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Joachim Scholtyseck

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Beschreibung

Das traditionsreiche Familienunternehmen Freudenberg, zu dem so bekannte Marken wie Vileda gehören, zählt zu den größten deutschen Industrieunternehmen. Die 497 Gesellschaften der Freudenberg Gruppe sind an 170 Produktionsstandorten in weltweit 57 Ländern tätig. Joachim Scholtyseck legt nun die erste wissenschaftlich unabhängige Geschichte dieses "hidden champion" der deutschen Industrie vor, die von den Anfängen bis ins Jahr 1949 reicht.
Das 1849 gegründete Unternehmen war einst der größte Lederhersteller Europas. In der Weimarer Republik weitete die Firma angesichts der wirtschaftlichen und strukturellen Krisen ihre Geschäfte mit Erfolg auf das Feld der Dichtungstechnik und ab Mitte der 1930er Jahre auch der "Lederersatzstoffe" aus. Die Freudenbergs dachten politisch liberal und lehnten den Nationalsozialismus ab. Dennoch kamen sie in den Jahren des "Dritten Reiches" ihren Geschäftsidealen immer weniger nach und spielten sowohl bei "Arisierungen" als auch bei der Planung und der Nutzung von Testergebnissen auf der "Schuhprüfstrecke" im KZ Sachsenhausen eine Rolle. Daher lässt sich anhand der Geschichte des Unternehmens auch zeigen, warum sich selbst ehrliche Kaufleute wie die Freudenbergs im "Dritten Reich" die verwerflichen und verbrecherischen Rahmenbedingungen der nationalsozialistischen Politik für ihren Geschäftserfolg zu Nutze machten.

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Joachim Scholtyseck

FREUDENBERG

Ein Familienunternehmen in Kaiserreich,Demokratie und Diktatur

C.H.Beck

Zum Buch

Das traditionsreiche Familienunternehmen Freudenberg, zu dem so bekannte Marken wie Vileda gehören, zählt zu den größten deutschen Industrieunternehmen. Die 497 Gesellschaften der Freudenberg Gruppe sind an 170 Produktionsstandorten in weltweit 57 Ländern tätig. Joachim Scholtyseck legt nun die erste wissenschaftlich unabhängige Geschichte dieses «hidden champion» der deutschen Industrie vor, die von den Anfängen bis ins Jahr 1949 reicht.

Das 1849 gegründete Unternehmen war einst der größte Lederhersteller Europas. In der Weimarer Republik weitete die Firma angesichts der wirtschaftlichen und strukturellen Krisen ihre Geschäfte mit Erfolg auf das Feld der Dichtungstechnik und ab Mitte der 1930er Jahre auch der «Lederersatzstoffe» aus. Die Freudenbergs dachten politisch liberal und lehnten den Nationalsozialismus ab. Dennoch kamen sie in den Jahren des «Dritten Reiches» ihren Geschäftsidealen immer weniger nach und spielten sowohl bei «Arisierungen» als auch bei der Planung und der Nutzung von Testergebnissen auf der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen eine Rolle. Daher lässt sich anhand der Geschichte des Unternehmens auch zeigen, warum sich selbst ehrliche Kaufleute wie die Freudenbergs im «Dritten Reich» die verwerflichen und verbrecherischen Rahmenbedingungen der nationalsozialistischen Politik für ihren Geschäftserfolg zu Nutze machten.

Über den Autor

Joachim Scholtyseck ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler (1999), (zus. mit Eva Madelung) Heldenkinder, Verräterkinder (2007), Der Aufstieg der Quandts (2. Auflage 2011).

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1: Eine wirtschaftsbürgerliche Lebenswelt im Kaiserreich: Anfänge und Entwicklungen des Unternehmens Freudenberg bis zum Ersten Weltkrieg

Anfänge des Unternehmens

Das Unternehmen in der Kaiserzeit

Carl Freudenberg als Familienunternehmen

Ein badischer Patriarch:Hermann Ernst Freudenberg

Der Erste Weltkrieg

Kapitel 2: Das Unternehmen Freudenberg nach 1918: Revolution, Hyperinflation und Scheinblüte

Das Ende des Krieges und der Übergang zur Friedenswirtschaft

Wirtschaftliche Aufholjagd im Zeichen der Inflation

Eine Scheinblüte

Struktureller Wandel und Weltwirtschaftskrise: Vorboten des Überlebenskampfs der deutschen Lederindustrie

Kapitel 3: Unternehmer und Politik: Richard und Walter Freudenberg in der Weimarer Republik

Dem politischen Liberalismus verpflichtet

Verteidiger des Bürgertums und der Demokratie

Kapitel 4: Die Familie Freudenberg und der Nationalsozialismus

Unternehmer zwischen Pragmatismus und Opportunismus

Nähe und Distanz zum «Dritten Reich» in der Familie Freudenberg

Der Nationalsozialismus in Weinheim

Kapitel 5: Betriebsorganisation und Belegschaft: Kontinuität oder Wandel?

