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Joachim Scholtyseck

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Beschreibung

Merck ist das älteste pharmazeutisch-chemische Unternehmen der Welt. Es entwickelte sich aus einer Darmstädter Apotheke, für die Friedrich Jacob Merck 1668 das Privileg erhielt, zum Weltkonzern. Seine 350jährige Geschichte erzählt dieses Buch erstmals in ihrer Gesamtheit und auf der Grundlage aller verfügbaren Quellen sowie der neuesten unternehmensgeschichtlichen Forschung. Lange Zeit galten Firmen im Familienbesitz als Auslaufmodell. Die Zukunft schien der Kapitalgesellschaft mit einer anonymen Aktionärsstruktur zu gehören. Doch es gibt zahlreiche erfolgreiche Gegenbeispiele, etwa Bosch, C&A, Bertelsmann oder eben Merck. Wie gelang es der Familie, das Unternehmen über 13 Generationen über all die politischen Umbrüche und historischen Krisen in ihrem Besitz zu halten und es zu einem global führenden Wissenschafts- und Technologieunternehmen zu machen? Unter dieser Leitfrage erzählen vier ausgewiesene Unternehmenshistoriker die faszinierende Geschichte der Firma Merck zwischen 1668 und 2018 und betten sie ein in den wechselvollen Verlauf der Weltgeschichte.

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Carsten Burhop/Michael Kißener/Hermann Schäfer/Joachim Scholtyseck

Merck

Von der Apotheke zum Weltkonzern

C.H.Beck

Zum Buch

Merck ist das älteste pharmazeutisch-chemische Unternehmen der Welt. Es entwickelte sich aus einer Darmstädter Apotheke, für die Friedrich Jacob Merck 1668 das Privileg erhielt, zum Weltkonzern. Seine 350jährige Geschichte erzählt dieses Buch erstmals in ihrer Gesamtheit und auf der Grundlage aller verfügbaren Quellen sowie der neuesten unternehmensgeschichtlichen Forschung.

Lange Zeit galten Firmen im Familienbesitz als Auslaufmodell. Die Zukunft schien der Kapitalgesellschaft mit einer anonymen Aktionärsstruktur zu gehören. Doch es gibt zahlreiche erfolgreiche Gegenbeispiele, etwa Bosch, C&A und Bertelsmann. Dazu gehört auch Merck. Wie gelang es der Familie, das Unternehmen über 13 Generationen über all die politischen Umbrüche und historischen Krisen in ihrem Besitz zu halten und es zu einem global führenden Wissenschafts- und Technologieunternehmen zu machen? Unter dieser Leitfrage erzählen vier ausgewiesene Historiker die faszinierende Geschichte der Firma Merck zwischen 1668 und 2018 und betten sie ein in den wechselvollen Verlauf der Weltgeschichte.

Über die Autoren

Carsten Burhop ist Professor für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Michael Kißener ist Professor für Zeitgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Hermann Schäfer ist Professor an der Universität Freiburg und Gründungspräsident des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.

Joachim Scholtyseck ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Inhalt

Einleitung

Quellen

Das Merck-Archiv

Weitere Archive

Literatur

I.: Ursprünge und Ausgangslagen eines chemisch-pharmazeutischen Unternehmens (von Michael Kißener unter Mitarbeit von Ludolf Pelizaeus und Frank Kleinehagenbrock)

1. Anfänge

1.1 Herkunft der Familie

1.2. Der erste Merck-Apotheker in Darmstadt: Jacob Friedrich Merck (1621–1678)

1.3 Der Neffe als Nachfolger: Georg Friedrich Merck (1647–1715) und die Fortführung der Darmstädter Apotheke

1.4. Die Etablierung von Apotheke und Familie in Darmstadt: Johann Franz Merck (1687–1741)

1.5. Vormundschaft und Verwaltung: Elisabeth Catharina Merck, geb. Kayser (1706–1786)

2. 1758–1805: Pharmazie und Geldverleih: Die Säulen des Merck-Geschäfts im Zeitalter der Aufklärung

2.1. Die Familie Merck als Kreditgeber

2.2. Geistig-kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse: Die Rolle Johann Heinrich Mercks

2.3. Ein neuer Apothekertypus: Johann Anton Merck (1756–1805)

3. 1805–1827: Der Aufbruch in die Moderne: Emanuel Merck und die «Sattelzeit» der Merckschen Apotheke

3.1. Die Familie Merck und die Apotheke an der Wende zum 19. Jahrhundert

3.2. Emanuel Merck

3.3. Apotheke und Darmstädter Gesellschaft

3.4. Neue Geschäftsfelder

3.5. Der Wissenschaftler Emanuel Merck

II.: Im Bann der Industrialisierung (1827–1914) (Von Hermann SchäferUnter Mitarbeit von Tania Rusca, Nina Schnutz und Wolfgang Treue)

1. 1827–1850er-Jahre: Von der Apotheke zur Fabrik

1.1. In drei Schritten zum Industriebetrieb

1.2. Das wissenschaftliche Netzwerk und der Ausbau der industriellen Fabrikation

1.3. Nebentätigkeiten, Diversifizierung und Investments

1.4. Sozial-patriarchalische Aspekte, Familienzusammenhalt und politische Hintergründe

2. 1850er- bis 1880/90er-Jahre: Sozietät, langsamer Ausbau, erste Probleme

2.1. Gründung der Sozietät E. Merck

2.2. Wirtschaftlich-politische Hintergründe, Tod Emanuel Mercks, Traditionsorientierung

2.3. Die Apotheke, das «Haus», der Drei-Fabriken-Betrieb – Organisations- und Strukturprobleme

2.4. Soziale Entwicklung und Umweltfragen

3. 1880/90er-Jahre bis 1914: Konflikte, Modernisierung, Paternalismus, Expansion

3.1. Die industrielle Enkelgeneration – ein Gesellschaftsvertrag (1888)

3.2. Modernisierungsdruck und Gewinnrückgang

3.3. Familienkonflikte und Erneuerung des Gesellschaftsvertrags (1899)

3.4. Modernisierungen, der Bau der neuen Fabrik und Expansion

3.5. Regulierungskämpfe auf dem Pharmamarkt, Forschung und Entwicklung

a) Marktabsprachen und zunehmende Konzentration

b) Die Interessengemeinschaft (IG) – Gründung, Ziele und Bedeutung

c) Forschung und Entwicklung

3.6. Fabrikordnung, soziale Fragen, Paternalismus und Gewerkschaften

3.7. Nationale und internationale Expansion

III.: Im Zeitalter der Weltkriege (1914–1948) (Von Joachim ScholtyseckUnter Mitarbeit von Patrick Bormann)

1. 1914–1923: Das Familienunternehmen in der Krise

1.1. Allgemeine Entwicklung

1.2. Der Verlust von Merck & Co.

1.3. Konkurrenzen und Kooperationen

1.4. Marketing

1.5. Belegschaft und Unternehmenskultur

1.6. Merck in der Ernährungs- und Landwirtschaftsindustrie

2. 1924–1935: Wirtschaftliche Konsolidierung

2.1. Allgemeine Entwicklung

2.2. Auslandsgeschäft

2.3. Wirtschaft und Politik – Die Mercks im «Dritten Reich»

2.4. Forschung

2.5. Vitamine

3. 1933–1948: Forschungsstagnation und Rüstungsgeschäfte

3.1. Allgemeine Entwicklung

3.2. Antisemitismus und «Judenfrage»

3.3. Zwangsarbeit

3.4. Die Palastrevolution des Jahres 1942

3.5. Wasserstoffperoxid: Vom Desinfektionsmittel zum Raketentreibstoff

3.6. Niedergang, Kriegsende, Entnazifizierung und Neuanfang

IV.: Vom Wirtschaftswunder zum Global Player(1948–2018) (Von Carsten Burhop Unter Mitarbeit von Andreas Jüngling)

1. Wiederaufbau im Wirtschaftswunder

1.1. Im Wirtschaftswunderland

1.2. Merck 1948

1.3. Unternehmensverfassung, Unternehmensorganisation und die Familie

1.4. Die Belegschaft in der Zeit des Wirtschaftswunders

1.5. Die Produkte zwischen Kostendruck und Überalterung

1.6. Die Forschung im Wiederaufbau

1.7. Die Rückkehr auf den Weltmarkt

2. Die Ära Langmann

2.1. Zwischen Stagflation und Europäisierung

2.2. Neujustierung von Unternehmensverfassung und Organisation

2.3. Die Belegschaft

2.4. Forschung und Entwicklung

2.5. Der langsame Abschied von der Massenware

2.6. Auf dem Weg zum globalen Unternehmen

2.7. Akquisitionen als Wachstumsstrategien

2.8. Verkauf und Werbung

2.9. Der Schutz der Umwelt

3. Eine Unternehmensgeschichte der Gegenwart

Schlussbetrachtung

Nachwort und Dank

ANHANG

Anmerkungen

Einleitung

I. Ursprünge und Ausgangslagen eines chemisch-pharmazeutischen Unternehmens

1. Anfänge

2. 1758–1805: Pharmazie und Geldverleih: Die Säulen des Merck-Geschäfts im Zeitalter der Aufklärung

3. 1805–1827: Der Aufbruch in die Moderne: Emanuel Merck und die «Sattelzeit» der Merckschen Apotheke

II. Im Bann der Industrialisierung (1827–1914)

1. 1827–1850er-Jahre: Von der Apotheke zur Fabrik

2. 1850er- bis 1880/90er-Jahre: Sozietät, langsamer Ausbau, erste Probleme

3. 1880/90er-Jahre bis 1914: Konflikte, Modernisierung, Paternalismus, Expansion

III. Im Zeitalter der Weltkriege (1914–1948)

1. 1914–1923 – Das Familienunternehmen in der Krise

2. 1924–1935: Wirtschaftliche Konsolidierung

3. 1933–1948: Forschungsstagnation und Rüstungsgeschäfte

IV. Vom Wirtschaftswunder zum Global Player: Merck (1948–2018)

1. Wiederaufbau im Wirtschaftswunder

2. Die Ära Langmann

3. Eine Unternehmensgeschichte der Gegenwart

Stammbäume

Abkürzungsverzeichnis

Archivverzeichnis

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenverzeichnis

Firmenverzeichnis

Einleitung

Auf eine 350-jährige Tradition können sich die wenigsten Unternehmen berufen. Die Keimzelle der pharmazeutisch-chemischen Firma Merck liegt in einer 1668 erworbenen, eher unscheinbaren Apotheke in Darmstadt. Sie ist der Ursprung des industriellen Unternehmens in der 1827 artikulierten Vision des Apothekers Emanuel Merck. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich die Konturen eines Familienunternehmens klar erkennen, das schon früh internationale Bedeutung erlangte und heute, allen Herausforderungen und Krisen zum Trotz, zu den Global Playern zählt. Wenn Merck sich als das älteste pharmazeutisch-chemische Unternehmen der Welt bezeichnet und sich dies im Jahr 2003 sogar von der Académie Internationale d’Histoire de la Pharmacie bestätigen ließ, zeugt dies davon, wie sehr sich die Firma über ihre Geschichte definiert. Und weil der Name Merck eine traditionsreiche Marke bezeichnet, deren Bedeutung sich auch aus ihrer Geschichte erklärt, hat die Frage nach Alter, Herkunft und Tradition maßgebliches Identifikations- und Orientierungspotenzial.[1] Nicht nur wegen ihres langen Bestehens, sondern auch nach Eigentümerstruktur sowie Unternehmenskultur und -verfassung zählt Merck zu den besonders traditionsbewussten Firmen. Die Bewahrung familiärer Vermögensressourcen war in allen Epochen ebenso wichtig wie die Weitergabe fachlichen Wissens und unternehmensethischer Werte.

