Freiheitsgrade - Christoph Möllers - E-Book

Freiheitsgrade E-Book

Christoph Möllers

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Beschreibung

Freiheitsgrade kennt man aus der Mechanik. Der Begriff bezeichnet dort die Zahl der Richtungen, in die ein Körper sich an einem Gelenk bewegen kann. Bei seinem Versuch, den Liberalismus auf die Höhe der Zeit zu bringen, geht Christoph Möllers weder von der politischen Großwetterlage aus noch vom Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft. Vielmehr versucht er, Formen einer Ordnung herauszupräparieren, die Bewegungsfreiheit und soziale Varianz ermöglicht. So gerüstet, verspricht er keine Antworten, aber neue Perspektiven auf diverse Phänomene: auf den Begriff der politischen Repräsentation, aber auch die Funktion territorialer Grenzen. Freiheit, so Möllers, ist eine Praxis der Ergebnisoffenheit, die Prozesse ermöglicht, von denen unklar sein muss, wohin sie führen.

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Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Christoph Möllers

Freiheitsgrade

Elemente einer liberalen politischen Mechanik

Suhrkamp

Ich wollte herausfinden, ob es möglich ist, weiterhin ehrlich und intelligent ein Liberaler zu sein, und im Fall einer positiven Antwort wissen, welche Art liberaler Überzeugung man heute annehmen sollte.

John Dewey

Aber wenn die Worte ›frei‹ und ›Freiheit‹ auf irgendwas anderes angewendet werden als auf Körper, werden sie missbraucht; denn was sich nicht bewegt, kann nicht behindert werden.

Thomas Hobbes

Freiheit kann, und das kann man heute wissen, nicht durch einen Gegenbegriff definiert werden, sondern nur durch die kognitiven Bedingungen ihrer Möglichkeit.

Niklas Luhmann

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Einführung

Zu Konzeption und Lektüre

1. Symptome des Liberalen

1.1 Überlieferte Widersprüche

1.2 Gegenwärtige Fragen

1.3 Freiheitsgrade und ihre Voraussetzungen

2. Mechanismen der Politik

3. Politischer Liberalismus

3.1 Elemente

3.1.1 Personen

3.1.2 Gemeinschaften

3.1.3 Güter und Dinge

3.1.4 Gründe

3.2 Vermittlungen

3.2.1 Raum

3.2.2 Zeit

3.2.3 Öffentlichkeit

3.2.4 Positionen

3.2.5 Macht und Ordnung

3.3 Herrschaft

3.3.1 Verfassung

3.3.2 Recht

3.3.3 Demokratie

3.3.4 Exkurs über Kapitalismus, Liberalismus und Demokratie

3.3.5 Außen und Innen

4. Praktische Ausblicke

4.1 Politik beschreiben und erklären

4.2 Politische Lager – eine Orientierung

4.3 Exkurs über liberale Ökologie

4.4 Freiheitsgrade in der Pandemie

4.5 Maximen für liberal-demokratische Partisanen

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Einführung

Bei historischer Betrachtung wird deutlich, dass jeder Entwurf von Freiheit immer relativ zu den Kräften ist, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zunehmend als unterdrückend empfunden wurden.

John Dewey

Das Nachdenken über dieses Buch begann aus dem diffusen Bedürfnis, die gegenwärtige politische Situation zu betrachten, ohne noch einen Text über Orbán, Trump oder das Ende der Demokratie zu verfassen.1 Mehr interessiert mich die – mitunter mit falscher Selbstverständlichkeit behandelte – Frage, was genau gegen eine solche Politik in einem historischen Augenblick verteidigt werden soll, in dem Mussolinis Feststellung, alle politischen Experimente der Gegenwart seien antiliberal,2 wieder zutrifft. Demokratische Rechtsstaaten müssen mit ihren Ordnungen im Ganzen auch vielerlei im Einzelnen verteidigen, das sich schwerlich überzeugend verteidigen lässt. Wenn ich versuche zu zeigen, dass es sich lohnt, bei dieser Verteidigung an die liberalen Traditionen anzuknüpfen, so ist dies auch die Übernahme rechter und linker Gegnerbeschreibung. Wenn ich versuche, das liberale Projekt fortzudenken, dann auch, weil der Liberalismus aus einer bloß defensiven Haltung nicht zu retten ist.3 Das ist keine neue Einsicht, aber eine, die schon einmal dabei geholfen hat, die verbreitete Erwartung seines Endes zu widerlegen.4 Damit steht das Buch in einer Reihe mit anderen Versuchen, die liberale Tradition gegen ihre allgegenwärtige Diskreditierung neu zu finden oder zu erfinden.5

Wie andere wird auch dieses Buch am Dilemma der Geschichtlichkeit politischer Theorie leiden. Setzt man einfach einen eigenen Entwurf als »liberal«, der unter Umständen auch anders heißen und den man eng6 oder weit7 fassen kann? Oder sucht man nach historischer Akkuratesse, um die Geschichte des Liberalismus als eine solche beliebiger Umdeutungen8 oder einer weiten, aber widerspruchsreichen liberalen Ökumene9 zu beschreiben? Dieses Buch wird den ersten Weg einschlagen, ohne aber die vielfältige Geschichte aus den Augen zu verlieren, aus der es sich bedienen wird. Der Umgang mit dem Begriff Liberalismus ist auch deswegen schwierig, weil er nicht nur historisch, sondern auch kulturell, sowohl diachron als auch synchron, so verschieden gebraucht wird. Richten sich die rechten Kritiker des Liberalismus10 ebenso gegen amerikanische Linke, die sich »liberals« nennen, wie gegen neoliberale Ökonomen, gegen Bernie Sanders wie gegen Friedrich August von Hayek? Teilen diese beiden gehaltvolle politische Inhalte? Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn man das Verhältnis der Liberalismen zur Politik genauer untersucht.

Auch viele Kryptoliberale denunzieren den »Liberalismus«, ohne sich von als liberal angesehenen Positionen loszumachen, etwa der Verteidigung individueller Rechte.11 Ihnen wäre zu zeigen, dass sich aus dem Liberalismus mehr machen lässt, als sie ahnen. Sie müssten sich aber auch fragen lassen, welche politischen Risiken sie mit ihrer eigenen Inkonsistenz eingehen. Heute gibt es nach meinem Eindruck in westlichen Gesellschaften deutlich mehr in der Sache liberale Bürger und Politikerinnen als solche, die sich einzugestehen bereit wären, dass sie liberal sind. Ob dies eine gute Nachricht ist, ist offen. Die Selbstbeschreibung als antiliberal kann sich auch dann politisch verselbstständigen, wenn sie in der Sache nicht zutrifft.

Ein Problem gibt es aber auch mit denen, die sich zum Liberalismus bekennen. Bei der Beschäftigung mit angeblich liberalen Positionen fällt auf, dass sie häufig an einem Punkt die Debatte beenden, der sich aus ihren Grundbegriffen nicht rechtfertigen lässt: bei einem statischen Konzept individueller Freiheit, bei pauschaler Kritik an der Reichweite des Staates oder in einer linken Variante bei einem allgemeinen Verdacht gegen den Wert wirtschaftlichen Handelns. Die Beobachtung, dass der Liberalismus im Namen der Freiheit bestimmte Formen anstrebt und dann aufhört zu fragen, unter welchen Bedingungen diese Formen noch der Freiheit dienen, ist nicht neu. Er findet sich bei John Stuart Mill, bei der ersten Generation des britischen »neuen Liberalismus«12 und vielleicht am schönsten in einem kleinen Buch von John Dewey ausbuchstabiert.13 Auch die nonchalante Feststellung des erzliberalen Kommunitaristen Michael Walzer, in letzter Konsequenz führe der Liberalismus in den demokratischen Sozialismus,14 entstammt einem angelsächsischen Kontext, der immer offener dafür war, Liberales radikal zu Ende oder ganz anders zu denken.15

Liberale reagieren zudem auf die Herausforderungen aktueller Politik häufig damit, sich in eine imaginierte politische Mitte zu setzen – um damit im Ergebnis Politik zu vermeiden.16 Diese Geste stand bereits am Anfang des politischen Liberalismus. Dabei kann diese Mitte auf ganz unterschiedliche Pole hinweisen. Sie kann die Mitte zwischen rechts und links in einem demokratischen System bezeichnen oder die Mitte zwischen Kommunismus und Faschismus als liberal-demokratisches System17 oder die Mitte zwischen sozialistischem und kapitalistischem Wirtschaftssystem.18 Heute ist die Lage zusätzlich dadurch unübersichtlich, dass sich eine ausdrücklich als liberal bezeichnende Politik jedenfalls im europäischen Kontext häufig als rechtsliberal erweist, ohne dies anzuerkennen, während liberale politische Theorien Liberalismus ebenso implizit mit Linksliberalismus gleichsetzen. Die Zurückweisung der Rechts-links-Unterscheidung dürfte aber, so eine Vermutung, dem Liberalismus politisch im Ganzen nicht guttun.

