Reinhard Mohn - Joachim Scholtyseck - E-Book

Reinhard Mohn E-Book

Joachim Scholtyseck

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Beschreibung

Zum 100. Geburtstag des visionären Unternehmers

Reinhard Mohn (1921–2009) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Unternehmer des 20. Jahrhunderts. Als Kriegsheimkehrer übernahm er 1947 den elterlichen Verlag und stellte in den folgenden Jahrzehnten, beginnend mit der Gründung des Bertelsmann Leserings 1950, die Weichen für die Entwicklung von Bertelsmann zu einem international operierenden Medienkonzern mit sozialpartnerschaftlicher Unternehmenskultur. Zum wirtschaftlichen Erfolg gesellte sich für die aus der ostwestfälischen Provinz heraus von Mohn gelenkte Bertelsmann AG hohes Ansehen als einer der attraktivsten und fortschrittlichsten Arbeitgeber der Bundesrepublik. 1977 rief er die Bertelsmann Stiftung ins Leben, die sich der Förderung einer demokratischen Bürgergesellschaft widmet und heute als bedeutendste unter den deutschen Stiftungen gilt. In seinem reich illustrierten Lebensbild zeigt der Historiker Joachim Scholtyseck vor dem Hintergrund der deutschen Kultur-, Medien- und Unternehmensgeschichte des 20. Jahrhunderts die visionäre Unternehmerpersönlichkeit Reinhard Mohn in neuem Licht.

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Seitenzahl: 265

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Reinhard Mohn

Ein Jahrhundertunternehmer

Joachim Scholtyseck

C. Bertelsmann

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© 2021 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: Sofarobotnik, Augsburg & München

Repro: Mohn Media Mohndruck GmbH, Gütersloh

ISBN 978-3-641-27546-4V002

www.cbertelsmann.de

Inhalt

Wer war Reinhard Mohn?

Wer war Reinhard Mohn?

Kindheit, Jugend, Soldatenzeit, Kriegsgefangenschaft: Frühe Prägungen

Neuaufbau in der Trümmergesellschaft – Reinhard Mohn im »Wirtschaftswunderland«

Unternehmerische Führung als Lebensaufgabe

»What makes Reinhard run?« – Der Versuch, Unternehmer und Persönlichkeit zu trennen

»What makes Reinhard run?« – Der Versuch, Unternehmer und Persönlichkeit zu trennen

Die Internationalisierung

Verleger oder Unternehmer?

Mitbestimmung und ihre Grenzen

Aufsichtsrats- und Nachfolgefragen

Ein Reformer, ein Liberaler, ein Konservativer

Ein Reformer, ein Liberaler, ein Konservativer

»Roter Mohn«, »sozialer Kapitalist«, verschleierter Manchester-Unternehmer, »Scheinlinker«

Stiftung als Vermächtnis

Stiftung als Vermächtnis

Abschied vom Tagesgeschäft?

 

Anmerkungen

Bibliographie

Zeittafel

Personenregister

Bildnachweis

Wer war Reinhard Mohn?

Reinhard Mohn 1967 vor den Bildnissen seines Großvaters Johannes Mohn (1856–1930, links) und seines Vaters Heinrich Mohn (1885–1955). 1947 übernahm Reinhard Mohn den C. Bertelsmann Verlag in fünfter Generation.

Wer war Reinhard Mohn?

Ohne den Unternehmer Reinhard Mohn, eine der Gründergestalten der Bundesrepublik, würde es heute vielleicht noch einen mittelständischen Verlag namens C. Bertelsmann geben, nicht aber den weltweit agierenden Bertelsmann-Medienkonzern. Der 100. Geburtstag Reinhard Mohns soll den Anlass bieten, in einer biographischen Skizze zugleich den Wertehorizont des Unternehmers, Stifters und Bürgers zu analysieren. Die Entwicklungen von Unternehmen, so hat Werner Plumpe einmal überzeugend festgestellt, »lassen sich nur über das Handeln von Individuen unter konkreten Bedingungen fassen«. Dieses Handeln ist »stets Teil eines komplexen Gesamtzusammenhangs (…), der sich kausalen Urteilen, auf jeden Fall aber monofaktoriellen Erklärungen entzieht«.1 Eine Biographie Reinhard Mohns ist kein ganz einfaches Unterfangen, denn es gibt erstaunlicherweise kaum Vorarbeiten. Das Unternehmen Bertelsmann ist in Festschriften und kritischwissenschaftlichen Arbeiten umfassend gewürdigt bzw. begutachtet worden, und auch Reinhard Mohns Anteil wurde dabei gebührend berücksichtigt. Aber ein eigenständiges Lebensbild fehlt. Mohn selbst hatte zwar schon in den 1950er Jahren einmal überlegt, bedeutungsvolle Vorgänge aufzuschreiben, in der Hektik der Aufbaujahre kam es jedoch nicht dazu.2 Er hat keine Memoiren geschrieben und wollte von sich auch kein »Charakterbildnis« gezeichnet wissen. Eine offizielle oder autorisierte Biographie lehnte er ab,3 und in Interviews sprach er davon, er wolle sich »kein Denkmal« setzen.4 Als mit seiner Billigung im überschwänglich gefeierten Jubiläumsjahr 1985 eine 150-Jahre-Bertelsmann-Geschichte erschien, die zugleich einer nachhaltigen »Image-Aufbesserung« des Unternehmens dienen sollte,5 mag er das der Sache nach für berechtigt gehalten haben. Für ihn selbst war es aber kein Herzensanliegen, denn er wollte sich nicht ins Rampenlicht stellen. Das Unternehmen war zwar »durch die Handschrift Reinhard Mohns geprägt«,6 aber er selbst legte, hierin ganz Protestant, eher auf sein Wirken als auf die Darstellung seines Lebens Wert. Das Erscheinen von »175 Jahre Bertelsmann. Eine Zukunftsgeschichte« (2010), in dem sein unternehmerisches Werk gewürdigt wurde, erlebte er nicht mehr.