Wie viel «Familiensinn»[2] war und ist nötig, um ein Unternehmen über inzwischen insgesamt 13 Generationen, einen ebenso spektakulären wie singulären Zeitraum, im Familienbesitz zu halten? Der gefürchtete «Buddenbrooks-Effekt», die Annahme, dass spätestens in der dritten Generation die unternehmerischen Kräfte einer Familie erlahmen, trat bei den Mercks bekanntlich nicht ein.[3] Lange Zeit hat die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschung Familienunternehmen als «eine Art Auslaufmodell» betrachtet.[4] Der Wandel vom paternalistischen Familien- zum Managerunternehmen wurde als fast zwangsläufiger Weg zur Aktiengesellschaft interpretiert. Diese namentlich von Alfred D. Chandler[5] beeinflusste Interpretation ist – so nützlich sie heuristisch bleibt – zu deterministisch.[6] Inzwischen wird eher eine «neue Wertschätzung des familiengebundenen Unternehmens» konstatiert.[7] Die Existenz von Merck über diesen langen Zeitraum widerlegt die immer wieder gerne herangezogene These, Familienunternehmen seien ein anachronistisches Relikt des 19. Jahrhunderts. In den 1920er-Jahren führte der bekannte englische Reeder Sir Walter Runciman geradezu apodiktisch aus: «It is almost a law of nature that a business of any kind rarely passes beyond the third generation of those who founded it.»[8]

Die Frage, wie die entscheidenden Faktoren für die Kontinuität über dreieinhalb Jahrhunderte so erfolgreich bis in das 21. Jahrhundert tradiert werden konnten, dass Merck sich auch in der Gegenwart zu mehr als zwei Drittel in Familienbesitz und zudem in einer wirtschaftlich komfortablen Lage befindet, ist Leitmotiv dieser Untersuchung. Sie kann hier gewissermaßen in einer Langzeitstudie untersucht und zudem vor dem Hintergrund der wechselvollen deutschen Geschichte beantwortet werden. Wenn ein Unternehmen über alle politischen Umbrüche hinweg jahrhundertelang überlebt, prosperiert, der «permanenten Bestandsbedrohung»[9] trotzt und so dem Schicksal gleichsam ein Schnippchen schlägt, spielen nicht nur Können und Beharrlichkeit eine Rolle. Der Weg von Merck war von vielerlei Einflüssen bestimmt, von den handelnden Personen, deren Geschick und Talent, von Schicksalsschlägen ebenso wie von Standortfaktoren, Konkurrenzen und Kooperationen sowie dem immer notwendigen Quentchen Glück. Aber Glück über 350 Jahre hinweg? Weil dieser Weg von Brüchen und Kontinuitäten gekennzeichnet und weder immer geradlinig noch strategisch geplant bzw. planbar war, gibt es auch für die Merck-Geschichte «keinen Königsweg für die Unternehmensgeschichtsschreibung».[10] Die Frage nach der Resilienz, also der «Krisenrobustheit», und danach, warum es Organisationen schaffen, nicht unterzugehen, begleitet die Geschichte von Merck über den gesamten Zeitraum.[11]

In der vorliegenden Untersuchung wird die Merck-Geschichte erstmals in ihrer Gesamtheit über die Dauer ihres Bestehens hinweg wissenschaftlich und auf solider Quellengrundlage dargestellt und analysiert. Dabei bleibt stets die übergeordnete Frage, warum das Unternehmen aus allen Krisen letztlich gestärkt hervorging. Hier gilt es als Erstes, die Familie zu betrachten: Handelte die Familie bewusst anders als andere Unternehmer, die beispielsweise seit dem 19. Jahrhundert ihre Firmen in Aktiengesellschaften umwandelten? Der Blick auf die Rolle der Familie zieht sich wie ein Ariadnefaden durch diese Geschichte, nicht nur hinsichtlich Geschäftspolitik und Gesellschaftsverträgen, sondern auch das unternehmerische Ethos und seine Kultur betreffend. Die Untersuchung ist daher nicht nur Ereignisgeschichte, sondern auch eine Verhaltensgeschichte in einem Zeitraum, der nicht wenige politische und wissenschaftliche Systemzäsuren umfasst.

Der Anspruch, stets bescheiden aufzutreten, vielleicht auch abgeleitet aus protestantischer Ethik, spielte und spielt im Selbstverständnis der Familie eine wichtige Rolle. Seit Ende des 19. Jahrhunderts nahmen aber familienfremde «Manager» eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Dies lag zwar im Trend der Zeit, aber trug die familiäre Grundsatzentscheidung zur Beschäftigung von Managern dazu bei, dass es nicht zu einem – theoretisch niemals ausgeschlossenen – Auseinanderfallen des Familienunternehmens kam? Welche Veränderungen durchlebte Merck, und ist die Firma auch heute noch ein Familienunternehmen im klassischen Sinne?

Das heutige Unternehmen Merck hat, trotz manch nostalgischer Reminiszenzen, natürlich nichts mehr mit der Apotheke des Jahres 1668 gemeinsam. Ohne ausreichendes Kapital und Reserven für Krisenzeiten kann kein Unternehmen auf den in der Regel unsicheren und risikobehafteten Märkten überleben. Auf welche Weise hat das Familienunternehmen Merck über 350 Jahre hinweg das Kapital beschafft, gesichert und vermehrt? Diese Fragen stellen sich schon für die Anfangsjahre, zumal Merck stärker als bislang bekannt, bereits in dieser Zeit nicht nur eine erfolgreiche Heiratspolitik verfolgte, sondern neben der Apotheke auch Geld- und Bankgeschäfte betrieb. Auch im 19. Jahrhundert pflegte Emanuel Merck neben der Heiratspolitik nicht nur die kluge, systematische Ausbildung seiner Söhne und Nachfolger; mit seinem ausgeprägten Forscherinstinkt und seinen kaufmännischen Fähigkeiten war er in der Lage, die Chancen der sich industrialisierenden Welt zu nutzen. Lagen diesen Entscheidungen langfristig und bewusst getroffene strategische Überlegungen zugrunde? Warum gelang es den Mercks immer wieder, diejenigen zu finden, die aus der Familie heraus zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle einsprangen – bei der Übergabe von Emanuel Merck an seine Söhne ebenso wie an die Enkel und an die folgenden Generationen? Was war der Antrieb, seit dem 20. Jahrhundert auf Hilfe von außen zu vertrauen und sich dann jeweils in kluger Selbstbeschränkung aus dem operativen Geschäft zurückzuziehen?

Diese Frage erscheint umso wichtiger, als es schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch kein Problem mehr darstellte, dass «angeheiratete» Experten genauso wie gebürtige Mercks agieren und an die Unternehmensspitze treten konnten. Mit dem Ausscheiden der letzten Mercks aus der Führungsverantwortung im operativen Geschäft am Ende des 20. Jahrhunderts fand eine wichtige Familientradition ihren Abschluss. Wurde dies in der Familie als eine Zäsur empfunden? In den Akten finden sich immer wieder Hinweise auf die Intensität, mit der sich die Mercks mit der eigenen Familientradition identifizierten. Aber wann setzte diese Reflexion ein, wann begann sich die Familie ihrer Besonderheit bewusst zu werden? Eher spekulativ und auf Aktenbasis nur schwer zu beantworten ist die Frage, ob es schon immer eine Art «Familienkultur» gegeben hat, die historisch so wirksam war, dass die Familie in Krisensituationen rechtzeitig eingriff, um den Untergang ihres Unternehmens zu verhindern.

Weil bei einer ständig wachsenden Familie auch die Ansprüche und Begehrlichkeiten größer wurden und der Verlust des Erworbenen drohte, stellt sich die Frage nach einer langfristigen Geschäftsstrategie. Diese wurde umso nötiger, seit sich die Firma im 19. Jahrhundert von einer Apotheke zu einem Industriebetrieb wandelte und sich mit einer wachsenden Vielfalt neuer Produkte diversifizierte. Wurde diese Entwicklung bewusst betrieben, oder entsprang sie eher pragmatischem Handeln? Welche Rolle spielten Innovationen, gerade in einer Zeit, in der Konkurrenzunternehmen wie Pilze aus dem Boden schossen? Entsprach der Aufbau eines breiten Sortiments an Arzneien und Chemikalien einer bewussten Entscheidung, oder war der Weg zum sprichwörtlichen «Tausendfüßler» mit seiner Vielzahl von Produkten ein Prozess, der heute mit dem Begriff der Kontingenz umschrieben wird, also etwas, das weder zwangsläufig noch unumgänglich war?[12]

Damit ist ein weiterer Themenkreis angesprochen: In dem Maß, wie das Unternehmen Merck zu einem Industriebetrieb wurde, spielte auch die Politik eine immer größere Rolle und beeinflusste die Entwicklung des Familienunternehmens. Unterlag schon die Apotheke des späten 17. Jahrhunderts den Unwägbarkeiten der Politik der Landgrafschaft bzw. des Großherzogtums Hessen, galt dies umso mehr seit dem 19. Jahrhundert für den Einfluss überregionaler historisch-wirtschaftlicher Ereignisse: den Wegfall von Zollgrenzen, die Revolution von 1848/49, die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und erst recht die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, Erster Weltkrieg, Inflationszeit, Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, Teilung Deutschlands, der Zusammenschluss Europas und schließlich die Wiedervereinigung Deutschlands. Hatten die Mercks ein politisches «Credo», und wie veränderte es sich gegebenenfalls? Welche Engagements lassen sich identifizieren, gegenüber dem großherzoglichen Hof der Residenzstadt, an der Wende vom Kaiserreich zur Republik, im «Dritten Reich» und seit 1945 in der Bundesrepublik? Ging es den Mercks darum, eine mögliche Beschränkung ihrer unternehmerischen Freiheit durch äußere Umstände – die Politik – zu verhindern oder doch zu begrenzen? Sah die Familie die Gefahren, die damit verbunden waren, sich auf das Politikfeld zu begeben, das mit zahlreichen Unwägbarkeiten und Risiken versehen war, die nicht im Geschäftsinteresse sein konnten?

