Den Tod für Tante Trudl! - Lukas Wolfgang Börner - E-Book

Den Tod für Tante Trudl! E-Book

Lukas Wolfgang Börner

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Beschreibung

Ein Haus. Ein Keller. Dort unten sitzt ein kleines Mädchen. Maja. Sie hat sich selbst dorthin zurückgezogen, um ihrer Tante Trudl und ihrer aufgezwungenen Spielkameradin, der Qual, zu entgehen. Nach dem absurden Tod ihrer Eltern findet sich Maja im Haus ihrer verhassten Tante wieder, weit weg von ihrer Heimat Tupfing und ihren Freundinnen. Das Gymnasium und die aufdringlichen Mitschüler geben dem introvertierten Mädchen den Rest. Was ihr bleibt: Ihre Gedanken, ihr Hass. Und die Sehnsucht nach Befreiung. Doch die Freiheit ist nur über zwei Umwege zu bekommen: Freitod … oder Mord! Was wie eine tragische Mädchengeschichte daherkommt, entpuppt sich bereits nach wenigen Seiten als bitterböse Abrechnung mit der als ungerecht empfundenen Welt. Die Tante Trudl wird zum Symbol aller Unterdrückung, die Klassenkameraden zur Gesellschaft, die für alles und jeden Verständnis zeigt, nur nicht für diejenigen, die sich abschotten. Eine subjektive Satire, die in ihrer atmosphärischen Dichte und ihren grotesken Nebenhandlungen stark an Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Gustav Meyrink und Franz Kafka erinnert. Hier wird Tacheles geredet und der ausgestreckte Moral-Zeigefinger gebrochen, ohne jedoch die fantastische Ästhetik à la Marc Chagall zu beschädigen.

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Lukas Wolfgang Börner

Den Tod für Tante Trudl!

Prosa in schwarzem Rosa

Inhaltsverzeichnis

Versuchung 2

Steckbrief 3

Steckbrief 6

Italienurlaub Zweitausendundsoundsoviel 9

Tod in Buonasera 11

Die schreckliche Qual 14

Nächstes Kapitel 17

Eine frühere Geschichte, die ich erlebte, als ich gerade zwei Tage hier wohnte 20

Gymnasium – Das beste Team 22

Erstes Beispiel 25

Zweites Beispiel 27

Drittes Beispiel 29

Freiheit 30

Ach, übrigens ... 32

Der Majateich 35

Die Nacht 36

Noch oberhalb der Grenze 39

Zwei Wochen später 42

Nachtrag 44

Wie ich Tante Trudl hasse! 47

Drittens: Tante Trudl spielt mit mir das Kartenspiel des Lebens 49

Wenigstens ein Fünkchen Glück 52

Das Klassenfoto 54

Es reicht 57

Den Tod für Tante Trudl! 60

Meine neue beste Freundin – die Qual 65

Das neue Leben 68

Der letzte Abend mit der Qual 70

Die Nacht 72

Finale 75

Rückkehr zu Tante Trudl 81

Versuchung

Da sitzt du nun. 

Auf dem grauen Schreibtisch liegt die Schokolade.

Der Regen peitscht an die Scheiben. Kalte Fensterscheiben. Du siehst die wippenden Straßenlaternen nicht, die bald links, bald rechts von sich im Pflaster graben. Du schaust nur auf die Schokolade. Fastenzeit. Eine Woche hast du schon geschafft.

Fastenzeit.

Wie schön es ist, wenn man widersteht. Sagt sie. 

Wie schön es ist, der Versuchung zu trotzen.

Wie stolz man nachher auf sich sein kann.

Schokolade ist ungesund. Macht schlechte Zähne. Macht dick. Macht süchtig. Macht.

Was für eine schöne Vorstellung, am Ostersonntag das erste Mal wieder etwas Süßes zu naschen. Ein gutes Gewissen zu haben. Stolz auf sich sein zu können.

Aber warum?