Das Eindringen der Nationalsozialisten in den Betrieb

Der Betriebsalltag

Kapitel 6: Von Tack bis Kern: «Arisierungen» bei Carl Freudenberg

«Arisierungen» in Deutschland

Eine frühe «Arisierung»: Die Übernahme der Conrad Tack & Cie. AG im Jahr 1933

Die Übernahmeverhandlungen und die Einigung mit den Tack-Eigentümern 1933

Das Schicksal Hermann Krojankers

Guter Wille oder gutes Geschäft? – Die Ambivalenz einer «freundlichen Arisierung»

Die Entwicklung von Tack unter Freudenberg

Bottina und Leiser

Die «Arisierung» der Lederwerke Sigmund Hirsch

Zunehmende Routine: Weitere «Arisierungen» und «Arisierungs»-Überlegungen in Deutschland

Restitutionsverhandlungen und -vergleiche

Kapitel 7: Der Weg zur Kommanditgesellschaft

Kapitel 8: Das Leder als Auslaufmodell?

Die Autarkiepolitik und ihre Folgen

Die Entwicklung des Ledergeschäfts

Der Erwerb der Gustav Hoffmann AG

Kapitel 9: Auf dem Weg in eine diversifizierte industrielle Zukunft: Vom Simmerring zur Nora-Sohle

Verwissenschaftlichung und Diversifizierung

Der Simmerring

Neue Werkstoffe

Die Nora-Sohle

Lederfaserwerkstoffe

Synthetisches Gummi oder Lederfaserwerkstoffe?

Verbandsstreitigkeiten

Die «Gemeinschaft Schuhe»

Kapitel 10: Österreich und Sudetenland: Beteiligungsversuche der Firma Freudenberg im Zuge der deutschen Expansion

Die gescheiterte Übernahme der Del-Ka in Österreich

Die Schuhfabrik Langfelder

Erfolglose Sondierungen im Sudetenland, in der annek-tierten Tschechoslowakei und im besetzten Polen

Die Naturin AG in Prag

Kapitel 11: Aufträge im Zeichen von Aufrüstung und Krieg: Die Werke Schopfheim, Schriesheim und das Simmerwerk

Kapitel 12: Walter Freudenberg im Dienst der Wehrmacht

Die deutsche Herrschaft über die polnische Industrie

Im Dienste des Beauftragten für die Rohstofferfassung

Kapitel 13: Expansion, «Arisierungsversuche» und «Arisierungen» in den besetzten Niederlanden und Frankreich

Die Grundzüge der deutschen Expansionsstrategie im Westen

Ein gescheiterter «Arisierungsversuch» in den Niederlanden

Der Fall Chromex

Ein französischer Tack-Konzern? Der Beteiligungsversuch an den Chaussures André

Verantwortlichkeit und Motive in Frankreich

Kapitel 14: Der kollektive Parteibeitritt der Führungsriege im Jahr 1943

Kapitel 15: Die «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen

Grundbedingungen und Planungen

Eine Prüfstrecke für die deutsche Schuhindustrie

Die Organisation der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen

Arbeits- und Lebensbedingungen der «Schuhläufer»

Freudenberg-Experten bei der «Schuhprüfstrecke»

Verantwortlichkeit und Motive

Kapitel 16: Zwangsarbeit bei Freudenberg

Der Zwangsarbeitereinsatz im «Dritten Reich»: Ein kurzer Überblick

Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in den Freudenberg-Betrieben

Der Zwangsarbeitereinsatz und die Unternehmensleitung

Kapitel 17: Vorbereitungen auf die Zeit nach Hitler: Das Unternehmen Freudenberg im Angesicht der Niederlage

Kontakte ins Ausland

Neuordnung des Wirtschaftsraums und Teilevakuierungen: Die Versuche, den Betrieb zu retten

Carl Freudenberg und die letzten Kriegsmonate in Weinheim

Kapitel 18: Die juristische Aufarbeitung: Ermittlungen, Haft und Spruchkammerverfahren

Harte Bestrafung oder pragmatisches Vorgehen? – Die amerikanische Debatte über den Umgang mit der deutschen Wirtschaft

Im Visier der Justiz

Richard Freudenberg in Haft

Verfahren oder Freiheit?

Die Entnazifizierung

Kapitel 19: Neubeginn und Restrukturierungen

Neuanfang mit bewährten Kräften

Eine Zeit des Übergangs – Freudenberg in der Nachkriegszeit

Richard Freudenbergs Rückkehr in die Politik

Fazit

Nachwort und Dank

Anhang

Abkürzungen

Anmerkungen

Einleitung

Kapitel 1: Eine wirtschaftsbürgerliche Lebenswelt im Kaiserreich: Anfänge und Entwicklungen des Unternehmens Freudenberg bis zum Ersten Weltkrieg

Kapitel 2: Das Unternehmen Freudenberg nach 1918: Revolution, Hyperinflation und Scheinblüte

Kapitel 3: Unternehmer und Politik: Richard und Walter Freudenberg in der Weimarer Republik

Kapitel 4: Die Familie Freudenberg und der Nationalsozialismus

Kapitel 5: Betriebsorganisation und Belegschaft: Kontinuität oder Wandel?