Vergleichbare Fragen stellen sich auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Wie verhielt sich das Unternehmen Merck gegenüber Kooperationspartnern bzw. Konkurrenten, in der Anfangszeit zunächst gegenüber Apothekern, später gegenüber industriellen Rivalen? Welche Auswahlkriterien gab es für eine Zusammenarbeit? Gab es Überlegungen, im Sinn eines «If you can’t beat them, join them?» den Status eines über lange Zeit nur mittelgroßen Pharma- und Chemieunternehmens auszunutzen? Oder wurden die Entscheidungen für eine Kooperation doch eher sporadisch und pragmatisch getroffen, sodass es wenig sinnvoll ist, eine systematische, langfristige Strategie ausmachen zu wollen? Um hier Klarheit zu schaffen, muss auf die vielfältigen Kooperationen eingegangen werden, die seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend in Form von Kartellen und «Interessengemeinschaften» gepflegt wurden.

Fragen stellen sich auch hinsichtlich der Produkte, beispielsweise ob der Weg von der Apotheke zur «Großapotheke», von einem industriellen Pharmahersteller zu einem diversifizierten und global agierenden Wissenschafts- und Technologieunternehmen vorgezeichnet war, oder ob nicht erneut Glück und Zufälle eine Rolle spielten. Reicht es aus, den Topos von der «Reinheit der Merck-Produkte» herauszustellen, um den langen Atem des Unternehmens zu erklären?

Die Berufung auf die Qualität der Arzneien, der vielen Traditionsprodukte, Medikamente und Chemikalien ist zwar berechtigt, aber sie kann nicht alles erklären: Dies zeigt allein der Blick auf das Generikageschäft, das einem mehrfachen Wandel unterlag. Hinzu kommt, noch sehr viel bedeutender, dass Merck immer wieder für längere Zeit aufgrund seiner geringen Größe, aber auch durch Versäumnisse keineswegs forschungsstark war und sich diese Expertise von außen zukaufen musste. Joseph A. Schumpeters Modell dynamischer und schöpferischer Unternehmer, die zwar keine neuen Technologien schaffen, das Vorhandene aber weiterentwickeln und innovativ anwenden, erscheint für Merck durchaus anwendbar.[13] Die Frage muss dennoch gestellt werden, warum das Unternehmen trotz einer partiellen Rückständigkeit so erfolgreich sein konnte.

Eine Teilantwort liegt sicherlich in den schon früh erkennbaren Bemühungen zur Internationalisierung: Bereits die Auslandsreisen Johann Anton Mercks (1756–1805) waren keine reinen «Kavaliersreisen», sondern dienten der Ausbildung und dem Anknüpfen von Forschungskontakten, die seit Ende des 18. Jahrhunderts substanziell wurden und bei denen es sich um Vorformen einer «Internationalisierung» handelte. Hierzu zählte auch die schon im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts identifizierbare Schaffung eines Netzwerks von in- und ausländischen Handelsvertretern. Im Zuge der «Verwandlung der Welt» (Jürgen Osterhammel)[14] im 19. Jahrhundert wurde Merck ein zunehmend global handelndes Familienunternehmen, zunächst in Europa, dann vor allem auf dem amerikanischen Kontinent, während Asien erst später folgte. Die verschiedenen Farbenfabriken werden häufig als Vorreiter der Expansion globaler und transnationaler Marktbeziehungen angesehen,[15] aber die Geschichte von Merck lehrt, dass Pharmaunternehmen ihnen in dieser Hinsicht vorangingen.

Im 20. Jahrhundert wurde, nachdem diese Verbindungen in den Weltkriegen jeweils gewaltsam zerschlagen worden waren, das Auslandsnetz auf geradezu atemberaubende Weise rekonstruiert: Hier sind die roten Fäden – und eine Auslandsstrategie – mit Händen zu greifen, obwohl sich die Schwerpunkte auf den Weltmärkten verschoben und beispielsweise die wichtigen Märkte Russland und USA nach dem Ersten Weltkrieg aufgegeben werden mussten. Letztlich muss auch nach den Arbeitsbeziehungen und der Kultur eines Familienunternehmens in der «longue durée» von 350 Jahren gefragt werden, auch wenn es schwerfällt, von der Vormoderne bis in das postindustrielle Zeitalter eine Verbindungslinie zu ziehen.

Die Teilhaber des Familienunternehmens sind nicht mit der Firma gleichzusetzen. Denn die Bedeutung der Unternehmensleitungen wird überschätzt, wenn man strikt an der Vorstellung festhält, es handle sich stets um «rationale Entscheidungsprozesse einer Gruppe weit blickender Männer, die das Richtige zur richtigen Zeit tun».[16] Das Langzeitbeispiel der Merck-Geschichte erlaubt auch eine Antwort auf die durchaus provozierend-skeptisch gemeinte Frage, ob denn die «innerwirtschaftliche Umwelt» überhaupt für «Möglichkeiten des Lernens und Bewährens» hinreichend stabil sei.[17] Die neuere Forschung berücksichtigt dies, indem sie auf einer überindividuellen Analyseebene das jeweilige Unternehmen als einen «quasi autonome[n] Organismus» ansieht, «der wie aus sich selbst heraus zu funktionieren scheint und dessen einziges Ziel und Lebensprinzip (…) offenbar darin besteht, ein unaufhörliches Wachstum zu generieren».[18] Die Perspektive «von oben» wird ergänzt durch den Blick auf die Arbeits- und Lohnstrukturen, die Betriebs- und Sozialpolitik, das Verhältnis zwischen Management, Angestellten und Arbeitern, also die «Mikropolitik im Unternehmen».[19] Der breite Untersuchungszeitraum bietet die Möglichkeit, auch jüngeren Forschungsansätzen der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, sowohl organisations- und institutionsgeschichtlichen Fragestellungen[20] als auch solchen der Unternehmenskultur, nachzugehen.[21]

Dass ein Großunternehmen wie Merck im Zentrum einer Studie steht, ist an und für sich nicht ungewöhnlich. Zahlreiche deutsche Traditionsbetriebe ließen in den letzten zwanzig Jahren ihre Geschichte nicht mehr, wie das lange Zeit üblich war, aus der Binnensicht in einer «Festschrift» darstellen, sondern auf eine breitere Quellenbasis gestützt wissenschaftlich erforschen. Eine fundierte, historisch-kritische Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte muss daher immer zugleich manche über Jahrhunderte tradierte «Meistererzählungen» – eine «Erfolgsgeschichte» von einer kleinen Apotheke in einer Residenzstadt zu einem heute weltweit tätigen Unternehmen auf fortwährendem Expansionskurs – anhand der Quellen kritisch überprüfen.

Neben der Unternehmens- und Familiengeschichte in ihrem Wechselverhältnis werden daher die Wirtschafts-, Sozial-, Politik- sowie die Wissenschaftsgeschichte der jeweiligen Perioden in die Untersuchung integriert. Die Entwicklungen in der Medizin, der Pharmazie und der Chemie sind untrennbar mit der Merck-Geschichte verbunden. Allerdings können im vorgegebenen Rahmen bei Weitem nicht alle Aspekte behandelt werden; dies gilt besonders für viele pharmaziegeschichtliche Aspekte. Die Darstellung beruht vor allem auf bislang kaum ausgewerteten Archivquellen, sie berücksichtigt aktuelle historiografische Methoden und Ansätze, ohne jedoch die Merck-Historie in das Prokrustesbett von Theorien einzuspannen. Abstrakte Erklärungsmuster über einen «allgemeinen Wirtschaftsmenschen»[22] helfen nicht weiter, denn sie ermöglichen keine allgemeingültige Aussage darüber, wie sich «individuelle Bewusstseinsoperationen» vollziehen.[23] Unternehmerische Entscheidungsprozesse können zudem nicht allein mit Geschäftsberichten, Bilanzen und statistisch-quantifizierendem Material, geschweige denn ökonometrischen Methoden erschöpfend erklärt werden. Mit anderen Worten: Die Aporien, die auf vielen Seiten der Unternehmensgeschichte auftauchen, lassen sich nicht lediglich durch die Erkundung ökonomischer Eigenlogiken verstehen. Die «empirische Vielfalt und Widersprüchlichkeit gelebten Lebens»[24] lässt sich nicht «herausrechnen». Dennoch ist ein Blick auf diese «innere ökonomische Logik unternehmerischen Handelns» in Gesellschaft wie Politik unabdingbar und verlangt eine Untersuchung der Voraussetzungen und Folgen des Prozesses der «Institutionalisierung» eines modernen Unternehmens wie Merck.[25]

Aus dieser Ausgangslage ergibt sich die Anlage von vier Hauptkapiteln. Im ersten Kapitel zur Frühen Neuzeit wird in Anlehnung an die Familiengeschichte und die Entwicklung der Darmstädter Apotheke das bislang Tradierte zur Frühgeschichte der Firma Merck kritisch geprüft. Hier wird vor allem der Frage nachgegangen, auf welchen Wegen und in welchen Formen in der Vormoderne die Grundlagen geschaffen wurden, auf denen seit dem 19. Jahrhundert die industrielle Entwicklung des Unternehmens Merck erfolgen konnte. Dabei wird in die Betrachtung auch die «Sattelzeit» einbezogen, in der sich durch den gesellschaftlich-politischen Umbruch im Gefolge der Französischen Revolution von 1789 und der Napoleonischen Kriege die Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Handeln in der Landgrafschaft bzw. ab 1806 im Großherzogtum Hessen-Darmstadt wesentlich veränderten. Die Herkunft des Käufers der erst später so genannten Engel-Apotheke, Jacob Friedrich Merck, aus einer bereits vermögenden Familie stammend, die im 17. Jahrhundert zum Kreis der etablierten lutherischen Exulanten in der Reichsstadt Schweinfurt gehörte, wird ebenso beleuchtet wie zahlreiche eher spekulative Überlegungen der älteren Forschung. Die Weiterentwicklung der Apotheke verlief im 18. Jahrhundert unter schwierigen Bedingungen, da infolge des frühen Todes designierter Nachfolger immer wieder Krisensituationen entstanden, die das Familienvermögen gefährdeten. Wie gelang es, trotz aller Brüche in der Generationenfolge, vor allem den bedeutenden Ehefrauen der Verstorbenen, das Vermögen zusammenzuhalten und die Apotheke im Familienbesitz zu bewahren, ja ihre «Marktstellung» in der Residenzstadt Darmstadt sowie ihrer Umgebung zu sichern und auszubauen? Auf drei zentrale Faktoren wird hier eingegangen: Erstens den Umstand, dass die Apotheke als wirtschaftliche Grundlage durch die Anstellung von Provisoren und konsequente Sparsamkeit erhalten werden konnte; zweitens wie – selbst in Krisenzeiten – durch ein geschicktes Heiratsverhalten sowie eine konsequente Vererbungspolitik das Familienvermögen bewahrt und sogar gemehrt wurde; drittens auf welche Weise die «Wohlstandswahrung» durch ein von Anfang an in der Familie betriebenes Kreditgeschäft vorsichtig abwägend weiterbetrieben und ausgebaut wurde. Die Apotheke, das Heiratsverhalten und die Kreditvergabe an Privatleute und «öffentliche» Institutionen wie Kommunen und landgräfliche Kassen verwurzelten die Familie Merck tief in der Region und banden sie eng an die stets hoch verschuldeten Territorialherren. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung des durch seine vielseitigen Begabungen bekannten Kriegsrates Johann Heinrich Merck (1741–1791) für die Apotheke und das wirtschaftliche Fortkommen der Familie Merck untersucht werden. Für diesen Literaten, Naturforscher und Goethefreund war die Darmstädter Apotheke sicher kein zentraler Bezugspunkt seines Lebens, doch lassen sich vielfältige Verbindungen zu den verwandten Apothekern, insbesondere zu Johann Anton Merck, nachweisen, die der Apotheke und ihrer Entwicklung zugutekamen. Die Verheiratung seiner Tochter Adelheid mit Johann Anton Merck wurde schließlich zu einer entscheidenden Grundlage für die Fortentwicklung der wirtschaftlichen Basis der Merck-Familie. Auf welche Weise das vorhandene Kapital zusammengeführt wurde und fortan dem gemeinsamen Sohn Emanuel (1794–1855) zur Verfügung stand, wird ebenso zu analysieren sein wie die auf dieser Grundlage ermöglichte solide und moderne naturwissenschaftliche Ausbildung, mit der dieser die Geschicke von Apotheke und Familie in die Hand nahm. Nicht zuletzt ist in diesem Kapitel die Rolle der Merck-Frauen bemerkenswert und besonders herauszuarbeiten.