Die liberalen Traditionen stecken voller Widersprüche – und das ist für eine politische Ideologie gar nicht schlecht. So wird es möglich, das genuin politische Feld der Koalitionsbildung zu betreten, in der Widersprüche zurückgestellt werden können. Sie müssen in Politik aufgelöst werden, deren Inhalte sich nicht einfach aus liberalen Doktrinen ergeben, diese aber auch nicht widerlegen.

Dieses Buch wird keine Erklärungen für die Krise des Liberalismus liefern, sondern eine Folie, vor deren Hintergrund sich Argumente für die Beurteilung der politischen Verhältnisse entwickeln lassen. Es ist kein wissenschaftliches, schon gar kein politikwissenschaftliches Buch, sondern ein politischer Reiseführer, der ein liberales Orientierungsmuster entwirft; der Versuch eines Teilnehmers, sich einen Reim auf die Verhältnisse zu machen, der kohärent genug ist, um durch die politische Landschaft der Gegenwart zu führen. Dies bringt keine starke Anleitung zu richtiger Politik, sondern eine an eigenen liberalen Grundsätzen orientierte Beobachtung, die ihrerseits nicht politisch neutral (dieses liberale Unwort) operiert. Die Traditionen des Liberalismus erwiesen sich im Übrigen bei der Lektüre als so reichhaltig, dass nichts, was sich hier findet, Originalität beanspruchen kann.

Mit diesem Buch schließe ich an eigene Vorüberlegungen an, inhaltlich ist ein Aufsatz zur Lage des liberalen Bürgertums im Merkur zu nennen.19 Wer den Aufsatz gelesen hat, kann dieses Buch als Versuch nehmen, die Position darzulegen, aus der der Aufsatz geschrieben wurde. Die Form dieses Buchs orientiert sich an einem über zehn Jahr alten Band zur Demokratie.20 Die folgenden Überlegungen sind pessimistischer, weniger didaktisch, erratischer und mögen darin auch die Zeiten reflektieren, in denen der Verfasser lebt. Dass seine Fertigstellung mit einer Pandemie zusammenfiel, hat diese Tendenzen vermutlich verstärkt. Für freiwillige und unfreiwillige Anregungen danke ich herzlich Isabelle Ley, Christian Neumeier, Florian Meinel, Carlos Spoerhase und besonders Anette Fasang und Nils Weinberg. Heinrich Geiselberger schließlich hat sich als Lektor um dieses Projekt noch mehr bemüht als ohnehin üblich.

Zu Konzeption und Lektüre

Dieses Buch muss nicht linear von Anfang bis Ende gelesen werden. Die Querverweise sollen es erleichtern, an verschiedensten Stellen die Lektüre zu beginnen und fortzusetzen. Warum aber seine mosaikhafte Form? Für mich stellt sie die einzige Möglichkeit dar, Probleme in eine äußere Ordnung zu bringen, ohne einen starken systematischen Anspruch zu erheben. Einen solchen könnte ich intellektuell ohnehin nicht einlösen, er würde aber auch der grundlegenden Intuition dieses Buchs entgegenstehen, dass nämlich systematische philosophische Entwürfe politischer Herrschaft nicht in der Lage sind zu verarbeiten, wie Politik funktioniert oder funktionieren sollte.

Dazu versuche ich zunächst, die historische Vielfalt liberaler Entwürfe aufzufächern und für die Gegenwart zu aktualisieren (1.). Es verstand und versteht sich nicht von selbst, was gemeint wird, wenn von »Liberalismus« die Rede ist (1.1). Diese Traditionen des Liberalismus sind widerspruchsreich, und diese Widersprüche begleiten uns bis in die Gegenwart (1.2). Der erste Teil endet mit der Entwicklung eines Konzepts von »Freiheitsgraden« (1.3): Mit diesem aus der Mechanik kommenden Begriff sollen drei Dimensionen der Freiheitswahrnehmung bezeichnet werden: Freiheit kann sowohl individuell als auch gemeinschaftlich, sowohl rational gerechtfertigt als auch willkürlich, sowohl durch Regeln formalisiert als auch außerhalb einer formalisierten Ordnung wahrgenommen werden. Damit steht der Rekurs auf die Mechanik für einen reduktionistischen Freiheitsbegriff, der Beweglichkeit beschreibt, ohne an eine ausgebaute Theorie der Subjektivität anzuknüpfen – ganz im Sinne des Eingangszitats von Thomas Hobbes, der eben auch ein bedeutender Mechaniker war.21 Zu bewahren sind von Hobbes der Verzicht auf gesteigerte Erwartungen an die Rationalität innerer Willensbildung und der körperliche Ausgangspunkt aller Arten von Freiheit. Dem aber muss eine Abkehr vom Naturalismus der hobbesschen Formulierung auf dem Fuß folgen. Freiheit knüpft an physische Bewegung unvermeidbar an, sie wird aber unter modernen Bedingungen zu einer »heuristische[n] Konstruktion von Alternativen«,22 die in manchen Gesellschaften eine größere Rolle spielt als in anderen.23 Freiheit setzt freiheitsbegünstigende Situationen voraus, die sich gestalten lassen.24 Das bedeutet nicht, Freiheit, nur weil sie sich nicht beweisen lässt,25 als Illusion zu verstehen, die es erlaubt, determinierte Abläufe anders nachzuerzählen. Solange sich Kontingenzen auch empirisch aufzeigen lassen, kann von Freiheit in einem beschreibenden Sinn die Rede sein.26 Mehr ist für eine politische Konzeption von Freiheit nicht nötig. Wenn man bestimmte Ereignisse wie namentlich Revolutionen voraussehen kann, verliert die Kategorie der Freiheit freilich ihre Plausibilität.27

Dieser Ansatz soll es ermöglichen, ein bestimmtes Verständnis von Liberalismus mit einem Begriff von Politik zusammenzuführen, der diese nicht auf öffentliche Vernunft reduziert, sondern der verarbeiten kann, dass gemeinschaftliches Handeln eigenen Mechanismen folgt, die sich nicht als Aggregation individueller Handlungen und ihrer Rechtfertigung verstehen lassen. Politik ist eine Praxis, in der Gemeinschaften ihre eigene Vergemeinschaftung nicht hinnehmen, sondern denaturalisieren: beobachten, bewerten und als veränderbar behandeln (2.).

Das Verhältnis von Politik und Freiheit, das sich aus dem Ansatz der Freiheitsgrade ergibt, auszubuchstabieren ist Gegenstand des zentralen Teils des Buchs (3.). Wenn Freiheit auf so unterschiedliche Arten ausgeübt werden kann, dann ergeben sich daraus zunächst Konsequenzen für einige klassische Elemente der politischen Theorie (3.1). Freiheit besteht dann auch darin, die Form ihrer Inhaberschaft offenzuhalten, also Individuen (3.1.1) und Gemeinschaften (3.1.2) als gestaltbare Einheiten zu verstehen. Dazu gehört auch, die Güterzuordnung samt der ihr zugrunde liegenden Kriterien wie beispielsweise Verdienst zu öffnen (3.1.3). Schließlich relativiert sich damit auch die Bedeutung von Gründen (3.1.4), einem großen Thema zeitgenössischer liberaler Theorie, für die Politik.

Wie politische Vermittlung (3.2) im Angesicht des Anspruchs auf Freiheitlichkeit funktionieren kann, untersuche ich zunächst mit Blick auf ihre räumliche (3.2.1) und ihre zeitliche Dimension (3.2.2). Dem Liberalismus wird nachgesagt, er habe keinen Sinn für örtliche Verwurzelung. Dieser Einwand verflüchtigt sich, wenn man gemeinschaftliche Freiheit individueller Freiheit gleichstellt. Liberale Politik hat allerdings eine charakteristische Vorliebe für eine gegenwartsnahe Lösung von »Sachproblemen«, die sie oft dazu führt, die politische Seite von Politik zu verdrängen. Die zentrale Form politischer Vermittlung in der Moderne wird mit dem Begriff der Öffentlichkeit beschrieben (3.2.3). Ein nicht zu kategorial argumentierender Liberalismus wird die Erwartungen an deren Funktionieren bescheiden formulieren und Fragmentierung für ein mitunter nützliches, jedenfalls unvermeidliches Phänomen halten. Dass politische Vermittlung nur über ideologische Positionen verläuft (3.2.4), die mit Mitteln von Macht und Gewalt (3.2.5) operieren, wird von liberalen Modellen zu oft mit Schrecken oder normativer Ablehnung zur Kenntnis genommen. Es lässt sich für Politik aber nicht überwinden.

