Die Möglichkeit der Normen - Christoph Möllers - E-Book

Die Möglichkeit der Normen E-Book

Christoph Möllers

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Beschreibung

Normen, so könnte man meinen, verlangen stets bestimmte Handlungen oder Unterlassungen und erfordern eine moralische Rechtfertigung. Christoph Möllers bestreitet das und behauptet, dass unser Umgang mit Normen an falschen Erwartungen leidet. Wir überfordern die Praxis des Normativen mit moralischen Ansprüchen und mit Hoffnungen auf Wirksamkeit. In seinem vieldiskutierten Buch entwickelt Möllers eine neue Sicht auf Normen und zeigt, welchem Zweck sie wirklich dienen. Darüber hinaus befasst er sich im neuen Nachwort zu dieser Ausgabe mit kritischen Einwänden gegen seine Theorie.

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Seitenzahl: 695

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Wenn wir von Normen sprechen, denken wir zumeist an Vorschriften, die unser Leben regeln – die uns sagen, was wir tun sollen oder was wir nicht tun dürfen. Normen, so könnte man meinen, verlangen stets bestimmte Handlungen oder Unterlassungen und erfordern eine moralische Rechtfertigung. Aber stimmt das überhaupt? Lässt sich damit das Gemeinsame all jener sozialen Praktiken erfassen, die wir als normativ bezeichnen möchten?

 Christoph Möllers bestreitet das und behauptet, dass unser Umgang mit Normen an falschen Erwartungen leidet. Wir überfordern, so seine These, die Praxis des Normativen mit moralischen Ansprüchen und mit Hoffnungen auf Wirksamkeit. Beides verfehlt sie, denn die meisten Normen, denen wir begegnen, sind weder moralisch überzeugend gerechtfertigt, noch haben sie eindeutige Wirkungen.

 Dies ist kein Zufall, ja, es ist noch nicht einmal ein Problem, denn Normen erfüllen einen anderen Zweck: Indem sie eine bestimmte Möglichkeit des Weltverlaufs kennzeichnen und mit einer Bewertung versehen, erlauben sie es uns, inmitten einer Praxis zu ebendieser Praxis auf Abstand zu gehen und Alternativen zu ihr gegenwärtig zu halten. Dies funktioniert aber nur, wenn Normen eine distanzierende Spannung zur Welt aufbauen und auf Dauer stellen können. Ihre eigene Übertretung zuzulassen, so ein Ergebnis dieses Buches, ist deshalb nicht die geringste Aufgabe von Normen.

Christoph Möllers, geboren 1969, ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

 Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik (es 2545) und Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht (zus. mit Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius und Christoph Schönberger) (es 2638).

Christoph MöllersDie Möglichkeit der Normen

Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität

der Erinnerung an Patrick Ley

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Christoph Möllers

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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Inhalt

Einleitung: Über Normen – nicht weniger, nicht mehr

I Probleme

1 Gute Gründe? Defizite philosophischer Normativitätskonzepte

2 Begriffliche Hypotheken empirischer Forschung

Zwischenbetrachtung: Falsche Alternativenpaare zur Beschreibung von Normen

II Begriffe

3 Die Möglichkeit der Normen: ein begriffliches Modell

Zwischenbetrachtung: Fällt Kunstästhetik in die Sphäre des Normativen?

4 Die Wirklichkeit der Normen: Operationsbedingungen des Normativen

III Erträge

5 Bedeutung und Funktion sozialer Normen

6 Perspektiven der Forschung

Danksagung

Sachregister

»Ein Instrumentarium für Möglichkeit muß vielfach umfangreicher, subtiler sein als ein solches für die akute Wirklichkeit.«

Hans Blumenberg

»Wäre aber die Welt so, wie sie sein soll, so fiele damit die Tätigkeit des Willens hinweg. Der Wille fordert also selbst, daß sein Wille auch nicht realisiert werde.«

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

»[…] but never mind. Rules were made to be broken. Which meant, if that was a rule, that sometimes they should be observed.«

Einleitung: Über Normen – nicht weniger, nicht mehr

Wovon wir sprechen, wenn wir von »Normen« sprechen. Wir wissen von Normen deswegen so wenig, weil wir so sehr damit beschäftigt sind, sie zu rechtfertigen. Unsere Rede von Normen ist von Intuitionen geleitet, von normativen und von anderen.[1] Wenn wir an Normen denken, denken wir an angemessene Normen oder an das, was sie angemessen macht oder machen könnte. Es fällt uns schwer, unsere Vorstellung von dem, was eine Norm ist, von dem zu trennen, was sie sein sollte. Wenn wir an Normen denken, dann denken wir zudem an etwas Konkreteres, das uns exemplarisch für eine Norm erscheint. Die Rede von einer »Norm« ist so unanschaulich, dass wir zu Beispielen greifen, die den Begriff illustrieren sollen. Wir nehmen ein geschriebenes Gesetz, eine Benimmregel, ein religiöses Gebot, eine glückliche Familie, eine unglückliche Familie als Vorbild für alles Normative. Den Begriff der Norm oder des Normativen dagegen vermeiden wir, weil wir uns zu wenig unter ihm vorstellen können.

Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn wir unseren Umgang mit Normen mit unserem Umgang mit Aussagen vergleichen.[2] Unsere Idee einer Aussage ist sicherer, formalisierter und umfassender. Maßgeblich ist sie durch die Grammatik geprägt. Eine Aussage ist ein Satz, bestehend aus Subjekt und Prädikat sowie unter Umständen noch einer Verbindung zwischen beiden, einer Kopula. Wer über Sprache nachgedacht hat, kennt diese Form und kann mit ihr arbeiten. Nicht zufällig ist der propositionale Satz bis heute die wesentliche analytische Einheit der Sprachphilosophie. Eine entsprechende Form kennt die Theorie des Normativen nicht. Dem Aussagesatz entspricht in der Theorie des Normativen so wenig eine elementare Einheit wie im Alltag. Behauptungen des Typs, es sei der Befehl oder die Regel, das Urteil oder der Handlungsgrund die Basiseinheit des Normativen, dürften ausnahmslos auf Widerspruch stoßen.

Eine ähnliche Diskrepanz entdecken wir bei der Frage, wie sich eine Norm rechtfertigen lässt, was sie angemessen macht. Ein Aussagesatz ist »gerechtfertigt«, wenn er wahr ist. Natürlich ist das Wahrheitskriterium umstritten. Mitunter wird sogar bezweifelt, ob die Wahrheit einer Aussage für unsere sprachliche Praxis von Bedeutung ist.[3] Doch trotz aller Umstrittenheit im Einzelnen verleiht die wahrheitstheoretische Debatte um Korrespondenz und Kohärenz, also um die Bedingung, dass eine Aussage, um wahr zu sein, den Fakten entsprechen und/oder anderen wahren Aussagen nicht widersprechen darf, dem Begriff der Wahrheit ebenso Stabilität wie der Form der Aussage.[4] Diese Stabilität wird greifbar, wenn man sie mit der Situation für Normen vergleicht. Die Rechtfertigung von Normen kennt keine Kategorie, die dem Wahrheitskriterium entspräche. Der moralische Realismus, die Theorie, die moralische Richtigkeit als faktische Wahrheit versteht, ist nur eines von vielen Modellen der Ethik. Mit der Bedeutung des Wahrheitsbegriffs für Aussagen kann sie sich nicht messen. Unsere Vorstellungen von der Richtigkeit einer Norm sind ungleich heterogener als unsere Vorstellungen von der Wahrheit einer Aussage.

Weil wir die Form der Aussage haben, können wir Aussagen aus ganz verschiedenen Zusammenhängen mit bestimmten Methoden gemeinsam behandeln, mit den Instrumenten der Logik, der Sprachanalyse oder der Grammatik. Entsprechende Instrumente stehen uns für Normen nicht zur Verfügung. Wir haben keine Grammatik der Normen, allenfalls eine deontische Logik, die für die meisten normativen Praktiken aber nur von geringer Bedeutung ist. Normen scheinen einfach zu unterschiedlich zu sein, um sich auf eine überschaubare Zahl von Formen und Richtigkeitskriterien reduzieren zu lassen.

Diese Diversität hat mehrere Ursachen. Eine dürfte darin liegen, dass uns viele Normen weniger als Fakten denn als Artefakte vorkommen, als Produkte sozialer oder kultureller Leistungen, die sich nicht durch wahre Aussagen festnageln lassen. Trotz der Rede von der fabrication of facts halten wir Fakten für etwas, das sich entdecken oder finden lässt. Ob Normen gefunden werden können oder gemacht werden müssen, ist dagegen eine hoch umstrittene Frage. Eine zweite Ursache für unsere Probleme könnte darin liegen, dass normative Aussagen stets eine anspruchsvolle Doppelung erhalten, weil sie sich auf Fakten beziehen und zugleich eine zweite, die normative Ebene bedienen. Schlicht formuliert: Jeder Sollenssatz setzt eine Bezugnahme auf Seiendes voraus, ohne sich auf diese beschränken zu können.

Angesichts dieser Komplexität ist es keineswegs zwingend, für Normen unterschiedlicher Provenienz, für rechtliche, religiöse, ästhetische, politische und moralische Normen oder für im engeren Sinn soziale Normen wie Umgangsformen, einen gemeinsamen Begriff, nämlich den der »Norm«, einzuführen. Dennoch reden wir von »Normen« und vergleichen Recht, Moral, religiöse Gebote und gesellschaftliche Konventionen. Ich vermute, dass wir häufig einen gemeinsamen Begriff des Normativen implizit unterstellen. Es ist eines der Ziele dieses Buches, diese implizite Unterstellung explizit zu machen.