Kapitel 6: Von Tack bis Kern: «Arisierungen» bei Carl Freudenberg

Kapitel 7: Der Weg zur Kommanditgesellschaft

Kapitel 8: Das Leder als Auslaufmodell?

Kapitel 9: Auf dem Weg in eine diversifizierte industrielle Zukunft: Vom Simmerring zur Nora-Sohle

Kapitel 10: Österreich und Sudetenland: Beteiligungsversuche der Firma Freudenberg im Zuge der deutschen Expansion

Kapitel 11: Aufträge im Zeichen von Aufrüstung und Krieg: Die Werke Schopfheim, Schriesheim und das Simmerwerk

Kapitel 12: Walter Freudenberg im Dienst der Wehrmacht

Kapitel 13: Expansion, «Arisierungsversuche» und «Arisierungen» in den besetzten Niederlanden und Frankreich

Kapitel 14: Der kollektive Parteibeitritt der Führungsriege im Jahr 1943

Kapitel 15: Die «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen

Kapitel 16: Zwangsarbeit bei Freudenberg

Kapitel 17: Vorbereitungen auf die Zeit nach Hitler: Das Unternehmen Freudenberg im Angesicht der Niederlage

Kapitel 18: Die juristische Aufarbeitung: Ermittlungen, Haft und Spruchkammerverfahren

Kapitel 19: Neubeginn und Restrukturierungen

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivquellen

Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen (AS)

Archiv des Liberalismus, Gummersbach (AdL)

Archives Nationales Paris (AN Paris)

Bauhaus-Archiv, Berlin

Bundesarchiv Berlin (BArch)

Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA)

Center for Jewish History, New York (CJH)

Centre des archives du monde du travail, Roubaix (CAMT)

Commerzbank/Dresdner Bank Archiv (Frankfurt am Main) (CBA)

Deutsche Bank Archiv, Frankfurt am Main (DBA)

Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin (WASt)

Entschädigungsbehörde Berlin (EBB)

Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK)

Industrie- und Handelskammer Wiesbaden (IHK)

KZ-Gedenkstätte Dachau

Landesarchiv Berlin (LA Berlin)

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (LA NRW)

Mährisches Landesarchiv Brno – Zlín (MLBZ)

Memorial de la Shoah, Paris

National Archives, London (NA London)

National Archives, Washington D. C. (NA Washington)

Österreichisches Staatsarchiv, Wien (ÖSTA)

Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA)

Robert Bosch Archiv, Stuttgart (RBA)

Schweizerisches Bundesarchiv, Bern (BAR)

Staatsarchiv Hamburg (STA Hamburg)

Staatsarchiv Ludwigsburg (STA Ludwigsburg)

Staatsarchiv Nürnberg (STA Nürnberg)

Staatsarchiv Münster (STA Münster)

Stadtarchiv Augsburg (StA Augsburg)

Stadtarchiv Schopfheim (StA Schopfheim)

Stadtarchiv Staufen (StA Staufen)

Stadtarchiv Weinheim (StA Weinheim)

Stadtarchiv Worms (StA Worms)

Stadt- und Landesarchiv Wien (WStLA)

Stiftung Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart (STHH)

Unternehmensarchiv Freudenberg & Co., Weinheim (UA)

Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart-Hohenheim (WA Baden-Württemberg)