Allerdings blieb das Innovationspotenzial der Merckschen Apotheke auch unter Johann Anton und Emanuel zunächst noch beschränkt. Warum weitete sich das Geschäft der Apotheke aus, blieb aber zunächst noch sehr dem traditionellen ökonomischen Verhalten und der üblichen Produktpalette einer Apotheke der Frühen Neuzeit verhaftet? Um diese Fragen zu beantworten, soll das Zusammentreffen sowohl «endogener» wie «exogener» Faktoren gedeutet werden, mit deren Hilfe gerade diese Familie und diese Apotheke den Sprung in ein neues Zeitalter und eine neue Dimension wirtschaftlicher Tätigkeit schaffte: Auf der Basis einer jahrhundertelangen soliden Kapitalbewirtschaftung in der Familie, die keine größeren Ausfälle zuließ und das Familienvermögen mit aller Konsequenz zusammenzuhalten und zu vermehren bestrebt war, wurde eine moderne, naturwissenschaftliche Ausbildung des Familiennachwuchses sichergestellt, die im aufkommenden «Zeitalter der Verwissenschaftlichung» Zukunft verhieß. Emanuel hatte von seinem Vater das naturwissenschaftliche Interesse geerbt und bei seinerzeit bedeutenden Lehrern der Pharmazie und Chemie seine wissenschaftliche Kompetenz erworben. Einer von diesen, Johann Bartholomäus Trommsdorff, hatte ihn zudem gelehrt, ökonomisch zu denken, sodass er aus den ersten negativen Erfahrungen in seiner eigenen Familie mit protoindustriellen Fertigungsweisen Lehren ziehen konnte. Aber erst als sich im Gefolge der napoleonischen Umwälzungen und Reformen die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen langsam auch im 1806 zum Großherzogtum erhobenen Hessen-Darmstadt zu ändern begannen, waren die Voraussetzungen geschaffen, um, ausgestattet mit Kapital, pharmazeutischer Kompetenz und ökonomischem Sachverstand, den Aufbruch in eine neue Zukunft wagen zu können. Was Emanuel in dieser Situation gegenüber anderen auszeichnete, war am Ende sein Mut, es wirklich zu tun.

Das zweite Kapitel behandelt das Unternehmen in der Epoche der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Die allgemein üblichen Periodisierungen dieses Zeitraums sehen die chemische Industrie neben Maschinenbau und elektrotechnischer Industrie als eine der Leitbranchen der dritten Welle der Industrialisierung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die pharmazeutisch-chemische Industrie hatte ihre Wurzeln aber bereits in der Frühindustrialisierung, als Textil- und Eisenindustrie sowie Bergbau und Eisenbahn die Leitsektoren waren. Was die einschlägige Forschung zwar «Industrialisierungsschübe» der pharmazeutischen Industrie nannte,[26] waren zunächst eher Gründungsimpulse für protoindustrielle Betriebe bzw. Manufakturen, die dann – zum Teil – mit der Einführung der Dampfmaschine allmählich zu Industriebetrieben wurden. Die Entdeckung der Alkaloide brachte einen «Paradigmenwechsel in der Pharmazie» mit sich, weil nun zunehmend chemisch zu definierende Stoffe an die Stelle von pflanzlichen Drogen traten.[27] Diese Entwicklung stand im Hintergrund, als Emanuel Merck die Großherstellung von Alkaloiden begann.

In diesem Kapitel interessiert, ab wann und unter welchen Bedingungen die Mercksche Apotheke zu einem industriellen Unternehmen und ihr Inhaber Emanuel Merck zu einem industriellen Unternehmer wurden. 1827 startete Merck einen «Take-off» in drei Schritten. Er wird mit Blick auf technologische Bedingungen, das pharmazeutisch-chemisch-wissenschaftliche und verfahrenstechnische Know-how sowie die Netzwerke erläutert und findet letztlich seinen organisationslogischen Abschluss in der Gründung der Familiensozietät E. Merck im Jahr 1850. Die Darstellung des Wandels von der Apotheke zum Industriebetrieb bedingt auch einen Blick auf die Mitarbeiter, die mit der Entstehung des industriellen Betriebs aus der Apothekertradition heraus immer wichtiger wurden. Ob und wie sich Unternehmensstrukturen organisch entwickelten, zusammenwirkten und sich veränderten, wie lange beispielsweise der Prinzipal der Apotheke die «Fäden» allein in der Hand hielt, wann und wie er zu delegieren begann, ob und wie sich die staatlich regulierte Preisbildung der Apotheken in die Praxis der Massenfabrikation transferieren ließ, sind weitere für die Markt- und Konkurrenzfähigkeit eines Betriebs wie Merck wesentliche Fragen. Im Vordergrund dieser Phase steht die nachhaltig lenkende und alle Entscheidungen dominierende Persönlichkeit von Emanuel Merck als Apotheker, Wissenschaftler, Netzwerker und industrieller Unternehmer, aber auch als Vater, der durch die Erziehung der Söhne zielstrebig die Grundlagen für eine Erweiterung des Familienunternehmens legte.

Die drei Jahrzehnte der 1850er- bis in die 1880er-Jahre wirken wie eine Übergangsphase. Während die formelle Gründung des Familienunternehmens 1850 eine klare Zäsur vorgibt, lässt sich das Ende dieser Phase – auch infolge der Quellenprobleme für diesen Zeitraum – nicht genauer bestimmen, es bleibt im Jahrzehnt der 1880er-Jahre fließend. Der Tod von Emanuel Merck 1855 hinterließ zwar kein äußerlich erkennbares Vakuum, weil er selbst noch die Weichen für den Bestand der Firma gestellt hatte. Umso mehr muss nach den Ursachen für die seit den 1870er-Jahren offenkundig werdenden wirtschaftlichen, technologischen und organisatorischen Probleme gefragt werden, die eine Stagnation in dieser Übergangsphase mit sich brachten.

Welche Rolle das Netzwerk der Wissensgesellschaft seit der Frühindustrialisierung, die gegenseitige Beeinflussung durch Forschungen und Forscher dabei spielten, ist ebenso wichtig wie die Frage, ob und wie dieses Wissen bei zunehmender Konkurrenz und daraus folgenden Konzentrations- und Kartellierungstendenzen seit Ende des 19. Jahrhunderts gesichert und weiterentwickelt wurde. Das Jahrhundert der vor allem durch die wachsende Verkehrsinfrastruktur beschleunigten «Globalisierung»[28] brachte nicht nur eine – rohstoff- wie absatzbezogene – Ausdehnung der Märkte mit sich, sondern auch Konkurrenz für Merck. Warum aber wurde die Firma, inzwischen als E. Merck firmierend, ein «very early mover» und Global Player, lange bevor die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen begann?

Das sukzessive Eintreten der Enkelgeneration von Emanuel Merck seit den 1880er-Jahren und die Einstellung einer neuen Generation pharmazeutisch, chemisch und kaufmännisch geschulter Mitarbeiter bewirkten eine Revitalisierung, die mit einer erheblichen Ausweitung auf die Auslandsmärkte einherging. Aber warum genau waren die beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg von einem starken, seit dem Bau und Bezug der neuen Fabrik 1903/04 sogar rasanten Wachsen des Unternehmens begleitet? Wäre die Expansion, die notwendigerweise die Apothekentradition in den Schatten stellte, ohne die Beteiligung an weitgehenden Marktabsprachen nicht möglich gewesen? Wie veränderte die Ausdehnung die patriarchalische Unternehmenskultur?

Der Aufstieg des Unternehmens Merck wurde erst durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs abrupt unterbrochen, wie im dritten Kapitel deutlich werden soll. Die folgenden drei Jahrzehnte stellen zwar keine Degenerationsgeschichte dar, waren aber durch Dauerkrisen gekennzeichnet. Das alle Kontinente umspannende, im Krieg verloren gegangene Exportgeschäft musste mühsam wiederaufgebaut werden. Was waren die Gründe, dass dies innerhalb nur eines Jahrzehnts erstaunlich gut gelang? Erklärt die Hereinnahme firmen- und branchenfremder Manager in den 1920er-Jahren, warum das Unternehmen schließlich in den späten 1920er-Jahren und auch im «Dritten Reich» Gewinne machte? Warum arrangierte sich die Firma im «Dritten Reich» mit dem NS-Regime, warum beteiligten sich Karl Merck und der von außen in die Firma geholte Bernhard Pfotenhauer sogar an geheimen Rüstungsprojekten? Sollte die Schwächung des Familienunternehmens verhindert werden? Fürchteten die Mercks, gegenüber den mächtigeren Konkurrenten der Chemie- und Pharmabranche zu kurz zu kommen, die sich – wie die I. G. Farben – dem Regime bereits angedient hatten? Die Schilderung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen sowie der Fremd- und Zwangsarbeiter in Darmstadt soll zudem eine Antwort auf die Frage nach den Motiven und Verantwortlichkeiten liefern. Ebenso werden die Strategien der Firma in der letzten Phase des Krieges verfolgt, als es in erster Linie darum ging, den bevorstehenden Untergang des «Dritten Reiches» zu überleben. Das Kriegsende 1945 wiederum bedeutete keineswegs eine «Stunde Null». Daher bieten die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen durch die Alliierten und die Entnazifizierung eine Möglichkeit, den Umgang der Mercks mit dem fatalen Erbe des NS-Regimes zu analysieren. Die Rekonstruktion des Geschäftsgebarens des Unternehmens nach 1945 ermöglicht zudem einen Blick auf die Frage nach Kontinuität und Brüchen in den Jahren vor dem «Wirtschaftswunder».