Wer war also dieser auf bescheidenes Auftreten Wert legende Unternehmer, der doch ehrfurchtgebietende Autorität ausstrahlte und, aus dem Hintergrund steuernd, einen Weltkonzern schuf? Warum kann er, wie es in der »Zeit« zu lesen war, als ein »Unternehmer des Jahrhunderts« bezeichnet werden?7 Den Menschen hinter einer Wirtschaftspersönlichkeit sichtbar werden zu lassen gehört zu den schwierigsten Aufgaben einer biographischen Studie. W. Somerset Maugham fasste das Problem der Autorschaft einmal schön in den Aphorismus »Es gibt drei Regeln beim Schreiben. Unglücklicherweise sind sie niemandem bekannt.«8 Wer weiß, vielleicht auch deswegen kommt es bisweilen in Unternehmensgeschichten dazu, Persönlichkeiten weitgehend auszublenden und eher die Strukturen zu untersuchen. Doch hat sich vielfach erwiesen, dass theoretische Fragen z. B. nach Bourdieu’schen Kategorien wie »Kapitalsorten« zwar von Relevanz sind, aber wenig hilfreich, wenn es darum geht, Individuen, ihre Lebenswege und ihre Entscheidungen angemessen zu verstehen. Häufig bleibt es dann bei »zumeist nur metaphorischen Reden«, mit denen den »empirischen Befunden eine Art höhere Weihe verliehen werden soll«.9 Mit anderen Worten: Lebensgeschichten bilden, da die Zeiten vorbei sind, in denen sie als überholte Form der Geschichtsschreibung angesehen werden konnten,10 wieder einen Eckpfeiler der Unternehmensgeschichte, zumindest wenn sie den Anforderungen einer modernen Biographik Rechnung tragen.

Kindheit, Jugend, Soldatenzeit, Kriegsgefangenschaft: Frühe Prägungen

Reinhard Mohn stammte aus einer traditionsreichen mittelständischen Verlegerfamilie. Geprägt waren die im ostwestfälischen Gütersloh verwurzelten Bertelsmanns durch den sprichwörtlichen Geist des Pastorenhaushalts, der stark von der Minden-Ravensbergischen Erweckungsbewegung geprägt war. Der 1835 gegründete Verlag C. Bertelsmann fungierte als publizistische Heimat dieser pietistischen Laienbewegung, der auch die kommenden Verleger-Generationen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verpflichtet blieben. Die Enkelin des Firmengründers Carl Bertelsmann, Friederike, heiratete 1881 den ebenfalls aus einer Pastorenfamilie stammenden Johannes Mohn, der den Verlag 1887 nach dem Tod seines Schwiegervaters übernahm. Reinhard Mohns Vater, der Verleger Heinrich Mohn, hatte 1912 wiederum eine Pastorentochter geheiratet, Agnes Seippel. Bis auf ein vierjähriges Intermezzo in Braunlage, wo die Familie »ein einfaches Bürgerhaus aus einfachen Backsteinen« bewohnte,11 blieb die Kleinstadt Gütersloh das eigentliche Zentrum des elterlichen Lebens. Das von Heinrich Mohn dort 1928 erbaute Wohnhaus in der Kurfürstenstraße verfügte über einen fünf Hektar großen Garten, war aber ansonsten nicht mit dem Luxus ausgestattet, den manche Industriellenvilla jener Zeit kennzeichnete. Im Elternhaus, so Reinhard Mohn, sei man »sparsam erzogen« worden, »Perserteppiche« habe es keine gegeben.12

Die Kinder von Agnes und Heinrich Mohn um 1928: Ursula, Sigbert, Gerd, Hans Heinrich, Reinhard und Annegret (von links). Zwischen den sechs Geschwistern der Familie Mohn bestanden große Altersunterschiede, sie erblickten zwischen 1913 und 1926 das Licht der Welt. Als Erstgeborenem kam Hans Heinrich (»Hanger«) im Familiengefüge und mit Blick auf die spätere Leitung von Bertelsmann eine besondere Rolle zu. Nichts deutete darauf hin, dass Reinhard, dem Zweitjüngsten, zukünftig die Aufgabe zufallen würde, die Geschicke des Unternehmens zu lenken.

Reinhard Mohn wurde am 29. Juni 1921 geboren, das fünfte von sechs Kindern und der drittälteste Sohn. Er ging zunächst in Güterslohs evangelische Volksschule, bevor er 1931, ganz der Familientradition entsprechend, an das dortige Evangelisch Stiftische Gymnasium wechselte. Dass er der Zweitjüngste war, hat er rückblickend immer betont: Seine Geschwister hätten in der Schule die Maßstäbe gesetzt, was für ihn »eher negative Folgen« gehabt habe, weil er keineswegs so begabt gewesen sei wie diese.13 Gerade seinen Bruder Hans Heinrich, den acht Jahre älteren Erstgeborenen, hat er zeitlebens für besonders befähigt gehalten und kritisch bewundert. In Interviews erwähnte er gelegentlich dessen herausragende Begabungen und intellektuellen Esprit. Er hingegen habe »viel von sich selbst verlangt«.14 Seine Schulleistungen waren zwar nicht schlecht, und doch sollte er sich zeitlebens an den dezenten Vorschlag seiner Mutter erinnern, eine Tischlerlehre zu machen. Die Schule war für Mohn rückblickend ein »mühsamer Weg«.15 Reines Kokettieren eines Mannes, der auf ein erfolgreiches Leben zurückblickte, war diese Aussage wohl nicht.