Die begriffliche Unsicherheit im Umgang mit Normen führt zu ihrer Überkategorisierung. Weil es an bestimmbaren, aber offenen Formen wie derjenigen des Aussagesatzes ebenso fehlt wie an Kriterien wie demjenigen der Wahrheit, geraten Versuche einer begrifflichen Bestimmung normativer Probleme schnell zu eng. Trotz eines großen Reichtums an Phänomenen, die wir im Einzelnen intuitiv als normativ charakterisieren würden, greifen wir zu Kategorien, die viele von ihnen ausschließen. Das theoretische Denken über Normen kreist dann um Alternativen, die für eine angemessene Beschreibung der sozialen Praxis zu exklusiv sein dürften: Sind Normen entweder gesetzt oder gefunden, sind sie vernünftig oder zwingend, sind sie formalisiert oder doch formlos? Das Denken über Normen ist überkategorisch – oder als Reaktion darauf kategorienlos. Dagegen müsste es darum gehen, über Normen zwar in Kategorien zu denken, aber in solchen, die den Phänomenen Luft lassen.

Einschränkung des Gegenstandes. Mit dem vorliegenden Buch versuche ich, für einen Teil dieser Problemlandschaft einen Beitrag zu leisten, indem ich einen Begriff des Normativen entwickele, also die Frage zu klären suche, was wir meinen, wenn wir von Normen als solchen sprechen. Damit sind zwei Einschränkungen verbunden. Es wird, zum Ersten, nur darum gehen, einen Begriff des Normativen zu entwickeln, also einen Begriff dessen, was eine Norm als Norm auszeichnet. Es wird nicht darum gehen, einen Begriff der Richtigkeit von Normen zu präsentieren, der dem Wahrheitskriterium entspricht. Vielleicht wird man, wenn Ersteres geleistet wurde, besser verstehen, warum Letzteres so schwer zu bewerkstelligen ist. Zum Zweiten werde ich mich darauf beschränken, einen Begriff sozialer Normen zu bestimmen, also von Normen, die sich in einem sozialen Zusammenhang entäußert haben. Das Interne, das für die neuzeitliche Theorie des moralischen Handelns so wesentlich ist, soll am Rande bleiben – aber nicht außen vor, schon weil eine kategorische Trennung von innen und außen, von Internem und Sozialem nicht möglich ist. Meine Perspektive auf die Fragen, denen sich jede Praxis sozialer Normen gegenübersieht, soll dabei durchaus mit philosophischen Theorien des moralisch Angemessenen abgeglichen werden.[5] Was bedeutet der Umstand, dass es für soziale Normen einen Ort, eine Zeit, eine Darstellungsform geben, dass man sie wahrnehmen können muss, für den Wert philosophischer Theorien moralisch richtigen Handelns? In dieser Fragestellung werden moralische Normen eine wichtige, aber häufig nur im Kontrast verwendete Referenz darstellen. Denn soziale Normen wie religiöse Gebote, juristische Vorschriften, Benimmregeln funktionieren, so die Vermutung, anders als die Normen, über die in der praktischen Philosophie gestritten wird. Die Gemeinsamkeiten sozialer Normen sind der Gegenstand dieses Buches.

Diese Gemeinsamkeiten können nicht darin bestehen, dass soziale Normen in irgendeiner Weise, sei es moralisch, sei es anderweitig, gerechtfertigt sind. Rechtsnormen mögen ungerecht, politische Spielregeln undemokratisch, religiöse Gebote häretisch oder abstrus und Benimmregeln unpraktisch und antiquiert sein. Solche Mängel, solche fehlenden Möglichkeiten einer Rechtfertigung gleichgültig welcher Art, sind hier jedenfalls im Ausgangspunkt nicht von Interesse. Damit muss sich die Fragestellung nicht als wertfrei oder nichtnormativ erweisen. Es mag Gründe geben, über die Form des Normativen selbst in rechtfertigender oder kritischer Absicht zu sprechen. Man mag auf einer weiteren Ebene untersuchen, ob Gründe für oder gegen den Gebrauch von Normen sprechen. Man mag beispielsweise fragen, ob es »besser« ist, Kinder durch Verbote und Lob zu erziehen, oder ob es sinnvoll ist, einen politischen Prozess durch Normen einzuhegen. Hier muss sich die Normativität des Normativen rechtfertigen. Diese Fragen werden am Ende des Buches zur Sprache kommen – aber um zu verstehen, was wir meinen, wenn wir von Normen sprechen, dürfen wir den Begriff der Norm nicht schon im Ausgangspunkt auf richtige oder gerechtfertigte Normen verengen.

These. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, einen begrifflichen Rahmen für soziale Normen zu entwickeln, der hinreichend weit für unterschiedlichste Phänomene ist, ohne konturenlos zu werden.[6] Normen sind, so die Annahme, für die ich im Folgenden argumentieren werde, als positiv markierte Möglichkeiten zu verstehen. Normen verweisen auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis. Unmögliches zum Gegenstand einer Norm zu machen, ist sinnlos. Die positive Markierung einer Möglichkeit zeigt an, dass diese sich verwirklichen soll. Von Normativität – so die Vermutung – ist also nur dort die Rede, wo unterstellt wird, dass die Welt anders sein könnte, als sie ist, und wo diese Unterstellung kenntlich gemacht wird. Normativität hängt an der Möglichkeit einer abweichenden Weltbeschaffenheit – oder einer Weltbeurteilung, deren Maßstab sich nicht auf die Welt, wie sie ist, beschränkt.

Paulus schreibt im Brief an die Römer: »[…] wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung.«[7] Das Gesetz erfüllt den Zweck, die Sündhaftigkeit der Menschen erkennbar zu machen, die danach streben, es zu befolgen. Das Gesetz ist eine negative Folie für das, was mit Erlösung durch Gnade gemeint ist, und gehört daher zum Gnadengeschehen. Paulus' Feststellung macht keine inhaltliche Vorgabe, was zu tun ist. An anderer Stelle gibt er der Gemeinde in Korinth den Rat, sich von den anderen, die ihren Glauben nicht teilen, fernzuhalten,[8] sich, in einer freieren Formulierung, mit der Welt nicht gemein zu machen. Beide Hinweise können – völlig unabhängig von jedem Bekenntnis zum Christentum – einen ersten Eindruck davon geben, worum es in diesem Buch gehen soll. Mein Interesse an Normativität betrifft nicht die Frage der angemessenen Rechtfertigung bestimmter Handlungen oder Lebensformen, sondern die Darstellung und Sicherung der Unterscheidbarkeit zwischen dem, was ist, und einer Norm. Paulus' Bemerkungen sind von systematischem Interesse, weil sie nicht dabei stehenbleiben, Vorgaben zu machen, sondern darüber hinaus Unterscheidungen einführen, durch die in der Welt Distanz von der Welt genommen werden soll. Solche Techniken der Selbstdistanzierung machen, so meine Vermutung, den Kern normativer Praktiken aus. Wie sie funktionieren, wie Normen dargestellt und verwirklicht werden, wenn sie in Bezug auf ein Geschehen sich zugleich von diesem distanzieren müssen, sind Fragen, um die es gehen wird. Sie werden übergangen, wenn die Theorie des Normativen sich zu früh dem Problem der Rechtfertigung zuwendet.

Diese Richtung des Arguments, die zunächst nicht weiter begründet werden soll, hat vielerlei Implikationen, die auch als praktische Probleme im Umgang mit Normen in Erscheinung treten. Mit Möglichkeiten zu operieren ist prekär, weil deren ontologische Beschaffenheit ungewiss und ihre Erkennbarkeit zweifelhaft ist. Aus diesem Grund drehen sich viele praktische Probleme um Fragen der Darstellbarkeit, um die Folgen der Verschriftlichung einer Norm, um die Kenntlichmachung von Normbrüchen und Sanktionen oder um den Umgang normativer Praktiken mit Zeit.[9]

Mit der Bestimmung des Normativen soll der Versuch unternommen werden, sich zugleich von zwei dominanten Deutungen zu distanzieren: einerseits von einer Sicht, die Normen auf Gründe reduziert, das heißt auf Entitäten ohne räumliche und zeitliche Dimension, die sich allenfalls sekundär oder akzidentiell verkörperlichen können, ohne dass dies ihr Eigentliches berühren würde; und andererseits von einer Sicht, die Normen nur über Wirkungen oder Effekte beschreiben will. Gegen diese beiden Sichtweisen werden Normen hier als soziale Praktiken verstanden, in denen sich eine Gemeinschaft von der eigenen Realität distanziert, nicht notwendig, aber unter bestimmten Umständen, um diese zu verändern, und dies, unter noch weiter gehenden Umständen, mit Erfolg. Als soziale Form aus eigenem Recht, so meine Kernthese, lassen sich Normen weder auf moralische Gründe noch auf kausale Wirkungen reduzieren.[10]

Zu enttäuschende Erwartungen an das Buch. Theorien der Normativität jagen häufig zwei Phantomen nach. Sie suchen zum einen nach Methoden einer angemessenen Anwendung von Normen. Damit bewegen sie sich jedoch auf einem Gebiet, das für die Sphäre des Normativen nicht spezifisch ist. Für Normen mag es wegen ihrer Orientierung an praktischer Verwirklichung besonders dringlich sein, angemessene Anwendungsstandards zu finden. Wir können unter Umständen mit der Vieldeutigkeit eines beschreibenden Satzes besser leben als mit der eines Gesetzes. Trotzdem erweist sich jeder Versuch, für Praktiken richtiger Anwendung allgemeine Regeln zu finden, als fruchtlos. Dass dies der ästhetischen Theorie früher und gründlicher klar geworden ist als der Rechts- und der Moraltheorie, mag am unterschiedlichen praktischen Problemdruck liegen. Die Einsicht in die Unergiebigkeit dieser allgemeinen Fragestellung leugnet im Übrigen nicht die Möglichkeit von Argumenten, die für oder wider eine bestimmte Art der Anwendung in einem konkreten Kontext sprechen.