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Firmenregister

Einleitung

Die Geschehnisse, die in diesem Buch dargestellt und analysiert werden, muten wie Angelegenheiten aus einer lange versunkenen Welt an: Es geht um Leder und seine Verarbeitung, ein Handwerk, das heute in Deutschland so gut wie ausgestorben ist. Das 1849 gegründete Unternehmen Carl Freudenberg mit Sitz in Weinheim an der Bergstraße, mit dessen Geschichte sich diese Studie auseinandersetzt, gibt es hingegen noch immer. Die Freudenberg Gruppe gehört unter Einbeziehung ihrer Gemeinschaftsunternehmen mit einem Jahresumsatz von über sieben Milliarden Euro zu den größten deutschen Industrieunternehmen und beschäftigt weltweit rund 40.000 Mitarbeiter. Sie zählt, weil sie in der Öffentlichkeit unter ihrem Namen wenig geläufig ist, zu den «hidden champions». Das Ursprungsprodukt Leder und das Handwerk des Gerbens, mit dem die heutige Unternehmensgruppe Freudenberg ihren Aufstieg erlebte, spielen allerdings keine Rolle mehr: Vor mehr als zehn Jahren wurden die letzten Leder aus der Produktion genommen. Heute ist das Familienunternehmen auf Produkte spezialisiert, die im Wesentlichen erst nach 1945 entwickelt und vermarktet wurden. Am bekanntesten sind wahrscheinlich die Artikel aus dem Geschäftsfeld Vliesstoffe und Filtration: Vileda-Wischtücher, die untrennbar mit der Wirtschaftswunderzeit verbunden sind, stellen auch heute noch einen wichtigen Umsatzgaranten dar. Mindestens ebenso bedeutend sind jedoch andere Erzeugnisse, vor allem aus dem Bereich der Dichtungs- und Schwingungstechnik. Freudenberg ist als Mischkonzern ein «global player» und wichtiger Zulieferer für die internationale Auto- und Maschinenindustrie. Selbst wenn man sich dessen nicht bewusst ist, sind viele unserer Alltagsprodukte, erst recht die Maschinenparks der deutschen Industrie, mit Spezialprodukten bestückt, die aus dem Freudenberg-Stammwerk in Weinheim oder von einer der 497 Gesellschaften der Freudenberg Gruppe an 170 Produktionsstandorten in weltweit 57 Ländern stammen bzw. von ihnen vertrieben werden.

Dass ein Großunternehmen wie Freudenberg mit seiner fast 170-jährigen Geschichte im Zentrum einer ihm gewidmeten Studie steht, ist an und für sich nicht ungewöhnlich. Zahlreiche deutsche Traditionsunternehmen sind in den letzten zwanzig Jahren dazu übergegangen, ihre Geschichte nicht mehr, wie das lange Zeit üblich war, aus der Binnensicht mit einer «Festschrift» darzustellen, sondern auf eine breitere Quellenbasis gestützt wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Mittelständische familiengeführte Unternehmen aus dem ländlichen Raum, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland noch die meisten industriellen Arbeitsplätze stellten, sind freilich bis heute unterrepräsentiert.[1] Das erstaunt umso mehr, als es – zumindest in Deutschland – inzwischen üblich geworden ist, auch die Schattenseiten unternehmerischer Entwicklungen herauszuarbeiten und die Fragen nach individueller Verantwortung zu stellen und zu beantworten. Firmen sind, je länger das «Dritte Reich» der Vergangenheit angehört, im Rahmen einer auch öffentlich geforderten Transparenz eher bereit, sich dem kritischen Blick eines Historikers zu stellen.

Abb. 1  Ansicht von Weinheim nach einem Gemälde von A.E.Kirchner aus dem Jahre 1857. In der linken Bildmitte sind, zum Teil von Bäumen verdeckt, die Gebäude der im Jahre 1852 erbauten Lackierfabrik zu sehen.

Im Fall Freudenberg gab ein besonderer Anlass den Ausschlag für die Veröffentlichung. Im Jahr 2010erschien eine über tausend Seiten starke Studie aus der Feder von Anne Sudrow, die sich auf solider Aktengrundlage mit dem nur scheinbar trockenen Thema «Der Schuh im Nationalsozialismus» beschäftigte.[2] Sudrow hatte in den 1980er-Jahren in Großbritannien eine Schuhmacherlehre absolviert und erstaunt festgestellt, wie hoch das Ansehen des deutschen Schuh- und Lederhandwerks in England immer noch war, obwohl der Strukturwandel inzwischen längst den Niedergang dieser Branche mit sich gebracht hatte. In ihrer Dissertation veröffentlichte sie Befunde, die kein gutes Licht auf die Schuhhersteller im «Dritten Reich» warfen: Im Zuge der Forschungen zu «Ersatzstoffen» für Leder war im Jahr 1940 im KZ Sachsenhausen eine «Schuhprüfstrecke» eingerichtet worden, auf der über 70 Unternehmen unter anderem Schuhsohlen hatten testen lassen. Häftlinge eines Strafkommandos hatten unter brutalen Bedingungen mit dem zu prüfenden Material ihre Runden drehen müssen; viele von ihnen hatten diese Strapazen nicht überlebt.

Die meisten dieser Unternehmen gibt es heute nicht mehr, weil sie, ähnlich wie viele Firmen etwa der deutschen Textilindustrie, entweder nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Tore schlossen oder im Zuge des Strukturwandels und der Globalisierung den Anschluss verloren und in Konkurs gingen. Nur eine überschaubare Zahl der Firmen der Schuhbranche existiert weiterhin und spielt, teilweise aufgekauft oder in andere Unternehmen integriert, heute noch eine Rolle. Zu ihnen zählt, neben Salamander, Continental, Fagus-GreCon, Bata und den Westland Gummiwerken auch die heutige Unternehmensgruppe Freudenberg.