Verlobungsfoto von Agnes Seippel und Heinrich Mohn, den Eltern Reinhard Mohns, aus dem Jahr 1911. Ein Jahr nach seinem Einstieg in das väterliche Verlagsunternehmen gaben Heinrich Mohn und die vier Jahre jüngere Agnes Seippel – eine Freundin seiner Schwester Sophie – ihre Verlobung bekannt. Agnes war das älteste von sechs Kindern eines Gütersloher Pfarrers und seiner aus einer Kaufmannsfamilie der Stadt stammenden Frau. Im Juni 1912 feierten beide ihre Hochzeit.

Der »Geist eines evangelischen Pfarrhauses« in einer ländlichen Region bestimmte die Jugend.16 Die Zeitumstände einer in sich gespaltenen Kirche, deren kaiserliches Oberhaupt 1918 abgedankt hatte, mussten auch das Elternhaus prägen. Wirtschaftlich ging es für den Verlag mit Schwankungen wieder aufwärts, denn die charakteristische Mischung aus theologischer Literatur und – seit den späten 1920er Jahren – volkstümlicher Belletristik war in der Weimarer Republik nachgefragt. Politisch blieb der Vater nach dem Untergang des Kaiserreiches dem typischen Nationalprotestantismus verhaftet, in dem man die DNVP wählte und auch die »Kreuz-Zeitung« las.17 Zwar prägte der Vater Heinrich Mohn als Verleger und Familienvorstand das Elternhaus, aber Reinhard Mohn hat sich stets dankbar seiner Mutter erinnert, die früh Verantwortung für die Kinder übernehmen musste: »Das Aufwachsen im Pfarrhaus und später die Ehe mit meinem Vater, der aus einem sehr religiös/kirchlich ausgerichteten Verlag kam« seien ebenso wichtig gewesen wie »der regelmäßige Besuch der Gottesdienste, die Andachten morgens und abends im Hause, das Tischgebet, das Abendgebet am Bett der Kinder«.18 Der Zeit gemäß blieb die Mutter im Hintergrund und war für die Familie verantwortlich, zumal sie – zumindest in der Erzählung ihrer Kinder – kein besonders geselliger Mensch war. In ihrer Bodenständigkeit waren ihr Luxus, unnötiger Aufwand und Geltungsstreben »völlig fremd«.19 Nach dem Einfluss seiner Mutter gefragt, lautete die Antwort: »Religiosität, Sittenstrenge, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Korrektheit und Pflichtgefühl charakterisierten sicher meine Mutter ebenso wie Liebe zu ihren Angehörigen und stete Hilfsbereitschaft und Fürsorge.«20

Erinnerungen Reinhard Mohns an seine Mutter Agnes aus dem Jahr 1984 (Auszug). Im Zuge der Vorbereitungen zum 150-jährigen Jubiläum von Bertelsmann hielt Reinhard Mohn für den Schriftsteller Walter Kempowski Abschnitte aus der Geschichte seiner Familie fest. Besonders ausführlich charakterisierte er dabei die Persönlichkeit seiner Mutter Agnes. Religiöse Verankerung im Protestantismus, Selbstdisziplin und familiäres Pflichtgefühl waren in ihrem Leben bestimmend.

Dies waren Werte, angereichert durch strukturiertes Denken und analytische Begabung, die sein eigenes Leben ebenfalls bestimmen sollten, auch wenn im Spannungsfeld von Geschäft und Moral der Begriff der »protestantischen Ethik«21 zunehmend verblasste und nur noch als Nachhall zu spüren war. Dennoch erinnerte sich Mohn, der »Westfale mit preußischen Tugenden«,22 später an eine zugleich liebevolle wie strenge Erziehung: Die Mutter habe bei den Hausaufgaben über die Schulter geschaut und sich gegrämt, wenn die schulischen Leistungen schlecht waren und die Zeugnisse zu wünschen übrig ließen. Dann habe die subtile Frage gelautet, ob er nicht lieber einen »praktischen Beruf« erlernen wolle.23 Trotzdem musste er, seit er sechzehn Jahre alt war, nicht mehr an den üblichen Gebeten und Andachten teilnehmen, weil er sich vom kirchlichen Glauben entfernt hatte. Der Säkularisierungsprozess erreichte auch ihn, obwohl er die religiösen Residuen, die Fragen nach Moral und den Werten der Unternehmenspolitik, niemals abschütteln konnte oder wollte. Mohn gehörte dem protestantischbildungsbürgerlichen Milieu an, in dem ökonomisches Gewinnstreben sich traditionell mit einem gesellschaftlichen und zivilisatorischen Bewusstsein verbunden zeigte. Die Rolle der Kirche und Religion war weitgehend auf formale Aspekte beschränkt, und die Bibel, die er seit Kinderzeit natürlich gut kannte, blieb ein Dekorum seiner Lebenswelt, so dass es schwerfällt, aus Mohns religiösen Bezügen einen protestantischen Wirtschaftsgeist zu konstruieren.24 Und doch war er ein moderner Wirtschaftsmensch, wenn man im Sinne von Max Weber ein Modell eines protestantischen Arbeitsethos und eine bestimmte bürgerliche Struktur zugrunde legt und eine rationale und prozessorientierte Betriebsorganisation sowie die konsequente Trennung von Unternehmen und Privathaushalt als ihre Wesensmerkmale definiert.25

Gruppenbild der Familie Mohn 1933 vor dem »Efeuhaus« der Großmutter Friederike Mohn (geb. Bertelsmann) in Gütersloh mit (von links) den Eltern Heinrich und Agnes mit seinem Bruder Gerd, Großmutter Friederike, den Geschwistern Hans Heinrich, Ursula, Sigbert und Annegret sowie ganz außen Reinhard Mohn.