Politik geht nicht in Organisation auf, sie ist allerdings auf eine Form der Organisation, auf Herrschaft (3.4), angewiesen, die, auch wenn sie nicht liberal ist, doch stets durch Normen verfasst wird, ohne welche die Organisation von Ämtern und die Übernahme politischer Verantwortung nicht möglich wären (3.4.1). Für liberale Herrschaft spielt Recht eine herausgehobene Rolle, freilich weniger als eine von außen kommende Begrenzung denn als eine interne Ausdifferenzierung der politischen Organisation (3.4.2). Auch wenn der Liberalismus spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Frieden mit der Demokratie gemacht hat, kann er bis heute mit einem operativen Modell wenig anfangen, das sich nicht anders denn als Mehrheitsherrschaft denken lässt. Systematisch zwingend ist das nicht (3.4.3). Ein zentrales politische Problem unserer Zeit liegt im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus. Dass der Liberalismus in dieser Debatte auf der Seite des Kapitalismus steht, wird gerne behauptet, ist aber keineswegs selbstverständlich (3.4.4). Schließlich spiegeln sich die Widersprüche des Liberalismus auch in seinem Verhältnis zur internationalen Politik, etwa darin, dass er die Rechtfertigung für kriegerisches Handeln einerseits zu rationalisieren sucht, diese Ratio aber andererseits mehr Kriegsgründe anzubieten weiß als die klassische Machtpolitik (3.4.5).

Das Buch endet mit praktischen Ausblicken (4.) zur Frage, wie sich Politik heute beschreiben lässt (4.1), wie sich die politische Lagerbildung darstellt (4.2), zwei Exkursen, die die Kategorien des Buchs auf ökologische Fragen und auf die Bedingungen der Pandemie anwenden (4.3, 4.4), und einem kleinen Katechismus dazu, welche praktischen Konsequenzen all dies für ein liberales Politikverständnis heute haben könnte (4.5).

Eine der Thesen dieses Buches lautet, dass sich der Liberalismus auf linke und rechte Positionen verteilen sollte, statt den Versuch zu unternehmen, diese Unterscheidung zu unterlaufen.28 Was bedeutet das für die Position des Verfassers? Man könnte sie als sozialliberal bezeichnen in einem doppelten Sinn, der sich nicht direkt auf parteipolitische Größen bezieht. Das Attribut sozialliberal verweist zum einen auf die soziale Gemachtheit von Freiheit, die nicht als natürliches Phänomen behandelt werden kann. Es verweist zum anderen darauf, dass Freiheit von Gemeinschaften in Gemeinschaften wahrgenommen werden kann und diese Formen der Freiheitswahrnehmung nicht abgeleitet oder sekundär sind. Ob ein sozialliberales Modell notwendig auch ein linksliberales impliziert, mag das Publikum beurteilen, falls es denn von Interesse ist (→ 318).

1. Symptome des Liberalen

1. Ein politischer Liberalismus? Liberalen Theorien wird gerne vorgehalten, sich für »politische Realitäten« nicht zu interessieren,1 sich mehr damit zu beschäftigen, ob eine Gemeinschaft eine Entscheidung rechtfertigen kann, als wissen zu wollen, wie sich für diese Entscheidung Mehrheiten organisieren lassen. Auch wenn man genauer klären müsste, was in diesem Vorwurf unter »Realität« zu verstehen ist,2 fällt auf, dass namentlich die im Gefolge von John Rawls als liberal bezeichneten Theorien mehr an begrifflicher Konsistenz denn an der Beobachtung historischer oder politischer Praktiken orientiert sind. Das unterscheidet sie von Vorläufertheorien, etwa bei Montesquieu, Spinoza, Hume, Locke oder Mill. Die Bedeutung politischer Auseinandersetzungen ist in der liberalen Theorie schmal geworden. Politik kommt in ihnen als die Lücke vor, in die »das liberale Regiment der Vernunft«3 nicht vordringen kann. Sie gilt nicht als der Raum, der Vergemeinschaftung konstituiert. Dies erkennt man auch daran, wen diese Theorien adressieren: weniger Bürgerinnen, die sich politisch in einem Gemeinwesen orientieren wollen,4 als Verfassunggeber oder Verfassungsrichter, die neue Ordnungen im Ganzen entwerfen oder beurteilen sollen.5 Ob sich die heutigen Theorien des Liberalismus mit der Logik politischer Prozesse systematisch versöhnen lassen, ist ungewiss. Doch wäre es den Versuch wert, sich nicht damit abzufinden, dass Liberalismus mit Abwesenheit oder Verdrängung von praktischer Politik gleichgesetzt wird. Dazu wäre zunächst zu zeigen, wie schwer es ist, eine liberale Tradition auf den Begriff zu bringen, um anschließend eine Perspektive darauf zu gewinnen, wie diese weiterentwickelt werden könnte.

1.1 Überlieferte Widersprüche

2. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für den Liberalismus. Die Geschichte des Liberalismus ist voller eigenartiger Zuschreibungen. »Liberalismus« wurde erst im Anschluss an die Französische Revolution zum Namen einer politischen Richtung, und zwar einer, die die Revolution weder fortführen noch umkehren wollte.6 Liberalismus als eine Schule der politischen Theorie zu bezeichnen7 oder aus einem vorrevolutionären Naturrechtler wie John Locke einen Liberalen zu machen8 sind Vorstellungen frühestens des späten 19. Jahrhunderts. Vor dieser Theorie entstand die liberale Historiografie, die Geschichtsschreibung immer klar als Anwalt in eigener Sache, als »Willensverstärker« der eigenen politischen Überzeugungen betrieb.9 Eine erste Variante eines politischen »neuen Liberalismus« entstand als Reaktion auf den starken Individualismus der Vorgängerdoktrin und trat für staatliche Regulierung und allgemeines Wahlrecht ein. Heute ließe sich diese Richtung als sozialdemokratisch bezeichnen. Später wurde dieses Label durch einen zweiten kapitalistischen Neoliberalismus vergessen gemacht, der freilich seinerseits unterschiedliche Strömungen kennt.10 Die Formel von den »liberalen Demokratien« entstand nach dem Aufkommen des Antiliberalismus der Zwischenkriegszeit.11 Auch die Vorstellung, Liberalismus sei etwas Angelsächsisches, ist ein historisches Artefakt. Ludwig von Mises beklagte in den zwanziger Jahren die sozialistischen Tendenzen des angelsächsischen Liberalismus,12 während Herbert Marcuse nur ein paar Jahre später gerade Mises als typische Figur des zeitgenössischen autoritären Liberalismus hervorhob, der den Nationalsozialismus ermöglicht habe.13 Für den deutschen Liberalen Friedrich Naumann war der Kampf der Nationalliberalen des Kaiserreichs gegen Sozialisten und Katholiken der politische Sündenfall. Sein eigener, gemeinschaftlich gesinnter Vorschlag für einen Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung stieß aber auch unter Linksliberalen auf Ablehnung und nur bei Carl Schmitt auf Zustimmung.14

Es ist wichtig, zumindest einige dieser Volten der Begriffsgeschichte zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn dies nicht auf einen historisch korrekten Gebrauch der Bezeichnung verpflichten sollte. Es steht jeder Theorie frei, ihren eigenen Begriff von Liberalismus zu konstruieren und alte Denkfiguren für eine heutige Anwendung auszubeuten, weiterzuentwickeln oder zu verwerfen. Politisch ist es ohnehin zulässig, sich theoretischer Lager hemdsärmelig zu bedienen.15 Aus dem Blick in die Geschichte des Begriffs folgen selten handfeste Zurechnungen zu politischen Entwicklungen, insofern überfordert sich die moderne Geschichte des Liberalismus, wenn sie diesen für alles Mögliche verantwortlich macht und daraus gar noch konkrete politische Einsichten ziehen will.16 Doch lehrt die Historiografie zumindest, dass die Behauptung, der Liberalismus sei eine ungebrochene Tradition, die es einfach fortzusetzen oder aufzugeben gelte, nicht zu halten ist.17 John Dewey stellte fest, eine der Stärken des alten Liberalismus habe darin gelegen, unhistorisch zu sein und dadurch Traditionen zu überwinden, später sei er jedoch selbst dieser Gefahr erlegen und zur Tradition geworden.18

3. Chancen einer widersprüchlichen Tradition. Als liberal werden also verschiedenste Doktrinen bezeichnet, die sich nicht auf einen systematischen Nenner bringen lassen.19 Das muss kein Schaden sein, in dieser Vielfalt könnte politisch eine Stärke liegen. In jedem Fall hat es keine andere politische Theorie im 20. Jahrhundert auf einen solchen Reichtum begrifflicher Unterscheidungen gebracht wie der Liberalismus, namentlich im Umkreis der Theorien von John Rawls,20 nicht der Konservativismus, nicht der Nationalismus, nicht der Kommunitarismus oder der Sozialismus, die in ihren anspruchsvolleren Varianten allesamt von liberalen Theorien gelernt haben.21 Freilich produziert theoretische Komplexität politischen Bedeutungsverlust. Die Theorie erhält ihren Eigenwert, weil sie sich nicht ideologisch reduzieren lässt, umgekehrt wollen sich genuin politische Theorien auf praktische Irrelevanz nicht einlassen und wählen daher die Schlichtheit etwa der konservativen Literatur.22 Jede Weiterentwicklung liberaler Theorien wird sich wegen dieser Komplexität nicht einfach auf Schlagwörter wie »Freiheit« oder »Individuum« berufen können – und alle liberale Politik wird zumindest die Nachfrage provozieren, was genau an ihren Slogans liberal sein soll.