Eine zweite, strukturell ähnliche und ähnlich unergiebige Suche ist die nach einer praktisch handhabbaren Definition des Normbegriffs. Hier sind zwei Dinge voneinander zu unterscheiden. Um die Beantwortung der Frage, was wir meinen, wenn wir von Normen sprechen, also welche Gemeinsamkeit juridischer, religiöser, ästhetischer oder anderer sozialer Praxis wir mit der Kategorie des Normativen bezeichnen, soll es in diesem Buch gehen. Dies ist aber etwas grundsätzlich anderes als der Versuch, mithilfe von Theorie eine deutliche Grenze zwischen normativen und nichtnormativen Phänomenen zu ziehen, möglichst um damit ein handhabbares Angebot für eine Praxis zu machen.[11] Der Übergang von einer Norm zu einer Nichtnorm wird sich als nicht so klar und die Beschreibung dieses Übergangs wird sich eben als eine Beschreibung erweisen, die einem in der Praxis des Normativen nicht weiterhelfen wird. In diesem Buch wird ein Spiel beschrieben, nicht gespielt.

Erträge. Was kann es dann bringen, auf diesem Abstraktionsniveau soziale Normen in einen gemeinsamen begrifflichen Rahmen zu spannen? Auf einer ersten Ebene kann eine solche Begriffsbildung, wenn sie sich als plausibel und kohärent erweist, viele Fragen der Normtheorie neu stellen und zu ihrer Lösung beitragen. Bedarf es Sanktionen für das Vorliegen einer Norm? Wie lässt sich die »Anwendung« von Normen rekonstruieren? Wie verhalten sich handlungsanweisende Normen zu sogenannten konstitutiven Normen? Wie können wir die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen in einer für eine soziale Praxis plausiblen Art und Weise verstehen?

Auf einer zweiten Ebene sind die Bedingungen der empirischen Erforschung von Normen zu klären. Hier stoßen wir auf ein wissenschaftsinternes und auf ein praktisches Problem. Zwar ist die empirische Erforschung normativer Praktiken ein wichtiger Gegenstand der Sozialwissenschaften, doch wird sich zeigen, dass diese oftmals von anfechtbaren theoretischen Vorannahmen aus der praktischen Philosophie geprägt ist, die eine Rückwirkung auf die Befunde nehmen können. Wie ist es genau möglich, als Anhänger einer humeanischen oder einer kantischen Theorie der Normativität normative Praktiken empirisch zu erforschen? Eine Neubestimmung des Normativen mag Parameter in den Blick rücken, die wesentlich für das Gelingen oder Scheitern der Beschreibung normativer Praktiken sind.

Durch die Arbeit am Begriff geraten zudem Gemeinsamkeiten von Normen in den Blick, die für eine Reihe von geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Paradigmen von Bedeutung sind. Die gemeinsame Erforschung von Normen unterschiedlicher Provenienz – politischer, ästhetischer, religiöser und rechtlicher – könnte Zweifel an einem starken Modell funktionaler Differenzierung begründen. Oftmals ist die Zurechnung von Normen zu einem dieser Funktionssysteme ungewiss oder umstritten. Menschenrechte sind hierfür ein Beispiel, religiös inspirierte politische Programme ein anderes.[12]

Schließlich dürften verbreitete Erwartungen an Normen in zwei Richtungen relativiert werden. Normen sollen sich auf der einen Seite in ihren Wirkungen erweisen. Zeitigen sie keinen Effekt, gelten sie als bloße Fiktionen. Das aber verfehlt ihren Begriff. Die Praxis des Normativen ist, weil auf eine Möglichkeit fixiert, stets eine mit ungewissen Folgen. Wer zuverlässig Effekte erzeugen will, sollte versuchen, Ursachen zu setzen, keine Normen. Dies dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass ein instrumentalistisches Verständnis von Normen wenig erklärt. Eine Norm mag viel darüber verraten, wer wir sind oder sein wollen; als Mittel zum Zweck verwendet, stößt sie aber schnell an Grenzen, gehört doch die Möglichkeit, von der Norm abzuweichen, zu ihren praktisch folgenreichsten Eigenschaften. Trotzdem sollen Normen auf der anderen Seite erstaunliche Leistungen erbringen, von denen sie schnell überfordert werden, etwa ganze Gesellschaften »zusammenzuhalten«. Eine begrifflich präzisierte Sicht wird genauer bestimmen, was Normen in einem zu definierenden Kontext leisten können und was nicht.

Terminologie. Ein Wort zur Terminologie, die in dieser Einführung bereits vorausgesetzt wurde. Ich werde im Folgenden den Begriff der Norm und den der Eigenschaft, die Normen zu Normen machen, ihre Normativität, als Überbegriffe verwenden. Regeln, Befehle und Urteile, Werte und Bewertungen, staatliche Gesetze, moralische Gebote und Geschmacksurteile sind allesamt Normen. Evaluative und präskriptive Akte fallen gleichermaßen in das Reich des Normativen.[13] In der Philosophie finden sich viele davon abweichende Terminologien. In ihr spielt die Gegenüberstellung zwischen moralischen Normen, die einem Universalisierungskriterium genügen, und ethischen Werten eine wichtige Rolle.[14] Diese Debatte dreht sich allerdings um die angemessene Art der Normbegründung; dass sowohl Normen im so verstandenen Sinne als auch Werte normativ sind, wird dagegen kaum bestritten. Hier geht es ausschließlich um die Gemeinsamkeiten, die Vorschriften und Werte zu etwas Normativem machen.

Einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Normen, die sich auf gleiche Mechanismen zurückführen lassen, bezeichne ich als eine normative Ordnung. Normative Ordnungen bestehen aus verschiedenen Arten von Normen, unter Umständen auch aus solchen, die einander widersprechen. Unter sozialen Normen verstehe ich Normen, die in einem sozialen Kontext, zu einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort in Erscheinung treten.[15] Soziale Normen werden hier als Überbegriff für Benimmregeln, Rechtsnormen und andere sozial relevante normative Praktiken verwendet. Ob moralische Normen soziale Normen sind, hängt davon ab, ob man diese in Abhängigkeit von sozialen Praktiken bestimmt oder nicht – eine umstrittene Frage, die hier nicht zu beantworten ist. Aber klar dürfte sein, dass es viele soziale Normen gibt, die wir nicht aus moralischen Gründen befolgen müssen.[16] In jedem Fall können moralische Normen, die unabhängig vom Bestand sozialer Praktiken verstanden werden, soziale Relevanz entfalten und zu sozialen Normen werden. Wie ergiebig es ist, all dies unter einen gemeinsamen Überbegriff zu fassen und zu untersuchen, muss sich zeigen. Der künstliche Begriff der Normativität hat jedenfalls den Vorzug, nicht zu viele Konnotationen zu transportieren und den Blick auf die Phänomene nicht vorschnell zu verengen.

[1] Zur hier nicht weiter interessierenden Geschichte des Begriffs: Hasso Hofmann/Wolfgang H. Schrader, »Artikel Norm«, in: Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. VI, Darmstadt 1984, S. 906-920; H. ‌E. Hasso Jaeger, »La norme d'après la doctrine des humanistes et des auteurs du droit naturel«, in: Universidad de Navarra (Hg.), La Norma en el Derecho Canónico, Pamplona 1979, S. 291-346; Herbert Oppel, Kanon: zur Bedeutungsgeschichte des Wortes und seiner lateinischen Entsprechungen (Regula-Norma), Leipzig 1937; Leopold Wenger, Canon in den römischen Rechtsquellen und in den Papyri, Wien 1942, S. 70f.

[2] Dies zeigt sich im Ausgangspunkt der modernen Sprachphilosophie in Freges Zweifel, wie Imperative zu behandeln sind: Gottlob Frege, »Logik«, in: ders., Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, hg. von Gottfried Gabriel, Hamburg 31990, S. 35-73, hier S. 40.

[3] Zweifelnd: Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1990, S. 31-34, 146-157.

[4] Wolfgang Künne, Conceptions of Truth, Oxford 2005, Kap. 3 und 7.

[5] Eine zu wenig rezipierte Reflexion über das Verhältnis sozialwissenschaftlicher und philosophischer Untersuchung von Normen findet sich bei Dorothy Emmet, Rules, Roles, and Relations, London 1966.

[6] Zu diesem – möglichen – Vorzug des Normbegriffs auch Scott J. Shapiro, Legality, Cambridge, Mass. 2011, S. 40-42; ein einheitlicher Begriff der Normativität wird auch bei Christine M. Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, S. 21, befürwortet.

[7] Röm 4,15. Das Folgende verdankt sich frei Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, S. 263-270, insbes. S. 266f.

[8] 2 Kor 6,17.

[9] Die Frage der Erkennbarkeit von Normen als Normen wird in ihrer Bedeutung notorisch unterschätzt, angesprochen wird sie in den sehr ergiebigen Überlegungen von Heinrich Popitz, Soziale Normen, Frankfurt/M. 2006, S. 69.

[10] Dieses Anliegen findet sich in der Literatur selten, vgl. aber nunmehr Geoffrey Brennan/Lina Eriksson/Robert E. Goodin/Nicholas Southwood, Explaining Norms, Oxford 2013, S. 15-19.

[11] Um ein scheinbar unproblematisches Beispiel zu nehmen: Die Annahme, eine soziale Regel sei etabliert, wenn sie von einer Mehrheit anerkannt würde (Ursula Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin 1984, S. 16, 20), ist auf den zweiten Blick voraussetzungsreich. Woher kommt diese Mehrheitsregel? Gibt es keine Beispiele für wirkmächtige soziale Regeln, die nur von Minderheiten anerkannt werden? Wenn es solche gibt, dann mag das Mehrheitsprinzip für die Frage der Legitimation der Regel brauchbar sein, aber nicht für die Frage nach deren Existenz.