An der unveränderten Bedeutung der kirchlichen Botschaft für die Gesellschaft wollte er festhalten, auch wenn er mit dem Alltagsprotestantismus wenig anfangen konnte. 1966 hieß es bei ihm dazu: »Führungsform der Kirche nicht adäquat. Unbefriedigende Wirkung, überlastete Pastoren, zurückgehender Einfluß.«26 Und auf die viel später gestellte Frage, ob er ein »frommer Mann« sei, wich er im Gespräch mit dem österreichischen Journalisten Peter Schier-Gribowsky mit der Teilantwort aus, dass Religion immer eine Komponente der Bertelsmanns gewesen sei.27

Hausaufsatz von Reinhard Mohn zum Thema »Meine Gedanken bei der Wahl des Berufes«, verfasst zwischen Herbst 1937 und Januar 1938 (Auszug). Schon als 16-jähriger Schüler setzte sich Reinhard Mohn sehr reflektiert mit den Chancen seiner Berufswahl und seinen Zukunftserwartungen auseinander. In einem Aufsatz beschäftigte er sich intensiv mit der Frage der Pflichterfüllung und der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Zugleich maß er darin der persönlichen Veranlagung und der individuellen Unabhängigkeit große Bedeutung bei.

Die Lebensführung der Familie war spartanisch. Es sei nicht geraucht worden, und es sei auch kein Wein getrunken worden, so berichtete er später.28 Das erste Auto der Familie, ein bescheidener Kleinwagen des heute vergessenen Herstellers AGA, wurde erst 1927 angeschafft.29 Es ging nicht um Luxus, der ausgestellt, sondern um innere Werte, die vermittelt werden sollten. In einem Schulaufsatz aus dem Januar 1938 zum Thema »Meine Gedanken bei der Wahl eines Berufs« schrieb der Sechzehnjährige erstaunlich überlegt von Verantwortung und Pflichtgefühl und sah davon ab, ein konkretes Berufsziel zu benennen: »Denn ich will lieber alle die Zweifel und Fragen, die sich einem im anderen Fall aufdrängen werden, auf mich nehmen und um ihre Lösung ringen, als lebend doch nur ein totes Werkzeug zu sein.«30 Mohn fügte in seinem Aufsatz, der im Übrigen völlig frei von nationalsozialistischen Versatzstücken war, hinzu: »Ich habe mir vorgenommen, immer bereit zu sein, zu lernen und Besseres anzuerkennen, und wenn ich auch alles, was ich bisher geglaubt habe, aufgeben und als falsch einsehen müsste.«31

Hans Heinrich Mohn 1939 kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das gute Verhältnis, das Reinhard Mohn zu seinem ältesten Bruder hatte, war von der Bewunderung für seinen Ehrgeiz und seine außerordentliche Auffassungsgabe gekennzeichnet. Als Kompanieführer fiel Hans Heinrich Mohn im Alter von 26 Jahren bereits in den ersten Kriegstagen im September 1939 in Polen.

Im »Dritten Reich«, dessen Ideologie für die Deutschen eine Versuchung bereithielt, der sehr viele erlagen, stand Heinrich Mohn der Bekennenden Kirche nahe und trennte diese innere Haltung von seinem Geschäftssinn, der dem Verlag auch unter Hitler Umsatz und Gewinn ermöglichte. Reinhard Mohn wurde vom Zeitgeist mitgezogen, war als sportbegeisterter Jugendlicher seit Mai 1933 Führer einer Jungenschaft und schließlich Gefolgschaftsführer.32 Das mochte harmlos sein, aber im Rahmen einer Betrachtung der Verwicklung des Familienunternehmens in das NS-Regime verloren diese Jugendsünden ihre Unschuld, die sie in normalen Zeiten vielleicht gehabt hätten. Sein ältester Bruder Hans Heinrich, den Reinhard Mohn ob dessen Zielstrebigkeit und Belesenheit bewunderte, war für die Verlockungen des Regimes empfänglich. Er machte ein »Traum-Abitur mit der Note 1,0«, studierte anschließend Jura und beschloss, Offizier zu werden, um später einmal, vielleicht über den Weg eines Militärattachés, in die Politik zu gehen. Die Tatsache, dass Hans Heinrich bereits in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges als Kompanieführer beim Einmarsch der Wehrmacht nach Polen gefallen war, erschien Reinhard Mohn im Rückblick durchaus als eine tragische Folge seiner Persönlichkeit. »Sein Einsatz und sein früher Tod entsprachen sicher seinem Wesen.«33

Schüler vom Abiturjahrgang desEvangelisch Stiftischen Gymnasiums in Gütersloh 1939 mit Reinhard Mohn (untere Reihe, 3. von links). Reinhard Mohn hatte die protestantischhumanistische Schule, deren Gründung wesentlich auf die Initiative seines Ururgroßvaters, des Unternehmensgründers Carl Bertelsmann, zurückging, seit 1931 besucht.

Reinhard Mohn, der technisch interessiert war,34 hatte andere Zukunftspläne. Auf seinem Gesuch zur Abiturprüfung gab er an, Ingenieur werden zu wollen. Dies stieß bei seinen Lehrern auf Zuspruch, aber in einer knappen und doch charakteristischen Nebenbemerkung fand sich der Zusatz, den Abiturienten kennzeichne ein »Schwanken zwischen Schüchternheit und einer erfreulichen Offenheit«, wobei er »zu starkem Selbstbewusstsein neigen« könne.35

Undatiertes Gutachten des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums in Gütersloh. Wie alle seine Brüder gehörte auch Reinhard Mohn ab 1931 zu den Schülern des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums. Als Primaner hatte er am 1. Dezember 1938 für die Zulassung zur Reifeprüfung ein Gesuch an den Prüfungsausschuss der Schule gerichtet. Er hob dabei sein Interesse an den naturwissenschaftlichen Fächern und dem Flug-Physikunterricht hervor und tat seinen Entschluss kund, Ingenieur werden zu wollen. Ostern 1939 legte Mohn sein Abitur am ESG ab.