4. Hat der Liberalismus eine Theorie der Freiheit? »Der Liberalismus akzeptiert nicht einfach die Freiheit. Der Liberalismus nimmt sich vor, sie in jedem Augenblick herzustellen.«23 In vielen als liberal bezeichneten Theorien spielt Freiheit nur eine zweitrangige Rolle. Vorläufer wie Spinoza, Hobbes und Hume glaubten nicht an die Freiheit des Willens, sondern verfolgten verschiedene Varianten eines Kausaldeterminismus, den sie mit einer Konzeption äußerer Freiheit zu verbinden suchten. Spinoza schreibt: »[M]enschliche Freiheit besteht lediglich darin, daß sich die Menschen ihres Wollens bewußt und der Ursachen, von denen sie bestimmt werden, unbewußt sind.«24 Daraus folgt aber nicht die Irrationalität aller Handlungen. Hobbes erkennt den Sinn von Beratung und Debatte auch unter der Geltung der Kausalgesetze an: »[W]enn bestimmt ist, dass eine Sache einer anderen gegenüber ausgewählt werden soll, dann ist auch bestimmt, aus welcher Ursache sie ausgewählt wird, eine Ursache, die zumeist in Verhandlung oder Beratung liegt. Deswegen ist Beratung nicht vergeblich.«25 Hier entspricht Freiheit physischer Bewegungsfreiheit, die an der Bestimmtheit der Ursachenwelt nichts ändern kann. Für die Altliberalen ist Freiheit ein aus der Antike kommendes Recht auf gleiche Beteiligung an der politischen Gemeinschaft,26 kein Anspruch auf einen privaten Raum außerhalb der Politik. Montesquieu versteht Freiheit als Abwesenheit von Despotie.27 Bei Mill dient Freiheit als Mechanismus, der die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt steigern kann, sie ist kein Selbstzweck, sondern Instrument zur Verbesserung kollektiver Zustände. Umgekehrt werden nicht alle Theoretiker, für die Freiheit systematisch zentral ist, ob zu Recht oder zu Unrecht (→ 65), als liberal eingeordnet, etwa Rousseau, Hegel28 oder Hannah Arendt.29 Bei Kant, dessen Nähe zu Rousseau in Deutschland gern verheimlicht wird, muss man genau hinschauen und sich fragen, in welchem Sinne seine Rechts- und politische Philosophie als liberal gelten können. Immerhin trifft in ihr das allgemeine Gesetz den Einzelnen mit bemerkenswerter Unerbittlichkeit.30

Manches von seinem unklaren Verhältnis zur Freiheit verdankt sich der historisch intimen, aber systematisch nicht zwingenden Beziehung des Liberalismus zum Utilitarismus.31 Ein Beitrag zu einem empirisch ermittelbaren gesamtgesellschaftlichen Nutzen, wie ihn der Utilitarismus anstrebt, ist etwas anderes als eine Ordnung der Freiheit.32 In utilitaristischen Modellen können Berechnungen eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens individuelle Freiheit konsumieren.33 Mill stellt in seiner Schrift zum Utilitarismus fest, dass einer Anhängerin seiner Lehre der eigene Nutzen nicht näher stehen dürfe als derjenige der anderen.34 Die Utilitaristin muss stets an das Ganze denken, im Ergebnis also mehr an die anderen als an sich selbst. Utilitarismus ist damit ohne Freiheit der Einzelnen denkbar. Doch wäre die liberale Tradition ohne den Utilitarismus kaum wiederzuerkennen. Vielleicht werden deswegen sowohl unter Liberalen als auch unter den Kritikern des Liberalismus Freiheit und effiziente Wohlfahrtsvermehrung so oft miteinander verwechselt.

5. Eigensinn oder Vernunft: Was ist die Mutter liberaler Rationalität? Hinter liberalen Theorien liegen unterschiedliche Vorstellungen von Rationalität. Mit Humes Theorie verbindet sich ein Konzept von Zweckrationalität, das rationale Aussagen nur über Mittel, nicht über Zwecke erlaubt.35 Zwecke sind Konsequenzen von Bedürfnissen, die sich ihrerseits nicht rationalisieren lassen.36 Bei Kant wie bei Mill folgt praktische Rationalität einem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit: Die Gründe für meine Handlungen müssen auch für andere gelten. Rationalität ist hier eine Leistung, in der die eigenen Präferenzen in Zusammenhang mit anderen Präferenzen gerechtfertigt werden müssen.37 Solche unterschiedlichen Konzepte von Rationalität haben verschiedene politische Tendenzen, ohne dass sie sich auf Politik reduzieren ließen. Zweckrationale Modelle dominieren, wenn auch mehr und mehr verfeinert, in der ökonomischen Theorie, sie operieren in »neoliberalen« (→ 2.16) und libertären Entwürfen, in denen Individuen nichts Besseres tun können, als ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Kant und Mill verlangen mehr. Beide hatten großen Einfluss auf sozialdemokratische und sozialliberale Gesellschaftsmodelle, die gerade die deutsche Ideengeschichte immer – wenn auch nicht immer prominent – begleiteten.38 Ihr Denken liegt auch Demokratietheorien zugrunde, die die Leistung von Politik darin erkennen, rationale Gründe zu verarbeiten.39 In liberalen politischen Theorien finden sich also nicht nur ganz verschiedene Begriffe von Rationalität, diese schaffen auch unterschiedlich intensive normative Bindungen gegenüber den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft.

6. Nachbar oder Staat: vor wem sollte sich der Liberalismus fürchten? Der angelsächsische Liberalismus bei Hume und Adam Smith entwickelte ausgefeilte Modelle des menschlichen Gefühlslebens, die die politischen Theorien dieser Autoren fundierten.40 Für Hume ist eine grundsätzlich nützliche Handlung auch für diejenigen attraktiv, die konkret nichts von ihr haben.41 Begehren ist ein liberales Grundgefühl, sei es als Freude an Nützlichkeit oder als Gier nach Reichtum. Das andere liberale Grundgefühl ist die Furcht, namentlich vor körperlicher Gewalt, die eigentlich Vereinzelte in die Vergemeinschaftung treibt. Das ungelöste Problem jeder liberalen Theorie besteht dann darin, wovor man sich mehr zu fürchten hat: vor den anderen,42 die uns nach dem Leben trachten, oder vor der politischen Gewalt, die sie in Schach halten soll.43 Die Furcht vor den anderen führt den Präliberalen Hobbes zur starken politischen Ordnung, die Furcht vor dem Totalitarismus führt die Liberale Judith Shklar zur Kritik der ungeteilten Staatsgewalt.44 Das ist die emotionale Grundambivalenz des Liberalismus.45 Welches die Institution ist, vor der man sich vor allem fürchten solle, ist auch in der erzliberalen Doktrin der Gewaltenteilung eine offene Frage. Schützt sie vor der Willkür des politischen Gesetzgebers, wie es die amerikanischen Konstitutionalisten glaubten, die Montesquieu studiert hatten?46 Oder schützt sie, wie heutige Liberale annehmen, vor staatlichen Bürokratien (→ 239)?47

7. Steht der Liberalismus für oder gegen (demokratische) Politik? Radikale Theorien des Liberalismus zeigen eine systematische Nähe zum Anarchismus, also zu einem Modell von Selbstbestimmung, das ohne politischen Herrschaftsapparat auskommen will.48 Aber es wäre historisch und systematisch falsch zu behaupten, liberale Theorien seien per se gegen politische Herrschaft gerichtet. Der Liberalismus ist ein Produkt des modernen Staates,49 liberale Theorien begleiteten seinen Aufstieg und beziehen sich nolens volens durchgehend auf ihn. Im 19. Jahrhundert waren liberale Parteien die entscheidende politische Stütze des europäischen Nationalismus50 und Kolonialismus.51 Allein deswegen gehört Hobbes, dessen Absolutismus aus Individualismus hergeleitet wird,52 in die liberale Ahnenreihe. Wenn Herrschaftsbegrenzung auch ein zentrales Thema liberaler Theorien war, so diente diese Begrenzung immer dem Zweck, die politische Herrschaft effektiver und präziser auszugestalten. Nichts wäre den liberalen Theorien der Gewaltenteilung fremder als die Vorstellung eines Nullsummenspiels zwischen politischer Herrschaftsfähigkeit und individueller Freiheit. Beide sollen aneinander wachsen (→ 43).53