[12] Man mag kurz überlegen, was als »politische Norm« in Frage kommen könnte. Zu denken ist an Normen, die den politischen Prozess gestalten, ohne verrechtlicht zu sein, also Verfassungsnormen ohne gerichtliche Überprüfung, sowie an politische Programme.

[13] Ausdrücklich Herbert Schnädelbach, »Rationalität und Normativität«, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt/M. 1992, S. 79-103, hier S. 88-93, unter Berufung auf die beide zusammenführende Darstellung bei Paul W. Taylor, Normative Discourse, Englewood Cliffs 1961 (dort insbes. S. 279-282). Ähnlich Georg Henrik von Wright, Norm and Action, New York 1963, S. 1-16; anders beispielsweise Wolf, Problem, S. 12.

[14] Vgl. etwa Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2013, S. 36f. Eine knappe Historisierung zwischen Antike und Moderne bei Korsgaard, Sources of Normativity, S. 2-5.

[15] Die Abgrenzung von sozialen zu moralischen Normen wird sehr unterschiedlich vorgenommen (Wolf, Problem, 8f.; Jaeggi, Kritik, S. 147, Fn. 12). Man kann auch moralische Normen als Teilmenge aller sozialen Normen verstehen oder soziale Normen durch ihren Geltungsgrund von moralischen abgrenzen, so Brennan u. ‌a., Explaining Norms, Kap. 4. Dies führt etwa zu dem Ergebnis, dass religiöse Normen – abweichend vom vorliegenden Ansatz – nicht als soziale Normen behandelt werden, siehe ebd., S. 76, Fn. 49.

[16] Nicholas Southwood, »The Authority of Social Norms«, in: Michael Brady (Hg.), New Waves in Metaethics, London 2011, S. 234-248, hier S. 239.

IProbleme

1Gute Gründe? Defizite philosophischer Normativitätskonzepte

[…] ob überhaupt ein Unterschied zwischen subjektiv und objektiv »Gutem« zu machen ist, kommt hier bei der bloßen Feststellung des Sinnes der Sollenssätze nicht in Betracht.[1]

Wenn Kategorien der praktischen Philosophie auch für das Verständnis sozialer Normen und für die Frage, wie sich diese angemessen beschreiben lassen, von Bedeutung sind, dann wird ein Blick auf die philosophische Debatte einen Einstieg bieten. Natürlich scheint es bereits verkürzt, angesichts einer kaum überschaubaren Diskussionslandschaft von »der« praktischen Philosophie zu sprechen, zumal philosophische Debatten sich dadurch auszeichnen, dass in ihnen nicht allein die Lösung, sondern bereits die Definition von Problemen umstritten ist. In kritischer Absicht nach Diskursgemeinsamkeiten zu suchen, mutet dann als vergebliches oder zumindest reduktionistisches Projekt an. Trotzdem soll dieser Versuch unternommen werden – aus der Vermutung heraus, dass zumindest die Problemidentifizierung in der zeitgenössischen praktischen Philosophie gar nicht so uneindeutig ist und für die Theorie des Normativen in der Tat eine entscheidende Weichenstellung darstellt.

Normindividualismus: Normen als Handlungsgründe

Der zentrale Ort des Handlungsgrundes. Es ist kein Zufall, dass die Frage, warum wir Gründe benutzen sollten, in der Philosophie auf kein großes Interesse stößt. Sie würde nur zu einer sinnlosen Verdoppelung oder in einen Regress führen, während über Gründe selbst damit wenig in Erfahrung zu bringen wäre. Anders ist dies für Historiker oder Soziologen.[2] Historiker beschreiben den Wandel sozialer Praktiken, und aus dieser Perspektive ist das Geben und Nehmen von Gründen keine Selbstverständlichkeit. Freilich ist auch in der philosophischen Diskussion der Begriff erst in jüngerer Zeit prominent geworden. Seit den Arbeiten von Stephen Toulmin[3] hat sich in der metaethischen Diskussion langsam die Ansicht durchgesetzt, Normen mit Gründen oder mit Handlungsgründen zu identifizieren. Diese These konnte auf Seiten der theoretischen Philosophie gut an die analytische Handlungstheorie anschließen, sie war aber in der praktischen Philosophie dauerhafter wirksam. Heute dreht sich der philosophische Streit über das Wesen der Normativität fast durchgehend um die Struktur von Gründen; es geht darum, wie Handlungsgründe zu denken sind, insbesondere ob sie einen tatsächlichen Effekt auf ein handelndes Subjekt haben müssen oder nicht. Eine nähere Rechtfertigung des Begriffs wird dagegen selten verlangt.[4] Klassisch geworden ist diese Dogmatisierung des Grundes in der vielzitierten These Scanlons, der Begriff des Grundes sei ein Primitivum,[5] das durch den Ausdruck »zählt zugunsten von« am einfachsten paraphrasiert wäre. Zumindest die Charakterisierung als primitiv ist zweifelhaft, schon weil Scanlon selbst bedeutend mehr über den Begriff zu sagen hat, als es einem Primitivum angemessen wäre.[6] Vor allem werden mit der Auswahl dieses Begriffs Vorentscheidungen über die Beschaffenheit des Normativen getroffen, die, seien sie angemessen oder nicht, jedenfalls so bedeutsam sind, dass sie einer ausdrücklichen Rechtfertigung bedürften. Die Identifikation von Normen mit »Gründen« für Handlungen – und nur auf derartige Gründe beziehen sich die in diesem Abschnitt angestellten Überlegungen – im Gegensatz zu anderen möglichen »Trägern« oder »Formen« von Normativität, wie Gesetz, Regel, Urteil oder – ganz anders – Offenbarung oder Schönheit, beschränkt das Konzept der Normativität von vornherein in vielerlei Art und Weise.

Der Begriff des Handlungsgrundes bezieht Normativität exklusiv auf die Rechtfertigung einzelner Handlungen. Diese Beschränkung ist semantisch nicht zwingend. Das Wort »Grund« lässt sich, ebenso wie sein englisches Pendant »reason«, auch als Synonym für »Argument« verstehen und damit als ein allgemeinerer Gesichtspunkt, der sich nicht nur auf eine konkrete einzelne Handlung bezieht. So könnte man auch die oben zitierte Paraphrasierung Scanlons lesen. Betrachtet man aber den Argumentationsstil, insbesondere die Beispielauswahl in der gegenwärtigen moralphilosophischen Debatte,[7] sowie die intellektuelle Genealogie der Diskussion aus der analytischen Handlungstheorie, so dürfte klar sein, dass, wenn in ihr von Normativität die Rede ist, Gründe für eine einzelne Handlung einer Person gemeint sind. Der Sprachgebrauch des »Jemand hat gute Gründe für x« hat sich etabliert – und x bezeichnet eine konkrete Handlung.

Nun mag man bereits gegen diese erste Einordnung einwenden, dass in der praktischen Philosophie seit langem eine Auseinandersetzung um die Unterscheidung zwischen Werten und Normen geführt wird. Allerdings führen sehr unterschiedliche Herleitungsformen – Rechte, Pflichten oder Ziele – doch stets zur Figur des Handlungsgrundes.[8] Das gilt für die Theorie Scanlons, die Handlungsgründe konsequent als Implikationen natürlicher Eigenschaften von Gegenständen und Werte als eine abgeleitete Kategorie versteht, die Bündel von Handlungsgründen zusammenfasst.[9] Es gilt ebenso für das wertfundierte Modell von Joseph Raz, denn auch in diesem bleibt es dabei, dass alle Emanationen von Normativität auf Handlungen bezogen werden.[10]

Der Sprachgebrauch von den guten Gründen hat zudem eine gewichtige Intuition auf seiner Seite, nämlich die, dass eine handelnde Person, ein vernunftbegabter Mensch, der eine bestimmte Entscheidung trifft, als elementare Einheit zu verstehen ist, die als Ausgangspunkt sowohl einer handlungstheoretischen Analyse als auch einer Synthese zum Aufbau weiter reichender gesellschaftstheoretischer Modelle fungieren kann. Man könnte sagen, dass die Handlung in der praktischen Philosophie heute den Platz eingenommen hat, den der Aussagesatz, die Proposition, in der analytischen Sprachphilosophie besetzt: den der zentralen Erklärungseinheit. Hieran müsste jedoch die kritische Frage anschließen, ob es der praktischen Philosophie auch gelungen ist, dieser Fixierung auf Handlungsgründe eine Perspektive zur Seite zu stellen, die Ähnliches leistet wie in der Sprachphilosophie die Pragmatik, die die aussagesatzbezogene Semantik ergänzt. Solche Ergänzungen finden sich zwar in der politischen Philosophie, doch stehen sie eher in Konkurrenz zur praktischen Philosophie. Kurzum: Da die Bezugnahme auf Handlungsgründe für das philosophische Normativitätsverständnis der Gegenwart zentral ist, wird es im Folgenden darum gehen zu verstehen, welche Implikationen die Identifizierung von Normativität mit Handlungsgründen haben kann, insbesondere welche Verluste sie der Beschreibbarkeit normativer Phänomene zufügt.