Mehr noch als im zweiten und dritten verlagert sich im vierten Kapitel über die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg der Schwerpunkt von der Familien- zur Unternehmensgeschichte. Rückblickend betrachtet waren die Jahre seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland erfolgreich für Merck. Stets wurde ein Bilanzgewinn ausgewiesen, Mitarbeiter- und Umsatzziffern wuchsen fast durchgängig. Warum aber wurde der Umsatz zunächst fast ausschließlich in Deutschland erzielt, während dieser heute zu über 90 Prozent mit im Ausland ansässigen Kunden erwirtschaftet wird? Wie erklärt sich die enorme Internationalisierung der letzten Jahrzehnte? Auf welche Weise gelang es, die im Zweiten Weltkrieg verlorenen Tochtergesellschaften im Ausland nach und nach zurückzuerwerben? Was war die Ursache für den Internationalisierungsschub der 1960er-Jahre und die Gründung von Tochtergesellschaften in den USA, in Frankreich und in Japan? Wozu dienten die weiteren Erwerbungen und Beteiligungen in Großbritannien und Italien, später die Unternehmensübernahmen wie der französischen Lipha sowie der US-amerikanischen Sigma-Aldrich? Warum griff die Firma wie in der Zwischenkriegszeit auf die Schweizer Holdingkonstruktion zur Finanzierung und Verwaltung der ausländischen Tochtergesellschaften zurück, und warum gab man dieses Modell mit der Verschmelzung aller operativen Einheiten auf die heutige Merck KGaA im Jahr 1995 auf?

Merck zog sich aus der bewährten Massenproduktion von Vitaminen und Pflanzenschutzmitteln zurück und konzentrierte sich auf pharmazeutische «Spezialitäten». Warum jedoch dachte die Unternehmensleitung trotz einiger Rückschläge in der Produktentwicklung offenbar nie an die Aufgabe des Pharmabereichs? Waren Unternehmensübernahmen und Kooperationen mit anschließender erfolgreicher Produktion von Medikamenten (wie beispielsweise Glucophage gegen Zuckerkrankheit, das Krebsmittel Erbitux und Rebif gegen Multiple Sklerose) Teil einer langfristigen Unternehmensstrategie? Warum entwickelte sich die Chemiesparte, heute unter dem Signum «Performance Materials», mit den Flüssigkristallen zuletzt zu wahren Verkaufsschlagern? Wie erklärt sich der Erfolg beim Geschäft mit Pigmenten, die vor allem in der Automobil- und Kosmetikindustrie verwendet werden? Die dritte Säule des «Tausendfüßlers» Merck bildet das modernisierte Laborgeschäft, heute unter dem Label «Life Science». Die Mitarbeiter dieses Bereiches verkaufen heute Tausende von Chemikalien, die hauptsächlich in der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln, aber auch in anderen Branchen, etwa der Nahrungsmittelindustrie, verwendet werden. Dieses Geschäft kann auf eine lange Tradition im Hause Merck zurückblicken, denn seit vielen Jahrzehnten stellt Merck derartige Waren her. Insbesondere die großen Übernahmen der letzten Jahre – Millipore und Sigma-Aldrich – verhalfen dem Bereich zu neuer Bedeutung.

Die Steuerung dieses vielseitigen, rasch wachsenden und inzwischen großen Unternehmens erfordert Managementkapazitäten, die jenseits der Fähigkeiten einer Familie liegen. Der Neuaufbau gelang, zunächst mit Karl Merck, später mit Hans Joachim Langmann an der Spitze. Freilich gab es auch Perioden, in denen die Entwicklung weniger geradlinig verlief. Insbesondere die späten 1950er- und frühen 1960er- sowie die späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre bargen Herausforderungen. In beiden Fällen ging die unbefriedigende Entwicklung der Umsatz- und Ertragsziffern mit einem mühsamen Umbruch an der Unternehmensspitze einher. Im Sommer 1959 trat Karl Merck vom Vorstandsvorsitz zurück, aber erst zwei Jahre später in den Aufsichtsrat ein. Selbst danach dauerte es noch ein paar Jahre, bis das Unternehmen unter der Leitung von Langmann zunächst stabilisiert und, trotz eines Übernahmegesuchs der BASF, später als selbständiges Familienunternehmen ausgebaut wurde. Kritisch wurde es erneut, als Langmann 1989 das 65. Lebensjahr erreichte und innerhalb der Familie vor dem Hintergrund einer schwächelnden Unternehmensentwicklung die Nachfolgefrage offen diskutiert wurde. War die Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien und die Kapitalerhöhung an der Börse, in deren Folge die Familie noch 75 Prozent der Anteile hielt, eine Voraussetzung, um die Chancen von Europäisierung und Globalisierung ergreifen und Merck von einem deutschland-zentrierten zu einem globalen Unternehmen umzubauen? Warum zogen sich die Familienmitglieder allmählich aus der operativen Geschäftsleitung zurück? Ist Merck seit der Jahrtausendwende mit bereits dem vierten familienfremden Geschäftsleitungsvorsitzenden noch ein klassisches Familienunternehmen? Hat sich die Familie Merck in die Rolle eines passiven Großaktionärs zurückgezogen, oder spielt sie mit ihren inzwischen 155 Gesellschaftern über den Familien- und Gesellschafterrat noch eine entscheidende Rolle? Daher wird auch untersucht, wie die informelle Entscheidungsfindung unter den Teilhabern und die formelle Steuerung der Besitzwahrung ablaufen, die dazu dient, die Fortexistenz von Merck als selbständigem Familienunternehmen zu sichern.

Quellen

Familienunternehmen sind in der Regel mehr als Unternehmen mit anderen Besitz- und Organisationsstrukturen an ihrem eigenen Herkommen und ihrer Geschichte interessiert. Dies zeigt sich meist im Aufbau und der Pflege eines professionell geführten Archivs. Auch für die gute Darmstädter Überlieferung ist das über Jahrhunderte gegebene Interesse vor allem der Familie und der Firmenleitung ursächlich. Die Bedingungen für die Erforschung der Geschichte der heute global agierenden Merck-Gruppe mit zentralem Firmensitz in Darmstadt sind insgesamt betrachtet und im Vergleich zu anderen Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie günstig, da einschlägige archivalische Quellen in bemerkenswert großer Dichte vorhanden sind. Diese Aussage gilt im Prinzip für die gesamte Zeitspanne seit 1668 – jenem Jahr, in dem Jacob Friedrich Merck die Darmstädter Apotheke am Schlossgraben erwarb, auf deren Tradition sich das moderne Unternehmen beruft. Daher bilden die Bestände des Merck-Archivs auch für alle Kapitel dieser ersten wissenschaftlichen Gesamtdarstellung der Unternehmensgeschichte die wichtigste und am ausgiebigsten genutzte Überlieferung. Das Merck-Archiv vor allem kann folglich – neben dem Firmenmuseum, den Ausstellungsbereichen und dem Bibliotheksbestand – innerhalb wie außerhalb des Unternehmens als der zentrale und wichtigste Erinnerungsort der exzeptionell langen Firmengeschichte bezeichnet werden.

Wie inzwischen bei Projekten dieser Art üblich, wurde den Verfassern der unbeschränkte Aktenzugang im Merck-Archiv ebenso zugesagt und vereinbart wie der Verzicht auf jeglichen inhaltlichen Eingriff in Manuskript und Buch. Die Finanzierung erfolgte über ein Drittmittelprojekt an der Universität Bonn. So erfreulich es ist, dass die Quellen im Merck-Archiv eine umfassend Binnensicht der Merck-Geschichte ermöglichen, gibt es doch zahlreiche Lücken, die durch eine systematisch ergänzte Überlieferung aus auswärtigen Archiven geschlossen werden mussten. Auch die Sicht von außen – sei es jene der Konkurrenten, sei es staatlicher Akteure – wurde in erster Linie durch externe Archivalien möglich. Zudem war es notwendig, die Apotheken-Vorgeschichte der Firma Merck regionalgeschichtlich zu betrachten, weil die spezifischen landeshistorischen Rahmenbedingungen für die ökonomische Entwicklung von der Vormoderne bis heute von ausschlaggebender Bedeutung waren. Insgesamt wurden über 56 Archive im In- und Ausland auf relevante Quellen angefragt und schließlich Aktenmaterial aus über zwei Dutzend Archiven ausgewertet.

Das Merck-Archiv

Das heutige Firmenarchiv von Merck geht einerseits auf das 1905 gegründete Familienarchiv zurück, andererseits auf Bestände des Unternehmens, die 1959 in einem «Haus-Archiv» zusammengeführt wurden. Diese Provenienz muss in Verbindung mit unterschiedlichen bzw. wechselnden Funktionen und Schwerpunktsetzungen beider Bestände bei allen Recherchen bedacht werden. Nach der Gründung 1905 stand zunächst eine intensive Familiengeschichtsforschung im Vordergrund, die auch archivalisch lange Zeit dominant blieb und mit spezifischen Traditionsbildungen einherging. Die Bestände für die Zeit vor 1800 etwa sind durch diese intendierte Traditionsbildung stark beeinflusst, denn sie stellen nur z. T. eine gewachsene Überlieferung dar. Viel mehr noch sind sie das Ergebnis einer intensiven Such- und Sammeltätigkeit, die teilweise umfängliches Material unterschiedlichster Herkunft zusammenführte, um Aufschluss über Tätigkeit und Schicksale der Familienvorfahren zu erlangen. Die Erträge dieser Sammeltätigkeit wurden dann zu personengeschichtlich sortierten Pertinenzbeständen gebündelt. Das ältere Signaturensystem des Familienarchivs zeigte diese Vorgehensweise noch, denn es folgte der Systematik des genealogischen Tafelwerks für die Familie Merck. Genau dieses Interesse an der Familientradition spiegelt auch die 1913 ins Leben gerufene «Mercksche Familien-Zeitschrift»[29] wider. Sie schloss bewusst an familiengeschichtliche Forschungen an und intensivierte sie insbesondere in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Populäres Interesse an der Erforschung familiärer Ursprünge ging einher mit neu aufkommender methodisch-reflektierter, wissenschaftlicher Familienforschung, wie sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr nur von adeligen, sondern auch von bedeutenden bürgerlichen Familien betrieben wurde.

Typischerweise engagierten sich dafür evangelische Pfarrer, die im Allgemeinen treibende Kräfte der genealogischen Bewegung waren. Der erste Archivar der Familie Merck war seit etwa 1907 Pfarrer Karl Spieß (1873–1921),[30] ihm folgte 1921 der Theologe und Archivar Fritz Herrmann (1871–1938).[31] Nach seinem Tod übernahm Otfried Praetorius (1878–1964) die Schriftleitung der Familien-Zeitschrift und die Beratung des Hausarchivs, zunehmend ergänzt durch Friedrich Wilhelm Euler (1908–1995), der sich schon vor dem «Dritten Reich» der antisemitischen Genealogie und Rassenhygiene gewidmet hatte.[32] Zwar wurde der Nationalsozialismus in den Jahren des «Dritten Reiches» in der «Merckschen Familien-Zeitschrift» kaum thematisiert, aber in der Nachkriegszeit wurde das Thema in Archiv und Firma für lange Zeit zum Tabu.