Die Annahme, zwischen demokratischer Politik und Liberalismus bestünde notwendig ein Zusammenhang,54 ist jedoch eine Erfindung des 20. Jahrhunderts.55 Frühliberale Theorien suchten nach Grenzen monarchischer Herrschaft, gegen die sie aber im Prinzip keinen Einwand erhoben.56 »Aristokratische Liberale«57 wehrten sich im 19. Jahrhundert gegen die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts, so wie Neoliberale noch nach dem Zweiten Weltkrieg gegen eine Demokratisierung von Staaten des globalen Südens eintraten.58 Ordoliberale Theorien verbanden sich, religiös inspiriert, mit Modellen autoritärer Staatlichkeit.59 Von der Form der Legitimation des Staates bis zur Stärke seiner Zugriffsmöglichkeiten finden sich in liberalen Theorien alle möglichen Varianten staatlicher Herrschaftsorganisation. Schließlich lässt sich Liberalismus auch als Modell gesellschaftlicher Selbstorganisation verstehen, das sich nicht vom »Spiel der Realität mit sich selbst lösen darf«, wie Foucault feststellte,60 und dem viel subtilere Formen der politischen Einflussnahme zur Verfügung stehen als dem Staat, der sich nur auf Befehle und deren zwangsweise Durchsetzung verlassen kann. Der französische Liberale Guizot stellte fest, dass die »wahren Mittel des Regierens nicht in den direkten und sichtbaren Handlungsmitteln der Herrschaft liegen«, sondern »im Schoß der Gesellschaft selbst«.61

8. Die Liebe der Liberalen zum Staat. Dass liberale politische Theorien kein eindeutiges Verhältnis zur Freiheit pflegen, hat sich ebenso gezeigt (→ 4) wie ihre enge Verbundenheit mit der Entstehung politischer Herrschaft (→ 7). Individualität muss in der liberalen Theorie eben auch vor sozialen Mächten geschützt werden, vor Zünften, Gewerkschaften, Kartellen, Gruppendruck und übergriffigen Nachbarn, da sie sich als unmittelbares und gleiches Gegenüber der Staatsgewalt besser entfalten könnte. Das Misstrauen gegen Institutionen im Raum zwischen Einzelnem und politischer Gewalt, gegen Intermediäre,62 teilt der Liberalismus mit den Jakobinern. Freiheit bedeutet aus dieser Sicht also Zerstörung sozialer und religiöser Vermittlungsinstanzen – und Schaffung einer Gemeinschaft der Individuen durch politische Herrschaft. Dies ist nicht die ganze Geschichte des Liberalismus: Der präliberale Theoretiker Hobbes lässt sich als Vordenker dieser modernen neuliberalen Staatszentrierung lesen. Dagegen trägt der nachrevolutionäre Modernist Tocqueville ein älteres Erbe weiter, in dem eine funktionierende politische Vergemeinschaftung von der Zugehörigkeit zu Gruppen und Assoziationen abhängt – und zwar sowohl im Feudalismus als auch in der Demokratie. Tocquevilles Beobachtung, demokratische Politik hänge von nichtpolitischer Vergemeinschaftung ab, begleitet eine Linie des Liberalismus bis in die Gegenwart,63 doch für einen anderen Strang ist liberaler Individualismus eigentlich nur als Begleiterscheinung unvermittelter Staatsgewalt denkbar. Die Zerstörung der Intermediäre ist ein alt-neuliberales Projekt, das Hobbes sowohl mit Thatcher als auch mit Robespierre verbindet.64

9. Politik einzugrenzen bedeutet nicht, sie zu beschränken. Die historische und systematische Verschränkung von Liberalismus und modernem Staat (→ 7) spricht dagegen, jenen mit einer substanziellen Beschränkung politischer Gewalt gleichzusetzen. Liberal ist es eher, die Staatsgewalt als Mittel zu verstehen, um den Bereich der Politik zu formalisieren und dadurch zu kennzeichnen. Indem Politik und Staatsgewalt miteinander gleichgesetzt werden, entsteht ein formell definierter Bereich des Nichtpolitischen.65 Diese Begrenzung ist nicht mit Beschränkung oder Verkleinerung der Staatsgewalt zu verwechseln. Es geht im Liberalismus um Ausdifferenzierung, also um ein Mehr an Individualität und an Staatsgewalt. Diese führt freilich für den Liberalismus zu einer charakteristischen Verengung von Politik auf Formen und Recht (→ 244). Liberale Theorien propagieren nicht den Vorrang des Individuums über die politische Gemeinschaft, sie sind selten anarchistisch oder kosmopolitisch, sondern sie rechtfertigen mit der unterstellten Zustimmung des Individuums eine moderne Form politischer Herrschaft, die mächtiger ist als alle ihre Vorgänger.

10. Baut liberale Theorie auf dem »Individuum« auf? Theorie lässt als Theorie Individualität hinter sich. Individuen haben einen Namen und können nicht als Grundlage einer Theorie dienen.66 Auch liberale Theorien müssen deswegen typisierende Modelle von Subjektivität und Handlungsfähigkeit verwenden. Seit Langem fragt die Liberalismuskritik, inwieweit solche Modelle nicht diejenige Art von Subjektivität erst erzeugen, um deren Freiheit es ihnen vermeintlich geht. Wird aus dem freien Individuum der liberalen Theorie nicht praktisch der gleichgeschaltete Konsument, der gehorsame Untertan oder der vom Gewissen terrorisierte Gottesknecht? Innerhalb der liberalen Theoriewelten unterscheidet sich der Bezug auf Freiheit der Einzelnen zudem dramatisch. Für Mill ist durch Individualität ermöglichte Diversität das wichtigste Instrument, um eine Gesellschaft aus dem Trott der Gewohnheit herauszubringen. Diese Individualität ist aber nicht einfach da, sie kann nicht vorausgesetzt werden, sie muss vielmehr durch die Gemeinschaft und zu ihren Gunsten ermöglicht und ertragen werden.67 Mills Lob des Individualismus ist utilitaristisch, damit aber letztlich kollektivistisch begründet.68 Er liebt Freiheit und Vielfalt, aber er interessiert sich für Rechte des Einzelnen nur, soweit sie nützlich sind. Dewey spricht von »kollektivem Liberalismus«.69 Shklar lehnte die Unterstellung absoluter Rechte ab.70 Wie beim Begriff der Freiheit kommt das Absolute an absoluten Theorien subjektiver Rechte gerade nicht aus der liberalen Tradition.71 Stattdessen ist individuelle Freiheit in vielen liberalen Modellen mit funktionalen Erwägungen verschlungen. Das Eigentum dient der effizienten Güterverteilung, die Religionsfreiheit dem sozialen Zusammenhalt und die Meinungsfreiheit der Demokratie.

11. Gibt es autoritären Liberalismus? »Autoritärer Liberalismus ist Liberalismus ohne Demokratie.«72 Gibt es einen solchen? Dieser steht politisch sogar am Anfang, denn der erste Politiker, der sich wirkmächtig auf »liberale Ideen« beruft und mit ihnen seinen Griff zur Herrschaft rechtfertigt, ist Napoleon, der damit das Programm einer Restauration der richtig verstandenen Revolution beansprucht.73 Nehmen wir einige neuere Fälle, um den Begriff zu untersuchen: Zum Ersten hat die bürgerliche Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts, die bis ins 20. Jahrhundert fortläuft (→ 7), Ordnungen ermöglicht, in denen ökonomische und politische Freiheitsverteilung auseinanderfielen. Zum Zweiten hat eine Allianz zwischen autoritären Exekutiven und Wirtschaftseliten, denen der Kommunismus als gemeinsamer Feind galt,74 in der späten Weimarer Republik, in Chile und vielen anderen Ländern autoritäre Ordnungen geschaffen. Man könnte den ersten Fall wegen der Beschränkung des Wahlrechts als autoritäre Ordnung bezeichnen, aber das wirkt im Kontext sich demokratisierender konstitutioneller Monarchien unhistorisch. Man könnte im zweiten Fall unzweifelhaft autoritäre Systeme wegen ihrer Wirtschaftsordnung als liberal bezeichnen. Aber abgesehen von der zweifelhaften Gleichsetzung von Kapitalismus und Liberalismus (→ 16, 276) operieren autoritäre Systeme selten mit allgemeiner Wirtschaftsfreiheit und neigen zur Förderung von Monopolen und Kartellen. Liberal ist beides kaum. Dies gilt auch für den dritten Fall, die oft als autoritär bezeichnete Behandlung südlicher Mitgliedstaaten der Eurozone durch Institutionen wie die Europäische Kommission und Zentralbank.75 Tatsächlich verdankt sich die viel gescholtene Politik der Austerität aber maßgeblich demokratischen Entscheidungen, namentlich der fehlenden deutschen Bereitschaft, Ländern wie Griechenland mehr zu helfen. Das kann man als politischen Fehler bewerten, aber es bleibt einer mit demokratischer Legitimation.76 So dient der Begriff des autoritären Liberalismus oft der Polemik gegen den Liberalismus, weniger einer akkuraten Klassifizierung autoritärer Systeme.