Hinter dem Wasserfall ist der Himmel violett. Das Knurren des schwarzen Gewitterhundes erschüttert den Horizont. Unverwandt betrachtest du die Schokolade.

Was wäre es für ein Gefühl, sie in den Mund zu stecken?

Seine eigenen Regeln über Bord zu werfen? Sich hemmungslos der Versuchung hinzugeben? Sich und der ganzen Welt zu offenbaren, dass man nicht widerstehen kann, dass man keine Selbstdisziplin hat.

Was ist das überhaupt, Selbstdisziplin? Ein selbstgestrickter Maulkorb?

Das Gewitter rast herbei. Eben waren noch zehn Sekunden zwischen Donner und Doria. Nun sind es fünf. 

Die Welt hält nicht den Mund. Sie zeigt die Zähne.

Und du? Wer bist du überhaupt? Was tust du hier?

Nimm die Schokolade!

Dich wird, während du sie isst, das schlechte Gewissen wie der Stock des zornigen Frauchens peinigen. Die Reue wird schneller ankommen als der zuckersüße Geschmack. Vielleicht wirst du weinen. Vielleicht wirst du kotzen. Vielleicht wirst du die Selbstachtung verlieren. Das einzige, was dir geblieben ist.

Dort hinten bellt der Hund. Schaurig. Die Fenster knacken.

Iss die Schokolade!

Du schreckst hoch. Ohrenbetäubend. Wie Kastanien trommeln die Hagelkörner gegen die Scheiben. 

Sie sagt, das Wichtigste wäre, die Regeln zu befolgen. Sie sagt, man dürfe sich nicht den niedersten Trieben ergeben. Das unterscheide einen von den Käfern und den Insekten.

Aber Käfer und Insekten sind Teil dieser Welt. Wie der Hagel. Wie der wüste Gewitterhund. Sie ist nur sie selbst.

Iss die Schokolade! Sie ist nur sie selbst!

Blitz. DONNER!! Wau! Wau wau!! Das Haus schaukelt. Die Straßenlaternen lösen sich vom Asphalt und fliegen davon.

Du wirst dich hassen, wenn du die Schokolade isst. Du wirst es nicht geheim halten können. Nicht vor dir und nicht vor anderen. Selbstdisziplin gehört zur Menschwerdung, sagt sie. Käfer und Insekten, sagt sie. Käfer und Insekten.

Du hast die Schokolade ergriffen. Du hältst sie schnüffelnd an deine Nase.

Es gibt keinen Kompromiss. Du kannst nicht von ihr nippen. Der Donner bleibt Donner, der Blitz bleibt Blitz. Es gibt keinen Kompromiss. Entweder es gewittert oder es gewittert nicht.

Sie ist nur sie selbst.

Du willst es doch!

Du willst die Schokolade essen. Du willst die ganze Tafel essen. Es ist nicht der Heißhunger auf Schokolade, der dich veranlasst. Der Heißhunger auf die Sünde ist es. Sünde, die dich mit den Käfern und den Insekten vereint. Und mit dem Gewitter.

Schokolade und du. Wer verzehrt wen?

WAU! WAU WAU WAU!!!

Nun ist es soweit. Das ist der teuflische Moment.

Die Schokolade schmilzt auf deiner Zunge. So warm. So feucht. So süß.

Nun muss die Reue kommen. Aber die Sünde ist so süß, so süß.

Wo bleibt sie denn?

Ein weiteres Stück. Ein weiterer Blitz. Die Wände erzittern.

Noch eines und noch eines und noch und noch und noch.

Wo bleibt die Reue, das prügelnde Frauchen? Wo bleibt sie?

Wie der Hagel die Autos auf den Straßen zerbeult. Trümmerhaufen sind es. Nur mehr Trümmerhaufen. Aber du empfindest keine Reue. 

Ja, du empfindest etwas. Aber was? Ist es Hochmut? Ist es Stolz?

Wann hast du zuletzt so intensiv gelebt wie jetzt. 

Noch nie. Oh, süße Sünde, noch nie.