1960 wurde Euler durch Protektion des Merck-Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Fritz Groos (1889–1971) und, wohl gegen den Willen von Fritz Merck (1889–1969), Nachfolger des inzwischen über 80-jährigen Praetorius. Dass er dann in seiner Heimatstadt Bensheim mit finanzieller Hilfe des Hauses Merck das Institut für Personengeschichte, vormals Institut zur Erforschung historischer Führungsschichten, gründen konnte,[33] unterstreicht das zu dieser Zeit nach wie vor dominante und bestandsprägende genealogische Interesse im damaligen Archiv. Euler blieb zwar nur drei Jahre Archivleiter, behielt aber die Schriftleitung der Familien-Zeitschrift bis zu deren Einstellung im Jahr 1975. Mit der Gründung einer eigenen Abteilung Öffentlichkeitsarbeit 1963 und der Übernahme der Archivleitung durch Dr. Fritz Ebner (1922–2010), vor allem aber seit der Professionalisierung des Archivs Ende der 1970er-Jahre (Archivleitung 1979–2001 Dr. Ingunn Possehl, seit 2001 Dr. Sabine Bernschneider-Reif) wurden die traditionellen Schwerpunktsetzungen überwunden und eine konsequente Bestandsbildung jenseits spezifischer Interessen im Sinn moderner Archivpflege durchgesetzt. Dazu gehörten auch die systematische Bestandserschließung in einer elektronischen Datenbank und die Vergabe entsprechender Signaturen. Eine neue, selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte begann 1998 unter anderem mit der Initiative zur Aufnahme von Zeitzeugengesprächen mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und dem Beitritt Mercks zur Stiftung «Erinnerung, Verantwortung und Zukunft» (EVZ), einem Entschädigungsfonds der deutschen Wirtschaft, im Februar 2000.

Die langjährigen Prägungen der älteren Bestandsbildung bleiben jedoch ein Spezifikum des Archivs und müssen quellenkundlich kritisch beachtet werden.[34] Für die Zeit bis etwa 1800 ist zwar eine mengenmäßig umfangreiche, inhaltlich aber nur bedingt substanzielle Überlieferung im Merck-Archiv vorhanden (Bestände A, B und C), die sich stark auf einzelne Personen und wenig bis gar nicht auf die Geschichte der Merckschen Apotheke erstreckt. Zusammenhängend überlieferte Geschäftskorrespondenz und serielle Quellen liegen nicht vor. Die Überlieferungsdichte ist gering und durch eine Vielzahl unsystematisch überkommener Einzelakten aus unterschiedlichen Provenienzen gekennzeichnet. Unterlagen der 1668 von Jacob Friedrich Merck gekauften Apotheke sind nur noch in Einzelstücken vorhanden. Erst ab etwa 1800 liegen einzelne Geschäftsbücher vor, die einen gewissen Einblick in das unternehmerische Handeln der Familie Merck und die innovative Qualität der von ihnen hergestellten pharmazeutischen Produkte erlauben. Vor diesem Hintergrund spielen für diesen Zeitabschnitt Splitterüberlieferungen in den regionalen staatlichen und kommunalen Archiven sowie an den verschiedenen Wirkungsorten der frühen Merck-Apotheker (Danzig, Schweinfurt etc.) eine wichtige Rolle, um Lebensstationen oder geschäftliche Tätigkeiten quellenbasiert absichern zu können. Auch die mittlerweile edierten Korrespondenzen etwa Johann Heinrich Mercks und vor allem des Lehrers von Emanuel Merck, Johann Bartholomäus Trommsdorff, gewähren wichtige Einblicke.

Ein solcher Befund gilt partiell ebenfalls für das Kapitel, das sich mit dem 19. Jahrhundert befasst.[35] Auch dieses schöpft noch zum Teil und vor allem für die Zeit bis 1890 aus dem überwiegend aus personengeschichtlich motivierter Sammelleidenschaft erwachsenen Beständen. Deshalb darf die punktuell erhalten gebliebene Überlieferung von Kontokorrent- und Kopierbüchern als Glücksfall angesehen werden, weil deren großteils hier erstmals geleistete, quellenkritisch schwierige Auswertung es ermöglicht, die weltweiten Verbindungen Emanuel Mercks ebenso wie die zunehmende Produktdiversifizierung zu verdeutlichen. Für den Zeitraum zwischen 1850 und der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre klafft eine besonders eklatante, bereits von den Zeitzeugen beklagte Überlieferungslücke,[36] weil wahrscheinlich mit dem Umzug in die neue Fabrik im Norden Darmstadts zahlreiche für die laufenden Geschäfte nicht mehr benötigte Unterlagen entsorgt wurden oder verloren gingen. Nachdem im September 1897 zunächst das Wissenschaftliche Laboratorium und dann die Leiter aller Betriebe von der Unternehmensleitung aufgefordert worden waren, rückwirkend ab dem Geschäftsjahr 1896/97 jährliche Berichte über ihre Arbeit einzureichen,[37] verbesserte sich die Überlieferungslage erheblich.[38] Unerlässlich sind für diese Zeit sowie für die folgenden Jahrzehnte die Korrespondenzen der Teilhaber (Bestand B), die Materialien zur Gründung der «Interessengemeinschaft» sowie deren Arbeit (Bestand H 20), zur Internationalisierung des Unternehmens (weitere H-Bestände), zu Personal und Sozialwesen (Bestand J), zur Betriebsorganisation und zum Fabrikbau (Bestände J und O) sowie Verträge (Bestand R).

Die bis nach dem Ersten Weltkrieg wenig formalisierten Leitungsstrukturen bzw. -gremien und das Fehlen von Aufzeichnungen über deren Entscheidungen bringen das Problem mit sich, dass die Rolle der Teilhaber, dann auch im Zusammenwirken mit den leitenden Mitarbeitern, meist nur indirekt erschließbar ist. Entscheidungsprozesse bleiben trotz unterschiedlich umfänglichen Aktenmaterials häufig unklar, weil wichtige Absprachen vermutlich mündlich getroffen wurden und Besprechungsprotokolle vor allem zur Zusammenarbeit in der Pharma-Interessengemeinschaft, in der Merck eine führende Rolle spielte, nur als Ergebnisprotokolle erhalten sind. Das ausdrücklich als «geheim» gekennzeichnete Buch «Protokolle der Geschäftsabende» bietet für den Zeitraum zwischen 1894 bis 1900 einen punktuellen Einblick in Entscheidungen der Teilhaber. Deren Korrespondenz untereinander ermöglicht ebenfalls partielle Einblicke in Entscheidungsprozesse, doch ist sie so ungleichgewichtig überliefert, dass daraus nur mit Vorsicht Rückschlüsse gezogen werden können. Schließlich gilt es zu beachten, dass die an sich sehr wertvollen Jahresberichte der Arbeitsbereiche, die auch für den nachfolgenden Zeitraum überliefert sind, gelegentlich mit der Intention geschrieben sein können, Erfolge vorzuweisen und die Bedeutung der eigenen Arbeit hervorzuheben. Dies gilt noch mehr für die Tätigkeitsberichte, die anlässlich von Dienstjubiläen erbeten wurden, auch wenn sie – insbesondere im Einzelfall von leitenden Mitarbeitern – eine facettenreiche, sehr wichtige Ergänzung der Überlieferung bieten. Über Arbeitsverträge, Gehälter, Löhne und andere soziale Themen ermöglicht das Archivmaterial punktuell interessante Aussagen, während serielles quantitatives Material zur Geschäftsentwicklung erst ab den 1890er-Jahren zur Verfügung steht. Auch zu einigen wichtigen Personen wie Louis Hoffmann (1825–1892), dem ersten Prokuristen, findet sich keine Überlieferung mehr.

Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt zu den bereits für das 19. Jahrhundert genannten Quellengattungen mit den beschriebenen quellenkritischen Problemen eine reichhaltige Geschäftskorrespondenz und dichter werdende Privatkorrespondenz der Familie hinzu. Dieses mehrere Hundert Archivsignaturen umfassende Material wurde für diese Studie erstmals umfassend ausgewertet. Zudem wurde auch auf eine in den 1970er- bis 1980er-Jahren entstandene Überlieferung von Zeitzeugenbefragungen zurückgegriffen, die trotz ihrer quellenkritischen Problematik wertvolle Aufschlüsse über Themen gibt, zu denen keine schriftlichen Quellen mehr vorhanden sind. Einzelne Themenbereiche wie etwa die «Palastrevolution» des Geschäftsführers Bernhard Pfotenhauer im Jahr 1942, die beinahe das Ende des Familienunternehmens bedeutet hätte, sind außerordentlich gut dokumentiert und können daher wegen ihrer zentralen Bedeutung eingehend dargestellt und analysiert werden. Dünn ist hingegen die Überlieferung zu den zeitweilig existenziell wichtigen Bankenbeziehungen des Unternehmens wie auch zur Wasserstoffperoxid-Produktion, die Merck in die Kriegswirtschaft des «Dritten Reiches» verstrickte. Während die Unterlagen zur Beschäftigung von Fremd- und Zwangsarbeitern recht aussagekräftig sind, fehlen vor allem die Akten zu der wesentlich durch Karl Merck und Bernhard Pfotenhauer gesteuerten «Geheimgesellschaften», die bei Kriegsende offenbar systematisch vernichtet wurden und selbst durch Parallelüberlieferungen nicht mehr befriedigend rekonstruiert werden können. In der Nachkriegszeit fand eine Beschäftigung mit den NS-Jahren kaum statt. Die «Palastrevolution» Pfotenhauers wurde gelegentlich, so in einer Ansprache Fritz Mercks, verschlüsselt als für den Familienzusammenhalt «sehr trauriges Ereignis» erwähnt.[39] So wenig, wie von 1933 bis 1945 der Nationalsozialismus in der «Merckschen Familien-Zeitschrift» thematisiert wurde, spielte die NS-Zeit in den folgenden Jahrzehnten eine Rolle. Typischerweise finden sich dort stattdessen umfangreiche Artikel wie «Kriegsrat Merck fördert den Kupferstecher Johann Leonhard Zentner (1761–1802)».[40] Selbst bei der 300-Jahr-Feier im Jahr 1968 blieb die Periode des «Tausendjährigen Reiches» vollkommen ausgespart.[41]

Eine aus vergleichbaren Untersuchungen bekannte, spezifische Situation ergibt sich mit Blick auf die Vorgänge in der 350-jährigen Unternehmenshistorie für jene Zeit, in der die Geschichte – mit den Worten Barbara Tuchmans – «noch qualmt».[42] Angesichts der Quellendichte konzentriert sich das Kapitel für die Zeit nach 1945 auf Unterlagen von Geschäftsführung und Vorstand. Etwa 400 Aktenbände, vor allem Protokolle, wurden umfänglich ausgewertet. Allerdings musste auf diese Überlieferung ab dem Geschäftsjahr 2006 verzichtet werden, da diese für den Geschäftsgang teilweise noch wichtigen Unterlagen noch nicht im Archiv verfügbar sind. Zudem lassen die meist als Ergebnisprotokolle abgefassten Texte die Intentionen der einzelnen Entscheidungsträger kaum erkennen. Um diesem Manko einigermaßen abzuhelfen, wurden weitere Korrespondenzen und einige Handakten ausgewertet. Aus diesen Materialien lassen sich spezifische Ereignisse der Firmengeschichte, wie beispielsweise der Wiedererwerb der im Zweiten Weltkrieg verlorenen ausländischen Tochterunternehmen, die Gründung der AG 1953 und deren Rückabwicklung 1970, die Hintergründe und Folgen des Streiks 1971 sowie der Börsengang 1995 auf guter Aktengrundlage nachvollziehen. Auch die Organisation des Unternehmens, seine Sozialpolitik und die Internationalisierung des Geschäftes können angemessen nachgezeichnet werden.