12. Liberalismus der Regel und des Einzelfalls. Eine wichtige Forderung liberaler Theorien ist die strikte Beachtung allgemeiner Regeln. Von Hobbes über Kant bis zu Hayek soll das allgemeine Gesetz die Erwartungen der Mitglieder einer politischen Gemeinschaft stabilisieren und ihnen Gleichbehandlung garantieren.77 Doch werden liberale Theorien heute oft gerade mit einem entgegengesetzten normativen Ideal in Verbindung gebracht, dem der Einzelfallgerechtigkeit.78 Im Verfassungsrecht vieler liberaler Demokratien spielt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eine wichtige Rolle: Die politische Gemeinschaft soll nur so weit in Rechte Einzelner eingreifen dürfen, wie dies im konkreten Fall zu rechtfertigen ist, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Mit diesem Argument wird die Rechtfertigung für staatliches Handeln genauer auf einen bestimmten Sachverhalt zugeschnitten, weniger stark von einer allgemeinen Regel definiert und dadurch schwieriger vorhersehbar. Die Idee der Verhältnismäßigkeit ist ein Produkt von Gerichten, die nach Spielräumen zur angemessenen Entscheidung von Einzelfällen suchen.79 Gerichte sind freilich klassisch liberale Institutionen (→ 245), selbst wenn Theorien des Liberalismus mit der Idee der Einzelfallgerechtigkeit wenig anfangen konnten.80 Die Zuwendung zum Einzelfall beobachten wir auch in anderen Bereichen, etwa in der Entwicklung von Identitätspolitiken (→ 86, 88). Hinter diesen Widersprüchen steht ein liberales Grunddilemma, eine Theorie der politischen Vergemeinschaftung zu suchen, die von Gemeinschaft absehen will.

13. Recht als liberales Ordnungsformat. Recht spielt in vielen liberalen Theorien eine hervorgehobene Rolle. Für die Liberalen des 19. Jahrhunderts dient die rechtlich garantierte Eigentumsordnung als eigentliche Verfassung.81Recht wirkt als Maßstab, der zugleich strikt ist, durchgesetzt werden kann und Spielräume lässt. »Rechtsfreie Räume«, heute ein polemischer Begriff in kritischer Absicht, sind ein wesentliches Element liberaler Theorien, die nach Gegenständen suchen, die nicht geregelt werden sollen: sei es das Innenleben der Einzelnen bei Kant oder die öffentliche Moral bei Mill. Diese Beschränkung von Normativität ist typisch für liberale Theorien (→ 28). Das Bild, das diese sich vom Recht machen, ist freilich nicht völlig zutreffend. Dass sich Innenleben des Subjekts und soziale Praxis einfach trennen oder dass sich öffentliche Moralvorstellungen nicht im Recht abbilden oder durch Recht prägen ließen, dass Institutionen der rule of law sich von den politischen Zusammenhängen verselbstständigen könnten, all das ist anfechtbar und wird vielfach angefochten.82 Die politische Form des Liberalismus kann nicht in Recht aufgehen, doch gehört Recht zur liberalen Form, Politik zu institutionalisieren (→ 244, 247).

14. Liberalismus als Antwort auf die Konkurrenz zwischen Religion und Politik? Ein Weg, nach systematischen Gemeinsamkeiten des Liberalismus zu suchen, wendet sich der Religion zu. Liberale Politik reagierte nicht zuletzt auf sich überschneidende normative Ansprüche weltlicher und geistlicher Herrschaft.83 Religion war einmal der zentrale Bedeutungskonkurrent für Politik. Dabei liegt die Lösung, in deren Schatten der Liberalismus entsteht, nicht darin, beide Ansprüche voneinander zu trennen und verschiedenen Sphären zuzuweisen, in denen sie sich nicht mehr ins Gehege kommen. Sie besteht vielmehr zunächst darin, der weltlichen Herrschaft auch Entscheidungsgewalt über religiöse Fragen einzuräumen. Der absolute Monarch, weder bei Hobbes noch im Absolutismus religiös neutral,84 ist Herr über die Religion. Dieser Weg steht zu liberalen Modellen nicht einfach in Widerspruch, vielmehr entwickeln frühliberale Theorien sehr genaue Vorstellungen davon, welche Religionen politisch zuträglich sind: von Hobbes' theologischen Vorgaben für das Funktionieren des Gemeinwesens85 über die Kritik an Katholizismus und Atheismus in Lockes Toleranzschrift86 und Rousseaus liberale Theorien prägendes Konzept der Zivilreligion87 bis zu theonomischen Modellen in liberalen protestantischen Theologieentwürfen des 19. Jahrhunderts.88 Viele liberale Doktrinen der europäischen Moderne sind antikatholisch und antiorthodox – und schon Hegel bemerkt, dass der Liberalismus in katholischen Ländern nicht funktioniere.89 Bis hin zu Begriffen wie »Säkularisierung« sind liberale Gesellschaftsentwürfe weniger religiös enthaltsam90 als schlicht funktional protestantisch, indem Erwartungen an alle Religionen so formuliert werden, dass sie nur von einer erfüllt werden können.91 Viele liberale Staatsgründungsprojekte brachten mit ihren Vorstellungen von Fortschritt und Modernität keine religiös unschuldigen Begriffe, sondern religiöse Präferenzen zum Ausdruck. Als 1876 die deutschen Nationalliberalen militärische Maßnahmen gegen Marienerscheinungen im Saarland begrüßten, stimmten sie nicht nur einem aggressiven staatlichen Eingriff in die Religionsfreiheit zu, sondern auch einem nicht säkularen nationalprotestantischen politischen Projekt.92

15. Rückzug in die Privatheit als liberale Tugend? Die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gilt als Kern liberaler Theorien und wird seit Marx an ihnen kritisiert. Zwischen beiden Sphären zu unterscheiden ist aber zunächst nur eine hilfreiche Option der Beschreibung. Der eigentliche Einwand gegen die Begrifflichkeit dürfte weniger in der Unterscheidung selbst als darin liegen, dass in liberalen Theorien das Private das Öffentliche zu konsumieren droht. Dafür gibt es viele theoretische und praktische Indizien: von der entpolitisierenden Wirkung der Eigentumsrechte, die Arbeitsbedingungen definieren,93 bis zum neoliberalen Projekt einer Privatisierung staatlicher Aufgaben. Doch ist der Begriff von Öffentlichkeit, der dem Liberalismus entgegengehalten wird, historisch wie systematisch eben auch ein Kind des Liberalismus.94 Der öffentliche Raum, in dem sich die privaten Akteure begegnen, setzt Privatheit ebenso voraus, wie er sie hinter sich lässt.

16. Unregulierte Märkte als liberale Forderung? Die Selbstverständlichkeit, mit der freie Märkte mit der Theorie des Liberalismus verbunden werden, wurde in den letzten Jahren von vielen ideengeschichtlichen Untersuchungen in Zweifel gezogen.95 Weder hatte der angelsächsische Liberalismus ein einfaches psychologisches Modell der reinen Nutzenorientierung noch glaubte er selbst an unregulierte Märkte. Sein Aufstieg als Doktrin hängt mit dem Aufstieg des modernen Staates ebenso eng zusammen wie mit der Entstehung des Kapitalismus (→ 7). Frühe Kritik am Kapitalismus kommt nicht nur von sozialistischen, sondern auch von liberalen Theoretikern,96 soweit sich Sozialismus und Liberalismus im 19. Jahrhundert überhaupt immer sauber trennen lassen.97 Natürlich hat die liberale Tradition wirkmächtige Argumente für Freihandel und gegen die staatliche Lizenzierung von Gewerben entwickelt. Auf der anderen Seite ist es nicht so, dass moderne Systeme der Wohlfahrtsstaatlichkeit liberalen Konzepten einfach widersprechen. Das Ziel des Aufbaus der Sozialstaatlichkeit bestand nicht allein in karitativer Armutsbekämpfung, die Selbstbestimmung durch Fremdversorgung ersetzt, sondern darin, Selbstbestimmung auch dadurch zu ermöglichen, dass Bedürftige wieder in Märkte integriert werden können.98 Wohlfahrtsstaatliche Strukturen verliehen Rechte und schufen so eine zugleich regelgeleitete und individualisierte Form. Dass Märkte in solche Institutionen »eingebettet«99 sein müssen, war dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts bekannt.

