Der Bank- und Börsenplatz Essen - Joachim Scholtyseck - E-Book

Der Bank- und Börsenplatz Essen E-Book

Joachim Scholtyseck

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Beschreibung

Dass die internationalen Geldströme über Frankfurt laufen, ist allseits bekannt. Weitaus weniger weiß man über die regionalen Finanzzentren in Deutschland. Dabei bieten sie viele Vorteile: persönliche Kenntnisse des Umfelds, unmittelbare Kontakte zu den Entscheidern vor Ort und allgemein ein besseres Verständnis für die Geschäftskultur und die Marktchancen in der Region. Patrick Bormann und Joachim Scholtyseck zeigen, wie sich Der Bank- und Börsenplatz Essen seit Beginn des 19. Jahrhunderts von seinen lokalen Anfängen zu einem erstaunlich vielgestaltigen und facettenreichen Ort für Bankinstitute entwickelte, der für die Finanzierung des Ruhrgebiets eine kaum zu unterschätzende Bedeutung erlangte. Die Geschichte der Essener Börse, der regionalen Industriebanken, der zahlreichen örtlichen Privatbanken, der Sparkassen und anderer Institute von den Anfängen bis heute vermittelt das Bild einer bislang weitgehend unbekannten dynamischen regional und überregional wichtigen Banklandschaft.

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Patrick BormannJoachim Scholtyseck

DER BANK- UNDBÖRSENPLATZ ESSEN

Von den Anfängenbis zur Gegenwart

C.H.Beck

Zum Buch

Dass die internationalen Geldströme über Frankfurt laufen, ist allseits bekannt. Weitaus weniger weiß man über die regionalen Finanzzentren in Deutschland. Dabei bieten sie viele Vorteile: persönliche Kenntnisse des Umfelds, unmittelbare Kontakte zu den Entscheidern vor Ort und allgemein ein besseres Verständnis für die Geschäftskultur und die Marktchancen in der Region. Patrick Bormann und Joachim Scholtyseck zeigen, wie sich der Bank- und Börsenplatz Essen seit Beginn des 19. Jahrhunderts von seinen lokalen Anfängen zu einem erstaunlich vielgestaltigen und facettenreichen Ort für Bankinstitute entwickelte, der für die Finanzierung des Ruhrgebiets eine kaum zu unterschätzende Bedeutung erlangte. Die Geschichte der Essener Börse, der regionalen Industriebanken, der zahlreichen örtlichen Privatbanken, der Sparkassen und anderer Institute von den Anfängen bis heute vermittelt das Bild einer bislang weitgehend unbekannten dynamischen regional und überregional wichtigen Banklandschaft.

Über die Autoren

Joachim Scholtyseck ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bei C.H.Beck sind vom ihm zuletzt erschienen: Der Aufstieg der Quandts (22011), Die Geschichte der DZ BANK (zus. mit Timothy Guinnane u.a. 2013), Freudenberg (2016).

Patrick Bormann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Die Geschichte der DZ BANK (zus. mit Timothy Guinnane u.a. 2013).

Inhalt

Grußwort

Einleitung – Die Geschichte des Bank- und Börsenplatzes Essen

Die Anfänge der Essener Finanzwirtschaft 1800–1870

Stadt und Wirtschaft in Essen

Der Handel als Ursprung des Essener Privatbankwesens

Die Gründung der Essener Sparkassen

Die Essener Finanzwirtschaft im Deutschen Kaiserreich 1871–1914

Entwicklungstendenzen und Konkurrenzsituationen der Essener Finanzwirtschaft

Die Essener Börse als Kuxenhandelsplatz

Die Regionalbanken

Der regionale Branchenprimus – Die Essener Credit-Anstalt

Die kurzlebigen Konkurrenten – Essener Bankverein und Rheinische Bank

Die Privatbanken unter Druck

Die Sparkasse Essen

Die allgemeine Entwicklung während des Kaiserreichs

Die Essener Führungsrolle im Allgemeinen Deutschen Sparkassenverband

Die Essener Kreditgenossenschaften

Die Wohnungs- und Baufinanzierung in der expandierenden Stadt

Spar- und Baugenossenschaften

Die städtische Förderung des Hypothekarkredits

Private Hypothekenbanken

Die Essener Bankiers in der Stadtgesellschaft

Das Sozialgepräge der Essener Bankiers

Die jüdischen Bankiers

Der Essener Bank- und Börsenplatz im Ersten Weltkrieg und während der Inflationszeit 1914–1923

Die allgemeine politische und wirtschaftliche Entwicklung in Essen

Die Essener Finanzwirtschaft in den Jahren der Krise

Zwischen den Krisen – Die Weimarer Konjunktur 1924–1929

Die Verdrängung der Regionalbanken durch die Berliner Großbanken

Die Eröffnung von Großbank-Filialen in Essen

Die Fusion der Essener Credit-Anstalt mit der Deutschen Bank 1925

Die Kettwiger Bank als Gegenmodell

Der Werdegang der Essener Privatbanken

Sparkassen, Genossenschafts- und Arbeitnehmerbanken

Die Essener Sparkasse

Die Essener Bank

Die Deutsche Volksbank

Die Essener Börse zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die Essener Banken während der Weltwirtschafts- und Bankenkrise

Der Zusammenbruch der Essener Bank

Die Existenzkrise des Bankhauses Simon Hirschland

Ein scheinbar hoffnungsloser Fall – Die Deutsche Volksbank

Der Bankenplatz Essen im «Dritten Reich»

Terror, Manipulation und Kollaboration – die Nationalsozialisten bemächtigen sich der Stadt Essen

Essen im nationalsozialistischen «Wirtschaftsaufschwung»

Das Ende der Essener Börse

Das Schicksal der Essener Gewerkschaftsbanken und die Schaffung der «National-Bank»

Die Sparkasse Essen

Die Essener Kreditgenossenschaften

Die Essener Filialen der Großbanken und weitere Privatbanken in Essen

Eine Bank mit öffentlichem Auftrag: Die DBB

Der Betriebsalltag im «Dritten Reich»

Die Verdrängung der jüdischen Banken aus der Essener Finanzwelt

Die Essener Banken im Zweiten Weltkrieg

Die Essener Banken seit 1945

Das Kriegsende in Essen und die Bankenwelt – keine «Stunde Null»

Die Entnazifizierung bei den Essener Banken

Essen als Trümmerlandschaft: Ein schwieriger Neubeginn

Herausforderungen und Erfolge für die Essener Banken: Die Währungsreform 1948 und das «Wirtschaftswunder»

Bauen für Essen: Banken beim Wiederaufbau und der Entwicklung der Stadt

Die Sparkasse Essen nach 1945

Die Sparkasse Essen im Aufwind

Die Sparkasse Essen und die Girozentrale – Symbiose oder Konkurrenz?

Die Großbanken in Essen nach 1945

Nicht nur ein Bankplatz für die Großbanken: Essener Privatbanken nach 1945

Einheit in Vielfalt: Kreditgenossenschaften und Gewerkschaftsbanken

Im Zeichen des Massengeschäfts: Kleinkredit, Volksaktien und die Essener «Teilzahlungsbanken»

Strukturwandel und Wirtschaftskrisen

Der Wandel der Arbeitswelt und neue Geschäftsfelder: Der Abschied von den «Lohnzetteln» und der Einzug des Computers

Episoden in den Zeiten der Privatbank-Krisen: Der Niedergang des Bankhaus Carl Chr. Gossenberg & Co. KG und die Fusion von Burkhardt & Co. mit C. G. Trinkaus

Umbrüche: Die Essener Banken von der Wiedervereinigung bis zur Griechenlandkrise 2010/11

Ein Ausblick: Von der Finanzkrise des Jahres 2008 bis heute

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Einleitung – Die Geschichte des Bank- und Börsenplatzes Essen

Die Anfänge der Essener Finanzwirtschaft

Die Essener Finanzwirtschaft im Deutschen Kaiserreich 1871–1914

Der Essener Bank- und Börsenplatz im Ersten Weltkrieg und während der Inflationszeit 1914–1923

Zwischen den Krisen – Die Weimarer Konjunktur 1924–1929

Die Essener Banken während der Weltwirtschafts- und Bankenkrise

Der Bankplatz Essen im «Dritten Reich»

Die Essener Banken seit 1945

Ein Ausblick: Von der Finanzkrise des Jahres 2008 bis heute

Archivverzeichnis

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenverzeichnis

Banken- und Unternehmensverzeichnis

Grußwort

Bankhistorische Forschungen haben in den letzten Jahrzehnten signifikant an Bedeutung gewonnen. Waren es in den 1980er- und 1990er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunächst eher allgemein gehaltene Darstellungen der Banken- und Sparkassengeschichte, haben sich bis heute im Wesentlichen drei Forschungsstränge herausgebildet: Der erste nimmt Bezug auf die Entwicklungsgeschichte einzelner Institute und knüpft hierfür überwiegend an Jubiläen an. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen dabei zumeist das unternehmensindividuelle Verhalten und die organschaftliche Schuld während der Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Der zweite Forschungsstrang stellt das Leben und Wirken großer Bankiers in den Mittelpunkt. Beispiele hierfür sind die Arbeiten von Lothar Gall zu Hermann Josef Abs (2004), Avraham Barkai zu Oscar Wassermann (2005) oder die vom Institut für bankhistorische Forschung 2016 herausgegebenen biographischen Skizzen aus der Geschichte des Kreditgenossenschaftswesens. Der dritte und letzte Schwerpunkt bezieht sich auf die Erforschung wesentlicher Finanzplätze in Deutschland. Diese Entwicklung begann 1986 mit der von Manfred Pohl verfassten Hamburger Bankengeschichte und setzte sich 1999 mit der historischen Untersuchung des Finanzplatzes Frankfurt durch Carl-Ludwig Holtfrerich fort. Es folgten Berlin, unter anderem durch das von Hans Pohl herausgegebene Sammelwerk (2002) sowie eine durch Annett Ullrich an der Universität Potsdam 2005 geschriebene Dissertation. Weitere Geschichten anderer deutscher Finanzplätze folgten schon bald.

Die Geschichte des Bank- und Börsenplatzes Essen stand allerdings bislang nicht im Forschungsinteresse. Trotz der 1921 in Berlin durch die Christliche Gewerkschaftsbewegung erfolgten Gründung unseres Hauses lag es für uns als zwischenzeitlich in Essen beheimatetes Institut auf der Hand, im Rahmen unseres kulturellen und gesellschaftlichen Engagements die facettenreiche Geschichte des Finanzplatzes Essen unabhängig untersuchen zu lassen. Dies vor allem deshalb, weil unsere NATIONALBANK als in der Mitte der Gesellschaft verankertes und Nordrhein-Westfalen besonders verbundenes Institut ein vitales Interesse an der zutreffenden Einordnung der historischen Relevanz ihres Bank- und Börsenplatzes hat. Viel zu häufig wird die Stadt in ökonomischer Hinsicht und kommunikativ-medialer Wahrnehmung auf Kohle, Stahl und Energieerzeugung reduziert. Das spiegelt ein Bild wider, das der historischen Bedeutung des Finanzplatzes nicht gerecht wird. Diese Wahrnehmungsdissonanz zu beseitigen, war uns ein Anliegen. Die vorliegende Untersuchung leistet dazu einen wichtigen Beitrag.