Selbstbezüglichkeit der Debatte. Beginnen wir mit der Auseinandersetzung zwischen zwei Protagonisten der metaethischen Diskussion der letzten Jahrzehnte, Bernard Williams und Derek Parfit, um das Verständnis moralischer Gründe. Es wird bei dieser kurzen Darstellung gerade nicht darum gehen, Stellung zu beziehen und die unendlich oft nachgebauten Argumente um Internalismus und Externalismus,[11] Kognitivismus und Nonkognitivismus weiter zu verfeinern.[12] Interessant sind die Gemeinsamkeiten, die beide Ansätze an den Begriff des Grundes binden. Für Williams ist es ausgeschlossen, einen moralischen Grund als etwas nur Objektives zu konzipieren. Noch den praktisch plausibelsten faktischen Zusammenhang muss sich ein Akteur zu eigen machen, damit er als moralischer Grund bestehen kann: Die Tatsache allein, dass meine Handlung einem anderen Menschen Leiden zufügt, ist per se kein motivierender Grund, diese Handlung zu unterlassen.[13]

Für Parfit dagegen handelt es sich bei einem moralischen Grund um eine besondere Form eines objektiven, wahrheitsfähigen und rational erkennbaren Faktums. Die Tatsache, dass Paul, der in seinem brennenden Hotelzimmer festsitzt, sein Leben nur retten kann, wenn er aus dem Fenster in den Fluss springt, ist ein solcher Grund.[14] Die Feststellung, dass Paul aus dem Fenster springen soll, ist eine wahre moralische Aussage. Ihre Wahrheit ist erkennbar und hängt nicht von seiner internen Befindlichkeit ab.

Bemerkenswert an dieser Diskussion ist nun, dass man den Eindruck gewinnt, es ginge weniger um das richtige Verständnis von Normativität als um Eigenschaften des Begriffs des Grundes selbst: Williams fragt angesichts der Behauptung eines objektiven Handlungsgrundes, warum jemand von einem solchen Notiz nehmen sollte.[15] Für ihn kann ein Faktum ohne weitere Vermittlung mit der eigenen internen Befindlichkeit nicht handlungsrelevant werden. Darum reicht weder das Faktum noch die Überzeugung von dessen Richtigkeit als Handlungsgrund hin. Zutreffend ist an dieser Behauptung, dass das Wort »Grund« – in der deutschen Fassung noch deutlicher als in der englischen – wie auch die mit ihm verbundenen Beispiele stets auf eine konkrete Handlung verweisen. Aus Williams' Sicht wird die Person des Handelnden durch das Konzept eines objektiven Grundes übersprungen, das keine relevante Rolle für den Handelnden vorsieht. Der Begriff des Grundes – auch so, wie er von Parfit in seinen eigenen Beispielen benutzt wird – bleibt aber immer auf ein bestimmtes Subjekt und eine konkrete Handlung bezogen. Andere Beispiele finden sich in der metaethischen Diskussion so gut wie nie. Dies stellt Parfits These, es handele sich bei normativen Gründen um objektive Eigenschaften, seinem eigenen Sprach- und Beispielsgebrauch zufolge in Frage. Sinnvoll, so scheint es, ist die objektive Konzeption eines Handlungsgrundes nur in Bezug auf ein Subjekt.

Auch bei Scanlon fällt diese Spannung im Begriffsgebrauch auf. Scanlon unterscheidet ausdrücklich zwischen dem Grund als solchem, einer »judgement-sensitive attitude«, und einem für eine ganz bestimmte Person individualisierten Grund, also einem bloßen »biographical fact«.[16] Letzteren hält er für normativ sekundär und nicht der philosophischen Auseinandersetzung wert. Das ist irritierend, weil er einerseits mit dem Begriff des Grundes zu einer Kategorie greift, die sich gerade durch ihre Situativität auszeichnet, eben als ein Handlungsgrund, um sogleich von dieser Situativität zu abstrahieren.[17] Das so entstehende Konzept eines Grundes ohne Perspektive des Handelnden ist ein seltsames Mischwesen. Wenn »die Vorstellung eines perspektivelosen Erkennens in sich sinnwidrig [ist]«,[18] gilt dann nicht Ähnliches für die Vorstellung eines subjektlosen Handlungsgrundes?

Schließlich fällt auf: Wenn denn einmal in der Diskussion nicht nur über »Gründe« oder »gute Gründe« im Allgemeinen gesprochen, sondern ein konkreter Grund genannt wird, geschieht dies in Form des Konditionals. Beispielhaft: »Wenn X nicht aus dem brennenden Hotelzimmer in den Fluss springt, dann wird er verbrennen«[19] oder »A wird ertrinken, wenn ihm B kein Seil zuwerfen wird«.[20] Konditionale sind aber spezifizierte Regeln. In ihnen wird eine Anweisung mit einer bestimmten Bedingung verknüpft. Das ist deshalb bemerkenswert, weil der Sprachgebrauch hier von vornherein auf eine Figur zurückgreifen muss, die gegenüber dem Grund nur als abgeleitet und sekundär verstanden wird, eben den der Regel.

Umgekehrt kann Parfit darauf verweisen, dass dasjenige, was Williams als einen Grund bezeichnet, deswegen kaum als normativer Grund verstanden werden kann, weil es Williams letztlich nur um eine sich tatsächlich aktualisierende Neigung geht, eine bestimmte Handlung auszuführen.[21] Handlungsgründe werden von Williams nicht nur auf individuelle Neigungen reduziert, sondern sogar nur auf solche Neigungen, die sich in einer Handlung verwirklichen. So verstanden können sich Handlungsgründe nicht gegenüber Motiven verselbstständigen. Dies mag angemessen sein, wenn man Gründe als ein Instrument versteht, um menschliche Handlungen zu erklären. Erklären lassen sich aber nur Handlungen, die auch tatsächlich vollzogen wurden. Für eine normative Struktur ist diese Beschränkung auf Tatsächliches wohl zu eng. So könnte zu einem normativen Grund nur werden, was auch als Ursache taugte. Damit verläuft aber die ganze Diskussion zwischen einer normativen und einer erklärenden Konzeption des Grundes, ohne dass damit für den Begriff des Normativen selbst viel zu gewinnen wäre.

Handlung als Basis der Beschreibung sozialer Phänomene. Das Problem liegt damit in einem methodischen Zugang zu Fragen von Normativität, der auf der einen Seite die Handlung als elementare Einheit behandelt, um auf der anderen Seite mit dem Begriff des Grundes eine Konzeption von Normativität zu entwickeln, die sich für die konkreten Bedingungen von Handlungen wenig interessiert.[22]

Illustrieren lässt sich dies an der Behandlung des Regelbegriffs.[23] Man nehme eine Regel R, die besagt, dass man grüßen soll, wenn man einen Bekannten trifft. Anhand einer Fülle von Alltagsbeispielen kann man zeigen, dass jede Regel unter dem Vorbehalt vieler konkreter Ausnahmen steht. Man grüßt, wenn man einen Raum betritt, aber nicht, wenn man zu spät in ein laufendes Theaterstück kommt, und auch nicht, wenn man weiß, dass der andere sich schämt, einem zu begegnen. Angesichts dieser Ausnahmen scheint die Regel zu zerfallen. Es wird fraglich, ob irgendeine konkrete Handlung aus der Regel zu erklären oder zu rechtfertigen ist.[24] Aus dieser Beobachtung könnte man den Schluss ziehen, dass Handlungsgründe eine gegenüber Regeln vorzugswürdige, weil elementarere Kategorie sowohl zur Rechtfertigung als auch zur Erklärung von Handlungen darstellen.

Mit diesem Argument stimmt jedoch zweierlei nicht. Zum Ersten unterliegt es einem Zirkelschluss. Denn wenn man eine konkrete Handlung erklären will, wird man als Explanandum in der Tat individualisierte Konstellationen heranziehen müssen, aber dies auch in ihrem Zusammenhang mit vorhandenen Regeln. Wie wir aus der Wissenschaftstheorie gelernt haben, erklärt sich ein Ereignis, etwa ein experimentelles Ergebnis, nicht allein durch den Verweis auf ein Naturgesetz, sondern aus der Verbindung des Gesetzes mit einer bestimmten Konstellation oder Versuchsanordnung.[25] Aus dieser Einsicht folgt aber nicht, dass Naturgesetze bloß sekundäre Kategorien von geringer Erklärungskraft wären. Ein vergleichbarer Schluss wird aber mit dem oben beschriebenen Argument in Hinsicht auf eine Regel gezogen. Wenn sich eine Handlung nur aus einer Gemengelage von einschlägigen Regeln in einer bestimmten Konstellation erklären lässt, ist der Schluss, dass eine bestimmte Regel für die Handlung nur begrenzt oder gar nicht den Ausschlag gäbe, wohingegen der Grund entscheidend sei, so sinnlos wie die Behauptung, dass es auf die Gravitation nicht ankäme, weil sie für den Ausgang eines bestimmten Experiments keinen Unterschied mache. Jede konkrete Handlung ist nur in einer hoch spezifizierten Situation denkbar, in der viele Regeln anwendbar sind, die sich wechselseitig relativieren und einschränken, und in der viele andere Regeln erst gar nicht gelten. Gründe für diese Handlung mögen nicht notwendig in dieser Gemengelage von Regeln aufgehen, sondern sich auch aus den konkreten Umständen ergeben, für die gerade keine Regel zur Verfügung steht. Doch macht diese Einsicht das vorgestellte Argument nicht überzeugender, denn sie bleibt bei dem zirkulären Hinweis stehen, dass in einer bestimmten Handlungssituation nur die für diese Situation einschlägigen Regeln relevant sind und sich zu Gründen verdichten.