*

Steckbrief

Worauf das Ganze hier hinausläuft, lässt sich in gewisser Weise bereits vorausdeuten, wenn man das Verhältnis zwischen dem Apfelbaum und der Überschrift, die dich schon vor Beginn der Lektüre meiner grauenhaften Geschichte auf die bittere Konsequenz, die momentan freilich noch nicht eingetroffen ist, es führt aber gar kein Weg daran vorbei, daher wollen wir, ich und du – ich duze dich jetzt einfach mal, denn für mich stellst du als Leser ja bestenfalls ein Abstraktum dar und Abstraktums, oder wie die Mehrzahl davon auch immer heißen mag, möchte ich an und für sich nicht siezen, denn wenn man bedenkt, wie groß der Anteil an Kindern sein dürfte, die dieses Buch in die kleinen Hände kriegen, ich bin ja schließlich auch noch ein Kind, noch, ja, und ich glaube daher, dieser Anteil könnte besonders mächtig sein, „mächtig“ ist hier vielleicht nicht das passende Wort, aber „groß“ habe ich kurz davor schon benützt und meine imaginäre Deutschlehrerin soll nicht gezwungen sein, ein imaginäres W, das „Wiederholung“ heißt, in mein Buch zu zeichnen, und hast du’s gemerkt, dass das „W“ jetzt hinter einer zweiten Wortwiederholung ... 

Moment! Es hat geklingelt!     

Ach, es war nur wieder dieses wüste Nachbarsmädchen. Ich hasse sie. 

Wo waren wir stehen geblieben? 

... ähm ... ach ja!

Beim Apfelbaum. Er steht also im Garten und trägt goldene Äpfel – zu jeder Jahreszeit, wie mir Tante Trudl immer wieder versichert. Der Garten mag vielleicht das einzige Stück Erde sein, das hier im Lot ist. Das Haus, unter dem ich gerade sitze, denn ich behaupte, dass man sich im Keller eines Hauses nicht mehr im Haus, sondern unterhalb vom Haus befindet und das mag vielleicht auch der große Reiz eines Kellers sein ...

Als kleineres Kind habe ich mich vor dem Keller unseres Hauses gefürchtet. Aber wenn mich jemand gefragt hätte – mein lieber, lieber Papa vielleicht oder die Mama –, dann wäre ich nie auf die Idee gekommen zu sagen, dass ich mich vor unserem Haus fürchten würde. Verstehst du? Das muss ja nun heißen, dass der Keller keineswegs Teil des Hauses ist. Er ist vielmehr eine unangenehme Begleiterscheinung. Das schlechte Gewissen vielleicht oder nein: Das Unterbewusstsein ist er. Das Unterbewusstsein ist nämlich jenes Ding, das sich nur durch das Wort „unter“ vom Bewusstsein unterscheidet. Während die anderen Etagen eines Hauses in Geschosse einzuteilen wären, spricht man beim Keller von einem Untergeschoss. 

Nun ist also das Haus, unter dem ich gerade sitze, weil, ich befinde mich im Keller, ebenso wie die Häuser ringsumher von einer gewaltigen Hässlichkeit geprägt. Es ist grauer Beton, so weit das Auge reicht. Glaube nicht, mein beklommener Leser, dass es hier irgendwo etwas Grünes gibt. Sofern man von den Biomülltonnen absieht, die am Straßenrand stehen. Oder dass man hier Vögel scharren sieht. Oder dass hier dicke Spinnen in ihren noch dickeren Spinnennetzen hocken und zarte Rhythmen klopfen, die anno dazumal daheim noch wunderschön aus allen Spinnennetzen gedrungen sind.