Die Idee zu dieser Dokumentation entstand im Anschluss an die Erforschung der Geschichte unserer NATIONALBANK, mit der wir Joachim Scholtyseck aus Anlass unserer neunzigjährigen Gründung betraut hatten. Das Buch wurde 2011 vorgelegt und erscheint zwischenzeitlich in der 2. Auflage. Nun geht es um die Geschichte des Bank- und Börsenplatzes Essen. Die Analyse der beiden Autoren Joachim Scholtyseck und Patrick Bormann beruht ebenfalls zum ganz überwiegenden Teil auf unveröffentlichtem, noch nie ausgewertetem Quellenmaterial. Allein dies erfüllt den gemeinsam gestellten Anspruch, einen wissenschaftlich profunden Beitrag zur bankhistorischen Grundlagenforschung zu leisten. Gleichwohl handelt es sich um keine abschließende Untersuchung. Die Autoren betten die Geschichte und die Entwicklung des Finanzplatzes Essen in die historischen Zusammenhänge ein. Spätere Arbeiten werden vermutlich einen Fokus auf die vielschichtigen wirtschafts- und gesellschaftspolitisch wirkmächtigen Zusammenhänge legen, die für Essen als einer der ökonomischen Motoren sowohl der Weimarer Republik als auch der jungen Nachkriegsbundesrepublik so bezeichnend gewesen sind.

Bei diesem Forschungsvorhaben war, ebenso wie bei der Untersuchung der Geschichte der NATIONALBANK, die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Historiker eine conditio sine qua non unserer Entscheidung, den Auftrag zu erteilen und die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Joachim Scholtyseck und Patrick Bormann sind hierfür Garanten und Gewährträger zugleich. Wir danken ihnen sehr, dass sie sich diesem Vorhaben gleichermaßen couragiert und außerordentlich engagiert gewidmet haben. Möge das Buch die Aufmerksamkeit finden, die der Bedeutung der Geschichte des Bank- und Börsenplatzes Essen zu Recht entspricht. Wir haben es initiiert und deshalb sehr gern ermöglicht.

NATIONALBANK Aktiengesellschaft

– Vorstand –

Einleitung – Die Geschichte des Bank- und Börsenplatzes Essen

Essen 1829, 1867, 1963.

Die Definition einer Bank ist verhältnismäßig einfach. Nach dem Gesetz über das Kreditwesen handelt es sich um Kreditunternehmen, wenn diese «Bankgeschäfte betreiben» und «der Umfang dieser Geschäfte einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert». Zu definieren, was ein Bank-, Börsen- und Finanzplatz ist, fällt schon nicht mehr so leicht.[1] Unbestritten sind Bank-, Börsen- und Finanzplätze – oder im angloamerikanischen Sprachgebrauch «financial centres» – ein Signum der modernen Arbeitswelt. Die dort gehandelten Produkte sind vielgestaltig: Sie umfassen in einem heutzutage diversifizierten globalen Kapitalmarkt Geld, Schulden, Versicherungen, andere Finanzdienstleistungen, aber auch Gold, Silber und andere Wertmetalle. Faktoren für einen erfolgreichen Bankplatz sind das Arbeitskräftepotenzial, infrastrukturelle Gegebenheiten und Kapitalangebote bzw. Finanzierungsmöglichkeiten, die schließlich eine «Sogwirkung» ausüben.[2]

Angesichts des fortwährenden Wandels – allein in den letzten 150 Jahren von der sogenannten Ersten zur Zweiten Globalisierung – ändert sich das Verständnis dessen, was in verschiedenen historischen Perioden unter einem Bankplatz verstanden worden ist.[3] Historisch betrachtet dienten Bankplätze, einem Stufenmodell von Charles P. Kindleberger folgend, zunächst den Anforderungen der Fürsten und des Adels, anschließend beförderten sie den wachsenden Handel, dienten daraufhin zunehmend den Bedürfnissen von Regierungen sowie den Notwendigkeiten des Transportsektors, indem sie den Kanal- und Straßen- sowie den Eisenbahnbau finanzierten. Schließlich waren und sind sie, in einer bis heute andauernden Phase, auch für Hypotheken- und Verbraucherkredite zuständig. Bankzentren ermöglichen somit den Transfer von Ersparnissen und Investitionen Einzelner, aber auch den Austausch von Kapital zwischen verschiedenen Orten. Finanzzentren sind volkswirtschaftliche «Knotenpunkte» des internationalen Geld- und Kapitalverkehrs, an denen sich Institutionen konzentrieren, deren Aufgabe es ist, die Geldwirtschaft in Gang zu halten: «Banken, Börsen, Versicherungen, Treuhandfirmen, Nachrichtenagenturen, Softwareschmieden, Beratungsunternehmen und Anwaltskanzleien».[4] Diese «Knotenpunkte» umfassen auch nicht-finanzielle Institutionen wie Anwaltskanzleien, Steuerberatungsbüros und andere Dienstleistungsfirmen. Die vorliegende Studie verzichtet aus pragmatischen Gründen auf die Betrachtung dieser Finanzdienstleister, Versicherungsvermittler und Agenturen und konzentriert sich auf Kreditinstitute mit Sitz in Essen sowie die überregionalen und internationalen Großbanken, die in der Stadt mit Zweigstellen oder Niederlassungen vertreten waren oder aktuell sind.

Kurz- wie langfristiger Zahlungsverkehr lässt sich am effektivsten abwickeln, so hat sich in einer jahrhundertelangen Praxis in der westlichen und zunehmend globalisierten Welt herausgestellt,[5] wenn dies von einem oder mehreren zentralen Orten aus erfolgt.[6] Auf diese Weise kann man eine hierarchische Definition von Finanzplätzen vornehmen: 1. lokale Finanzzentren («domestic financial centres»), 2. regionale Finanzzentren («regional financial centres»), die gegebenenfalls über die nationalen Grenzen ausgreifen können, 3. sog. «offshore centres» wie die Cayman Islands, die mit niedrigen Steuern und geringer Regulierung locken, sowie 4. globale Finanzzentren, die internationalen Bedürfnissen gerecht werden.[7] Staaten, die früh eine Zentralisierung erfahren hatten, wie Frankreich und Großbritannien, verfügten mit Paris und London eher über Bankplätze überregionalen Ranges als das durch Kleinstaaterei gekennzeichnete Deutschland, wo sich über Jahrhunderte hinweg konkurrierende regionale Finanzzentren wie Düsseldorf, Hamburg, München, Stuttgart, Köln, Leipzig, Frankfurt am Main und Berlin gegenüberstanden und sich den Rang streitig machten.[8] In Deutschland entstanden wirkliche zentrale Finanzplätze erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung.[9]

Beim Bankplatz Essen handelte es sich am Beginn des 19. Jahrhunderts noch um ein rein lokales Finanzzentrum, das sich aus dem Handel heraus entwickelte und dabei zwar erste regionale Vernetzungen knüpfte, die jedoch nahezu ausschließlich zur Finanzierung Essener Unternehmen dienten. Doch spätestens mit der Reichsgründung 1871, der Entstehung mittelgroßer Privatbanken und der Etablierung der Essener Credit-Anstalt als universeller Aktienbank entwickelte sich Essen zu einem Zentrum, das in die Region wirkte und einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung der Ruhrindustrie leistete.

Der Erfolg eines solchen Bankplatzes hing von zahlreichen Bedingungen ab: Neben der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte wird, mit am wichtigsten, «the potential for external savings» genannt.[10] Er bedarf aber auch einer starken Währung, einer funktionierenden Infrastruktur, er benötigt politische Stabilität, möglichst niedrige Zinsen auf Finanztransaktionen, möglichst geringe Staatsinterventionen und Regulierungen sowie die weitgehend liberale Ausgestaltung des Handelsumfelds.[11] An diesen Plätzen muss aber auch differenziertes technisches Know-how für Beratungszwecke zur Verfügung stehen.[12] Nicht zu vergessen ist der Faktor Kunst, Kultur und Unterhaltung, die einen Bankplatz attraktiv machen können, denn, um den Titel einer einschlägigen Festschrift zu zitieren, «Bankiers sind auch Menschen».[13] Bezeichnenderweise spielen im Nachhall der im Jahr 2016 diskutierten Frage, welcher Finanzplatz nach der «Brexit»-Entscheidung einen adäquaten Ersatz bzw. eine Ergänzung für London bieten könne – etwa Amsterdam, Paris oder Frankfurt am Main –, auch die Lebensqualität, die Verfügbarkeit von angemessenem und bezahlbarem Wohnraum, internationale Schulen sowie die Verkehrslage als Faktoren eine Rolle. Bank- und Finanzplätze müssen ständig darauf achten, attraktiv zu bleiben, denn der Wettbewerb in einer globalisierten Welt ist hart: In historischer Sicht muss man nur an Städte wie Venedig, Genua und Florenz bzw. in der Frühen Neuzeit an Brügge und Antwerpen erinnern, um sich zu vergegenwärtigen, wie schnell sich eine mühsam aufgebaute Reputation als Geld- und Handelszentrum unwiederbringlich verflüchtigen kann. Im 20. Jahrhundert ist Detroit ein erschreckendes Beispiel, wie rasch mit dem Niedergang von Finanzfunktionen auch ein Wohlstandsverlust einhergehen kann.