17. Vergemeinschaftung der Wahrnehmungen, nicht der Werte. Eine wichtige Vermutung der liberalen Überlieferung behandelt Vergemeinschaftung nicht als Konsequenz geteilter Normen, sondern als Folge geteilter Wahrnehmungen und koordinierter Handlungsabsichten. Sie entsteht, insoweit Akteure bei ihren Handlungen die Handlungen anderer erkennen und berücksichtigen. Modelle wie das der »unsichtbaren Hand«100 oder Humes Konzept der Konvention101 argumentieren so. Mit einem solchen Ausgangspunkt fällt es bis heute vielen liberalen Theoriesträngen schwer, Politik überhaupt als legitimes Phänomen anzuerkennen und zu verstehen, wo auch nur das Problem liegen könnte, für das Politik die Lösung sein sollte (→ 52).102 Eine Neigung, den Staat vorauszusetzen, aber Politik abzulehnen, findet hier ihre theoretische Rechtfertigung. Zugleich machen solche Ansätze ein Angebot, indem sie soziale Vergemeinschaftung und damit möglicherweise auch Politik nicht ausschließlich als Konsequenz normativer Einstellungen erklären (→ 105).

18. Ist Liberalismus eine Theorie des verschwindenden Bürgertums? Wäre es handlicher, liberale Theorien als Modelle zu verstehen, die auf eine Schicht, eben das Bürgertum, zugeschnitten sind? Liberalismus als Kombination aus »Geldhochmut der Capitalisten und Geisteshochmut der Gelehrten«,103 als Modell derjenigen, die durch Wissen und Besitz Abstand von den anderen gewinnen können? Der Zusammenhang zwischen Liberalismus und Bürgertum passt offensichtlich nicht nur auf das europäische 19. und 20. Jahrhundert.104 Doch ist nicht klar, was aus der historischen Verbindung von bestimmten Interessen einer Schicht mit einer bestimmten Theorie für den Wert dieser Theorie folgen sollte. Natürlich kann man Liberalismus und Bürgertum in einen historischen Zusammenhang stellen, dann behaupten, das bürgerliche Zeitalter sei vorbei,105 und aus beiden Annahmen den Schluss ziehen, jede Art liberaler Theorie habe sich erledigt.106 Doch hängt die Geltung einer politischen Theorie nicht vom Fortbestand der gesellschaftlichen Bedingungen ab, in denen sie entstanden ist.107 Weder verlieren sozialistische Theorien durch die Auflösung der Arbeiterklasse einfach ihren analytischen Wert noch ist es begrifflich sinnlos, sowohl moderne als auch antike politische Gemeinschaften als Demokratien zu bezeichnen, obwohl sie keinerlei Gemeinsamkeiten im gesellschaftlichen Aufbau haben. Dass der politische Liberalismus in der Gefahr steht, sich als Ideologie einer fantasielosen Schicht von Besitzenden zu verstehen, die ihren Status quo absichert, auch wenn sie habituell nicht mehr viel Bürgerliches an sich hat,108 ist deswegen nicht zu bestreiten; dass der Begriff der Bürgerlichkeit nicht zuletzt von Bewegungen benutzt wird, die den Liberalismus abschaffen wollen, aber ebenso wenig.

1.2 Gegenwärtige Fragen

19. Sollte der Liberalismus nur gelungene Selbstbestimmung anstreben? Dass das moderne Subjekt ein Produkt des Kapitalismus und seiner neoliberalen Ideologie sei, hört man oft – und es muss nicht falsch sein. Zugleich sind die viel beklagten Ideale der Selbstoptimierung109 zwar nicht die einzig denkbaren, aber eben auch Formen der Selbstbestimmung. Man kann an dieser Stelle eine normative Unterscheidung einziehen und darauf verweisen, dass Selbstbestimmung nicht übertrieben, verzerrt oder verdinglicht werden sollte. Damit verfehlt man freilich eine liberale Pointe: Die Chance, Dinge zu übertreiben, ist nicht nur der Preis, sondern auch der Lohn der Freiheit, während die Forderung, sein Selbst nur sinnvoll, sozial oder moderat zu entwickeln, diese infrage stellt.

20. Erfüllt Ungleichheit eine legitime soziale Funktion? In liberalen Theorien wird zwischen gebotenen und unerwünschten Formen der Ungleichheit unterschieden, zwischen der formellen politischen Gleichheit und der Gleichheit vor dem Gesetz einerseits und einer der Freiheit entspringenden sozialen Ungleichheit der Mittelverteilung andererseits. Die präliberale Theorie des 18. Jahrhunderts wehrt sich gegen Privilegien, also gegen eine formalisierte Ungleichheit, die der errungenen sozialen Ungleichheit des Marktes ihre Rechtfertigung raubt.110 Die liberale Politik des 19. Jahrhunderts aber wehrt sich gegen die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, also gegen die Einbeziehung der Besitzlosen in Verfahren politischer Selbstbestimmung. Sie beharrt auf einem formellen politischen Privileg des Bürgertums. Auch nachdem der Liberalismus politische Gleichheit akzeptiert hat, betrachtet er soziale Ungleichheit nicht nur als Defizit, sondern als gesamtgesellschaftlich nützliches Phänomen. Soziale Ungleichheit hält eine Gesellschaft in Bewegung und ermöglicht es ihr, sich weiterzuentwickeln.111 Soziale Ungleichheit ist gemäß einer liberalen Lesart so lange in Ordnung, ja notwendig, wie sie weder echte Armut noch persönliche Abhängigkeit noch öffentliche Korruption schafft.112 In diesen drei Fällen wird soziale Ungleichheit zu einer Bedrohung liberaler Freiheit: Armut schließt es aus, am sozialen und politischen Leben teilzunehmen. Persönliche Abhängigkeit schließt es aus, sich als Einzelner frei zu verhalten. In beiden Fällen geht es um soziale Exklusion. Korruption gefährdet die Freiheit des politischen Prozesses und bedroht dadurch die politische Gleichheit (→ 250).

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Ungleichheit und ihrer unterschiedlichen Rechtfertigung ist eine bedeutende Errungenschaft liberaler Theorien. Es ist nicht zu erkennen, wie man auf sie verzichten könnte. Freiheit entsteht nur dort, wo bestimmte Ungleichheiten zulässig sind. Doch ist dabei nicht zu vergessen, dass die Grenze zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen der Ungleichheit sich permanent verschieben muss. Sie ist keine natürliche, sondern bedarf der Politisierung. Die Frage, welche Formen der Ungleichheit Freiheit wie einschränken, stellt sich immer neu – und ein Mangel liberaler Theorien besteht darin, dass sie an einem bestimmten Punkt aufgehört haben, über diese Erneuerung nachzudenken.113

21. Lässt sich eine liberale Idee der Ungleichheit weiterhin rechtfertigen? Soziale Ungleichheit soll in einer liberalen Lesart jedenfalls so lange gerechtfertigt werden können, wie alle genug haben, um an der Gesellschaft teilzunehmen, und die Gelegenheit erhalten, sozial aufzusteigen. Heute sehen wir verschiedene Krisen dieser liberalen Rechtfertigung von Ungleichheit.114 Die erste Krise ergibt sich aus den Folgen sozialer Ungleichheit. Es zeigt sich, dass soziale Benachteiligung nicht nur die unteren Teile eines sozialen Tableaus negativ betrifft. Psychische Erkrankungen, Gewalt, Drogenmissbrauch, schwache schulische Leistungen sind in ungleichen Gesellschaften insgesamt stärker verbreitet.115 Den Preis sozialer Ungleichheit zahlen größere Teile einer Bevölkerung, als offensichtlich ist. Die zweite Krise ergibt sich daraus, dass Ungleichheit nicht nur eine Frage der Exklusion von Benachteiligten ist, sondern auch eine der Machtkonzentration bei Oberschichten. Der Reichtum der Reichen hat in den letzten Jahrzehnten mehr zur Ungleichheit beigetragen als die Armut der Armen.116 Erstere sind so sozial mächtig, dass sie sich nolens volens nicht mehr in einem egalitären politischen Prozess einfangen lassen, weil ihre Entscheidungen so viele andere betreffen. Das Ökonomische setzt sich gegenüber dem Politischen durch. Die dritte Krise ergibt sich aus dem Fehlen eines Wettbewerbs, bei dem alle gleichermaßen gewinnen und verlieren können. Wettbewerbe werden heute vielfach so definiert, dass Absicherungen diejenigen, die oben sind, oben halten – und damit die, die unten sind, unten. Statt mit der Tatsache umzugehen, dass gesellschaftlicher Abstieg in einer liberalen Gesellschaft für alle eine unumgängliche Möglichkeit darstellt,117 wird allen Aufstieg versprochen, dieses Versprechen aber nicht gehalten. Wettbewerb führt zu sozialer Versteinerung, weil die Gewinner ihren Kindern auch nichtmaterielle Vorteile vererben und weil sie untereinander zu eng und erfolgreich vernetzt sind. Diese Krise der Gleichheit ist eine Krise der Meritokratie.118

