wahrheitsgetreue Abbildung des Willens der beteiligten einzelnen Wähler versteht. Man könnte insoweit mit einer Begrifflichkeit aus der ästhetischen Theorie von einem mimetischen Modell sprechen, das in der aristotelischen Tradition steht: Das Porträt des Volkes soll ähnlich werden – nur schöner.[5] Dass mimetische Theorien der Kunst gegen Ende des 18.Jahrhunderts ihr Ende fanden, mag eine erste Irritation hervorrufen, dass eigentlich alle relevanten Demokratietheorien der Neuzeit gleichfalls nicht an ein solches Abbildungsmodell glauben, ist ernster zu nehmen: Für die Demokratietheorie ist es ist eine Sache, dass politische Organe aus einem Verfahren entstehen, welches allen eine gleiche Beteiligungschance einräumt; es ist aber eine ganz andere, von einem so kreierten Organ zu verlangen, dass es einen Volkswillen über den Wahlakt hinausgehend abbilde. Ein solches Konzept steht jedenfalls in der Gefahr, die Theorie der Demokratie zu einem Modell des Populismus zu machen: Denn eine angemessene Theorie der Demokratie muss demokratische Herrschaft gerade gegenüber dem Legitimationsakt verselbstständigen, der sie einrichtet. Ein demokratisches Repräsentationsorgan muss nichts abbilden, sie muss eine Praxis gleicher Freiheit zum Ausdruck bringen.[6] Hierzu gehört eben die Unterscheidbarkeit von Herrschenden und Beherrschten durch institutionelle und zeitliche Distanzierung. Ein plébiscite de tous les jours dagegen ist kein demokratischer Akt. Ein Parlament aber, das 44die Wähler perfekt abbildet, ist nicht notwendig eines, das demokratische Herrschaft ausüben kann oder soll. Die Sicht, die sich hinter dieser Annahme entdecken lässt, entspricht tendenziell der Idee des Parlaments als Organ der Daueropposition: Solange meine Gegenansicht im Parlament vertreten ist, bleibt mir egal, wer regiert. Aus dieser Perspektive ist auch die Gründung neuer Parteien ein Gewinn an Demokratie, weil sie meinen individuellen Überzeugungen näher kommen, unabhängig davon, wer eine Mehrheit bilden kann.
Nun gehört es zur notwendigen Offenheit einer angemessenen Demokratietheorie, auch ein solches Demokratieverständnis zulassen zu können. Wenn eine demokratische Gemeinschaft es so will, soll sie es so einrichten. Davon deutlich zu unterscheiden ist es, aus einer solchen Sicht ein Prinzip, wenn nicht gar ein Definiens des Demokratiebegriffs selbst zu machen. Konzeptionen der Mehrheitswahl, aber auch föderale Arrangements werden es in aller Regel anders sehen. Sie werden größeren Wert auf die Verselbstständigung des demokratischen Repräsentationsorgans legen, das es zu kreieren gilt. Aus diesem Grund folgen sie nicht einem entsprechend strikten materiellen Gleichheitsmaßstab. Sie setzen auf der anderen Seite an: beim Repräsentationsorgan. Ein solches ist, wenn es aus einem Mehrheitswahlrecht kreiert wurde oder wenn der Wahlmodus aus Gründen föderaler Gleichheit modifiziert wird, noch nicht weniger demokratisch. Demokratie muss nicht als Perfektionierung individueller Repräsentationschancen verstanden werden, sie kann auch auf die Ermöglichung kollektiver Handlungsfähigkeit abzielen.
Aber auch die umgekehrte Sicht kann zum Dogma werden. Ihr zufolge verwirklichen demokratische Prozesse das Ideal alternativer Entscheidungsmöglichkeiten im Repräsentationsorgan. An die Wahl muss ein programmatischer politischer Wechsel anschließen können. Eine Opposition muss im Verfahren kenntlich werden. Auch dieses Argument kann gegen die demokratische Verfasstheit der Europäischen Union ins Feld geführt werden.[7] Auch diese 45Sicht erscheint freilich mit Blick auf die Praxis vieler Demokratien nicht zwingend: Dazu gehört das schweizerische System, in dem die Zusammensetzung der Regierung, des Bundesrates, nur sehr beschränkt vom Ergebnis der Parlamentswahlen abhängt. Es gilt natürlich auch für die deutsche Konkordanzdemokratie, die oft als »Allparteiendemokratie« (Böckenförde) funktioniert. Das liegt maßgeblich am Zustimmungserfordernis des Bundesrates. Auch das von seinen Schöpfern auf Blockadefähigkeit angelegte amerikanische Regierungssystem gehört in diesen Zusammenhang.
Die Unterscheidung zwischen Mehrheitsdemokratien und Konkordanzdemokratien ist den politischen Wissenschaften entsprechend lange bekannt.[8] Diese hat zu Recht darauf verzichtet, bestimmen zu wollen, welche Form der Demokratie denn demokratischer sei. Natürlich haben Zwei-Parteien-Systeme den Charme der frischen Entscheidung, auf den etwa die politische Theorie Hannah Arendts so großen Wert legte: Ein Regierungswechsel ist ein neuer Anfang. Aber wiederum kann sich eine demokratische Gemeinschaft auch dazu entscheiden, die demokratische Repräsentation auf verschiedene Organe zu verteilen und zwischen diesen einen Konsens vorzusehen.
Die Herrschaftsform gleicher Freiheit kennt viele Möglichkeiten ihrer Verwirklichung. Sie zu verengen und diese Verengungen noch dazu zu konstitutionalisieren, stellt in jedem Fall einen Verlust an Demokratie dar.[9] Doch darf diese Offenheit nicht zu falschen Umkehrschlüssen verführen, die im Ergebnis den Demokratiebegriff einfach jeder institutionellen Entwicklung anpassen. Für unsere drei Dogmen soll diese Warnung abschließend noch einmal knapp konkretisiert werden:
46Zum Ersten impliziert die Einsicht, dass es unrichtig ist, demokratische Herrschaft an den Begriff eines vorgegeben sozial definierten Volksbegriffs zu binden, nicht, dass kollektive politische Herrschaft einfach voraussetzungslos möglich ist, wenn man einfach entsprechende rechtliche Institutionen einrichtet. Demokratische Föderationen können auseinanderbrechen, demokratische Verfahren können einfach nicht anspringen: die Wahlen zum Europäischen Parlament sind ein aktuelles Beispiel dafür. Ein häufiger kategorialer Fehler liegt darin, auf Kollektivsubjekte bei der Konstruktion demokratischer Herrschaft einfach zu verzichten, wie es die Rede eines »Europas der Bürger« suggeriert.[10] Demokratische Herrschaft bedarf aber einer demokratischen Gemeinschaft und des thematischen Bezugs der ihr Zugehörigen. Aus der Gemeinschaft der Citoyens einfach eine solche der Bourgeois zu machen, ist keine Lösung des Legitimationsproblems.