In einer Untersuchung des Bankplatzes Berlin wurde vorgeschlagen, auf die Bezeichnungen «Finanzplatz» bzw. «Bankzentrum» zu verzichten, weil andernfalls eine Analyse der Geld- und Kapitalmarktverhältnisse notwendig sei. Man solle lieber von einem «Bankplatz» sprechen als einem «Ort, an dem durch Banken und Bankiers Bankgeschäfte getätigt werden»; hierzu zählten alle diejenigen Kreditinstitute, «die diesem Platz seine Charakteristik gegeben und zu seinem Bedeutungszuwachs beigetragen haben».[14] Um diesem Missstand abzuhelfen, lohnt sich eine Definition der Umstände, die ausdifferenzierte Finanzmärkte wie etwa New York oder London ausmachen: erstens ein Geldmarkt mit Segmenten für weitreichende Handelsgeschäfte wie Anleihen und Schatzanweisungen, zweitens ein sowohl staatlicher wie privater Kapitalmarkt, der sich um die Distribution der Mittel sorgt, und schließlich drittens der Handel mit Rohstoffen und Währungen. Solche Zentren entwickelten sich zunächst regional. Sie konnten historisch und können aktuell, wenn die Umstände es erlauben, nationale und sogar internationale Dimensionen annehmen.[15]

Diese Definition eines geografisch verorteten internationalen Geld- und Kapitalmarkts ist, mit geringen Variationen, inzwischen fast Gemeingut geworden. Dabei lag der Fokus der Forschung meist auf den «global playern» der Finanz- und Bankplatzarena, obwohl regionale Plätze eine notwendige Ergänzung einer zentralisierten Finanzwirtschaft sind. Die Entstehung und das Fortbestehen regionaler Finanzplätze ist wesentlich das Resultat des Informationsvorteils, den diese dezentralen Orte haben: Sie können die Vorteile ausspielen, die sie – anders als die großen zentralen und notgedrungen anonymen Finanzplätze – in der Region bei Unternehmen und Verwaltungsbehörden haben: persönliche Kenntnisse des Umfelds, persönliche Kontakte zu den Entscheidern vor Ort und allgemein ein besseres Wissen um die Geschäftskultur und die Marktchancen auf der regionalen Ebene.[16]

Was bedeutet dies konkret für den Bankplatz Essen? Die Stadt- und Regionalgeschichte beschäftigt sich in der Regel mit Handel und Industrie sowie mit einzelnen Unternehmen, aber weniger mit der Finanzwelt. Selbst grundlegende Werke über Kapital und Märkte interessieren sich kaum für die geografischen Aspekte von Finanzplätzen.[17] Eine weiterführende Problematisierung dieses Umstands hat schon in den 1930er-Jahren der Betriebswirtschaftler Hanns Linhardt vorgenommen und zahlreiche Aspekte analysiert, die auch heute noch bedenkenswert sind. Man müsse sich mit dem beschäftigen, «was aus Folgerichtigkeit und Zufall, geographischer Lage, wirtschaftlicher und politischer Geltung zur Rolle als Finanzplatz geführt hat». Es müsse erklärt werden, so Linhardt weiter, «warum London Manchester überflügelt hat, genau so wie vorher Hamburg und Amsterdam, warum der deutsche Finanzplatz internationaler Bedeutung Berlin ist und nicht Frankfurt oder Essen, warum der amerikanische Finanzplatz nicht in Richmond und in Philadelphia liegt, wo sich die ersten Ansätze dazu finden, sondern in dem gänzlich neuen ‹New›-York. Das Gleiche wäre zu erklären bezüglich Paris gegenüber Lyon, bezüglich Mailand gegenüber Florenz usw. usw. Hier handelt es sich um reale Geschehnisse, nicht um begriffliche Erörterungen. Der Finanzplatz hat Schicksal, er erlebt Aufstieg und Niedergang – siehe Augsburg, Venedig, Frankfurt, Amsterdam, Wien –, der Geld- und Kapitalmarkt hat eine Aufgabe, die ihm zugedacht ist, und diese erfüllt er mehr oder weniger, er funktioniert, gut oder schlecht, während der Finanzplatz existiert.»[18] Bei der Untersuchung des Bankplatzes Essen wird es daher immer auch um das Verhältnis zu anderen Plätzen gehen, namentlich Köln oder Düsseldorf als Konkurrenten in der Rheinprovinz, oder Berlin und Frankfurt als die beiden zentralen Bankplätze des Deutschen Reichs beziehungsweise der Bundesrepublik. Auch der Bankplatz Essen hat Auf- und Niedergang erlebt, hat Hochphasen oder Phasen, in denen er lediglich am Rand des Geschehens steht.

Klärungsbedürftig ist die Frage nach den räumlichen Grenzen: Ist nur Essen als Stadt gemeint, oder sind auch die Einzugsgebiete von Belang, eventuell sogar das ganze Ruhrgebiet mit seinen Industrie- und Handelskammerbezirken Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Krefeld und Münster? Üblicherweise wird eine pragmatische Definition für einen Bankplatz gewählt, als ein Gebiet, das durch äußere Grenzen abgesteckt ist und in dem «Finanzdienstleistungen produziert und angeboten werden», die sich «mit der Annahme, Anlage und Vergabe finanzieller Mittel» befassen.[19] Auf der anderen Seite braucht es eine kritische Masse, um überhaupt agieren zu können: «Die Ansammlung von einer Sparkasse, einer Volksbank und drei Bankfilialen an dem Hauptplatz einer Kleinstadt macht diese nicht zum Finanzplatz!»[20] Bankplätze sind nicht «Plätze» im geografischen Sinn, sondern eher im übertragenen Sinn zu verstehen. Räumliche Nähe war stets vorteilhaft, auch wenn in der heutigen Zeit des Echtzeithandels und der elektronischen Finanzströme diese Vorzüge an Bedeutung verloren haben.[21] Es kommt zugleich auf die jeweiligen Perioden und Perspektiven an, denn bankmäßige Leistungen sind grundsätzlich nicht lokal gebunden und «außerhalb des Reviers domizilierende Institute machen Geschäfte im Revier und umgekehrt».[22] Die Skaleneffekte der Ruhrindustrie waren zweifellos ein Motiv für die Zentralisierung der Bankgeschäfte. Hinzu trat im Sinne von Adam Smith die «unsichtbare Hand», die gewissermaßen in Eigenregie und automatisch angesichts des vorhandenen Kapitalstocks zu einer Zentralisierung führte. In bestimmten Phasen der Essener Geschichte bedienten sich lokale Akteure der Finanzinstrumente, um vom eigentlichen Banken- und Dienstleistungszentrum aus zu expandieren, etwa an den Niederrhein, aber, beispielsweise in der NS-Zeit, auch jenseits der Grenzen in die Niederlande und versuchsweise sogar bis Italien. Dieses Phänomen ist nicht sonderlich verwunderlich. Selbst eine typische Regionalbank wie die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank mit einer Beschränkung auf den bayerischen Raum unterhielt beispielsweise seit den 1920er-Jahren Zweigbüros in außerbayerischen Städten, nämlich in Berlin, Düsseldorf und Leipzig, was jedoch «nichts an der eindeutig bayerischen Ausrichtung des Bankgeschäfts» änderte.[23] Zweigstellen konnten und waren im Einzelfall im Positiven wie im Negativen ausschlaggebend für das Schicksal von Banken, und so sind sie auch in diese Betrachtung des Bankplatzes Essen einbezogen, der ansonsten pragmatisch innerhalb der heutigen Stadtgrenzen untersucht wird.

Die Region mit ihrer ausgeprägten Industrielandschaft bestimmte die bis heute diversifizierte und im starken Wettbewerb miteinander stehende Essener Bankenlandschaft. Neben den Privatbankiers, die zunächst ihren Schwerpunkt im Handelsgeschäft hatten, waren es zunehmend Industrielle des Reviers, die bei der Formierung des Bankplatzes mitwirkten und ihm eine ganz eigene Prägung gaben. Die häufig beschworenen Pfadabhängigkeiten spielen hier eine Rolle: Die Region Essen konnte trotz mannigfacher Krisen und Brüche immer wieder an bestehende Strukturen, und seien sie nur geistiger Art, anknüpfen.

Historisch variiert die Zahl der in Essen tätigen Banken vom Einmannbetrieb bis zu Einrichtungen mit mehreren hundert Beschäftigten, die seit dem 19. Jahrhundert das klassische deutsche Drei-Säulen-Prinzip spiegeln. Essen war und ist das Gebiet für private Geschäftsbanken, für öffentlich-rechtliche Kreditinstitute und für Kreditgenossenschaften, die hier nach einem schwierigen Start im 19. Jahrhundert sogar einen Schwerpunkt haben, während der Sektor der Privatbanken in den letzten Jahrzehnten signifikant an Marktanteilen verloren hat. Dem spezifischen Charakter des Finanzsektors im Ruhrgebiet entsprechend verstanden und verstehen sich viele Banken und Sparkassen dezidiert als Regionalbanken, also als Universalbanken, «deren Sitz innerhalb Deutschlands liegt und deren Geschäftsgebiet ausgeprägt regional begrenzt bzw. konzentriert ist».[24] Ausnahmen bestätigen auch in diesem Fall die Regel: Manche Regionalbanken beschränkten sich, selbst wenn sie über weniger Ressourcen verfügen als z.B. Großbanken oder in neuerer Zeit die Direktbanken, zu bestimmten Zeiten nicht immer auf ein abgegrenztes Geschäftsgebiet, das jedoch immer das Zentrum ihres Wirkens bleibt. Sparkassen agieren regional beschränkt, weil sie durch die Sparkassengesetze der Länder hierzu angehalten sind – allen Konsolidierungstendenzen im Sparkassensektor zum Trotz, die jüngst zu zahlreichen Sparkassenverbünden geführt haben.

Verkehrstechnisch günstig gelegene Städte haben bei der Herausbildung von Bankplätzen einen Standortvorteil. Hier finden sich in der Regel nicht nur auf den Finanzhandel spezialisierte Unternehmen, sondern auch gut miteinander vernetztes Fachpersonal. Aus diesem Grund sind Bankplätze häufig entlang von Handelsstraßen oder Flüssen entstanden, wo Städte «mit wohlhabendem Bürgertum und […] wirtschaftlich prosperierendem Hinterland» weitere Vorteile boten.[25] Auch ein Verkehrsflughafen ist wichtig, aber Essen gelang es zu Beginn des Jet-Flugzeugalters trotz mancher Anstrengungen niemals, den wenig genutzten Flughafen Essen-Mülheim als ernsthafte Konkurrenz zum Düsseldorfer Flughafen in Lohausen aufzubauen, der jedoch für Essener Geschäftsleute vergleichsweise gut erreichbar ist. Essen lag ebenfalls an einer bedeutenden Handelsstraße, dem bereits in vorrömisch-germanischer Zeit etablierten «Hellweg», der sich zugleich mit Handelswegen in nord-südlicher Richtung kreuzte. Dennoch war die Bedeutung Essens als Handelsstadt vor der Entwicklung der Montanindustrie gering.

Der Flughafen Essen-Mülheim in den 1930er-Jahren.

Diese frühe Abhängigkeit von der Entwicklung der Montanindustrie ist ein wesentlicher Grund für die spezifischen Besonderheiten, die den Bankplatz Essen von anderen regionalen Zentren unterscheidet. Als er sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam entwickelte, musste er sich als Nachzügler neben bereits etablierten regionalen Plätzen wie Köln und Düsseldorf behaupten. Dieser verzögerte Prozess verursachte im Vergleich mit anderen Finanzplätzen zahlreiche Verwerfungen. Die Essener Börse, die seit 1905 mit der Düsseldorfer Börse eng kooperierte, entwickelte sich niemals wirklich zu einer vollwertigen und ebenbürtigen Börse, dennoch konnte sie sich unter Ausnutzung ihres außergewöhnlichen Wirtschaftsumfelds als Haupthandelsplatz für Kuxe etablieren, einem spezifischen Finanzinstrument des Bergbaus. Die vergleichsweise geringe Bedeutung von Privatbanken ist wohl ebenfalls in erster Linie auf diese Spätentwicklung zurückzuführen. Andernorts hatte das Privatbankwesen eine wesentlich ältere, auf Hoffaktoren oder Handelszentren zurückgehende Tradition. Die einzige Privatbank Essens, die über mehrere Generationen hinweg von zumindest regionaler Bedeutung war, das Bankhaus Simon Hirschland, wurde erst 1841 gegründet. Weil Essen zudem niemals ein politisches Machtzentrum war, spielte der Handel mit staatlichen Papieren wie Staatsanleihen nur eine äußerst untergeordnete Rolle, lediglich Kommunalpapiere hatten einige Bedeutung. Der Schwerpunkt lag vielmehr auf der Industriefinanzierung, die im Ruhrgebiet seit der Phase des Ausbaus des Eisenbahnschienennetzes und des industriellen «take-off» eine besondere Bedeutung erlangte. Diese Ausrichtung auf die regionale Wirschaft ermöglichte eine tiefe Verwurzelung innerhalb des Reviers, aus der der Bankplatz noch heute seine Kraft zieht, die jedoch auch wesentlich dafür verantwortlich war, dass Essen, anders als Köln bzw. Düsseldorf, aber auch Hamburg und Berlin bzw. heute Frankfurt am Main, nur eine geringe internationale Bedeutung gewinnen konnte.