Nach dem Abitur am 3. März 1939 absolvierte Reinhard Mohn zunächst vom 1. April 1939 bis zum 10. September 1939 den Reichsarbeitsdienst36 im Lager Lippborg in Westfalen.

Einsatz Reinhard Mohns beim Reichsarbeitsdienst 1939. Nach dem Abitur musste auch Reinhard Mohn den obligatorischen sechsmonatigen Dienst ableisten, den er im Lager Lippborg in Westfalen absolvierte.

Er sei »fest davon überzeugt« gewesen, dass der Krieg richtig gewesen sei. Die Fähigkeit des Regimes, die Deutschen zu manipulieren, hat er immer hervorgehoben. Er selbst sei erst sehr viel später »zur Besinnung« gekommen.37 Zum 1. Oktober 1939 meldete er sich »aus Pflichtgefühl«, wie er später sagte, freiwillig zur Wehrmacht. Er wollte, seinen Neigungen folgend, zum fliegenden Personal der Luftwaffe. Als Mitglied des Nationalsozialistischen Fliegerkorps kam er zum Flieger-Ausbildungs-Regiment 62 nach Quedlinburg, um zum Piloten ausgebildet zu werden. Nach drei Monaten, im Januar 1940, wurde er, noch in der Zeit des »drôle de guerre«, also derjenigen Kriegsphase, in der die Waffen dort noch schwiegen, zu einer Flak-Artillerie-Einheit an die Westfront versetzt. Im Zuge des »Westfeldzuges« war er seit Mai 1940 in Belgien, den Niederlanden und Frankreich im Einsatz. Nach dem Ende des sechswöchigen »Blitzkrieges« besuchte er von November 1940 bis Februar 1941 die Waffenschule der Wehrmacht. Beförderungen – vom Gefreiten über den Unteroffizier zum Offizier – gehörten zu dieser bescheidenen Militärkarriere dazu, zumal seine Beurteilungen günstig waren. Die Ausbilder des Offiziersanwärters im niederländischen Amersfoort attestierten ihm im Februar 1941, voll des Lobes, die Befähigung zum Flieger und zum Batterie-Offizier: »Kann mitreißen und sich durchsetzen. Temperamentvoller Soldat. Frisches, offenes Wesen. Aufrechter, ehrlicher Charakter. Ist zuverlässig, pflichtbewusst und zielstrebig.« Dass Mohn kein geborener Militär war, kam allerdings auch zur Sprache. Sein »Auftreten vor der Front« müsse »noch korrekter und bestimmter werden«.38

Reinhard Mohn als Fahnenjunker derLuftwaffe während seiner Ausbildung in einer Offiziersanwärterschule in Amersfoort bei Utrecht im Dezember 1940. Im Sommer 1942 zunächst nach Frankreich und Italien verlegt, wurde er im Mai 1943 während seines Einsatzes in Tunesien verwundet und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Im Januar 1942 wurde Mohn zum Leutnant befördert und fungierte seit Juni 1942 bei einer Flakbatterie des Regiments Hermann Göring im von der Wehrmacht besetzten Westen Frankreichs als Zugführer. Von November 1942 bis März 1943 diente er im faschistischen Italien, mit dem das »Dritte Reich« verbündet war. Als ein Einsatz zum Schutz des Göring-Anwesens Carinhall bevorstand, so lautet seine spätere Angabe, die sich allerdings nicht in den Akten verifizieren lässt, habe er um Frontversetzung gebeten. Anfang April 1943 wurde Mohn im Rahmen der Einsätze des Afrikakorps von Sizilien aus per Lufttransport zu einer Panzer-Aufklärungsabteilung seines Regiments nach Tunesien verlegt.39 Obwohl er nur wenige Wochen im Einsatz war, erhielt er das Ärmelband Afrika, das Erdkampfabzeichen der Luftwaffe, die »Medaglia commemorativa della campagna italo-tedesca in Africa settentrionale« und das Verwundeten-Abzeichen in Schwarz.

Am 5. Mai 1943 war für ihn rund 70 Kilometer nordwestlich von Tunis der Weltkrieg vorbei, wie er später lakonisch berichtete: »Ich hatte einen Schuß durch den Ärmel, einen Schuß durch’s Hemd und einen Schuß durch’s Bein und dachte darum: ›Nun fängst Du mal an und wickelst dein Verbandspäckchen aus.‹ Während ich damit noch beschäftigt war, stand vor mir ein Texas-Boy und befahl mir, die Hände hochzuhalten.«40 In amerikanischer Kriegsgefangenschaft wurde er im Juni 1943 nach Algerien und von dort im September 1943 per Truppentransport über Norfolk im US-Bundesstaat Virginia in das Kriegsgefangenenlager Concordia nach Kansas im Mittleren Westen gebracht, das seit Mitte 1944 als reines Offizierslager fungierte.41

Mohns »amerikanische« Zeit hat ihn dauerhaft geprägt. Wie viele seiner Generation zeigte er sich beeindruckt vom freiheitlichen Geist, den er in den USA verspürte: von der Entdeckung des Individualismus in Abgrenzung zur »Volksgemeinschaft« ebenso wie von der Möglichkeit zum »Pursuit of Happiness«. Im Lager lernte er nicht nur Englisch, sondern bereitete sich in der dortigen Lageruniversität auf den Ingenieurberuf vor, den er bekanntlich gerne ausgeübt hätte.42 Diskussionen mit amerikanischen Offizieren in Kansas und die Erfahrungen, die er in rund 30 Firmen sammelte, hinterließen einen tiefen Eindruck. Die USA hätten ihn, so bekannte er noch Jahrzehnte später, »entscheidend beeinflußt«: »Statt einer überzogenen Gemeinschaftsorientierung überzeugte mich der in der US-Verfassung verbriefte Anspruch auf die Freiheit des einzelnen und sein Recht zur Selbstverwirklichung. Theorie und Funktionsweise der Demokratie lernte ich dort ebenso kennen wie die dynamischen Kräfte einer liberalen Wirtschaftsordnung. – Hätte für mich nach dem Kriegsende die Möglichkeit bestanden, in den USA zu bleiben, gewiß hätte ich es getan.«43