Hieran schließt der zweite Einwand gegen den ausschließlichen Handlungsbezug an. Die praktische Philosophie hat mit diesem mehr oder weniger bewusst ausgeblendet, wie problematisch es ist, Akte ohne Einbeziehung des sozialen Kontexts überhaupt als Handlungen definieren zu können.[26] Zwar ist die Handlungstheorie im Gefolge Wittgensteins sensibel für die Vieldeutigkeit in den Grenzbereichen zwischen Verhalten und Handlung,[27] aber als eine ernstgemeinte Einbeziehung eines sozialen Kontexts kann man dies kaum bezeichnen. Schon die Identifizierung eines raumzeitlich definierten Ereignisses als Handlung einer konkreten Person ist nämlich immens voraussetzungsreich und weder historisch noch kulturell invariant. Wenn ich ein Ereignis als eine Handlung bezeichne, dann stelle ich damit fest, dass diese Handlung durch eine Person beabsichtigt war und sie zugleich mit ihrer Absicht Einfluss auf das Handlungsereignis hatte. Auf die viel reflektierten Details des Konzepts der Absicht kommt es hier nicht an, sondern nur darauf, dass diese beiden Unterstellungen – Absicht und Einfluss – in vielen sozialen Praktiken durch Zurechnungsregeln etabliert werden. Viele soziale Praktiken, gut zu erkennen im Recht oder in der Pädagogik, operieren ad-hoc-askriptivistisch.[28] Das bedeutet zum einen, dass Handlungen das Ergebnis einer Zuschreibungspraxis sind, die nach verallgemeinerbaren Regeln zur Unterscheidung zwischen einer Handlung und einem anderen Ereignis sucht. Es bedeutet zum anderen, dass Kriterien für Handlungen auf der Basis von Erfahrungen entwickelt werden und diese Kriterien mit Blick auf praktische Folgen immer wieder neu anzupassen und zu korrigieren sind. Solche Kriterien ergeben sich nicht nur aus einem Konsistenzbedürfnis, auch wenn dieses für viele Praktiken, etwa im Strafrecht, bedeutsam ist. Sie folgen auch praktischen Erwägungen, antworten also beispielsweise auf die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Beeinträchtigung der körperlichen Steuerungsfähigkeit einen bestimmten Schaden hervorruft und wie viel dieser Schaden kostet.

Handlungen sind Ergebnis einer sozialen Zuschreibungspraxis, die Ereignisse verarbeitet, die als Handlungen verstanden wurden oder auch nicht. Erfahrungen mit der Zuschreibung führen zu einer beständigen Anpassung der Kriterien für eine Handlung, etwa wenn sich die Frage stellt, mit wie viel Alkohol im Blut man einer Person noch absichtsvolles Handeln unterstellen kann oder ab welchem Alter man kindliches Verhalten auch als eine vielleicht sogar sanktionsfähige Handlung deuten sollte.

Entscheidend ist nun, dass zusätzlich zu zweckrationalen Folgeerwägungen eine normative Ebene ins Spiel kommt, die sich aber gerade nicht mit der Frage richtiger Handlungsgründe beschäftigt. Denn die Gestaltung von Zuschreibungskriterien hat immer auch etwas damit zu tun, welche Vorstellung sich eine Gemeinschaft von Verhalten macht, das als Handlung gelten soll. Neben einer situativen Folgeneinschätzung kommt in einer Zuschreibungspraxis eine Vorstellung von individueller Fähigkeit zum Ausdruck, die sowohl die Erwartungen betrifft, die an als Handlung zu verstehendes Verhalten gestellt werden können, als auch die Spielräume der Gemeinschaft reflektiert, diese Erwartungen zu gestalten. Was wir als Handlung bestimmen, hängt maßgeblich davon ab, wer wir sein wollen oder glauben sein zu sollen, zum Beispiel eine verantwortungsbewusste Bürgerin oder ein treuer Gefolgsmann.

Aus dieser Perspektive ist es nicht mehr zwingend, handlungsanleitende oder handlungserklärende Gründe als elementare Einheiten von Normativität zu behandeln, weil bereits in die Annahme des Vorliegens einer Handlung Voraussetzungen eingehen, die als handlungskonstituierende, nicht als handlungsrechtfertigende verstanden werden müssen.

Dies spricht dagegen, in die praktische Philosophie einen methodischen Individualismus einzuführen, der im Kontext der praktischen Philosophie unter der Hand zu einem normativen Individualismus wird. Viele freiheitstheoretische Argumente sprechen für einen normativen Individualismus. Die Setzung der Handlung als theoretische Basiseinheit liefert diese Rechtfertigung jedoch nicht. Gerade für die Beschreibung normativer Praktiken, die einen institutionellen Rahmen haben, bleibt dieses Modell daher wenig brauchbar, weil sich Normativität in ihm immer nur innersubjektiv und situativ denken lässt.

Schließlich: Dass der philosophische Diskurs auf Handlungsgründe fixiert ist, liegt nicht in der gleichen Weise im Wesen der Disziplin begründet, wie es im Wesen der Soziologie liegen könnte, sich nur mit Phänomenen zwischen mehreren Personen zu beschäftigen, oder in dem der Biologie, sich auf Lebendes zu konzentrieren. Wenn es solche disziplinären Ausrichtungen überhaupt gibt und wenn es sie ausgerechnet für die Philosophie geben sollte, so zeigt doch die Geschichte der philosophischen Reflexion des Normativen selbst, dass sich eine Fixierung auf Handlungsgründe nicht von selbst versteht. Eine Arbeitsteilung, die einen methodischen Handlungsindividualismus der Philosophie zuweist und eine Gegenperspektive beispielsweise den Sozialwissenschaften, findet sich nicht. Philosophische Unterscheidungen wie die zwischen Werten und Normen, zwischen Sein-Sollen und Tun-Sollen, zwischen Regeln und Gründen, zwischen rules of doing und rules of being[29] zeigen, dass sich auch philosophische Rekonstruktionen von Normativität nicht auf Handlungsgründe beschränken und diese nicht als basale Einheit behandeln müssen. Diese Unterscheidungen machen begriffliche Angebote, die durch eine Fixierung auf den Begriff des Grundes ausgeschlagen werden. Große Teile der politischen Theorie würden so aus dem Bereich der Philosophie verwiesen. Die Theorie normativer Probleme wird so zu einer als analytische Handlungstheorie enggeführten praktischen Philosophie, ohne sich über Gründe und Folgen dieser Beschränkung ausreichend Rechenschaft zu geben. Dass viele soziale Normen sich ausdrücklich nicht auf Handlungen beziehen, sondern auf Gruppenidentitäten, auf Werke oder auf einen Glauben, der unter Umständen gar keine Handlungsanweisungen definieren will, bleibt dabei ohnehin unbeachtet.

Normrationalismus: Normen als Verstandesleistung

Identifikation von Normativität und Rationalität. In ihrer Auseinandersetzung mit Bernard Williams stellt Christine Korsgaard fest: »It [internalism, CM] does not require that rational considerations always succeed in motivating us. All it requires is that rational considerations succeed in motivating us insofar as we are rational.«[30] Damit liefert Korsgaard ein weiteres Charakteristikum eines philosophisch dominanten Normativitätsbegriffs, denn Gründe werden in der philosophischen Diskussion häufig mit – der einen oder anderen Art von – Rationalität identifiziert.[31] Das Reich der Gründe ist ein Reich rationalen Handelns. In der angelsächsischen Diskussion ist die Identifikation von Grund und Vernunft im Wort reason besonders suggestiv. Normativität als Grund zu bestimmen, legt zugleich nahe, Normativität als Ergebnis einer rationalen Leistung zu beschreiben. Als Beleg genügt wiederum ein kursorischer Blick auf Teile des philosophischen Diskurses der Gegenwart. Sicher gilt dies für die Tradition des politischen Liberalismus und für die Diskursethik, in der Politik zu einer besonderen Form angewandter praktischer Philosophie wird. Es mag, wenn auch ex negativo, auch für die poststrukturalistische Kritik an diesen Traditionen gelten, die nicht selten Rationalitätskritik und Normativitätskritik in eins setzt. Man könnte zugespitzt formulieren, dass die Postmoderne die Vernunftfixiertheit der von ihr kritisierten philosophischen Traditionen teilt, sie nur mit anderen Vorzeichen versehen hat und damit im Ergebnis auch jedes Konzept von Normativität verwerfen kann.[32]

Wenn man die philosophische Diskussion von außen betrachtet, so wirkt die Identifikation von Normativität und Vernunft zumindest auch als Konsequenz einer Beschränkung, der die Philosophie als wissenschaftliche Disziplin in ihren dominanten Traditionen unterliegt. Die philosophische Behandlung sozialer Praktiken wie Kunst, Recht oder Religion tendiert dazu, diese mit Hilfe von Kategorien der Rationalität zu beschreiben. Man könnte fragen: Wie sollte sie auch anders? So wie andere Disziplinen mit den ihnen eigenen Kategorien operieren, ist dies auch für die Philosophie geboten. Das bedeutet nicht, der Philosophie einen primitiven Rationalismus vorzuwerfen. Natürlich können die entwickelten Konzeptionen von Rationalität beliebig verfeinert werden, selbstverständlich ist die Frage, was als rational zu bezeichnen ist, auf begrifflich hohem Niveau umstritten. Es ist auch nicht zu leugnen, dass ein wichtiger Teil der westlichen Tradition der Philosophie von der Sophistik bis zum Poststrukturalismus als Rationalitätskritik angetreten ist. Aber abgesehen von allen Zweifeln, inwieweit diese Kritik das Herz der akademischen Philosophie erreicht hat, verbindet eben auch diese Rationalitätskritik Rationalität und Normativität.

Disziplinäre Konfliktlinien: Die Philosophie und die anderen. Wenn wir, bei aller Sorge vor zu großer Pauschalität, also weiter unterstellen, dass die zeitgenössische praktische Philosophie Rationalität und Normativität miteinander identifiziert, und wir darin sogar ein Element der disziplinären Identität der Philosophie erkennen, dann bleibt die Frage, was an diesem Zusammenhang nicht stimmen sollte. Schließlich haben Disziplinen ihren eigenen Erkenntniszuschnitt. Problematisch wäre dies erst dann, wenn die philosophische Kategorienwelt mit dem ihr eigenen Universalitätsanspruch, auf normative soziale Praktiken angewendet, nur noch ein verzerrtes Bild von diesen liefern würde. Dass dem so ist, zeigt ein erster Blick auf die Gebiete sozialer Normen, die Gegenstand dieses Buches sind.