Aus diesen Grundvoraussetzungen ergibt sich die weitgehend chronologische Schwerpunktsetzung dieses Bandes. Im Gegensatz zu traditionellen Bankplätzen wie beispielsweise Frankfurt oder Köln existierten in Essen am Beginn des 19. Jahrhunderts noch keine Bankhäuser. Erst 1814 siedelte sich mit T. C. Sprenger ein kleines Bankgeschäft in Essen an, das zunächst nur als ein Nebenerwerbszweig des Warenhandels- und Speditionsgeschäfts geführt wurde. In den 1830er-Jahren folgte die Wollhandlung Wilhelm & Conrad Waldthausen, deren Finanzgeschäfte sich aus dem Hauptgeschäft heraus entwickelten. Die 1841 gegründete Simon Hirschland Bank fungierte als Nebenerwerb eines Textil- und Lebensmittelhandels. Der Schwerpunkt dieser frühen Privatbanken lag im Wechselgeschäft, vor allem Simon Hirschland betätigte sich jedoch auch im Wertpapierhandel und entwickelte sich zur bedeutendsten Essener Privatbank. Mit der Ausbreitung des Bergbaus und der Eröffnung der Essener Börse in den 1860er-Jahren etablierten sich weitere Privatinstitute, die vor allem Effektenhandel betrieben. In die frühe Entwicklungsphase des Bankplatzes fiel auch die Gründung der Sparkasse 1841 und der Genossenschaftsbanken in den 1860er-Jahren. Für diesen Zeitraum geht es zunächst auch darum zu analysieren, welche Rolle das sich langsam konturierende Finanz- und Banksystem für die sich aus dem Handel entwickelnde örtliche Industriefinanzierung gespielt hat. Die Entstehung eines Sparkassennetzes im Essener Raum seit den 1840er-Jahren verweist in diesen Jahren zugleich auch auf den Aspekt der Stadtentwicklung, die bei aller regionalen Vernetzung ebenfalls zu den Aufgaben eines Bankplatzes gehört.

Das Ende der territorialen Zersplitterung Deutschlands durch Bismarcks «Revolution von oben» 1870/71 hatte schließlich erhebliche Auswirkungen auf die Essener Geschäfte. Das Münzgesetz und die Gründung der Reichsbank gehörten ebenso zu den innovativen Elementen wie die Novellierung des Aktiengesetzes und die Schaffung der Reichsgewerbeordnung. Die insgesamt sieben Währungsgebiete – und sage und schreibe 33 Notenbanken – fanden mit einem Federstrich ein Ende und hatten einen atemberaubenden «Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft» zur Folge: «des großen Marktes, des freien Wettbewerbs, des Kapitalismus, der Mobilität, des Leistungsprinzips, gegen alle ständischen und bürokratischen Beschränkungen.»[26] Nach 1870/71 setzten der Siegeszug der Aktienbanken und die Ausbildung eines Universalbankensystems ein, zugleich wurde aber auch die zentrale Rolle der Reichshauptstadt Berlin ein hemmender Faktor für die Entwicklung Essens zum erstrangigen Bank- und Börsenplatz. Um den steigenden Kapitalbedarf für die Schwerindustrie zu befriedigen, wurden im gesamten rheinisch-westfälischen Raum verschiedene Regionalbanken als Aktiengesellschaften gegründet, deren bedeutendste die 1872 eröffnete Essener Credit-Anstalt war, die sich in ständiger regionaler Konkurrenz mit Instituten wie dem A. Schaaffhausen’schen Bankverein und dem Barmer Bank-Verein befand, sich zugleich aber auch mit dem sich verstärkenden Engagement der Berliner Großbanken im Industrierevier auseinanderzusetzen hatte. Neben der Essener Credit-Anstalt gewannen zwischenzeitlich auch der Essener Bankverein und die Rheinische Bank eine größere regionale Bedeutung. Die Gründung von Aktiengesellschaften war in dieser Phase im gesamten Deutschen Reich üblich, in Essen lag die Initiative jedoch im Gegensatz zu anderen Bankplätzen weit stärker bei Unternehmern als bei Privatbankiers, die vor Ort relativ selten und vor allem nicht sonderlich finanzstark waren. Seit der Jahrhundertwende wurde das Angebot durch die Gründung von Spezialbanken ergänzt, beispielsweise Hypothekenbanken oder die gewerkschaftliche Deutsche Volksbank. Dieses Institut wurde zwar als Vereinsbank für deutsche Arbeit AG in Berlin gegründet, siedelte aber bald nach Essen um und war, nun unter dem Namen «Deutsche Volksbank AG», bis 1933 die zentrale Verwaltungsbank der christlich orientierten Arbeitnehmerverbände. Es fand also eine Diversifizierung des Bankensektors statt, allerdings sind die Geschäftsumfänge bei den Spezialbanken kleiner als bei den regionalen Aktienbanken.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg waren auch die Berliner Großbanken zunehmend in das Ruhrgebiet und Essen eingedrungen. Dies geschah zunächst oft auf dem Wege einer Kooperation, beispielsweise zwischen der Essener Credit-Anstalt und der Deutschen Bank. Bald wurden jedoch auch Filialen gegründet, meist durch Übernahme einer lokalen Privatbank. Die Essener Credit-Anstalt, die unter der Ruhrbesetzung 1923 und der Inflationskrise besonders gelitten hatte, ging als letzte traditionelle regionale Aktienbank Essens ebenfalls in der Deutschen Bank auf. Aufgrund der hohen wirtschaftlichen Bedeutung des Ruhrgebiets behielten die Filialen der Großbanken im Regelfall eine relativ hohe Eigenständigkeit, die sich jedoch bei steigendem Risiko eines konkreten Geschäftes schnell vermindern konnte.

An der Lindenallee entwickelte sich ein erkennbar konturiertes und auch in architektonischer Hinsicht markantes Bankenviertel, eine «Geldader der Ruhrmetropole», das sich bis heute in einem Dreieck zwischen Hauptpost, Waldthausenpark und Hirschlandplatz befindet. Mit der Essener Credit-Anstalt, der Disconto-Gesellschaft sowie der Mitteldeutschen Creditbank wurde Essen zu einem wichtigen Bankenstandort im Ruhrgebiet.

Der Erste Weltkrieg als «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts läutete eine Zeit der Krisen ein, die mit der Niederlage 1918 und besonders den Jahren der Hyperinflation bis 1923 das Essener Bankensystem erschütterte, aber auch manche Chance bot, die insbesondere die Simon Hirschland Bank zu nutzen suchte. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre, eine Finanz- und Bankenkrise bislang ungekannten Ausmaßes, veränderte mit seinen zahlreichen Bankpleiten und erzwungenen Fusionen die Essener Bankenlandschaft fundamental. Das Ende der Essener Börse im Jahr 1934 gehört ebenso noch zu diesem Kapitel wie manche bankenaufsichtsrechtliche Regulierungsmaßnahme jener Zeit. Die noch in der Krise erfolgende nationalsozialistische «Machtergreifung» bedeutete einen weiteren radikalen Schnitt. Banken- und Weltwirtschaftskrise hatten auch auf die Essener Bankenlandschaft dramatische Auswirkungen. Die Schließung der Börse Essen, reduzierte Geschäftstätigkeit der Institute, Unsicherheiten aufgrund der möglichen Schaffung von nationalsozialistischen «Gaubanken» und «Regionalbanken», die gewaltsame Schließung von Gewerkschaftsbanken, ein weiterer Rückgang der Privatbanken waren die weitreichenden Folgen. Alle jüdischen Bankhäuser wurden «arisiert» und liquidiert, lediglich die größte jüdische Privatbank, das Bankhaus Simon Hirschland, blieb erhalten und wurde als «arisches» Institut weitergeführt. Die Gewerkschaftsbanken wurden ebenfalls gewaltsam ausgeschaltet. Trotz der propagierten Regionalisierung des Bankwesens schmälerte dessen weitgehende Zentralisierung auf die Reichshauptstadt Berlin die Bedeutung des Bankplatzes Essen. Die oktroyierte gelenkte Marktwirtschaft mündete in einer weitgehenden «Gleichschaltung» des Essener Bankensystems, in dem die einzelnen Akteure, also öffentlich-rechtliche Kreditanstalten, Genossenschafts- und Privatbanken, zwar formal selbstständig blieben und sogar manche regionalen Handlungsspielräume behalten konnten, aber nun insgesamt den Interessen des NS-Systems dienten und zur «geräuschlosen» Aufrüstung und zur Kriegsfinanzierung beitrugen.