Diese Möglichkeit ergab sich für den jungen Mann im Kriegsgefangenenstatus allerdings nicht. Als die Waffen schwiegen, blieb er ab September 1945 noch einige Wochen übergangsweise in Camp Atterbury im Staat Indiana interniert und wurde Mitte November 1945 über New Jersey nach Le Havre zurückverlegt. Im Dezember 1945 folgte ein Intermezzo in einem Zeltlager in der Nähe von Paris. Diese »sehr bittere Zeit« endete erst am 7. Januar 1946 mit der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Ende Januar 1946 kehrte Mohn nach Gütersloh zurück.44

Von allem, was mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte, war Mohn restlos geheilt, sicherlich ein Ergebnis seiner Selbstreflexion und der amerikanischen »reeducation«. In einem Vortrag zum Wandel des Hauses Bertelsmann von einem patriarchalisch geführten kirchlich-theologischen Verlag zum modernen publizistischen Großbetrieb attestierte Mohn rückblickend das »Versagen einer Gesellschaftsordnung«,45 was er auch auf das eigene Herkommen bezog: Sein Vater war einerseits Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen, andererseits ein Verlagschef, der mit millionenfach auf den Markt gebrachter Feldpostliteratur gutes Geld im »Dritten Reich« verdient hatte und förderndes Mitglied der SS gewesen war. Als der Verlag 1944 geschlossen worden war, geschah dies u. a. im Zuge eines Prozesses wegen illegaler Papierbeschaffung46 und nicht etwa wegen der religiös-theologischen Ausrichtung oder als Folge regimekritischer Publikationen.

Schließungsverfügung des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer für den Verlag C. Bertelsmann vom 26. August 1944. Wenige Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs ließ sich die Schließung des von Heinrich Mohn geleiteten und zu einem umsatzstarken Unternehmen ausgebauten Verlagshauses nicht mehr abwenden. Alle verbliebenen Mittel wurden nun für den Kriegseinsatz des Deutschen Reichs mobilisiert, überdies war Bertelsmann in Ermittlungen wegen illegaler Geschäfte um Papierbeschaffungen verwickelt.

Die verbreitete und beruhigende Version, sein Vater sei ein Mann des Widerstands gewesen, trug Reinhard Mohn jahrelang mit; eine gebührende Auseinandersetzung mit der Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit fand auch in der Festschrift zum 150-jährigen Bestehen des Unternehmens nicht statt.47 Als jedoch in den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit mit guten wissenschaftlichen Argumenten diese Meistererzählung angezweifelt wurde, schwenkte Reinhard Mohn rechtzeitig um, weil der Ruf des eigenen Unternehmens Schaden zu nehmen drohte. Nüchtern erkannte er, dass die Zeiten, in denen Unternehmer ihr firmengeschichtliches Image mit »Public Relations« und hagiographischen Jubelschriften aufpolieren konnten, vorbei waren.48 Mit seiner ausdrücklichen Unterstützung wurde 1998 der Auftrag zu einer unabhängigen Studie erteilt, für die er selbst für Zeitzeugengespräche zur Verfügung stand. Das verklärend-apologetische Bild, das der Verlag für die Jahre von 1933 bis 1945 bis dahin von sich gezeichnet hatte, wurde damit entscheidend korrigiert.49

Aus seiner Zeit als Offizier in der Wehrmacht hat Mohn nicht viel mitgenommen, es waren für ihn gleichsam verschwendete Jahre, auch wenn man, wie er einmal sagte, im Krieg wenigstens »Menschenkenntnis« erlerne.50 Ein Weiteres nahm er jedoch als Eindruck aus dieser Zeit mit: die »relative Bedeutung« von Besitz und Lebensstandard.51 Als Mohn aus der Gefangenschaft zurückkehrte, wusste er, dass er nicht der prädestinierte Nachfolger im Familienunternehmen war. Aber sein Vater war gesundheitlich bereits angeschlagen und galt bei den britischen Besatzungsbehörden als nationalsozialistisch »belastet«.52 Der ältere Bruder Sigbert war verschollen; ein Brief von ihm aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Anfang 1945 brachte keine Sicherheit, und es sollte schließlich bis April 1949 dauern, bis er nach Gütersloh zurückkehrte. Reinhard Mohn beugte sich daher den Nachfolgeanforderungen und übernahm etappenweise die Verantwortung für den nur noch eingeschränkten Verlagsbetrieb. Im Gespräch mit Walter Kempowski hat Reinhard Mohn später die Situation beschrieben, als er von einem Fahrer des Unternehmens nach Gütersloh zurückgebracht und mit den sich auftürmenden Problemen des Verlags konfrontiert wurde: »Da habe ich gesagt: ›Also gut, dann machen wir das!‹ Das war keine systematische berufliche Entscheidung, sondern es ging einfach darum, das Nächstliegende anzupacken.«53 Diese Sichtweise wurde Teil der auch später gepflegten Erzählung im Sinn einer »Stunde Null«. Reinhard Mohn wurde tatsächlich in die Verantwortung gestoßen. Nicht die beiden älteren Brüder, die dafür eigentlich bestimmt waren, sondern er, der sich bewusst war, »innerhalb der Familie Nr. 5« zu sein,54 musste diese Bürde tragen. Das Gefühl, dieser Aufgabe unbedingt gerecht werden zu müssen, war Motivation und Antrieb, die ihn zeitlebens begleitete.