In der politischen Theorie wird die Identifikation von legitimer Politik mit kollektiv vernünftigem Handeln seit Langem kritisiert.[33] Der Anspruch praktischer Philosophie, selbstbestimmten politischen Akteuren entsprechende Institutionen zuzuweisen und deren nicht durch Vernunft determinierte politische Freiheitsräume als Defizite zu betrachten, erscheint anfechtbar. Lässt sich ein offener politischer Prozess auf die Anwendung philosophischer Richtigkeitskriterien reduzieren? Entscheidende Merkmale demokratischer Ordnungen, namentlich die Institutionalisierung einer Opposition, deren Rolle es ist, inhaltsunabhängig anderer Meinung zu sein als die Mehrheit, sind mit einer auf gute Gründe fixierten Demokratiekonzeption nicht zu vereinbaren.[34] Namentlich Hannah Arendt hat darum angeregt, auf den Disziplinbegriff »politische Philosophie« zu verzichten und von politischer Theorie zu sprechen, um die Frage nach einer gelungenen Ordnung nicht in einem philosophischen Rationalitätsraster aufgehen lassen zu müssen.[35] Arendts Politikbegriff steht hier nicht zur Debatte, von Interesse ist allein die Beobachtung, dass die politische Theorie über Normativitätskonzeptionen nachdenkt, die sich einem philosophischen Vernunft- und Richtigkeitsanspruch zu entziehen suchen. Am Beispiel der Mehrheitsregel werde ich diese Überlegung sogleich konkreter erörtern.

Ein zweites Beispiel findet sich im Bereich der Theorie der Kunst. Auch die philosophische Ästhetik hat eine lange Tradition, in der die philosophische Lektüre von Kunstwerken als privilegierter Zugang zu Wahrheit verstanden wird.[36] Wahrheitsästhetische Theorien bemessen den Wert der Kunst an ihrer Möglichkeit, eine philosophische Weltdeutung zu unterstützen. Hier ist es letztlich nicht die Kunst, sondern die Philosophie, die die Erkenntnisleistung anhand der Kunst erbringt, und die Beförderung dieser Erkenntnisleistung gilt als deren entscheidende Qualität. Auch in diesem Fall gibt es natürlich andere Theoriekonzepte, aber die Verbreitung wahrheitsästhetischer philosophischer Kunstbeschreibung ist groß.[37] Ästhetisches Gelingen, um eine kunstbezogene Normativitätsfigur zu benutzen, wird hier zu einer Funktion eines philosophischen Rationalitätsanspruchs.[38] Doch mag man zweifeln, »ob man Kunst adäquat versteht, wenn man sie philosophisch präjudiziert, und ob man Philosophie besser begreift, wenn man ihre Grenzen zur Kunst offenhält«.[39]

Ein drittes Beispiel liefert die Sphäre des Rechts. Eine lange philosophische Tradition betrachtet das Recht und seine wissenschaftliche Beschreibung als Lückenfüller philosophisch begründeter normativer Vorgaben. Genauer: Rechtstheorien, die eine moraldistante Konzeption von Recht entwickeln, drängen den inhaltlichen Einflussanspruch der praktischen Philosophie zurück; umgekehrt identifizieren moralaffine Rechtskonzeptionen das Recht letztlich mit einem philosophischen Richtigkeitsanspruch.[40] Auch für das Recht ist eine Abbildung auf einen philosophischen Richtigkeitsanspruch kaum zwingend, ja, es scheint eine der Pointen jeder modernen Rechtsordnung, sich gegenüber zu grundsätzlich geführten philosophischen Fragestellungen durch Verfahrensregeln und Organisationsstrukturen zu immunisieren.

Am offensten und von den hier untersuchten Diskursen am längsten ausgetragen wird das Problem in der christlichen Theologie, die in der Nachfolge der in Platons Eutyphron gestellten Frage nach dem Verhältnis von göttlichem Willen und Vernunft[41] eine lange Tradition der Rationalitätskritik kennt. Diese findet sich in der Spätscholastik[42] oder in der dialektischen Theologie der Zwischenkriegszeit.[43] Für die theologische Reflexion einer Offenbarungsreligion ist die Reduktion auf ein sei es noch so anspruchsvolles Rationalitätsmuster ein riskantes Unterfangen.[44] Dies gilt besonders für das Verhältnis der Offenbarungstheologie zu den Fragen, die die praktische Philosophie beschäftigen. Auf eine universale Vernunftethik kann sich die christliche Theologie nicht reduzieren lassen, ohne die Eigenheiten ihrer Gotteskonzeption zu verlieren.[45] Folgerichtig kennt sie nicht nur eine lange Tradition der Rationalitäts-, sondern auch spezifischer eine der Moralitätskritik.[46]

Zurück zur Philosophie. Umgekehrt lässt sich der philosophische Diskurs um die Struktur von Normativität auch als ein solcher um einen angemessenen Begriff praktischer Rationalität verstehen. Es geht darum zu klären, ob Verpflichtungen aus subjektiv gesetzten zweckrationalen Zusammenhängen entstehen oder ob sie aus objektivierbaren Vernunftansprüchen folgen. Die Debatte um die Struktur moralischer Pflichten in der Philosophie sucht ein angemessenes Rationalitätsmodell für Handlungen. Doch wäre nicht nur zu zeigen, dass sich Phänomene des Normativen aus Bereichen wie Politik, Kunst oder Recht ebenso auf einen Begriff von Rationalität verpflichten ließen, sondern auch der Preis dieser Bezugnahme für die Beschreibung dieser Praktiken zu beziffern.

Freilich setzt sich die westliche philosophische Tradition vornehmlich mit Gegenständen auseinander, die nicht kontingent sind.[47] Damit verliert die Unterscheidung zwischen einer Beschreibung eines Gegenstandes mit Rationalitätsanspruch und seiner Einordnung als rational ihre Selbstverständlichkeit. Philosophische Modelle müssen Kontingenz nicht leugnen, nur werden sie das Resultat von Kontingenz selten zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen. Vollends endet die Selbstverständlichkeit dieser Unterscheidung bei normativen Konzepten. Hier verlieren Beschreibung von Rechtfertigung und Rechtfertigung ihre Unterscheidbarkeit. Andere Zugänge sind möglich, man mag an Nietzsches Überlegungen zur Genealogie der Moral und an Autoren denken, die an Nietzsche anschließen. Aber es scheint zu den Konsequenzen solcher Ansätze zu gehören, dass sie aus der Philosophie herausführen.[48] Denn die Historisierung und Soziologisierung philosophischer Wahrheitsansprüche kann ab einem bestimmten Punkt nicht mehr mit Mitteln der Philosophie betrieben werden.

Wenn diese Beobachtungen zutreffen, wenn es also einen philosophieimmanenten oder, schwächer formuliert, zumindest einen philosophietypischen Zugang zum Begriff der Normativität gibt, der die Ineinssetzung von Normativität mit einer Form von Rationalität impliziert, ist es dann nicht sinnlos, diese Tradition zu kritisieren? Den Proponenten anderer Disziplin steht es ja durchaus frei, eine abweichende Begriffsbesetzung vorzunehmen. Anders gesagt: Warum sollten verschiedene Disziplinen nicht einfach unterschiedlichen Gebrauch von einem Konzept machen, der ihren jeweiligen Erkenntnisinteressen entspricht, so wie auch nichts dagegen zu sagen ist, von moralischen, ästhetischen und juridischen Normen zu sprechen, die Unterschiedliches bezeichnen und doch allesamt Normen sind? Warum es nicht dabei belassen, dass sich die praktische Philosophie um die Frage der Rechtfertigung von Praktiken kümmert und diese im weitesten Sinne mit einem Begriff von Rationalität identifiziert, während die Soziologie einen empirischen und die Rechtswissenschaft einen rechtsdogmatischen Zugriff auf Normen entwirft?

Möglich wäre das nur, soweit dadurch nicht eine umfassendere Perspektive auf den Begriff des Normativen verstellt würde. Problematisch würde es, wenn sich empirisch arbeitende Disziplinen vor eine falsche Alternative gestellt sähen: Wenn ihr empirischer Zugang sie entweder dazu führte, den Begriff der Normativität aufzugeben – denn in diesem Fall käme es wiederum dazu, den Begriff allein einem rationalitätsorientierten philosophischen Diskurs zu überlassen. Oder wenn die Aufbereitung eines empirischen Zugangs zu Normen so deutlich von der philosophischen Begriffsbildung beeinflusst wäre, dass die disziplinäre Arbeitsteilung nicht mehr funktionierte, weil ein philosophisches Verständnis des Normativitätsbegriffs steuern würde, welche Arten von Normen empirisch erfasst werden könnten und welche nicht. Beide Alternativen lassen sich, wie wir sehen werden, im empirischen Umgang mit Normativität entdecken. Der Einfluss der philosophischen Traditionen, die Normativität als Rationalitätsleistung verstehen, ist so stark, dass es fahrlässig wäre, sie auf der Suche nach einem begrifflichen Rahmen für soziale Normen schlicht zu ignorieren. Aber vielleicht wären moralische Normen besser als Option innerhalb eines rationalen Handlungsschemas zu verstehen statt als zwingendes Erfordernis von Rationalität.[49]