Der Rüstungsboom wurde von den Essener Kreditinstituten mitgetragen. Die Kriegsfinanzierung, auf die bald im Alltagsgeschäft eine deutliche Reduzierung des Filialnetzes der einzelnen Banken folgte, war die unerbittliche Konsequenz, bevor Essen mit einem vergleichsweise starken Zerstörungsgrad im Bombenkrieg eindrücklich die «Trümmergesellschaft» des untergehenden «Dritten Reiches» symbolisierte. Der Zweite Weltkrieg zerstörte zwar nicht die Grundstrukturen des Essener Bankensystems, aber Einberufungen, Banken- und Filialschließungen sowie Bombenangriffe brachten schließlich das endgültige Aus für zahlreiche vor allem kleinere Essener Kreditinstitute. Die angebliche «Stunde Null» des Jahres 1945 war dennoch eine weniger starke Zäsur für den Bankplatz, als man annehmen möchte, denn viele Institute öffneten, wenn auch aus bescheidenen Anfängen heraus, wieder ihre Pforten. Entscheidender war in mancher Hinsicht die Währungsreform des Jahres 1948 und der wenig später einsetzende Boom des «Wirtschaftswunders». Mehrere mit- und gegenläufige Tendenzen wurden noch in der Phase dieses ungeahnten Wiederaufstiegs wirksam: das kontinuierliche Wachstum des Sparkassensektors, der sich jenseits der angestammten Bereiche neue Geschäftsfelder erschloss; ein bemerkenswerter Trend zum Privatkundengeschäft, verbunden mit technologischen Innovationen, die das Bankgeschäft geradezu revolutionierten; ein deutlicher Strukturwandel des Ruhrgebiets infolge der Krisen der Eisen- und Stahlindustrie bzw. des Steinkohlenbergbaus und die bemerkenswerte Expansion des tertiären Sektors mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Essener Bankenlandschaft: «Ruhrbarone», eine nicht ganz zufällige Bezeichnung für die mächtigen Unternehmer vor 1945 und selbst noch in den 1950er-Jahren, mochte es zwar noch geben, aber sie waren weniger sichtbar. Vor dem Hintergrund der stabilen Aufwärtsentwicklung der Bundesrepublik – die Stichworte Deutschland AG und die Boomphase nach der Wiedervereinigung mögen an dieser Stelle genügen – war der Bankplatz Essen stark genug, um strukturelle und konjunkturelle Krisen bis heute zu meistern und auch gegenüber den seit dem Mittelalter etablierten Konkurrenten am Handels- und Finanzstandort Köln und dem «Newcomer» in der Landeshauptstadt Düsseldorf zu bestehen – all dies eingedenk der Tatsache, dass Finanzplätze sich auch auflösen und abwandern können und zudem in einer global vernetzten Welt und angesichts der «Virtualisierung» der Bankgeschäfte die Frage nach der Notwendigkeit eines «geografisch» vorhandenen Finanzplatzes gestellt wird.[27] Nach der Unsicherheit, die infolge der Kriegszerstörungen, der Krupp-Demontagen und der Einschränkungen des Kreditgeschäfts bis zur Währungsreform 1948 die frühen Nachkriegsjahre kennzeichneten, war der Neuanfang geprägt von einem kontinuierlichen Aufschwung im Zeichen des «Wirtschaftswunders», in der die Eisen- und Stahlindustrie den Essener Banken eine solide Erholung und forciertes Wachstum ermöglichte. Der Boom des Konsumgeschäfts mit bislang weitgehend ungekannten Finanzierungen – vom Auto über Möbel bis zu Immobilien – führte vor dem Hintergrund der Ausweitung des Privatkundensegments zu bedeutenden Geschäftsausweitungen, zur Eröffnung zahlreicher Filialen und Niederlassungen und sogar zur Entstehung neuer Bankhäuser wie der Gallinat Bank und anderen Instituten, die sich ebenfalls dem Kleinkredit öffneten.

Die Festigung und Konsolidierung der Essener Bankenlandschaft – und Neugründungen wie etwa die Bank im Bistum Essen – in einer Phase einer relativ sorgenfreien Entwicklung fanden vor dem Hintergrund einer langfristigen Strukturkrise des Ruhrgebiets und insbesondere des Steinkohlenbergbaus statt. Dass sich die meisten Essener Banken trotzdem behaupten konnten, war vor allem der Strategie zu verdanken, sich weiterhin auf den regionalen Bereich zu beschränken und nicht der Versuchung zu erliegen, die vergleichsweise gute ökonomische Gesamtsituation zu einer nationalen oder gar internationalen Expansion zu nutzen – Verlockungen, denen andere Banken an Rhein und Ruhr nicht widerstanden, die später aufgrund ihrer finanziellen Überbürdung zum Teil von anderen Bankinstituten übernommen wurden.

Die Wiedervereinigung 1990 und die Einführung des Euro hatten für das Geschäft der Essener Banken, das durch solides Wachstum geprägt war, weniger Konsequenzen, als man annehmen könnte. Nimmt man lange Linien in den Blick, ist die Veränderung der Bankenlandschaft Essens im neuen Jahrtausend wenig dramatisch: Die spezifische Entwicklung im Kontext der Entwicklung Essens, der Finanzregion Ruhrgebiet und Deutschlands bleibt durch Kontinuität geprägt. Die Finanzkrise der Jahre seit 2007 hat zu konsequenten Bemühungen beigetragen, sich auch in Essen auf die neuen veränderten Anforderungen einzustellen. Die damit verbundenen strategischen und operativen Entscheidungen der Essener Banken haben häufig dazu geführt, zentrale Steuerungsfunktionen von operativen Vertriebsaufgaben zu trennen. In einem soliden finanziellen Umfeld bleiben «Mergers & Acquisitions», Eröffnung und Schließung von Zweigstellen und Filialen in Essen ein Signum der Zeit und zeigen die Lebendigkeit des Bankplatzes Essen.

Die Forschungslage zur Essener Bankengeschichte ist disparat. Für die Jahre bis zur Reichsgründung 1871 stehen im Grunde lediglich einige wirtschaftshistorische Arbeiten – insbesondere von den beiden lokalen Wirtschaftshistorikern Walther Däbritz und Karl Mews – aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Verfügung, in denen noch das kollektive Gedächtnis der Essener Stadtgemeinde tradiert wurde. Die Geschichte der 1872 gegründeten Essener Credit-Anstalt als das bedeutendste Institut des Platzes ist durch eine Festschrift anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bank 1922 in einer für das Genre ungewöhnlich tiefgehenden Weise analysiert worden.[28] Das Archiv der Deutschen Bank, in der die Essener Credit-Anstalt aufging, die aber auch zuvor bereits intensive Geschäftskontakte mit der Regionalbank pflegte, gibt nicht nur weiteren Aufschluss über die Geschicke dieser Bank, sondern immer wieder auch über Entwicklungen anderer, im Industriegeschäft engagierter Banken. Über die im Stadtarchiv Essen aufbewahrten Bestände ließen sich darüber hinaus Eindrücke zu vielen kleinen Banken gewinnen. Oftmals liegen jedoch ausschließlich Geschäftsberichte vor, die stets nur dasjenige verraten, was der Vorstand eines Instituts preisgeben wollte, und so lassen sich viele Banken nur anhand kurzer Impressionen beschreiben, die eine echte Analyse nicht zulassen, aber doch eine Vorstellung von der Vielgestaltigkeit des Bankplatzes vermitteln. Für den Abschnitt nach 1933 gilt, dass manche Vorgänge, beispielsweise die «Arisierungen», inzwischen befriedigend rekonstruiert werden können. Andererseits klaffen noch erhebliche Lücken, weil bis heute nur die National-Bank sowie der Nachfolger von Trinkaus & Burkhardt ihre Archive geöffnet und für eine umfassende historische Analyse gesorgt haben. Zum Teil kann man auf Geschäftsberichte zurückgreifen, zum Teil auf Material in den verschiedenen Archiven. Allgemein gilt jedoch der Befund, den Ralf Ahrens im Jahr 2016 festgestellt hat: «Wir wissen fast nichts über die Rolle der Banken bei strategischen Personalentscheidungen in der Industrie, die immerhin eine Kernfunktion von Aufsichtsräten sind. Wir wissen inzwischen viel über die Kreditpolitik der Großbanken bei ‹Arisierungen› und Rüstungsgeschäften, aber sehr wenig über den Zusammenhang zwischen Aufsichtsratspräsenz, Kreditvergabe und Investitionsentscheidungen in den späteren Jahren. Und schließlich fehlt es für diese Zeit an substanziellen Zahlen über die Industriebeteiligungen der einzelnen Banken, vor allem aber an Wissen, wie mit diesen Beteiligungen umgegangen wurde.»[29]

Das Buch wurde von zwei Autoren verfasst, die in enger Abstimmung jeweils einen eigenen Zeitraum bearbeitet haben. Die Entwicklung des Bank- und Börsenplatzes Essen bis zum Ende der Weimarer Jahre verantwortet Patrick Bormann, während die Entwicklung seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und in der Bundesrepublik von Joachim Scholtyseck geschildert wird.

Stadtplan Essens von 1823.

Die Anfänge der Essener Finanzwirtschaft 1800–1870

Stadt und Wirtschaft in Essen

Bis in das 19. Jahrhundert hinein war Essen eine ländliche Kleinstadt mit etwa 3500 Einwohnern, deren Manufakturbetriebe in der Frühen Neuzeit zunächst auf die Herstellung von Pistolen und Gewehren spezialisiert waren, bevor im 18. Jahrhundert das Textilgewerbe in den Vordergrund trat. Um die Jahrhundertwende zeichnete sich die Stadt durch einen relativ hohen Anteil an Händlern aus. 1807 gab es immerhin 43 Kaufleute und 33 Krämer.[1] Trotzdem war Essen eine arme Stadt. In einem Magistratsbericht der damaligen Zeit heißt es: «Industrie und Handel sind namenlos unbedeutend. – Handel und Fabrikwesen sind erbärmlich, und ein Haus stürzt nach dem andern.»[2] Politisch war die napoleonische Zeit für das bislang unabhängige Essen ebenso wechselhaft wie für den Rest Europas. Zunächst wurde die Stadt 1803 infolge des Reichsdeputationshauptschlusses erstmals unter preußische Herrschaft gestellt, nach der preußischen Kriegsniederlage 1806 übernahm Frankreich die Oberherrschaft. Erst mit der Eroberung durch preußische Truppen am 11. November 1813 ging Essen dauerhaft in preußische Regierungsgewalt über.[3]

Bevor die Montanindustrie das Ruhrgebiet prägte, entwickelte sich die Textilwirtschaft zum wichtigsten Wirtschaftszweig des Essener Raums. Die Ursprünge können bis ins frühe 15. Jahrhundert zurückverfolgt werden, als ein Wollenamt zur Förderung des Webehandwerks gegründet wurde und die Ansiedlung von Tuchwebern an der Ruhr anregte. Während sich die Tuchproduktion auf die heute eingemeindeten Gebiete Werden und Kettwig konzentrierte, war Essen selbst ein Zentrum des Wollhandels.[4] Die Entwicklung zur Industriestadt nahm hingegen erst in den 1840er-Jahren ihren Ausgang, als der Bergbau am Hellweg und an der Emscher vorangetrieben wurde. Mit der Gründung der Handelskammer Essen 1840 und der Einrichtung einer Sparkasse 1841 erfolgten erste wirtschaftsorganisatorische Schritte, die für spätere Jahrzehnte von hoher Bedeutung waren. Auch das bedeutendste Privatbankhaus der Essener Geschichte, die Simon Hirschland Bank, hatte in diesem Jahrzehnt seinen Ursprung. Die spätere wirtschaftliche Bedeutung der Stadt war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht abzusehen und auch das Stadtbild änderte sich zunächst kaum, da sich die Entwicklung weitgehend auf den Landkreis beschränkte, während die Einwohnerzahl Essens noch immer deutlich unter 10.000 blieb.[5]

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Essen zu einem regionalen Wirtschafts- und Verwaltungszentrum. Hierzu gehörte auch der 1858 gegründete Bergbau-Verein.