Als eine besonders ertragreiche Quelle erwiesen sich verschiedene Berichte von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Unternehmensberatungen, die in alle relevanten Unternehmensbereiche leuchten, freilich besonders quellenkritisch gelesen werden müssen, weil zeitbedingte ökonomische Sichtweisen die Wahrnehmung ihrer Autoren bestimmen. Gleiches trifft auch auf einige überlieferte Erinnerungsberichte leitender Angestellter oder Spartenleiter zu, die für die Analyse interner Vorgänge und die Arbeitsschwerpunkte hilfreich, aber natürlich subjektiv gefärbt sind. Während auswärtiges Archivgut zur jüngsten Unternehmensgeschichte nur in Ausnahmefällen zur Verfügung steht und beispielsweise Bestände etwa des hessischen Wirtschaftsministeriums noch gar nicht benutzbar sind, findet sich in einschlägigen Wochenzeitungen und Magazinen ergänzendes Material. Aufschlussreich waren auch die Interviews, die mit einigen führenden Mitarbeitern geführt wurden. Trotz der umfänglichen zeitgeschichtlichen Überlieferung mussten allerdings auch für die jüngste Zeit einige zentrale Fragestellungen und Problembereiche unbearbeitet bleiben, weil das dazu notwendige Quellenmaterial nicht vorhanden ist. So sind beispielsweise kaum Daten zu Umsatz und Gewinn, zu Renditen, Krediten, Rücklagen oder stillen Reserven verfügbar, auch wenn solche Daten in offiziellen, gedruckten Geschäftsberichten auftauchen – die hier vorgelegten Daten sind für die historische Analyse entweder zu lückenhaft oder nicht validierbar. Zur Holding Merck AG in Zug, die als Finanzierungsinstrument der OHG zentral wichtig war, ist zwar Material vorhanden. Die Überlieferung der ausländischen Tochterfirmen im Konzernarchiv hingegen ist noch unvollständig. Schließlich bleibt festzuhalten, dass zeithistorische unternehmensgeschichtliche Forschungen an Grenzen des Aktenzugangs stoßen, weil bestimmte Personalakten den Datenschutzbedingungen unterliegen und Nach- und Vorlässe nur in eingeschränktem Maße zugänglich sind.

Weitere Archive

Neben dem Merck-Archiv wurden weitere Archive benutzt. Für den Zeitraum 1827 bis 1914 fanden sich im Haus der hessischen Geschichte Darmstadt (in dem Staatsarchiv, Hessisches Wirtschaftsarchiv und Stadtarchiv untergebracht sind) sowie in den Unternehmensarchiven der BASF, von Schering sowie von Bayer und schließlich im Bundesarchiv vereinzelt ergänzende Unterlagen. Insgesamt hat aber die Überlieferung aus externen Archiven geringere Bedeutung: Im Bayer-Archiv findet sich Material zur Zusammenarbeit von Bayer und Merck unter anderem bei Veronal, in der Staatsbibliothek Berlin waren ebenfalls Nachlässe relevant. Für den Zeitraum ab 1914 halten auswärtige Archive wie das Bayer-Archiv oder das Archiv der Firma Hoffmann-La Roche (Kooperationen, Konkurrenzsituation), die Bundesarchive in Bern (Holding-Gesellschaften in der Schweiz) und Berlin, das Institut für Zeitgeschichte (NL Albert Pietzsch) und das Hessische Wirtschaftsarchiv wie das Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg) relevante ergänzende Unterlagen bereit. Aus den Beständen der National Archives in Washington, D. C. lassen sich wichtige Hinweise auf die Besatzungszeit nach 1945 und die amerikanischen Strategien gegenüber der chemischen Industrie in Deutschland und Merck entnehmen.

Literatur

Die ausführlichste Darstellung der Merck-Geschichte des 19. Jahrhunderts stammt aus der Feder des langjährigen leitenden Mitarbeiters Carl Löw und geht auf eine Anregung der damaligen Teilhaber zurück. Sie ist unter dem Titel «Heinrich Emanuel Merck» vor allem dem industriellen Gründer gewidmet, auch wenn sie einleitend zeitlich zurückgreift. Sie beruht – allerdings weitgehend ohne Quellensignaturen – auf Archivmaterialien, enthält zahlreiche Faksimiles von Dokumenten, doch hat Löw sie als Pharmazeut und ganz ohne den Blick des kritisch-systematisierenden Historikers verfasst. Da er das Manuskript im Juli 1944, noch vor der Bombardierung Darmstadts im September dieses Jahres, abschloss, konnte er wohl noch Quellen benutzen, die heute nicht mehr vorhanden sind;[43] das Buch erschien 1951. Ein Jahr später ließ Löw eine knapp gefasste Gesamtdarstellung der Unternehmensgeschichte folgen.[44] Sorgfältig transkribiert, hilfreich kommentiert und durch Register erschlossen ist die Edition von Fritz Herrmann.[45] Die dreibändige Studie von Wilhelm Vershofen verwertet einige wichtige Aktenstücke, verzichtet jedoch wie die vorgenannten auf genaue Quellenangaben.[46]

Viele historische Publikationen zur chemischen Industrie im 19. Jahrhundert erwähnen Merck nur am Rande,[47] während die pharmaziehistorische Fachliteratur die Bedeutung der aus Apotheken entstandenen Industriebetriebe durchaus würdigt.[48] Inzwischen gibt es jedoch etliche, an unterschiedlichsten Stellen veröffentlichte Untersuchungen zu Einzelthemen, die Bestände des Merck-Archivs für ihre Fragestellungen nutzten oder zu einzelnen Aspekten ausgewertet haben.[49] Auch ältere Studien wurden berücksichtigt, weil sie Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftlichkeit miteinander verbanden und gelegentlich selbst kritische Aspekte nicht aussparten. Zwar verfügen sie über keinen wissenschaftlichen Apparat, aber sie geben doch einen Eindruck über viele Aspekte der Geschichte und manche Probleme des Unternehmens.[50] In der frühen Nachkriegszeit wurden die erwähnten Darstellungen Carl Löws veröffentlicht, aber eine Beschäftigung mit den NS-Jahren ist in Archiv und Firma nicht erkennbar. Auch in den 1948 wiederbelebten Ansprachen an die Mitarbeiter blieben die NS-Jahre weitgehend ausgespart, wenn man von der Erwähnung der Leiden der Soldaten an der Front und der Zerstörung des Darmstädter Werks durch die Großangriffe im Jahr 1944 absieht.[51]

Als Überblicksdarstellung aus jüngerer Zeit ist vor allem die 1989 erschienene Arbeit von der damaligen Leiterin des Merck-Archivs, Ingunn Possehl, «Modern aus Tradition», zu nennen,[52] die seit 2002 unter dem Titel «Was der Mensch thun kann …» in der 3. überarbeiteten und erweiterten Auflage vorliegt.[53]

I.

Ursprünge und Ausgangslagen eines chemisch-pharmazeutischen Unternehmens

von Michael Kißener unter Mitarbeit von Ludolf Pelizaeus und Frank Kleinehagenbrock

Abbildung 1  Kugelfisch aus der Objektsammlung des Merck-Archivs.

1.Anfänge

Wer nach den Ursprüngen des heute weltweit bekannten chemisch-pharmazeutischen Großunternehmens Merck sucht, wird sie nicht allein zwischen Mörsern, Phiolen und Waagen einer kleinen Darmstädter Apotheke im 17. Jahrhundert finden. Die Anfänge der jahrhundertealten Firma liegen vielmehr in sehr differenzierten unternehmerischen Ansätzen und familiären Strategien der Darmstädter Familie Merck. Zwar spielte dabei das Apothekengeschäft stets eine zentrale Rolle, ebenso wichtig waren aber eine gezielte Heiratspolitik und das geschickte Verleihen von Geld. Dadurch entstand über lange Zeit hinweg jene finanzielle Grundlage, mit der zu Beginn des Industriezeitalters in Hessen die ersten Schritte hin zum erfolgreichen Aufbau eines großen Pharmakonzerns gewagt werden konnten.

1.1Herkunft der Familie

Ursprünglich stammt die Familie Merck aus Hammelburg, wo die Geburt von Jacob Merck (1520–1579) als Sohn von Antonius Merck (1480–1532) und seiner Ehefrau Anna, einer geborenen Kuhn, nachweisbar ist.[1] Einzelne Hinweise über bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende Wurzeln der Familie, die gelegentlich schon in einschlägiger Literatur formuliert wurden, müssen als unsicher, wenn nicht spekulativ gelten.[2] Von Jacob Merck ist bekannt, dass er im Rat der Stadt aktiv und in zweiter Ehe mit Amalia Hartlaub aus Fulda, der Tochter des Rates Johann Hartlaub, sowie in dritter Ehe mit Katharina Wolff verheiratet war.[3] Sein Sohn Johann Merck (1573–1642) trat in den Dienst des Riedeselschen Rats und Amtmanns Werner Crispinus, kämpfte dann als Soldat im habsburgischen Heer gegen die Türken in Kroatien und erwarb sich später im Rat (1601) und als Bürgermeister (1602) in Hammelburg Ansehen.

Abbildung 2   Die Ratsapotheke, in der Jacob Friedrich Merck gelernt hat, ist bis heute unten links im Rathaus der Stadt Schweinfurt untergebracht. Der Holzstich eines unbekannten Künstlers zeigt den Bauzustand vor 1856 (?).