Es gibt ja nur den Apfelbaum und der – und das ist es ja, was ich immer wieder sagen möchte, aber ich komme ja nie zum Punkt; das ist auch so ein Punkt, das Nie-zum-Punkt-Kommen, auf den ich später noch eingehen werde – ja, der Apfelbaum ist einfach zu hoch. Verstanden? Ist das angekommen? Er ist zu hoch. Und dabei ist er gar nicht so hoch. Ein größeres Kind, als ich es bin, könnte da empor klettern und von den goldenen Früchten naschen und zwischen den duftigen braunen Zapfen sitzen und singen und lachen und tanzen. Ich aber bin erbärmlich klein. So klein, dass ich beim Schlendern durch die Stadt achtsam den Kanaldeckeln ausweichen muss, um nicht durch die Spalten zu stürzen.  

Das ist natürlich gelogen. Aber ich bin echt klein. Und manchmal komme ich mir noch kleiner vor, als ich es bin. Wie oft ich schon versucht habe, auf den Apfelbaum zu klettern, kann ich mich gar nicht mehr entsinnen. Schönes Wort übrigens: Entsinnen. Das sind so Familienwörter. Es gibt halt einfach Wörter, die benützt kein Mensch mehr. Bis auf eine Familie. Die benützt es ständig und deshalb wundert man sich als Kind, wenn man das Wort benützt und dann von seinen Mitschülern so sonderbar angeschaut wird. Es gibt aber auch andere Wörter, die familienintern ganz falsch verwendet werden, was man später schmerzlich im sozialen Umgang erfahren muss. Wortwendungen wie „nah zum Wasser gebaut“ gibt es nicht, weil es „nah am Wasser gebaut“ heißt. Innerhalb unserer Familie wurde diese Redewendung aber immer falsch gebraucht, was ich am Anfang nicht wusste und dann furchtbar peinlich fand. Heute aber ... heute aber sehne ich mich danach, nochmal Papa oder Mama neben mir sitzen zu haben und das sagen zu hören. Nah zum Wasser gebaut. Weil es so wunderbar falsch ist. Weil es egal ist, ob es falsch ist, denn niemand anderes – auch der Duden – ist nicht von Bedeutung. Nur die Familie zählt. Die Familie und die Art ihrer Kommunikation. Sonst nichts. 

Du wunderst dich sicher, warum ich als Kind schon mit so anspruchsvollen Wörtern um mich schmeiße, wie „sozialer Umgang“ oder „Kommunikation“ oder „anspruchsvoll“. Das liegt nur daran, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich ein Erwachsenen- oder ein Kinderbuch schreibe. Die paar wenigen Fremdwörter, die ich kenne, versuche ich daher behutsam in das Gesamtgeschreibsel einzufügen. Außerdem habe ich ein definitorisches Problem – Hui! Schon wieder ein Fremdwort –, denn ich finde, dass ein Buch, das von einem Kind geschrieben wird, ja eigentlich immer ein Kinderbuch ist. Auch wenn es für Kinder ungeeignet wäre. Da haben wir wieder die Ungerechtigkeit auf der Welt. Erwachsene können sich entscheiden, ob sie ein Erwachsenen- oder ein Kinderbuch schreiben wollen, wir Kinder aber sind an dieses eine blödsinnige Genre gebunden. Aber nicht mit mir. Mein Kinderbuch wird euch das Maul stopfen! 

Oh, Entschuldigung! Dich habe ich natürlich nicht gemeint, mein abstrakter Lesefreund. Sicher bist du ein Kind und ganz auf meiner Seite. (Man beachte hier das Wortspiel!)

Ich bin also klein. Unfähig auf Bäume zu steigen. Ach, was heißt schon „Bäume“? Es gibt ja nur mehr diesen einen. Und ich bin ein Mädchen. Und außerdem habe ich keinen Charakter.