Essen stand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Schatten des benachbarten Mülheim, doch das änderte sich bald. Als Ende 1839 die Gründung eines Handelskammerbezirks für Mülheim, Essen, Werden, Kettwig und Steele diskutiert wurde, sprachen sich sowohl Mülheim als auch Essen für eine jeweils eigene Handelskammer aus.[6] Die Essener Kaufleute und Gewerbetreibenden erklärten selbstbewusst: «Wir sind nämlich der Meinung, daß mit Rücksicht auf die Bevölkerungszahl von 6000, welche durch den vermehrten Kohlenhandel noch sehr in Zunahme begriffen ist, sowie in Beziehung auf die hier bestehenden bedeutenden Woll-, Material- und Weinhandlungen, dann Gußstahl-, Eisen- und Lederfabriken etc. hierselbst ebensowohl und mit gleichem Rechte eine eigene Handelskammer konstituiert werden möge, wie dies in Duisburg geschehen ist.»[7] Entgegen diesem Wunsch wurden allerdings Kettwig und Werden mit Essen in einer Handelskammer zusammengeschlossen. Eine der ersten erfolgreichen Eingaben der neuen Institution an den Finanzminister galt der Beibehaltung der Stempelsteuerfreiheit für kaufmännische Wechsel unter 50 Talern, die einen wichtigen Anteil am Geschäft der Essener Privatbankiers hatten.[8]

Steinkohlenbergbau im Ruhrtahl vor dem 19. Jahrhundert.

Die großen bergbaulichen Unternehmungen ließen Essen bald zu einer Industriestadt wachsen. Schon vor dem 19. Jahrhundert war in der Region Bergbau betrieben worden, jedoch stand das Ruhrgebiet technisch deutlich hinter dem frühneuzeitlichen Erzbergbau in Sachsen zurück und lag daher weitgehend brach. Kapital wurde nicht gebunden, vielmehr betrieben die Bauern den Abbau als Saisongewerbe.[9] Dies änderte sich, als in den 1830er-Jahren der Unternehmer Franz Haniel an der Grenze zwischen Mülheim und Essen technisch den Durchbruch durch die Mergelschicht erreichte, unter der die tiefer liegenden Steinkohlenschichten lagerten. Obwohl die beiden Schächte «Franz» und «Kronprinz von Preußen» keinen wirtschaftlichen Erfolg darstellten, entfalteten sie eine starke Vorbildwirkung. Schon kurz darauf gelang es dem Unternehmer Mathias Stinnes 1839 unter der technischen Leitung des Berggeschworenen Ernst Honigmann auf den Essener Feldern «Ernst» und «Mathias» ebenfalls, die Mergelschicht zu durchbrechen und die darunter liegende Steinkohle zu fördern. Die Zahl der Kohlengruben im Essener Gebiet nahm nun rasant zu. Schon in ihrem ersten Jahresbericht konstatierte die Handelskammer 1841: «Die Hauptindustrie der Stadt Essen und Umgegend besteht unstreitig in dem Handel mit Steinkohlen und resp. in der Förderung dieses notwendigen Lebensbedürfnisses aus dem Innern der Erde.»[10]

Der Gewerke Mathias Stinnes (1790–1845) gehörte zu den Pionieren des Ruhrbergbaus.

In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich Essen hin zu einer monoindustriellen Großstadt, die im Wesentlichen durch den Bergbau geprägt wurde. 1867 betrug der Anteil der Industriearbeiter nebst Familien in Essen 78 Prozent. Fast 95 Prozent von ihnen arbeiteten bei der Gussstahlfabrik. 10,6 Prozent arbeiteten im Handel und Verkehrswesen, weitere 11,2 Prozent gehörten anderen Beschäftigungsgruppen an, waren also vor allem Beamte, Gebildete oder Freiberufler.[11] Allerdings wurden die Bergbauinteressen nicht von der Handelskammer vertreten. Erst im November 1858 fanden sich im Essener Hotel Berghaus Repräsentanten und Vertreter von 51 Bergbaugesellschaften zusammen, die unter der Führung des Duisburger Unternehmers Hugo Haniel und des Essener Unternehmers und Politikers Friedrich Hammacher den Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund mit Sitz in Essen gründeten. Hammacher übernahm den Vorsitz, den er bis 1889 innehatte.[12]

Der Finanzierungsaufwand der Schwerindustrie übertraf das bis dahin für industrielle Betriebe übliche Niveau bei Weitem. Die Errichtung einer Schachtanlage dauerte je nach geologischen Verhältnissen in der Regel zwischen zwei und vier Jahren. Zu den reinen Kosten für die Abteufarbeiten kamen noch Ausgaben für einen Eisenbahnanschluss, Dampfmaschinen und Gebäude. Zudem mussten auch noch Mutungsrechte erworben werden. Anfang der 1860er-Jahre betrugen allein die Abteufungskosten etwa 200.000 Taler, bis 1873 stiegen sie auf etwa 500.000 Taler an. Die Gesamtkosten für die Errichtung einer Anlage in der Gründerperiode schätzte der Historiker Toni Pierenkemper auf mindestens 500.000 Taler über einen Zeitraum von vier Jahren. Für die Errichtung von Hochofenwerken mussten ähnliche Beträge veranschlagt werden.[13]

Essener Kohlenzeche in den 1860er-Jahren.

Trotz des offenkundigen Kapitalbedarfs dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis sich in Essen eine Bankenstruktur entwickelte, die maßgeblich zur Finanzierung des Bergbaus beitragen konnte. Der Mangel war früh benannt worden: Bereits Anfang der 1850er-Jahre hatte die Handelskammer die Einrichtung einer großen Investitionsbank auf Aktienbasis mit dem Recht zur Notenausgabe gefordert.[14] Dem standen allerdings die gesetzlichen Rahmenbedingungen entgegen, weshalb sich die Handelskammer im Sinne einer Soforthilfe für die Einrichtung einer Filiale der Preußischen Bank einsetzte, dem Vorläufer der Reichsbank. Nachdem diese zuvor schon Niederlassungen in Dortmund, Düsseldorf und Duisburg eröffnet hatte, richtete sie 1857 eine solche auch in Essen ein. Die zunächst «Agentur» genannte Institution entwickelte sich sehr positiv. Zunächst betrieb sie vor allem Wechseldiskontgeschäfte, dann auch im geringeren Umfang Warenlombardgeschäfte, und schließlich nahm sie den Giroverkehr auf. 1857 diskontierte sie Wechsel und zog solche im Wert von umgerechnet sechs Millionen Mark ein. In den letzten Vorkriegsjahren lag der Umsatz im Wechselverkehr bereits bei über 400 Mio. Mark. Der 1876 aufgenommene Giroverkehr stieg bis 1913 von 57 Mio. Mark auf acht Milliarden Mark.[15] Bereits 1863 war die Agentur aufgrund des umfangreichen Geschäftsbetriebs in eine Filiale umgewandelt worden.[16]

Die Industriefinanzierung hingegen lag zunächst vor allem in den Händen wohlhabender Familien, die meist während des gesamten 19. Jahrhunderts und sogar darüber hinaus im Revier führend blieben: Franz Haniel oder Mathias Stinnes sind als Pioniere bereits benannt worden, etwas später folgten Friedrich Grillo und Carl Funke, auch Alfred Krupp oder August Thyssen – mit Ausnahme von Krupp gründeten die letztgenannten Industriellen in den Jahren des Kaiserreichs jeweils eine Bank zur leichteren Finanzierung ihrer eigenen Vorhaben. Der Geldbedarf der neuen Industrie war allerdings so enorm, dass er nicht allein aus der Region befriedigt werden konnte. So finden sich unter den Kapitalgebern Bankiers aus dem nahe gelegenen Aachen, Elberfeld und vor allem Köln, aber auch internationale Geldgeber aus Belgien, den Niederlanden, Frankreich und England investierten in die neue Industrie.[17] Dies gilt ebenso für den Eisenbahnbau, den Wachstumsmotor der Montanindustrie schlechthin, dessen Kapitalbedarf zur Ausbildung neuer Finanzierungsmethoden und zur Entwicklung der Universalbanken maßgeblich beitrug. Er wurde im Industrierevier maßgeblich von Kölner Banken finanziert, während Essen an diesen Prozessen noch keinen Anteil nahm.[18]

Der Handel als Ursprung des Essener Privatbankwesens

Die Anfänge der ersten Essener Privatbanken, die den Grundstein für den Bankplatz der Stadt legten, sind in der nachnapoleonischen Ära zu verorten. Meist werden für das moderne Privatbankwesen drei Ursprünge unterschieden: die an den Fürstenhäusern tätigen Hoffaktoren, die an wichtigen Messe- und Handelsplätzen tätigen Geldwechsler und die aus dem Warenhandels- und Speditionsgeschäft hervorgegangenen Banken, die vor allem auf ihren Reisen für ihre Kunden Geld- und Kreditgeschäfte abwickelten.[19] Einen Hof gab es in Essen nicht, und obwohl der Handel zu den wichtigsten Geschäftszweigen der Stadt gehörte, war der Handelsplatz nicht so ausgeprägt, dass sich hier Geldwechsler etablierten. Anders als in Städten wie Köln, Krefeld oder Wuppertal konnte das moderne Privatbankwesen daher nicht auf ältere Banken aufbauen, sondern musste sich völlig neu entwickeln. Die Grundlage hierfür waren das Speditionsgeschäft und der Warenhandel, denen der Hellweg und die nordsüdlichen Routen von den Niederlanden nach Siegen und Frankfurt, die sich in Essen kreuzten, die nötigen Verbindungen boten. Nicht der Handel vor Ort, sondern der Handel zwischen den Orten ermöglichte es Essener Kaufleuten, erste Bankgeschäfte zu betreiben.[20] Als das früheste Bankhaus Essens gilt die Firma Theodor Cornelius Sprenger, die 1804 aus einem von ihrem Gründer betriebenen Warenhandels- und Speditionsgeschäft in Wesel hervorgegangen war und 1814 nach Essen verlegt wurde, wo Sprenger verwandtschaftliche Beziehungen hatte.[21] Zwar wurde das Handelsgeschäft noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts fortgesetzt, doch das umfangreiche Kontokorrent- und Wechselgeschäft nahm in den Jahren des Vormärz rasch zu, und T. C. Sprenger galt in dieser Zeit als das bedeutendste Diskontgeschäft Essens. Industrielle Beziehungen pflegte es nicht, sondern widmete sich ganz dem Handel in Essen selbst, im Bergischen und im Niederrheinischen. In den 1830er-Jahren findet sich Theodor Conrad Sprenger wie viele andere wohlhabende Bürger unter den Kreditgebern der Stadt.[22] Über die Geschäfte des Bankhauses ist kaum etwas bekannt. In den 1840er-Jahren weist das Hauptbuch des Essener Bankhauses Simon Hirschland rege Wechselgeschäfte mit einem Conrad Sprenger nach, vermutlich der Sohn von Theodor Conrad.[23] 1890 wurde das Bankgeschäft liquidiert, doch schon in den vorangegangenen Jahrzehnten hatte es an Bedeutung verloren.[24] Wohl in den 1840er/1850er-Jahren betrieb auch Ferdinand Wilhelmi Bankgeschäfte und wurde als «Bankier in Essen» bezeichnet, über seine Tätigkeiten finden sich jedoch keine Informationen mehr. Es dürfte sich wohl um Fortsetzungen erster Darlehnsgeschäfte gehandelt haben, die sein Vater, Johann Wilhelmi, im Rahmen seiner Kurz- und Galanteriewarenhandlung getätigt hatte.[25]