Dennoch wurde er zum Begründer der Schweinfurter Linie der Familie Merck, denn zu Beginn des 17. Jahrhunderts, 1604, zog die lutherische Familie in die nahe Reichsstadt. Der Grund für diesen Ortswechsel war der Versuch des Territorialherrn von Hammelburg, des Fuldaer Fürstabtes Balthasar von Dernbach, sein Territorium im Zeitalter der Konfessionalisierung nach den Regelungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 («cuius regio, eius religio») bekenntnismäßig zu vereinheitlichen, was zur Auswanderung der standhaft lutherischen Bürger und Einwohner, insbesondere der Amtsträger, führte.[4] Diese Entwicklung hielt Johann Merck (1573–1642) in seinen ab 1598 entstandenen Aufzeichnungen zu Geburten und Heiraten in der Familie fest: «Als im Augusto Anno 1602. die Endtuhrteil [des Reichshofrats] zwischen H. Julio Bischoffen zu Wirzburgk und H. Balthasarn [von Dernbach] abbten des Stiffts Fuldae publicieret, und dardurch der Abbt zur restitution des Stiffts widerumb gelanget, ist doruff die Enderung der Religion Sobalten nach beschehener Introtuction im ganzen Stifft Fulda Vorgenommen worden, derowegen ich mich durch Gottes Hilff mit Weib und Kindern erhoben, und durch ehrlicher leuthe beförderung nach Wetzhaußen Zum Vogteydienst doselbsten begeben, und meine gütter wein und anders zu Hammelburg so gut ich vermöcht, nacheinander verkaufft, bin zu meinem Dienst Ufgezogen Petri [29.6.]1604.»[5] Damit nahm Johann Merck ein im Augsburger Religionsfrieden von 1555 verbürgtes Recht wahr. Seiner Gewissensfreiheit folgend, durfte er auswandern, hatte aber seinen fuldischen Besitz zu veräußern.

Vor der endgültigen Niederlassung in Schweinfurt trat Johann Merck 1604 also in die Dienste von Hans Eitel Truchsess von Wetzhausen, einem lutherischen Ritter. Seit 1598 war er mit Anna, der Tochter des Hammelburger Ratsherrn Jakob Brehm, eines führenden Vertreters der lutherischen Partei in Hammelburg, verheiratet. Von ihr hieß es später, sie sei sehr glaubenstreu gewesen, und diese Standhaftigkeit im lutherischen Bekenntnis sei ihr von ihrem Vater vermittelt worden.[6] Sie kann als prägendes und öffentlich wahrgenommenes Merkmal dieser Exulantenfamilie des frühen 17. Jahrhunderts betrachtet werden. In Wetzhausen übte Johann Merck das Amt des Vogts des Truchsessen aus. Da er seine angestammten Güter hatte veräußern können, vermochte er dort seine wirtschaftlich vergleichsweise gut gestellte Existenz zu sichern. Vier Jahre lang amtierte er in Wetzhausen, doch weil, so Johann Merck in seinen Aufzeichnungen weiter, «die bestallung ettwas gering und allerhandt beschwerung mit untergelaffen, hab ich mich wider zu bestendiger Haußhaltung gesehnet, daruff im Nahmen Gottes Hans Pfisters wittiben ihr Hauß zu Schweinfurt in der Zehendtgassen mit dem Ercker abkaufft, meinen Dienst resigniert».[7]

Kurz vor seiner Abreise aus Wetzhausen starb jedoch seine erste Frau 1608, «doruff ich mich folgenden Petri mit 3 stieff und 3. rechten Kindern trawrig nacher Schweinfurt begeben, und eine newe Haußhl. angerichtet».[8] Schon im folgenden Jahr 1609 machte er erneut eine «gute Partie», indem er Anna Margarethe Ruprecht (1586–1612), die Tochter eines Dr. jur. Johann Ruprecht, heiratete.[9] Und auch als seine zweite Frau nur wenige Jahre später, 1612, starb, konnte er durch die 1613 erfolgte Heirat mit Anna Maria Scheffer, der Tochter des vormaligen fürstabtlichen Küchenmeisters und späteren Hammelburger Kellners Johann Hartmann Scheffer, der ebenfalls zum Kreis der in Schweinfurt zusammengekommenen lutherischen Exulanten aus Fulda und Würzburg zählte, seine neue Existenz in Schweinfurt absichern, wo er 1611 zusätzlich zum Haus in der Zehntgasse das Gasthaus zum «Schwarzen Bären» erworben hatte. Dieses hatte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem der führenden Gasthäuser der Reichsstadt entwickelt und diente vor allem dem Adel des Umlands als Unterkunft in der Stadt. 1622 verkaufte Johann Merck das Gasthaus an einen seiner Schwiegersöhne und widmete sich fortan dem Weinhandel. Schon 1609 war er in den reichsstädtischen Rat gewählt worden. 1637 wurde ihm das Amt des Reichsvogts übertragen, des Stellvertreters des Kaisers in der Stadt,[10] – eine Würde, die stets dem Ältesten aus dem Bürgermeister-Kollegium verliehen wurde.[11] Am Ende seines Lebens war Johann Merck damit voll und ganz in die bürgerliche Gesellschaft der fränkischen Reichsstadt integriert.

Schon hier werden die Rahmenbedingungen einer bürgerlichen Existenz in der Frühen Neuzeit deutlich: vorteilhafte Heiraten, die Schaffung und Nutzung von Netzwerken sowie die Sicherung und Ausweitung des erworbenen Vermögens durch ertragreiche Stellungen und Geschäfte.[12] Zusätzlich kann bei Johann Merck ein Verhalten beobachtet werden, das für vermögende Bürger in dieser Epoche gängige soziale Praxis war: Er verlieh sein Geld. So genossen Adelige aus der Umgebung – wohl auch aufgrund von offenen Gasthausrechnungen –, aber auch die Reichsstadt während des Dreißigjährigen Krieges bei ihm Kredit.

Drei Töchter und vier Söhne konnte er in der Folgezeit wiederum durchaus vorteilhaft verheiraten, ein geschwisterliches Netzwerk von herrschaftlichen Dienern einschließlich Pfarrern und geografisch weit gespannt tätigen Kaufleuten begründen, die ihre Karrieren bereits auf einem hohen Bildungsstand aufbauten. Unter diesen Geschwistern sind im Hinblick auf die Unternehmensgeschichte Merck der älteste Sohn aus zweiter Ehe Georg (1611–1683) von Bedeutung, weil er als Erster die Apothekerkunst in der Schweinfurter Ratsapotheke lernte,[13] dann aber vor allem Jacob Friedrich[14] (1621–1678).

1.2.Der erste Merck-Apotheker in Darmstadt: Jacob Friedrich Merck (1621–1678)

Jacob Friedrich Merck entstammte der dritten Ehe Johann Mercks mit Anna Maria Scheffer und wurde am 18. Dezember 1621 geboren. Auch er war zum Apotheker ausersehen worden und hatte ebenfalls eine Lehrzeit an der Schweinfurter Ratsapotheke absolviert, bevor er 1641 die Stadt als «Geselle» verließ.

Der Beruf des Apothekers fußte im 17. und 18. Jahrhundert noch nicht auf einem akademischen Studium, sondern setzte wie in einem Handwerk eine mehrjährige Lehrzeit als Geselle bei einem etablierten Apotheker voraus.[15] In Frankreich war die Akademisierung des Pharmazeutenberufs schon im 17. Jahrhundert vorangeschritten, indem etwa in Montpellier eine Professur für Pharmazie existierte, im Reich hingegen galt der Beruf des Apothekers noch eher als eine Kunst. Ebendeshalb gehörten Apotheker im Unterschied zu anderen europäischen Ländern hier in der Regel auch nicht wie die Handwerker einer Zunft an, die ihren wirtschaftlichen Aktivitäten enge Grenzen setzte, sondern waren zumeist auf ihren Sonderstatus außerhalb der Zünfte bedacht.[16] Die Lehre endete mit einer Prüfung und einem Gesellenbrief, die den Ausgebildeten befähigte, an einer Apotheke z.B. als «Provisor», also quasi als deren Geschäftsführer, zu arbeiten oder aber, bei entsprechendem Vermögen, nach Examen und Vereidigung ein Apothekenprivileg oder andere Rechtsgrundlagen für den Betrieb einer Apotheke zu erwerben.

Die Tätigkeit als Apotheker garantierte nicht gleichsam automatisch ein auskömmliches Leben – je nach Größe der Stadt, der örtlichen Konkurrenz, der jeweiligen landesherrlichen Privilegierung, der Zahlkraft der Kundschaft und den wirtschaftlich-politischen Rahmenbedingungen konnten Apotheker reich werden oder aber am Rande einer prekären Existenz leben. In einer Großstadt wie Wien gab es schon im 17. und 18. Jahrhundert prachtvoll ausgestattete Apotheken, die von dem Wohlstand ihrer Besitzer zeugten. Im Norden des Reiches hingegen mussten Apotheker vor allem in kleineren Landstädten besorgt sein, ihre Ausgaben für den Erwerb teurer Grundstoffe wie Arzneidrogen durch den Verkauf ihrer Arzneien rasch wieder zu erwirtschaften, weil sie andernfalls vor dem Ruin standen.[17] Kein Wunder daher, dass sich durch die gesamte Frühe Neuzeit bei der Visitation von Apotheken auch in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt Klagen über unzureichende und schlecht gelagerte Grund- und sogar Giftstoffe finden, waren die Apotheker doch bemüht, ihre Kosten zu verringern.[18] In der Regel gehörten Apotheker jedoch spätestens im 18. Jahrhundert den oberen Gesellschaftsschichten der Städte an, verfügten allen immer wieder geäußerten Klagen entgegen über zumindest auskömmliche Einnahmen und bekleideten nicht selten auch Ämter in der städtisch-patrizischen Selbstverwaltung.

Der Berufsweg, auf den Jacob Friedrich Merck mitten im Dreißigjährigen Krieg geschickt wurde, hätte also durchaus wirtschaftlich aussichtsreich werden können, verlief jedoch keineswegs geradlinig. Jacob Friedrich scheint zunächst in der Fremde sein Glück gesucht zu haben, denn in Schweinfurt fand sich in seinem Beruf für ihn keine dauerhafte Verwendung. Auch sein älterer Bruder Georg erhielt vom Rat der Stadt keine Apothekerzulassung.[19] So verschlug es ihn an die Ostsee, wo er nach eigenen Angaben 1658 als «der Königl. Pollnischen Apeteke Officin zu Danzig bestellter Provisor» fungierte.[20] Dies dürfte ihm insofern leichtgefallen sein, als sich die Stadt an den Apothekenordnungen und -gewohnheiten im Heiligen Römischen Reich orientierte.[21] 1658, als der Danziger Handel während des Nordischen Krieges von 1655 bis 1660 darniederlag[22] und die Stadt zunehmend in einen Kriegszustand mit Militärpräsenz, Krankheiten, erhöhter Sterblichkeit und regelmäßigen Buß- und Bettagen als Zeichen höchster Not geriet,[23] muss die Lage vor Ort für ihn so fürchterlich geworden sein, dass er einen letzten Versuch unternahm, in seiner Heimatstadt Schweinfurt doch noch als Apotheker wirken zu können – jedoch wiederum vergeblich.[24] Wann Jacob Friedrich Merck Danzig verließ, ist genauso wenig zu bestimmen wie das Datum seiner Ankunft dort.[25] Mitte der 1660er-Jahre hielt er sich, so viel ist immerhin sicher festzustellen, in Franken auf und war wohl nicht unvermögend, weil er 1665 dem Rat der Stadt Schweinfurt sein Testament übergeben ließ. Da er ebenfalls 1665 in den Matrikeln der Universität Altdorf nachweisbar ist,[26