Das glaubst du nicht? Jeder hat doch einen Charakter, sagst du? Nun, ich nicht! Ich bin total charakterfrei. Deshalb komme ich nie zum Punkt. Ich muss immer mehr und immer mehr erzählen, weil ich im Grunde nichts zu erzählen weiß. Mein ganzes Buch – dieses hier, meine ich – wird ein scheußliches Blätterwirrwarr von nutzlosen Erzählschritten werden, die mich ebenso wenig interessieren wie dich. Aber ich muss es einfach aufschreiben. Und glaub mir, ich wusste anfangs nicht, wie ich es hinschreiben sollte. Ich wollte es zuerst wie ein Märchen aufziehen: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Maja ...“

Oder ich hätte einen Briefroman geschrieben, an mein Unterbewusstsein vielleicht: „Hallo Untermaja, hier spricht Maja ...“

Das Problem an der Sache ist, dass die Geschichte, die ich hiermit beginne, noch nicht passiert ist. Ich will aber, dass sie passiert, und ich habe das Gefühl, dass schöne Dinge eintreffen, wenn ich parallel davon berichte. Es hilft mir auch, meine Gedanken zu ordnen, wenn ich unverfälscht von meiner Seele hinunterschreibe. Denn meine Gedanken sind ein Chaos. Das liegt am fehlenden Charakter. Ein Charakter ist wie ein Knoten, an dem die Gedankenballons miteinander verbunden sind. Wenn kein Knoten, also kein Charakter vorhanden ist, fliegen die Gedanken ungezügelt herum. Sie sind frei. Das ist vielleicht das einzig Positive daran. Die Gedanken sind frei! Dennoch ist ein Charakter erstrebenswerter.   

Ach, jetzt habe ich schon so viel geschrieben und wollte doch eigentlich nur einen Steckbrief präsentieren, der dir meine Eigenheiten – nicht zu verwechseln mit Charaktereigenschaften – nahelegt; das ist bei Kinderbüchern so üblich. Dass man am Anfang alles über die Hauptperson erfährt, meine ich. Erwachsenenbücher benötigen oft ihre gesamte Seitenzahl, um die handelnden Personen zu beschreiben. Aber ich bin ja leider an das Kinderbuch gebunden. Deshalb werde ich dir nun alles erzählen, was ich über mich weiß. Damit du bei der schrecklichen Handlung recht mitfiebern kannst.

Aber dieses Kapitel ist schon zu voll dafür. Ich fange also nochmal von Neuem an.

*

Steckbrief

Sodala. Jetzt werde ich dir meinen Steckbrief präsentieren. Ich schreibe dazu einfach die Zeilen ab, die ich dem blöden Nachbarsmädchen ins Poesiealbum geschrieben habe. Und das ist im Grunde nichts anderes als ein Steckbrief. Da steht dann sowas, wie „Meine Hobbys sind ...“ oder „Mein Lieblingsfilm ist ...“ oder so. Total dämlich. Wenn Dinge drin stünden wie „Mein Lieblingswort ist ...“ oder „Die Heldentat meines Lebens wäre ...“ oder „Meine liebste Mückenart ist ...“, dann könnte man sich richtig schöne Gedanken machen. Man würde sich fragen, was es für Mückenarten gibt und welche besonders sympathisch oder heimtückisch sind. Man würde über seine Heldentaten nachdenken, die man im Laufe des langen Daseins vollbringen könnte. Man könnte Worte wie „Gang“ oder „werfen“ zu den Lieblingswörtern des Bewusstseins erklären. Stattdessen füllt man so einen beschissenen Steckbrief aus. „Lieblingslied“, „Lieblingsessen“, „Meine beste Freundin ist ...“. Zum Kotzen!

Du merkst, ich kann fluchen. Aber du würdest es nicht für möglich halten, welche anderen Kraftausdrücke in mir schlummern. Für eine Fünftklässlerin bin ich ganz schön auf Zack. 

Zum Beispiel – nur ein Beispiel jetzt – könnte ich bei der Zeile „Mein Spruch für dich“ folgendes reinschreiben:

Dein Dasein wurmt in jeder Weise,

du mutterfickendes Stück Scheiße!

Ja, das könnte ich schreiben. Und damit hätte ich jedes meiner Gefühle gegenüber dem Mädchen zum Ausdruck gebracht. Ich wäre dazu fähig. Ich bin überhaupt zu vielem fähig. Das ist der Vorteil, wenn die Gedanken frei sind, weil man keinen Charakter hat.