Die dunklen Seiten der Unternehmensgeschichte waren bis zu Sudrows Studie verdrängt worden und in Vergessenheit geraten. Im Freudenberg-Unternehmensarchiv finden sich so gut wie keine Hinweise auf die Beteiligung an der «Schuhprüfstrecke». Erst das Buch von Sudrow machte das familiengeführte Unternehmen wieder auf die langen Schatten dieser Vergangenheit aufmerksam. Es entschied sich daher im Jahr 2012 dafür, seine Geschichte unabhängig und auf wissenschaftlicher Grundlage erforschen zu lassen. Wie inzwischen als Standard etabliert, wurde der unbeschränkte Aktenzugang im Familien- und Unternehmensarchiv ebenso zugesagt und vereinbart wie der Verzicht auf jeglichen inhaltlichen Eingriff in Manuskript und Buch. Die Finanzierung erfolgte über ein Drittmittelprojekt an der Universität Bonn.

Nachgezeichnet wird die Zeit von der Unternehmensgründung im Jahr 1849 bis zum beginnenden bundesrepublikanischen «Wirtschaftswunder». Wie in vielen anderen Unternehmensgeschichten spielen die politischen Epochengrenzen auch bei Carl Freudenberg eine geringere Rolle, als man annehmen könnte. Aus pragmatischen Gründen folgt aber auch diese Studie im Wesentlichen den klassischen Zäsuren der Jahre 1914, 1918, 1933 und 1945. Die politische Geschichte wird dabei mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verbunden, ebenso werden die Ansätze der Kulturgeschichte und der Neuen Institutionenökonomik verwandt, wenn etwa nach den Mustern von Bildung, Karriereverläufen, Generationserfahrungen und -prägungen sowie Werten und Einstellungen gefragt wird.

Die Frage, in welchem Ausmaß die Unternehmer die Herrschaft Hitlers begünstigten und sich an den verbrecherischen Ausbeutungsprozessen beteiligten, steht im Kern vieler Untersuchungen zu Firmen in der NS-Zeit. Die überwiegend exkulpatorischen Erzählstrategien der Privatwirtschaft nach 1945, in denen die Unternehmer in der Regel als unschuldige Opfer des NS-Regimes erschienen, sind durch die Forschung mittlerweile stark relativiert worden. Aber auch die simple These einer Komplizenschaft der Unternehmer gilt als falsifiziert. Demgegenüber überwiegt die auf den ersten Blick banale Feststellung, die deutsche Industrie sei weder unschuldig noch hauptverantwortlich für den Nationalsozialismus gewesen. Unter dem unbestrittenen Primat der Politik blieben die Beziehungen zwischen Industrie und Staat durch komplementäre Interessen geprägt. Die Unternehmen interpretierten die Wünsche, Erwartungen und Forderungen des Regimes im Sinn ihrer wirtschaftlichen Eigenlogik und weniger der NS-Ideologie. Sie handelten in der Regel zweckrational und opportunistisch. Mehr oder weniger bereitwillig erfüllten sie ihre «Pflichten» im Rahmen des Autarkieprogramms und transformierten die staatlichen Vorgaben «in eigene Entscheidungsprogramme, waren aber keineswegs die Urheber der Rüstungs- und Kriegswirtschaft».[3] Unternehmerische Defizite, Versäumnisse und Verbrechen der «Profiteure des Unrechts»[4] lassen sich für die NS-Zeit vergleichsweise leicht herausarbeiten. Zu den am schwierigsten zu beantwortenden Fragen gehört in der neueren Unternehmensgeschichte hingegen diejenige nach den Handlungsspielräumen und der individuellen Verantwortung.[5] Weitgehend ungeklärt ist, warum Unternehmer, die einem Milieu angehörten, in dem zumindest in der Selbstbeschreibung «Tugenden wie Initiative, Wagemut und Freiheit vorwalten», sich mit dem Regime offenbar besser zu arrangieren verstanden als manche Repräsentanten von Organisationen wie der Wehrmacht, wo «Gehorsam das leitende Karriereprinzip» darstellte.[6] Der Buchtitel «Freudenberg – Ein Familienunternehmen in Kaiserreich, Demokratie und Diktatur» soll zugleich verdeutlichen, dass die «Spannung» zwischen liberalem Unternehmertum und den erheblichen «Anpassungsleistungen» an das NS-Regime in den Jahren zwischen 1933 und 1945 durchgehend erkennbar – und erklärungsbedürftig – ist.