22. Was bedeutet Verdienst? Wenn wir wüssten, was Verdienst ist, könnten wir Ungleichheit bis zu einem bestimmten Grad rechtfertigen. Es ist schwer, sich eine offene gesellschaftliche Ordnung ohne die Zuweisung von Positionen und Gütern nach Verdienstkriterien vorzustellen. Zugleich ist die Krise von Kriterien wie Verdienst offensichtlich:119 Sie produzieren keine plausiblen Ergebnisse, wenn eine Person, ihrem Einkommen nach zu urteilen, tausendfach mehr zu leisten beanspruchen müsste als eine andere. Sie neigen zu sozialer Versteinerung, wenn unbestritten gute Institutionen wie exzellente Universitäten dazu beitragen, soziale Kartelle zu bilden. Sie sind ungerecht, weil sie immer Bedingungen der Leistung ausblenden müssen, die nicht fair verteilt sind, und sie schaffen so unter bestimmten Bedingungen ein Mehr an Ungleichheit.120 Ein Problem des Kapitalismus ist die formelle Vereinheitlichung von Verdienst durch die Zuweisung von Kapital, also die Schaffung eines universalen Kriteriums der Vergleichbarkeit von Leistungen.121 Dessen Lösung wird nicht darin liegen, auf das Verdienstkriterium zu verzichten, sondern nur darin, es zu diversifizieren, also Gegenwettbewerbe zu schaffen. Dazu muss die Bedeutung von Verdienst symbolisch abgerüstet werden. Verdienst ist keine moralische Kategorie, sondern ein Instrument zur Bewältigung sozialer Differenzierung. Das, was Personen in einem sozial konsentierten Sinne verdient haben mögen, verdanken sie in einem politischen und moralischen Sinne in keinem Fall nur sich selbst (→ 72). Zugleich darf die Vervielfachung von Verdienst aber nicht nur symbolisch sein. Wenn das Pflegepersonal mit Dank überschüttet wird, reagiert es zu Recht mit der Feststellung, dass es davon nichts kaufen kann. Dass hier das Verdienst diversifiziert wird, läuft darauf hinaus, Gruppen symbolischen Lohn zuzuteilen, weil man ihnen den monetären nicht zukommen lassen möchte.122

23. Der meritokratische Fehlschluss. Eine Meritokratie belohnt »Verdienst« mit Erfolg. Wir wissen aber nicht genau, was »Verdienst« bedeutet. Hat das begabte Kind es verdient, in der Schule zu glänzen? Viel schneller werden wir uns darüber einig, was Erfolg ist. So neigen Gemeinschaften dazu, von Erfolg auf Verdienst zu schließen, statt zu fragen, ob und in welcher Hinsicht Erfolg verdient wurde. Dies liegt auch daran, dass diejenigen, die Erfolg haben, mehr Einfluss darauf nehmen können, was als »Verdienst« anerkannt wird.

24. Liberale Gesellschaften würde man daran erkennen, dass der Status der Oberklasse unsicher wäre. Liberale Meritokratien müssten akzeptable Unsicherheit produzieren (→ 20), sie produzieren aber oftmals unakzeptable Sicherheit, wenn die Wahrscheinlichkeit des Abstiegs am oberen Ende des sozialen Tableaus deutlich geringer wird als in der Mitte.123 Nun ist es nicht einfach, Unsicherheit zu bestimmen und mit Folgen zu versehen. Ein Beispiel wäre die relativ geringe Versteuerung von Kapitaleinnahmen, wenn dies mit der Unsicherheit von Börsenkursen begründet wird. Wenn sich diese Kurse mittelfristig besser entwickeln als andere vermeintlich weniger volatile Werte, dann ist diese Rechtfertigung hinfällig. Dies ist aber eben nur ein Beispiel für die Notwendigkeit einer allgemeinen Analyse der Verteilung von Mobilitätsrisiken, auf deren Grundlage eine liberal-egalitäre Verflüssigung möglich werden könnte.

25. Gibt es ein schlüssiges Konzept von Chancengleichheit? In einer Welt voll geduldeter sozialer Ungleichheit dient das Versprechen der Chancengleichheit mal als politische Aspiration, mal als Placebo, mit dem bestehende Ungleichheiten als zwar illegitim, doch potenziell reformierbar unterstellt werden. Anfragen an eine liberale Rechtfertigung der Ungleichheit werden oft mit dem Hinweis auf Chancengleichheit verarbeitet, aber schon lange ist klar, dass es mit Chancengleichheit allein keine gerechte Gesellschaft geben kann.124 Wann haben zwei Athleten, die gegeneinander antreten, die gleiche Chance? Wenn der eine Athlet gedopt ist und der andere nicht, wird man das als Umstand verstehen, der die Chancengleichheit aufhebt. Wenn ihr unterschiedlicher körperlicher Zustand darauf zurückzuführen ist, wie beide von ihren Eltern ernährt wurden, stellt das die Chancengleichheit nach verbreiteter Auffassung nicht infrage. Das faule, durch Gene und gute Ernährung, aber ohne eigenes Zutun begünstigte sportliche Genie gewinnt »verdient«. Dahinter steckt keine schlüssige Vorstellung von Verdienst. Kann es eine solche geben? Liberale Modelle können auf Kriterien des Verdienstes nicht verzichten, zugleich müssten sie dessen ungleiche Produktionsbedingungen verarbeiten. Schulerfolg hängt von den Eltern, Erfolg im Sport von ungleichen Trainingsbedingungen ab. Der Ansatzpunkt für Chancengleichheit muss daher immer weiter verschoben werden – bis zum Kindergarten, bis zum Elternhaus. In diesem Sinne zu Ende gedacht, hat die liberale Vorstellung eines freien Wettbewerbs ein so stark egalisierendes Potenzial,125 dass man sie kaum noch mit einem traditionellen Begriff von Liberalismus in Verbindung bringen kann. Eine solche Chancengleichheit gibt es nur auf Grundlage regelmäßiger fundamentaler sozialer Nivellierungen. Die zu Ende gedachte Idee der verdienten Ungleichheit bringt die liberale Position in eine prekäre Lage, weil sich das liberale Ziel eines fairen Wettbewerbs nur mit Mitteln erreichen lässt, die nicht als liberal gelten.

26. Lässt sich von der Kritik am Neoliberalismus etwas über den Liberalismus lernen? Als Neoliberalismus können wir heute entweder ein recht präzises politisches Programm bezeichnen, das auf die Privatisierung staatlicher Leistungen, wirtschaftliche Deregulierung und institutionell abgesicherten Freihandel ausgerichtet ist und dessen Höhepunkt schon vor der Pandemie überwunden zu sein schien;126 oder wir können den Begriff als Chiffre für alles verwenden, was im modernen Kapitalismus schiefläuft und demokratischen Grundsätzen widerspricht. Aber nur wenn das im ersten Sinne verstandene Programm notwendiger Bestandteil der Politik liberaler Demokratien ist, wäre Kritik am Neoliberalismus auch Kritik am Liberalismus. Dass Deregulierung notwendige Implikation einer kapitalistischen Ordnung ist, mag man annehmen oder nicht, dass sie notwendig Teil einer liberalen Theorie wäre, ist nicht zu sehen, zumal historisch das Wachstum staatlicher Regulierung mit dem Aufkommen des politischen Liberalismus zusammenfiel. Natürlich kann man fragen, inwieweit Theorien für die Form ihrer Verwirklichung verantwortlich sind (→ 276). Sozialistische Theorien waren Komplizen kommunistischer Unterdrückung, liberale Theorien kapitalistischer Ausbeutung. Dass sie »anders gemeint« waren, wenn sie es denn waren, hilft über diesen Zusammenhang nicht hinweg. Dennoch liefert eine Kritik am Liberalismus, die per definitionem alles, was sie politisch ablehnt, mit diesem identifiziert, nicht mehr als einen Zirkelschluss.127

27. Vernachlässigen liberale Theorien die Gemeinschaft?