Neulich habe ich zu meiner Tante Trudl gesagt, dass ich nicht mit dem Mädchen spielen würde, weil das eine – ich sag’s jetzt nicht, was – wäre. Da hat mir Tante Trudl Zimmerarrest verpasst. Und ich habe ihr deshalb ins Gesicht gespuckt.

Du siehst, ich habe keinerlei Hemmungen. 

Hoppla, jetzt habe ich wohl meine Geschichte als Kinderbuch selbst aus dem Rennen geschickt. Seltsam, wie schnell das geht ... naja, es sind ja auch schlimme Ausdrücke. Seit gestern verwende ich sie gar nicht mehr. Das ist aber nicht Tante Trudls Schuld.

Vorletzte Nacht sind meine Eltern wiedererschienen. Ich lag gerade in meinem Bett und konnte gar nicht einschlafen. Schatten huschten über die Wände und von fern war das sachte Läuten einer Kirchenglocke zu hören. Die Luft roch wie immer. Gesund. 

Tante Trudl ist sehr auf Gesundheit bedacht. Sie hält immer das exakte Maß an Pflanzen und offenen lüftenden Fenstern ein, die Kleider und Betten und Vorhänge sind immer gerade so frisch gewaschen, wie es notwendig ist, dass es weder muffig noch zu sehr nach Waschmittel riecht. Und so ist sie in jeder Lebenslage. Sein Essen bekommt man nach einer Nahrungspyramide: Viele Vitamine, mittelviele Kohlenhydrate und wenig Fleisch. Ab und zu Zuckerwerk.

Sie möchte, dass ich ein- bis zweimal die Woche Sport treibe, ein Instrument spiele und Bücher lese. Von Fernsehen, Computerspielen und Handybenutzung hält sie nichts. 

Das Problem ist, dass zumindestens das Handyverbot meine alten Freundinnen von mir trennt. Mia-Francesca und Silvia durften nämlich – im Gegensatz zu mir – in Tupfing bleiben und ich kann sie nicht ständig aufs Festnetz anrufen, weil die ja nicht immer daheim sind. Ich müsste ihnen simsen, aber das geht ja nun nicht mehr. 

Ach ja, das Leben ist sehr, sehr gesund bei Tante Trudl. Sie sieht auch ganz gesund aus. Dafür, dass sie eigentlich Jertrud heißt und straff auf die Hundertsechzig zugeht, sieht sie ganz fit und gut aus. Sie hat durchaus keine tiefen Falten im Gesicht und auf ihrer Nase wächst keine Warze. Aber die Milch, die sie jeden Morgen von irgendeinem fernen Bauern geliefert bekommt, ist schwarz.

Jeden Morgen, Tag für Tag, sitze ich vor diesem Milchglas und mir vergeht der Appetit. Ich bin eine Milchtrinkerin. Und Tante Trudl weiß das. „Was ist mit dir?“, fragt sie mich dann. „Willst du deine Milch nicht trinken?“

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen. Manchmal möchte ich einfach sagen: „Die Milch ist schwarz.“ Aber dann fügt Tante Trudl hinzu, dass dies die beste und gesündeste Milch sei und die Kühe so glücklich wären und so und so und so. Und ich trinke die schwarze Milch. Jeden Tag trinke ich sie.

Tja, und so roch auch an diesem Abend die schwarze Luft. Gesund und sicherlich von glücklichen Pflanzen ausgepupst.

Und ich liege wach und starre auf die Schatten und alles ist tränennass und ich kann nicht schlafen. Ich nehme wie jeden Tag mein Kopfkissen, öffne das Fenster und wringe es aus, dass es auf den Terrassensteinen nur so platscht und spritzt. Dann lege ich mich wieder zu Bett.

Und wie ich wieder an die Zimmerdecke schaue, sehe ich die Schatten meiner Eltern. Papas dicke Silhouette und Mamas zierliche Gestalt. Und der dicke Schatten hebt den Schattenzeigefinger und wackelt dann damit, als wolle er sagen: Wehe, wehe!