Wer sich für die Geschichte von Unternehmen interessiert, muss die vorhandenen Methoden und Ansätze kennen, sollte diese aber nicht exklusiv dafür nutzen, die Historie eines spezifischen Unternehmens in das Prokrustesbett von Theorien einzuspannen. Abstrakte Erklärungsmuster über einen «allgemeinen Wirtschaftsmenschen»[7] helfen gerade für die Zeit des Nationalsozialismus mit ihrem spezifischen Droh- und Gewaltpotenzial nicht weiter, denn diese Konzepte ermöglichen keine allgemeingültige Aussage darüber, «wie individuelle Bewusstseinsoperationen von Moment zu Moment tatsächlich ablaufen».[8] Unternehmerische Entscheidungsprozesse der Jahre von 1933 bis 1945 können nicht allein mit Geschäftsberichten, Bilanzen und statistisch-quantifizierendem Material, geschweige denn ökonometrischen Methoden erschöpfend erklärt werden, zumal der Faktor «Macht», der in totalitären Regimen eine zentrale Rolle spielt, immer berücksichtigt werden muss.[9] Mit anderen Worten: Die Aporien, die auf vielen Seiten der Unternehmensgeschichte von Carl Freudenberg auftauchen, lassen sich nicht allein durch die Erkundung ökonomischer Eigenlogiken verstehen. Die «empirische Vielfalt und Widersprüchlichkeit gelebten Lebens»[10] lässt sich nicht herausrechnen.

Für das Verständnis der Geschichte des Unternehmens Carl Freudenberg in der NS-Zeit ist der Blick auf die Anfänge im 19. Jahrhundert notwendig. Viele Entwicklungen im 20. Jahrhundert bleiben unverständlich, wenn man nicht auf die politisch-kulturellen Rahmenbedingungen der Region eingeht, die zur Genese der Firma gehören. Die Spezifika Südwestdeutschlands bieten ein Paradebeispiel für die Entstehungsbedingungen eines im liberalen badischen Milieu prosperierenden Unternehmens mit patriarchalischen Grundzügen: Eher dem Großherzog in Karlsruhe als dem preußisch-deutschen Kaiser verpflichtet, wuchs ein Unternehmen heran, das schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf allen fünf Kontinenten als Exporteur von gegerbtem Oberleder tätig war, und, von den Konkurrenten zugleich bewundert und gefürchtet, zur Crème de la Crème des europäischen Gerberhandwerks zählte. Der kontinuierliche Aufstieg wurde erst durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges abrupt unterbrochen. Die folgenden Jahrzehnte stellten zwar keine Degenerationsgeschichte dar, waren aber durch Dauerkrisen gekennzeichnet. Der Export, der vor 1914 fast drei Viertel des Geschäfts ausgemacht hatte, kam nur mühsam wieder in Gang. Seit den späten 1920er-Jahren und schließlich verstärkt durch die Weltwirtschaftskrise war den Führungspersönlichkeiten von Carl Freudenberg bewusst, dass sie sich nicht länger auf das Ledergeschäft allein würden stützen können. Die Konsequenz war die «vertikale» Expansion, mit der man von der Gerbung bis zum fertigen Schuhwerk sowie dem Vertrieb und Verkauf in Filialgeschäften alles in einer Hand hatte, noch mehr jedoch die ebenso kluge wie nüchterne Entscheidung, das Produktportfolio zu diversifizieren. Dieser Entschluss erklärt wesentlich, warum das Unternehmen auch im «Dritten Reich» gute Gewinne machte und warum es die Gruppe Freudenberg als familiengeführtes Unternehmen heute noch gibt; er bietet aber gleichzeitig einen Schlüssel, warum die Firma einer der wichtigsten Akteure bei der Beteiligung an der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen wurde.