Anfangs waren noch Hürden zu überwinden, vor allem in der Auseinandersetzung mit den »Personal Questionnaires« und Fragebögen der britischen Besatzungsbehörden.55 Am 15. August 1946 reichte Reinhard Mohn seine Unterlagen dem Entnazifizierungsausschuss Gütersloh ein und bat darum, als »Buchhändler-Lehrling« arbeiten zu dürfen. Der Ausschuss teilte ihm am 10. Februar 1947 mit, das Headquarter der Militärregierung in Minden habe seine politische Unbedenklichkeit mit der Bewertung »Can be employed« bestätigt.56 Um auch formal die Lizenz zu erhalten, ging Mohn im Sommer 1947 für einige Monate an die neu gegründete Buchhändlerschule im Kölner Vorort Marienburg und absolvierte anschließend einige Praxismonate in der traditionsreichen Akademischen Buchhandlung Calvör in Göttingen.57

Mitteilung des Entnazifizierungsausschusses der Stadt Gütersloh an Reinhard Mohn vom 10. Februar 1947. Gleich nach seiner Rückkehr nach Gütersloh im Januar 1946 hatte Reinhard Mohn bei den Arbeiten zum Wiederaufbau von Bertelsmann mitgeholfen. Im Rahmen des gleichzeitig laufenden Entnazifizierungsverfahrens bestätigten ihm die Behörden, dass ihn die britische Militärregierung als politisch unbelastet eingestuft hatte. Nach dem Rückzug seines Vaters im April 1947, der seine fördernde Mitgliedschaft in NS-Organisationen zunächst verschwiegen hatte, war damit der Weg für Reinhard Mohn frei, die Leitung der Verlage C. Bertelsmann und Der Rufer zu übernehmen.

Neuaufbau in der Trümmergesellschaft – Reinhard Mohn im »Wirtschaftswunderland«

Geradezu ikonographischen Charakter für die Anfänge Reinhard Mohns als Unternehmer erhielt eine vielfach wiedergegebene Fotografie aus dem Jahr 1947, die den jungen Chef bei einer Ansprache an die Belegschaft zeigt, gekleidet noch in einen Soldatenmantel.

Rede Reinhard Mohns zum Richtfest des neuen Verlagsgebäudes am 25. November 1947. Nach den Kriegsverwüstungen vom März 1945 mussten viele der Bertelsmann-Gebäudekomplexe instandgesetzt oder sogar neu errichtet werden. Das Richtfest für das neue Gebäude in der Gütersloher Eickhoffstraße nutzte der 26-jährige Reinhard Mohn, um sich an die versammelte Belegschaft zu wenden. Das erste bekannte Bild, das Mohn nach Übernahme der Verlagsleitung und noch im Soldatenmantel gekleidet zeigt, wirkt bis heute symbolträchtig als Zeichen des Aufbruchs nach dem Ende des 2.Weltkriegs.

Das Foto, das gerade wegen der kargen Atmosphäre die Aufbruchstimmung der westdeutschen Trümmergesellschaft vermittelte oder vermitteln sollte, hat sich als »der eigentliche Gründungsakt« der Nachkriegszeit in die kollektive Erinnerung bei Bertelsmann eingeschrieben.58 Das Narrativ des Wiederaufstiegs aus Ruinen passte zur späteren »success story«. Gründungs- oder Wiedergründungsmythen, am besten als Erfolgsgeschichten, bieten für Unternehmen ideale Gelegenheiten. Bestimmte Schlüsselereignisse werden Teil der »Schöpfungsgeschichte« und dienen als »gemeinsamer Nenner« und »Integrationspunkte«, geradezu als »sakrale Mythen« zur Identifikation von Mitarbeitern und Kunden mit Unternehmen und Marke.59 Reinhard Mohn hat diese Entstehungsgeschichte selbst gepflegt und Jahrzehnte später beispielsweise dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt geschildert: »Noch als die Trümmer brannten, begann ein kleines Häuflein von Mitarbeitern die Planung für den Wiederaufbau. Die Verpflichtung gegenüber der übernommenen Aufgabe und ein ethisches Fundament, das die materiellen Voraussetzungen nur als Werkzeug betrachtete, gaben die Kraft, wieder von vorn anzufangen. Das handwerkliche Können und die Einsatzbereitschaft von wenigen zurückgekehrten Mitarbeitern, die bereit waren, einen neuen Anfang zu wagen, ermöglichte das Überwinden einer Existenzkrise des Unternehmens, die leicht vernichtend hätte sein können.«60 Mohn hat auch an anderer Stelle gerne über seine Bemühungen berichtet, mit den zunächst nur noch 80 verbliebenen Mitarbeitern die »Linie der unpolitischen Literatur der Vorkriegszeit« fortzusetzen: »Bis zur Währungsreform blieben die verlegerischen Wirkungsmöglichkeiten aufgrund der Materialknappheit gering. Der Tauschhandel hatte eine größere Bedeutung als die Verrechnung gegen Geld.«61

Reinhard Mohn 1948 in seinem ersten eigenen Auto. Kurz nach der Währungsreform im Sommer 1948 gelang es ihm, eine auf dem Schwarzmarkt erworbene Leica-Kleinbildkamera gegen einen blauen VW Käfer einzutauschen.