Eine der ältesten Essener Privatbanken wurde von der Familie Waldthausen gegründet. Die um 1700 aus dem braunschweigischen Raum nach Essen eingewanderte Familie gehörte zu den bedeutendsten Unternehmerfamilien der Stadt. Ausgangspunkt ihres wirtschaftlichen Erfolgs war das 1779 gegründete Wollgeschäft Justus & Wilhelm Waldthausen. Entsprechend der Familienüberlieferung hatte zuvor Justus Waldthausen über einen Fuhrmann einen Ballen Wolle in den Niederlanden erworben und diesen an das Unternehmen Scheidt in Kettwig weiterverkauft. Nachdem er dieses Geschäft verschiedentlich erfolgreich wiederholt hatte, gründete er gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm das die beiden Namen der Brüder tragende Wollhandelsgeschäft. Vor allem in Amsterdam kauften sie spanische Merinowolle, gelegentlich auch portugiesische und italienische Wollen, in Mitteldeutschland versorgten sie sich mit sächsischen Wollen, darüber hinaus entwickelten sie ihr Handelsnetzwerk bis nach Breslau.[26] Nach mehreren Umwandlungen der Firma in den Jahren der Napoleonischen Kriege, in denen nicht zuletzt die Kontinentalsperre gegen England zu einer schweren Krise der Textilindustrie beitrug, wurde das Unternehmen in zwei neue Firmen getrennt. Während Justus’ Sohn Burchard, sein Schwager Gottfried Waldthausen sowie dessen Sohn Martin Wilhelm die Wollhandlung Justus Waldthausen Söhne gründeten, riefen Johann Wilhelm Waldthausen und sein Sohn Johann Conrad die Wollhandelsfirma Wilhelm & Conrad Waldthausen ins Leben, die für die weitere wirtschaftliche Entwicklung der Familie von hoher Bedeutung wurde.[27] Nach einigen schwierigen Jahren belebte sich das Geschäft zunehmend, entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten stabil und dehnte sich kontinuierlich aus. Mit 30 Talern im Jahr gehörte die Wollhandlung Mitte der 1840er-Jahre noch vor den Produktionsbetrieben zu den größten Gewerbesteuerzahlenden im Kammerbezirk Essen.[28] Johann Wilhelm Waldthausen fand sich 1838, gemeinsam mit zahlreichen anderen wohlhabenden Bürgern, auch unter den Gläubigern der Stadt Essen.[29] Mitte der 1860er-Jahre beschäftigte das Unternehmen allein in der Sortiererei 60 Leute, darunter die Hälfte jugendliche Arbeiter.[30] Zur selben Zeit dynamisierte sich auch der Import der eingekauften Wolle.[31]

Kopierbuch der Wollhandelsfirma Wilhelm & Conrad Waldthausen.

Der saisonale Rhythmus des Wollhandels legte den Einstieg in ein kurzfristiges Kreditgeschäft nahe. Das Geschäftsjahr begann im Mai oder Juni des Jahres mit einer Einkaufsreise, die sich am Zeitpunkt der Schafschur orientierte. Es folgte die Einlagerung der Waren in Essen, an die sich der Verkauf anschloss. Danach mussten zwar die Gelder erst eingefordert werden, doch es blieb meist ein halbes Jahr Zeit, in der das Kapital möglichst gewinnbringend angelegt werden sollte.[32] Zu diesem Zweck nutzte die Familie Waldthausen ein ausgedehntes Familien- und Beziehungsnetzwerk, das seinen Ausgangspunkt im Wollhandel fand und sich über die Finanzbeziehungen vertiefte. Ein Großteil der Bankgeschäfte diente weiterhin der Finanzierung des Handels. Da der Transport großer Geldmengen auf langer Strecke zu unsicher war, bedienten sich die Waldthausens der Privatbanken Herstatt in Köln, Heydt-Kersten in Elberfeld sowie Anhalt und Wagner in Berlin, um Wechsel auf die wichtigsten Handelsmärkte – namentlich Breslau – aufzukaufen, mit denen der Wolleinkauf finanziert werden konnte. Diese Gelder wurden auch an den Handelsplätzen selbst zu einem Zinssatz zwischen drei und fünf Prozent angelegt. In den Niederlanden suchten die Waldthausens auch die Unterstützung der Haniels, die in dem Nachbarland durch den Kohlenverkauf zahlreiche Devisen einnahmen. Die sich aus dieser Verbindung ergebenden Geschäfte waren Grundlage des späteren umfangreichen Devisenhandels der Familie.[33]

Bereits in den 1830er-Jahren finden sich verschiedene Darlehen an Honoratioren der Stadt oder der Umgebung. Unter denjenigen, die Johann Conrad Waldthausen persönlich kannte, fand sich auch der Essener Bürgermeister Heinrich Huyssen, der 1808 gemeinsam mit seinen Schwagern Franz und Gerhard Haniel sowie deren weiterem Schwager Gottlob Jacobi die Hüttengewerkschaft und Handlung Jacobi, Haniel & Huyssen gegründet hatte. Der Hüttenbetrieb bildete die Keimzelle der Gutehoffnungshütte, die wiederum der Ausgangspunkt des heutigen MAN-Konzerns ist.[34] Waldthausen stellte dem Unternehmen über Huyssen wiederholt Geldbeträge von bis zu mehreren tausend Talern zur Verfügung.[35] Allerdings beschränkte sich das Kreditgeschäft nicht auf Essener Bürger, zu den größten Kunden gehörten auch die Haniels in Ruhrort.[36] In der Regel handelte es sich um kurzfristige Kredite über einen Zeitraum von wenigen Monaten, teilweise gewährte man Kunden der Wollhandlung jedoch auch ein Zahlungsziel von einem Jahr. Kam es dabei zu monatelangen Überziehungen, lehnte Waldthausen eine weitere Verlängerung der Kredite ab: Einen Kredit über zwei Jahre könne er nicht vergeben, selbst «wenn Sie uns auch die Zinsen vergüten. Das Geschäftskapital können wir nicht auf Zinsen stehen lassen».[37] Um seinerseits nicht Fremdkapital für den Ankauf von Wolle aufnehmen zu müssen, war Waldthausen auf die Rückzahlung der Kredite angewiesen, die lediglich ein Zusatzgeschäft darstellten. Die Übernahme von Inkassogeschäften[38] diente hingegen ausschließlich der Netzwerkpflege und beruhte auf Gegenseitigkeit, erfolgte jedoch aufgrund des unter Umständen hohen Arbeitsaufwands eher widerwillig.

Eine Geschichte der Familie Waldthausen im 19. Jahrhundert wäre eine wertvolle Ergänzung der Essener Wirtschaftsgeschichte. Sie verband ganz unterschiedliche Familienzweige, die sich teilweise bereits im 18. Jahrhundert aufgespalten und ihren Ursprung im Handelsgeschäft hatten. Im 19. Jahrhundert wurde sie zu einer der bedeutendsten Gewerkenfamilien des heutigen Ruhrgebiets. Berührungspunkte mit dem Bergbau hatte es schon früh gegeben. 1773 wurde bei der Essener Zeche «Vereinigte Hoffnung und Secretarius Aak» ein Gewerke namens Johann Heinrich Waldthausen geführt. Zudem war die Familie im Altendorfer Gebiet bei der Förderung des Bergbaus aktiv.[39] Bereits bei diesen frühen Investitionen hielten sich die Familienvertreter eher im Hintergrund, ihre Beteiligungen dienten vorwiegend der Vermögensverwaltung. In den 1850er-Jahren findet sich der Name Waldthausen bereits bei verschiedenen Bergbauunternehmen, so bei der Bergbaugesellschaft Neuessen, bei der Arenberger Bergbau- und Hüttengesellschaft und vor allem bei der Zeche Zentrum, die eine Weile als Hauptfamilienwerk galt.[40]

Zu den Stammunternehmen der Familie Waldthausen gehörte auch die Arenberg’sche AG für Bergbau u. Hüttenbetrieb.

Die Wollhandlung Conrad & Wilhelm Waldthausen dürfte bereits in dieser Zeit bei der Vermögensverwaltung der Familie geholfen haben, sie war jedoch nicht das einzige Finanzinstitut, das ihr zu diesem Zweck zur Verfügung stand. Albert (von) Waldthausen, ein Ururenkel Johann Wilhelm Waldthausens, gründete 1859 das Bankgeschäft Albert Waldthausen, das sich selbst als Bank-, Diskonto- und Inkassogeschäft bezeichnete, aber vor allem den Handel mit Bergwerksanteilen betrieb. Über die Geschäfte ist im Detail heute nichts mehr bekannt. Man wird in ihnen wohl nicht zuletzt die Funktion der Vermögensverwaltung der Familienmitglieder sehen dürfen. Sein eigenes Vermögen belief sich auf einen zweistelligen Millionenbetrag, bei der Disconto-Gesellschaft in Berlin hatte er stets etwa zwei Millionen Mark deponiert, um günstige Anlagegelegenheiten zu nutzen.[41] Albert von Waldthausen beteiligte sich an zahlreichen Bergwerksunternehmen und gehörte verschiedenen Vorständen an.[42] Die Liquidation seines Bankgeschäfts erfolgte wohl spätestens nach dem Tod Waldthausens 1924.