Daher liegt ein Schwerpunkt auch der vorliegenden Studie auf den Jahren des «Dritten Reiches» und des Zweiten Weltkrieges. Trotz mancher Drohgebärden musste das Regime nur bei wenigen Firmen Zwang anwenden.[11] Der Versuch der wenigen liberal geprägten Unternehmerpersönlichkeiten, die Hitler nichts abgewinnen konnten und in ihrem Herzen Demokraten blieben, sich nämlich gleichsam zu immunisieren, Abstand zur NSDAP zu halten, gar den Weg des Widerstands zu gehen, scheiterte schließlich, wenn man einmal von einer Ausnahmeerscheinung wie dem schwäbischen Industriellen Robert Bosch absieht.[12] Die Frage nach den Ursachen dafür, warum sich auch die Firma Carl Freudenberg und ihre Leitung weitgehend reibungslos in die Politik der «Arisierungen», der Rüstungs- und Zwangsarbeit sowie der Kollaboration auf der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen einbinden ließen, steht im Zentrum der Arbeit. Sollte die – theoretisch mögliche – Schwächung des Familienunternehmens verhindert werden? Fürchtete man in Weinheim, gegenüber denjenigen Konkurrenten zu kurz zu kommen, die sich dem Regime bereits angedient hatten? Wie reagierte man auf den Widerspruch zwischen der «politisch gesetzte[n] und sanktionierte[n] Rechtsmoral» einerseits und der «Common-Sense-Moral» andererseits?[13] Um das Rätsel zu lösen, warum selbst überzeugte Demokraten, die den Staat von Weimar bis zu seinem Untergang standhaft verteidigt hatten, ihre Bedenken offenbar fallen ließen oder zurückstellten, sollen die einschlägigen Quellen befragt werden. Die Motive für die jeweils ganz unterschiedlichen «Arisierungen», «Arisierungsversuche» und Kapitalbeteiligungen in Deutschland und im besetzten Ausland werden ebenso dargestellt wie Umfang und Charakter der Zwangsarbeit. Die Schilderung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen sowie der Fremd- und Zwangsarbeiter in Weinheim und weiteren Freudenberg-Werken soll eine Antwort auf die Frage nach den Motiven und Verantwortlichkeiten ermöglichen. Dies gilt erst recht für die Errichtung der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen. Hier sollen die Arbeits- und Lebensbedingungen der «Schuhläufer» dargestellt und die Aufgaben der Freudenberg-Experten auf der «Schuhprüfstrecke» untersucht werden. Schließlich soll nach der Verantwortlichkeit und den Motiven der Unternehmensleitung von Carl Freudenberg für die Beteiligung an den Schuhprüfverfahren gefragt werden. Ebenso werden die Strategien der Firma in der letzten Phase des Krieges verfolgt, als es in erster Linie darum ging, den bevorstehenden Untergang des «Dritten Reiches» zu überleben. Das Kriegsende 1945 wiederum bedeutete ja keineswegs eine «Stunde Null». Daher stellen die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen durch die Alliierten und die Entnazifizierung eine Möglichkeit dar, den Umgang mit dem fatalen Erbe des NS-Regimes bei Carl Freudenberg zu analysieren. Die Rekonstruktion des Geschäftsgebarens des Unternehmens nach 1945 ermöglicht zudem einen Blick auf die Frage nach Kontinuität und Brüchen in den Jahren vor dem «Wirtschaftswunder».

Unternehmensgeschichten lassen sich nicht ohne den Blick auf die handelnden Unternehmer schreiben. Sie sind letztlich die relevanten Entscheider, und bei Carl Freudenberg war und ist dies nicht anders. Daher werden in der Studie zwei unterschiedliche Themenkreise miteinander in Beziehung gesetzt: das in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Familienunternehmen sowie die gesellschaftlich-politischen Zielvorstellungen der Freudenberg-Protagonisten. Einige Persönlichkeiten fallen durch ihren Tatendrang allerdings besonders auf. Hierzu zählt in der Frühzeit vor allem Hermann Ernst Freudenberg, der bis zu seinem Tod im Jahr 1923 als typischer Patriarch eine bestimmende Rolle spielte. In der nachfolgenden Generation waren die Entscheidungen auf mehrere Schultern verteilt, und vier Protagonisten kam in den Jahren der Weimarer Republik und des «Dritten Reiches» die Verantwortung für die Geschicke der Firma zu. Joseph A. Schumpeters Modell dynamischer und schöpferischer Unternehmer, die zwar keine neuen Technologien schaffen, das Vorhandene aber weiterentwickeln und innovativ anwenden, erscheint für diese Freudenberg-Generation charakteristisch:[14] Walter Freudenberg und seine Vettern Hans, Otto und Richard Freudenberg spielten, um im Schumpeterschen Bild zu bleiben, als «Heroen der Zeit»[15] unbestritten die Hauptrollen und schufen mit einer vorausschauenden Diversifizierungsstrategie seit dem Ende der 1920er-Jahre die Grundlagen für die langfristige Prosperität ihres Unternehmens. Obwohl ihre Entscheidungen im Wesentlichen einvernehmlich getroffen wurden, war Richard Freudenberg für die meisten Fragen, die im Zentrum stehen, eine wesentliche Schaltstelle. Insofern hat die vorliegende Studie zugleich einen kollektivbiografischen Charakter. Auch den führenden Mitarbeitern wird gebührend Platz eingeräumt, um eine befriedigende Analyse der unternehmerischen Entscheidungsprozesse bei Carl Freudenberg zu leisten. Daher wird auf die spätestens seit den 1920er-Jahren verstärkt zum Einsatz kommenden außerfamiliären Fachleute, Chemiker und Ingenieure wie Carl Ludwig Nottebohm und Walther Simmer sowie ihre wissenschaftlichen Netzwerke eingegangen.