Normplatonismus: Normen im »Reich der Gründe«

Normen als abstrakte Gegenstände. In der Identifikation von Normativität und Rationalität steckt zugleich eine Aussage über die Ontologie des Normativen, die besagt, dass es sich bei Normen um abstrakte Gegenstände handele,[50] denen keine raumzeitliche Individuation zu eigen ist. Normativität kann so die Form einer abstrakten Pflicht annehmen oder die einer praktischen Konsequenz aus einem konkreten Bedürfnis oder die des Gehalts eines Versprechens oder eines Gesetzes. All diesen Emanationen ist gemeinsam, dass sie sich im Unterschied zu sozialen Normen nicht in Ereignissen oder in Objekten realisieren müssen. In der normphilosophischen Diskussion wird dies spätestens seit von Wrights bahnbrechenden Untersuchungen zur Normtheorie mit der Unterscheidung zwischen einer Norm und einer sprachlichen Normformulierung zum Ausdruck gebracht. Die Regel, die mich dazu verpflichtet, meine Frau zu ehren, ist von der sprachlichen Form, in der sie niedergelegt wird, strikt zu unterscheiden.[51] Die sprachliche Form – der Normtext – kann als ein Typus, als ein Begriff, eine abstrakte Identität haben und sich in Ereignissen wie der Verkündigung durch einen Propheten, in Objekten, zum Beispiel der Niederschrift auf einer Tafel, in einem Gesetzblatt oder einem Manierenmanual, materialisieren, die ihrerseits vervielfältigt werden und in einer Vielzahl von Objekten zum Ausdruck kommen können. Diese Kopien »sind« aber nicht die Norm, sie sind noch nicht einmal der Regeltext als solcher, sondern nur ein Exemplar des Regeltextes. Solche Formen der Materialisierung einer Norm in der abstrakten Form eines Satzes oder in der verwirklichten Form der Niederschrift des Satzes auf einem speziellen Blatt Papier nehmen, dies ist eine zumeist unausgesprochene Annahme der philosophischen Normentheorie, an der Normativität dessen, was sie materialisieren, nicht teil. Normativität bewegt sich im »Reich der Gründe«. Dieses Reich wird mit der Unterscheidung zwischen Norm und Normtext oder anderen Normzeichen abgeschlossen.

Worin besteht das Problem dieser Annahme? Nicht darin, den ontologischen Status abstrakter Gegenstände gegenüber einem Objekt- oder Ereignismaterialismus in Frage zu stellen, also beispielsweise zu behaupten, es gebe keinen Begriff des Tischs, sondern nur eine raumzeitlich begrenzte Menge von einzelnen Tischen. Auf diese Diskussion will ich hier nicht weiter eingehen, sondern mich auf die Vermutung beschränken, dass die Schwierigkeiten nicht kleiner werden, wenn man auf die Annahme der Existenz abstrakter Gegenstände verzichtet.[52]

Zweifelhaft wird die Unterscheidung zwischen der Norm und ihrer Materialisierung aber dann, wenn sie den Ort des Normativen so definiert, dass die Materialisierung zu einer bloßen Nebensache, zu einem zu vernachlässigenden Epiphänomen wird, wenn Normen also derart beschrieben werden, dass es sich bei ihnen »eigentlich« um Gründe handele, die sich dann in Sprache oder auch in anderen Objekten mehr schlecht als recht »verkörperten«.[53] Diese Sicht schafft ein ontologisches Gefälle zugunsten einer nichtkörperlichen, dem Reich der Gründe entnommenen Normkonzeption, die der Beschreibung sozialer Normen im Weg steht.

Die Annahmen, der ästhetische Wert eines Gemäldes liege darin, dass es einen Gedanken verkörpere,[54] oder eine Liturgie symbolisiere den rationalen Gehalt einer religiösen Offenbarung, oder ein politisches Verfahren diene der Findung einer moralischen Wahrheit, haben gemeinsam, dass in ihnen zwischen einer eigentlichen, vernünftigen und einer uneigentlichen, materialen, in Zeit und Raum zu verortenden Seite unterschieden wird. Wie wenig überzeugend dies ist, werde ich anhand dreier Beispiele zu zeigen versuchen: am Begriff des Verfahrens, an der Beschreibung von Macht und an der Frage der sozialen Bedeutung des Gebens und Nehmens von Gründen.

Verallgemeinerung oder Mehrheit: zur Kritik des Idealverfahrens. Diese Kritik lässt sich schön am philosophischen Umgang mit dem Begriff des Verfahrens belegen. Denn das Verfahren, von dem dort die Rede ist, ist eines, das weder Zeit noch Ort kennt, ein Idealverfahren also, das wie ein Gedankenexperiment funktioniert. Aus diesem Grund lassen sich juridische Praktiken – in ihrer sprachlichen Verfasstheit und ihrer Angewiesenheit auf Außersprachliches literarischen Werken vergleichbar[55] – kaum vollständig beschreiben, ohne dass man die materiellen Bedingungen einbezieht, in denen sie operieren – etwa wenn ein Originalmanuskript in Form eines Gesetzblattes sichergestellt werden muss, um die Autorität eines juristischen Inhaltes zu garantieren. Solche Phänomene belegen in einem ersten Schritt, dass die Einbeziehung der materiellen Seite für eine hinreichende Beschreibung auch des normativen Anspruchs von Kunst, Politik und Recht nötig ist. Denn fraglos gibt es keine Rechtsordnungen, Kunstwerke, politischen Prozesse oder religiösen Praktiken, die bloß gedacht sind. Es ist aber im zweiten Schritt – und damit betritt man schlechter überschaubares Gelände – dann auch nicht mehr möglich, diese materielle Seite von ihrer normativen Seite zu trennen. So ist die Normativität des Rechts keine Eigenschaft, die ohne Bezug auf die raumzeitliche Seite von Verfahren, auf die Möglichkeit der Gewaltanwendung und auf Verschriftlichung ergiebig beschrieben werden kann. Das, was Recht zu einer Norm macht, muss unter Berücksichtigung auf solche Eigenschaften erfasst werden.

Der Unterschied zwischen einem philosophischen, auf einem Rationalitätsstandard aufbauenden, und einem sozialen Begriff von Normativität lässt sich an der Diskussion von Verfahrensregeln für politische Gemeinschaften illustrieren. Demokratische Verfassungsstaaten wenden die Mehrheitsregel in allen möglichen institutionellen Zusammenhängen unter Gleichen an, unter Wählerinnen, Parlamentsabgeordneten, Mitgliedern exekutiver Gremien und – häufig übersehen – unter Richtern eines Spruchkörpers. Man kann aus der Anwendung dieser Regel leicht das Element eines von solchen Ordnungen geteilten Legitimationskonzepts herleiten, das den Zusammenhang zwischen der Anerkennung von Statusgleichheit und einer aus dieser Anerkennung folgenden Entscheidungsregel unterstellt. Diese Allgegenwärtigkeit der Mehrheitsregel in liberalen Demokratien steht aber in einem auffälligen Gegensatz zu der kritischen bis ablehnenden Behandlung, die sie in der politischen Philosophie, beispielhaft bei Rawls, erfahren hat.[56] Diese ist eben »nur empirisch«,[57] das heißt darauf beschränkt, Stimmen zu zählen und Präferenzen abzuarbeiten.

Die Mehrheitsregel fungiert als echte Verfahrensregel, als eine Realverfahrensregel, da sie für einen konkreten individualisierbaren Entscheidungskontext handhabbare Handlungskriterien vorgibt. Darin unterscheidet sie sich von Verallgemeinerungsregeln à la Habermas oder der gesellschaftsvertraglichen Ursprungssituation à la Rawls, die ebenfalls beanspruchen, Verfahrensregeln zu sein. Unabhängig davon, ob diese Bezeichnung für ein solches Kriterium überhaupt angemessen ist, macht der Unterschied zur Mehrheitsregel deutlich, worin das praktische Problem der Verallgemeinerungsregel liegen könnte: Nicht in ihrer – im Anschluss an Hegel viel beklagten – Leere und Formalität, sondern in dem Umstand, dass unklar bleibt, warum eine solche Regel überhaupt noch in einen konkreten Verfahrenszusammenhang einbezogen werden muss – warum alle Betroffenen sie zur Anwendung bringen sollten, wenn sie doch auch allein durch den Philosophen selbst gehandhabt werden könnte, ohne dass sich dies auf das Ergebnis auswirken würde. Wozu brauchen wir noch eine politische Verfahrenspraxis, wenn wir über schlüssige Rationalitätstests für Normen verfügen? Ein Verallgemeinerungstheoretiker könnte im Anschluss an Kant darauf hinweisen, dass die Regel selbst dies gebiete. Es sei Teil ihres Inhalts, dass sie von allen Beteiligten gleich angewendet werde, darum sei ein Philosophenkönig durch sie ausgeschlossen.[58] So weit, so gut, aber was passiert, wenn über die Anwendung der Verallgemeinerungsregel kein Konsens erzielt wird – eine Konsequenz, die angesichts der vielen Ungewissheiten ihrer Anwendung wahrscheinlich ist?[59] Dann sind wir unter Bedingungen einer demokratischen Ordnung auf eine Mehrheitsregel zurückgeworfen, und erneut stellt sich die oben gestellte und bereits verneinte Frage, ob dieser Umstand als Mangelerscheinung einer defizitären Wirklichkeit verstanden werden sollte – oder ob nicht umgekehrt eine Hierarchisierung von Verallgemeinerungs- und Mehrheitsregel an der falschen Stelle von den Umständen politischer Vergemeinschaftung abstrahiert. Eine Priorisierung der Vernunftregel ergäbe sich nur aus der philosophischen Abstraktion des politischen Prozesses vom politischen Prozess.[60] Mit der Mehrheitsregel verbleiben wir dagegen – und so lässt sich Habermas' Hinweis auf ihren bloß empirischen Charakter positiv wenden – in der Tat bei einer spezifischen, durch lokale Regeln konkret eingehegten Form der Zustimmungskontrolle.[61] Faktische Zustimmung kann überhaupt nicht anders als in einem Verfahren nachvollzogen werden, das räumlich und zeitlich definiert ist.

Rainer Forst hat demgegenüber ins Feld geführt, dass sich beide Verfahrensbegriffe nicht ausschließen würden, sondern nebeneinanderstehen und gleichzeitig vollzogen werden könnten.[62]