Der bedeutendste Spross der Familie im 19. Jahrhundert war der 1811 als Sohn von Johann Conrad Waldthausen geborene Ernst Waldthausen. Gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Julius Wilhelm Waldthausen trat er 1836 in die elterliche Wollhandlung sowie das damit verbundene Bankgeschäft ein und trug maßgeblich zu der Internationalisierung des Unternehmens bei. Schon bald genügte ihm das Wollhandelsgeschäft nicht mehr, und er ergriff vielfältige andere Tätigkeiten. Seine herausragende Bedeutung für die Entwicklung Essens zur Industriestadt wird durch seine jahrzehntelange Präsidentschaft über die Handelskammer Essen von 1848 bis zu seinem Tod 1883 – die bis heute längste Amtszeit eines Präsidenten – symbolisiert. In dieser Funktion kämpfte er nachhaltig für eine Verbesserung der Infrastruktur Essens, insbesondere für günstige Anschlüsse an Eisenbahn und Wasserwege. Zu seinen Lieblingsprojekten gehörten der Bau eines Kanals vom Ruhrgebiet zur Nordsee und die Schaffung eines Emscherkanals. Beide Wasserstraßen wurden in abgewandelter Form in späteren Jahren tatsächlich gebaut. Weitere Projekte waren die Gründung der Essener Börse 1864, der Essener Bergschule 1868 und der Westdeutschen Versicherungs-Anstalt 1866, deren Aufsichtsratsvorsitz er bis zu seinem Tode übernahm.[43]

Ernst Waldthausen gehörte zu den bedeutenden Finanziers der Ruhrindustrie. 1857 unterstützte er gemeinsam mit seinem Bruder Julius seinen Jugendfreund Alfred Krupp, als dieser Schwierigkeiten bei der Geldbeschaffung bekam, sich aber gegen die Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft sperrte. Für einige Jahre wurde Waldthausen gegen eine Einlage von 250.000 Talern stiller Teilhaber des Unternehmens Krupp. Die Einzahlung erfolgte nicht über die Wollhandelsfirma, sondern als private Einlage, denn Krupp wollte keine Bankiers in sein Unternehmen holen, sondern setzte auf die persönliche Loyalität durch Freundschaftsbande. Krupp pflegte entschiedene Vorbehalte gegen Bankiers, nachdem viele Banken in der Mitte des 19. Jahrhunderts während der Konjunkturkrisen den in diesen Phasen besonders dringenden Finanzbedarf nicht hatten bedienen können.[44] Der bis 1861 laufende Vertrag wurde jedoch nicht verlängert, da sich Ernst Waldthausen nach Ansicht Krupps zu sehr in die Geschicke der Firma einmischte, während Krupp seine Unabhängigkeit gewahrt wissen wollte. Obwohl das Freundschaftsverhältnis der beiden durch diese Episode belastet wurde, betrieb Alfred Krupp in späteren Jahren mit Wilhelm & Conrad Waldthausen größere Devisengeschäfte. Die Wollhandelsfirma benötigte diese zur Bezahlung der im Ausland gekauften Wollen, was auf die enge Verflechtung von Bankgeschäft und Wollhandelsfirma auch noch in späteren Jahrzehnten verweist.[45]

Ernst von Waldthausen (1811–1883), langjähriger Präsident der Essener Handelskammer.

Etwa zeitlich parallel mit dem eher kurzzeitigen Engagement bei Krupp begann Ernst Waldthausen, sich im Bergbau zu engagieren. Gemeinsam mit seinem Bruder Justus hatte er Mitte der 1850er-Jahre im arenbergischen Bergregal nördlich der Emscher auf dem heutigen Gebiet Bottrops erfolgreich Bohrversuche unternommen und Mutungen eingelegt. Im Januar 1856 gründete er mit 26 weiteren privaten Geldgebern in Essen die Arenbergsche Actiengesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb mit einem Grundkapital von einer Million Talern.[46] Wilhelm & Conrad Waldthausen dienten hier in den ersten Jahren als führende Bankverbindung.[47] Mit Ernst Waldthausen und seinem Sohn Oscar von Waldthausen übernahmen gleich zwei Familienvertreter im 19. Jahrhundert den Verwaltungsratsvorsitz.[48] Auch an anderen Zechen beteiligte sich Ernst Waldthausen. Obwohl bei seiner Tätigkeit die Finanzierung des Bergbaus im Vordergrund stand, kontrollierte er die Betriebe regelmäßig höchstpersönlich vor Ort.[49]

Jüdische Bankiers haben bei der frühen Finanzierung des Ruhrgebiets eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, namentlich die Kölner Privatbanken Sal. Oppenheim jr. & Cie., J. H. Stein und Abraham Schaffhausen. Sie fungierten als Kapitalvermittler für die Industrie und waren im Eisenbahnbau, bei vielen frühen Montanunternehmen und im Effektenhandel engagiert.[50] Während die jüdischen Privatbanken Kölns eine bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition vorzuweisen hatten, fehlte eine solche in Essen. Erst in den 1840er-Jahren wurden mit den beiden Privatbanken Simon Hirschland und Levi Hirschland zwei bedeutende jüdische Bankhäuser ins Leben gerufen, die allerdings erst nach der Reichsgründung im größeren Umfang an der Industriefinanzierung mitwirkten. Während sich im Laufe des 19. Jahrhunderts viele jüdische Privatbankiers des Deutschen Kaiserreichs vom Judentum entfernten, sich assimilierten oder teils, wie die Familie Oppenheim, schon früh zum Christentum konvertierten, pflegten die Hirschlands ihre Religion bis zu ihrer Vertreibung durch die Nationalsozialisten, wirkten führend in der jüdischen Gemeinde Essens mit und unterstützten verschiedene jüdische Sozialeinrichtungen.[51]

Der Essener Stammvater der Hirschlands war der 1815 aus dem westfälischen Steinheim nach Essen zugewanderte Metzger und Händler Salomon Herz Hirschland. Zwar erhielten Juden 1812 in Essen das Bürgerrecht, dennoch drohte Hirschland 1824 zwischenzeitig die Ausweisung, da seine preußische Staatsangehörigkeit umstritten war.[52] In der jüdischen Gemeinde der Stadt, die keinen eigenen Rabbiner hatte, nahm er als Vorsänger, Vorbeter, Kassierer und Aufwärter eine herausragende Rolle ein und begründete damit eine lange Tradition der Familie. Die Gründe für den Umzug Hirschlands nach Essen sind nicht bekannt. Seine Frau Judith ließ er mit einigen Kindern in Steinheim zurück, darunter auch den 1807 geborenen Simon Hirschland, den späteren Begründer der wichtigsten Essener Privatbank. Beim Tod seiner Mutter 1815 wurde er von seinem Vater nach Essen geholt, die Wegstrecke von immerhin 150 Kilometern musste der gerade einmal acht Jahre alte Junge zu Fuß bewältigen.[53] Ob sein drei Jahre älterer Bruder Levi Hirschland, auch er der Begründer einer über mehrere Generationen aktiven Privatbank, zu dieser Zeit bereits bei seinem Vater aufwuchs, ist unbekannt.

Der Gründer der bedeutendsten Essener Privatbank Simon Hirschland (1807–1885).

Zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters heiratete Simon Hirschland am 1. September 1841 Marianne Isaac aus Ruhrort. Dieses Datum wurde von seinen Nachkommen als Gründungsdatum des Bankhauses tradiert, und tatsächlich eröffnete Simon Hirschland 1842 das «Hauptbuch Nr. 1», das einen Neuanfang symbolisieren sollte.[54] Allerdings gab es in den 1940er-Jahren noch Geschäftsunterlagen, die bis 1829 zurückreichten. Simon Hirschland hatte seine geschäftliche Karriere demnach mit einem kleinen Warengeschäft begonnen, in dem Textilien, Strümpfe, Uhren und Schmuckgegenstände gehandelt wurden. Bereits in dieser Zeit betrieb Hirschland auch Darlehnsgeschäfte gegen Pfand und Bürgschaften. Unter dem 1. Juli 1831 hieß es in dem ältesten Hauptbuch: «einen Wechsel, welchen Schmitz akzeptiert und am 2. Sept. bezahlen muss 350 Thaler Levi hat 175 daran zu fordern [sic!]». Auch Simons Bruder Levi Hirschland, dessen Bankhaus offiziell 1845 gegründet wurde, betrieb also schon zu dieser frühen Zeit Wechselgeschäfte. Gesichert war das Geschäft mit Sachwerten, denn im folgenden Jahr wurden Schmitz «alle seine Sachen (silberne Löffel) wiedergegeben».[55] Warum beide Banken offiziell erst nach dem Tod Salomon Herz Hirschlands und damit für damalige Zeit sehr spät im Leben der beiden Brüder gegründet wurden, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.

Der Geschäftsschwerpunkt der Simon Hirschland Bank lag wie bei den meisten kleineren Privatbanken im Wechselgeschäft, daneben wurde aber auch das Geldwechsel- und Darlehnsgeschäft betrieben, auch Warenlombardgeschäfte kamen vor. Dass hinter dieser Gründung «eine kluge Vorahnung für die kommende Bedeutung des Ruhrgebiets, der Kohle und des Eisens»[56] stand, wie es 1959 in einem Zeitungsartikel hieß, ist sicherlich zu weitführend. Immerhin gab es jedoch bereits in den 1840er-Jahren erste Ansätze einer industriellen Kreditgewährung. Im Zeitraum zwischen 1845 und 1853 war Mathias Stinnes der häufigste Wechselaussteller. In der Regel lautete die Summe 49 Taler, 29 Silbergroschen und elf Pfennige, womit die für einen Wechsel über 50 Taler fällige Steuer umgangen wurde. Es gab jedoch auch Wechsel über höhere Summen, in einem Fall sogar über 763 Taler. Friedrich Krupp stellte ebenfalls verschiedene Wechsel in dreistelliger Höhe aus, der Bezogene war hier oft J. A. Herstatt in Köln. Unter den übrigen Wechselausstellern finden sich weitere bekannte Industrielle der Region. In den meisten Fällen handelte es sich wohl um Lieferkredite, mit denen zum Beispiel die Anschaffung von Maschinen finanziert wurde. Ab 1850 fand zudem ein regulärer Kontokorrentverkehr statt.[57]

Das erste Bankgebäude von Simon Hirschland 1841.

Der Geschäftsumfang war noch recht bescheiden. Hauptgeschäftszweig blieb für Jahrzehnte das Wechselgeschäft, das 1843 lediglich einen Umsatz von knapp 10.000 Talern erreichte.[58] In den kommenden Jahren stieg dieser Umsatz kontinuierlich und in der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre können weit größere Umsätze beobachtet werden. So diskontierte Simon Hirschland 1865 bei der Königlichen Bankkommandite in Düsseldorf immerhin schon Wechsel in Höhe von 153.000 Talern, bis 1868 stieg dieser Betrag auf 391.000 Taler an. Nach einem vermutlich kriegsbedingten Einbruch 1870 auf nur noch 81.000 Taler stieg die Summe bis 1874 erneut auf 445.000 Taler an.[59]

Von weit geringerer Bedeutung war in den ersten Jahrzehnten des Bestehens das Wertpapiergeschäft. Erstmals Erwähnung findet es 1842, als Simon Hirschland von einem Theodor Grillo für 75 Taler drei Kuxe unbekannter Herkunft kaufte.[60] Ob es sich bei Theodor Grillo um Wilhelm Theodor Grillo, dem Begründer der Grillo-Werke, handelte oder um einen weiteren Verwandten, ist nicht klar.[61] Ende der 1850er-Jahre hatte Simon Hirschland auch Kuxe der Zeche Hoffnung gekauft, auf die zunächst Zubußen fällig wurden, bevor 1864 Ausbeuten eingingen.[62] Aber auch in den 1860er-Jahren waren Effektengeschäfte selten. In der Regel wurden Wertpapiere nur zur Deckung von Diskontkrediten angenommen.[63] Eine aus dem Jahr 1876 überlieferte Bilanz wies in ihren Aktiva bei einer Bilanzsumme von 1,27 Mio. Mark immer noch ein Wechselkonto von 488.000 Mark und ein Kontokorrent-Debitoren-Konto von 731.000 Mark aus. Der Effektenbestand machte nicht einmal 50.000 Mark aus.[64]

Kontinuierlich erweiterte Simon Hirschland in den ersten Jahrzehnten den geografischen Tätigkeitsbereich. Bereits 1846 verlieh er an den Düsseldorfer Direktor Ludwig Jacobi einen Betrag von 2100 Talern.[65