„Wieso, wieso?“, rufe ich in das stille Zimmer hinein. „Was habe ich denn getan?“

„Du machst eine schlimme Zeit durch“, raunt es plötzlich von dem Schatten meiner Mutter zu mir ans Bett.

„Du musst dir nicht alles gefallen lassen,“ fügt Papa hinzu, „aber bewahre deinen Stil. Das höchste Gut ist die Freiheit. Das zweithöchste ist der Stil.“

„Papa! Mama!“, schreie ich und springe aus den nassen Kissen heraus. Doch da sind die Schatteneltern schon verschwunden. Im nächsten Moment steht Tante Trudl in der Tür. Sie trägt einen braunen Schlafanzug und ihre Stirn ist in Sorgenfalten gelegt. „Hast du schlecht geträumt?“, fragt sie und ihre gesunden roten Backen verwandeln meine anfängliche Trauer in Zorn. Selbst wenn diese Person mitten in der Nacht an einem Werktag aus dem Schlaf gerissen wird, schaut sie gesünder aus als jedes Model einer Reformhauswerbung. Sie will mich anfassen, aber ich weiche zurück und verstecke mich unter meinem Bettzeug. Die beschwichtigenden Worte Tante Trudls machen alles nur noch schlimmer. Mit zischenden und fauchenden Lauten mache ich ihr klar, dass ich kein Interesse an ihrem Mitleid habe. Endlich verlässt sie das Zimmer. Dann erst werden meine Gefühle zurückverwandelt und ich weine wieder. 

Aber ich habe nicht vergessen, was meine Eltern gesagt haben. Ich muss den Stil bewahren. Deshalb habe ich mir geschworen, nicht mehr zu spucken und mit Schimpfwörtern um mich zu schmeißen.

Außerdem habe ich meine Tante gestern gebeten, in den Keller umziehen zu dürfen. Dort war nämlich bis dato ein Gästezimmer, weil im ersten Stock, wo sich ihr und mein Schlafzimmer befanden, kein Platz dafür war. Ich hatte mich von Anfang an schon nicht wohlgefühlt, so dicht neben Trudls Zimmer zu schlafen. Nun trieb mich aber auch die Tatsache, dass im Keller mehr Schatten sind als im ersten Stock, dazu an, diese Bitte zu äußern.

Vielleicht mag dir das albern erscheinen. Aber es ist die Wahrheit. Du denkst, Schatten sind nur dort, wo auch ein bisschen Licht ist, weil man ohne etwas Licht ja keine Schatten sehen kann, aber da irrst du dich. Zum Beispiel fällt einem die Stille eines Raumes beim leisen Ticken einer Uhr besser auf, stiller ist es aber, wenn gar keine Uhr tickt. Die Menschen bemerken sie dann nur nicht, aber das hat mehr mit ihrer Blödheit als mit dieser Tatsache zu tun. Mir fallen auch in der totalen Dunkelheit die Schatten auf. Ich brauche kein Licht, um mit der Nase auf sie gedrückt zu werden. Ich brauche Schatten. 

Tante Trudl hat mir den Wunsch gewährt; unter der Bedingung, dass ich sie nicht mehr Trudl, sondern Jertrud nenne. Ich habe diesem Deal zugestimmt, aber ich werde mich nicht daran halten. Es heißt: Ein Mann, ein Wort. Aber ich bin ja kein Mann. Wenn ich erst einmal mein ganzes Hab und Gut hier unten habe – und das meiste davon ist bereits hier –, dann werde ich sie wieder Trudl nennen. Schlicht und einfach aus dem Grund, weil sich mich ja auch nicht Maja, sondern bloß Steffi nennt.

Das war also die Geschichte, wie ich in den Keller gezogen bin, wo ich auch jetzt gerade sitze und schreibe. Eigentlich hätte an dieser Stelle ja der Steckbrief kommen sollen. 

Ach, schei... ich meine ... pfeif drauf!    

*

Italienurlaub Zweitausendundsoundsoviel