Nach 1945 war es die »eingespielte und routinierte ökonomische und administrative Kontinuität«, die jene sozialen und wirtschaftlichen Erfolge ermöglichte, ohne die die Bundesrepublik »nie integrationsfähig gewesen wäre«.62 Der gelegentlich behauptete angebliche »Leistungsfanatismus der Kriegsgeneration«63 lässt sich quellenmäßig hingegen kaum belegen und findet auch in den Bertelsmann-Quellen jener Zeit keinen Niederschlag. Vielmehr vermitteln die Akten, was ein zupackender, optimistischer und furchtloser Unternehmer in jenen Jahren bewegen konnte, wenn er sich beweisen und zugleich verantwortungsvoll den Wiederaufbau mitgestalten wollte. Die Goldgräberstimmung, die bei Bertelsmann in Gütersloh spürbar war und aus den zeitgenössischen Dokumenten spricht, machte vieles möglich. Mohn erinnerte häufig an eine glückliche Zeit, in der er »immer mehr Ideen gehabt« habe, als er finanzieren konnte.64

Kriegsbedingt konnte Mohn nur sein Abitur, aber keine gründliche Ausbildung oder gar ein Studium aufweisen. Es blieb daher bei einem konsequenten Autodidaktentum, dem »Learning by doing«,65 wie er selbst bekannte. Ergänzt wurde dies durch die kluge Strategie, denjenigen erfahrenen Managern Freiraum zu bieten, die sich mit der Verlagsarbeit bereits gut auskannten.

Reinhard Mohn ist attestiert worden, er habe die Herausforderungen »mit dem sachlichen Blick des Ingenieurs« bewertet.66 Er war »kein Mann schneller, emotionaler, spontaner Entscheidungen«.67 Ihm war aber zugleich bewusst, dass kühles und rationales Vorgehen allein noch keine Erfolgsgarantie war. Entscheidungen sind bekanntlich »eine heutige Selbstfestlegung auf eine zukünftige Handlungsvariante, deren Erfolgsbedingungen zum Zeitpunkt der Selbstfestlegung bestenfalls angenommen werden können, häufig aber völlig unklar sind«.68 Für einen solchen Schritt in die Ungewissheit benötigt man allerdings auch Unbefangenheit und Mut, die Reinhard Mohn zu eigen waren.

Reinhard Mohn im August 1954 vor der Skyline von Manhattan. Seit der Zeit seiner zweijährigen Kriegsgefangenschaft in Kansas (1943–1945) blickte Reinhard Mohn mit Bewunderung und Faszination auf Gesellschaft und Wirtschaft der USA – eines Landes, das er sich bei freier Entscheidung als neue Heimat gewählt hätte. Lange vor der Expansion von Bertelsmann in den US-amerikanischen Markt war Mohn ein aufmerksamer Beobachter der dortigen Fortschritte im Unternehmens- und Managementbereich. Immer wieder nutzte er Reisen in die Vereinigten Staaten, um von den Modernisierungsimpulsen dort zu profitieren.

Mohn war beeindruckt und fasziniert von den amerikanischen Arbeitsprozessen. Weil ihm selbst eine entsprechende Ausbildung zur Führung eines Unternehmens fehlte, blickte er immer wieder in die USA, wo man »von Führungstechnik und Wirtschaft am meisten« verstand.69 Aber selbst wenn das aufkommende Schlagwort von der »Amerikanisierung« in bestimmten Industriezweigen überschätzt worden sein mag, blieb es wirkungsmächtig:70 Die USA wirkten als technologisch-wirtschaftliches »Wunderland« und Vorbild, das gerade nach den Jahren der erzwungenen Isolation im »Dritten Reich« eine magische Anziehungskraft ausübte. Die freiwillige Orientierung an amerikanischen Leitbildern71 fiel umso leichter, als die USA ein »empire by invitation«72 waren, das mit den Mitteln operierte und überzeugte, die man heute wohl »soft power« nenne würde. Reinhard Mohn, geprägt durch seine Erfahrungen in der Kriegsgefangenschaft und das neue Managerdenken, begriff diese Chance – von der frühen Datenverarbeitung bis zu den Möglichkeiten, die zeitgemäße Formen des Abonnenten-Managements boten. Da Mohn Dogmatismus fremd war, sollte aber auch nicht alles Amerikanische nur deshalb imitiert werden, weil es als modern galt.73

Reinhard Mohn 1958 zu Besuch bei IBM in Poughkeepsie im Bundesstaat New York. Er nutzte diese USA-Reise, um sich mit Mitarbeitern über die neuesten elektronischen Datenverarbeitungsanlagen zu informieren.

Besuch des Unternehmens Toshiba in Tokio im Rahmen einer Japan-Reise 1963. Reinhard Mohn informierte sich oft vor Ort über die weltweiten Fortschritte in der elektronischen Datenverarbeitung. Sein Interesse auf dieser Reise galt insbesondere der Entwicklung von elektronischen Komplettsystemen.

Nach der Währungsreform 1948 – inzwischen liefen wieder »alle Maschinen auf vollen Touren«74 – trat an die Stelle des mühsamen Wiederanknüpfens der Aufstieg im umkämpften Buchmarkt. Die gut gefüllten Papierlager des Verlages waren ein perfektes Startkapital, um »dem Buch neue Käuferschichten zu erschließen«.75 Man sei in Gütersloh, so Mohn rückblickend, geradezu in »euphorischer Stimmung« gewesen und habe die strategische Entscheidung getroffen, auf dem »weitgehend offenen Markt«76 den Versandbuch-handel zu fördern: »Nicht auf Kunden warten: Das Buch zum Leser tragen, den Kunden zum Leser erziehen.«77

Mohn wusste, auf wen er sich bei diesem Wagnis verlassen konnte. Er war auch später klug genug, diese Leser-Erfolge, auf die er immer stolz war, nicht als One-Man-Show verkaufen zu wollen, was auch wenig glaubhaft gewesen wäre. Er hatte die Unterstützung des ebenso integren wie erfahrenen Fritz Wixforth, der schon 1911 als Lehrling bei Bertelsmann angefangen hatte78