Die Perspektive «von oben» wird ergänzt durch den Blick auf die Arbeits- und Lohnstrukturen, die Betriebs- und Sozialpolitik, das Verhältnis zwischen Management, Angestellten und Arbeitern, also die «Mikropolitik im Unternehmen».[16] Die Eigentümer des Familienunternehmens sind dabei sicherlich nicht einfach mit der Firma Carl Freudenberg gleichzusetzen. Denn man kann auch die Bedeutung der Unternehmensleitungen überschätzen, etwa dann, wenn man strikt an der Vorstellung festhält, es handle sich stets um «rationale Entscheidungsprozesse einer Gruppe weit blickender Männer, die das Richtige zur richtigen Zeit tun».[17] Die neuere Unternehmensgeschichte berücksichtigt dies, indem sie nicht nur die Persönlichkeiten betrachtet, sondern auf einer überindividuellen Analyseebene das jeweilige Unternehmen als einen «quasi autonome[n] Organismus» ansieht, «der wie aus sich selbst heraus zu funktionieren scheint und dessen einziges Ziel und Lebensprinzip […] offenbar darin besteht, ein unaufhörliches Wachstum zu generieren».[18]

Wenn ein Unternehmen über politische Brüche hinweg einen langen Zeitraum überlebt und der «permanenten Bestandsbedrohung»[19] gleichsam ein Schnippchen schlägt, spielen nicht nur Können und Beharrlichkeit, sondern wahrscheinlich auch Glück eine gewisse Rolle. Um die schwierig zu beantwortenden Fragen nach Kalkül, Rationalität, Pech und Zufällen bei unternehmerischem Handeln zu beantworten, bleibt nur ein Blick in die Akten, um die Motive für die jeweiligen Entscheidungen und Entwicklungen zu finden.

Wissenschaftliche Arbeiten zu Carl Freudenberg sind Mangelware. Bedauerlicherweise hat Richard Freudenberg seine 1945 angestellte Überlegung, seinen Duzfreund Theodor Heuss, mit dem er in der Weimarer Republik parteipolitisch zusammengearbeitet hatte, mit der Abfassung einer Geschichte des Unternehmens Carl Freudenberg zu betrauen, schließlich doch nicht umgesetzt.[20] Die Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum, das 1949 anstand, stammt daher nicht von Heuss, sondern aus der Feder des Gymnasiallehrers und Historikers Dr. Hermann Pinnow (1884–1973), der 1933 wegen seiner demokratischen Einstellung von den Nationalsozialisten aus dem Schuldienst vertrieben worden war und sich seinen Lebensunterhalt durch Festschriften, unter anderem zu Dyckerhoff und einer 1938 erschienenen «Werksgeschichte» der I. G. Farben verdient hatte. Dem damaligen Usus entsprechend kamen in seinem informativen und mit zahlreichen Anekdoten angereicherten Werk, das 1953 erschien, «Arisierungen» gar nicht vor, von Zwangsarbeit war nur stark verklausuliert die Rede. Eher referierenden Charakter hatte die – immerhin ein Dutzend Seiten umfassende – Darstellung des Wirtschaftsjournalisten Kurt Pritzkoleit, die er in einem 1965 erschienenen Werk über westdeutsche «Wirtschaftslandschaften» präsentierte.[21]

Sehr viel präziser argumentierte hingegen die zum 150-jährigen Jubiläum erschienene umfassende Festschrift aus dem Jahr 1999, die zahlreiche Aspekte der Firmengeschichte beleuchtete. In mancher Hinsicht stand das Werk in der Tradition der «Festschriften», in der die Entscheidungen bedeutender, aus der Familie stammender Unternehmerpersönlichkeiten für den Aufstieg und das erklärungsbedürftige Überleben der Firma Freudenberg verantwortlich gemacht wurden.[22] Die offiziöse Firmengeschichte, die wesentlich auf der Überlieferung des Familien- und Unternehmensarchivs basierte, sparte die Zwangsarbeit und einige der «Arisierungen» zwar nicht aus, machte aber um die «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen, die in der Familienhistorie nach 1945 vollkommen ausgeblendet worden war, einen großen Bogen, wahrscheinlich auch, weil – aus welchen Gründen auch immer – zu diesem Komplex im Familien- und Unternehmensarchiv so gut wie nichts zu finden ist.[23]

Familienunternehmen sind in der Regel stärker an ihrem eigenen Herkommen und ihrer Geschichte interessiert als Unternehmen mit anderen Besitz- und Organisationsstrukturen. Dies zeigt sich meist im Aufbau und in der Pflege eines professionell geführten Archivs, und dies gilt auch für Carl Freudenberg. Das solide Quellenfundament, das im Unternehmensarchiv in Weinheim zur Verfügung steht, bot die Grundlage für die vorliegende Studie. Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass Weinheim von größeren Bombenangriffen verschont wurde und die Stadt beim Einmarsch der amerikanischen Truppen im März 1945 – ein ganz wesentliches Verdienst von Richard Freudenberg – unversehrt an die Besatzer übergeben wurde, sodass die zentralen Firmenakten erhalten sind. Dennoch sind Materialien aus 37 weiteren Archiven konsultiert und ausgewertet worden; im Bundesarchiv Koblenz und Berlin, im Militärarchiv Freiburg, in zahlreichen Landes-, Staats-, Stadtarchiven sowie Unternehmens- und Privatarchiven. Wichtige Archivstücke fanden sich auch in den National Archives (USA), den National Archives (Großbritannien) und den Archives Nationales (Frankreich).

Der niederländische Historiker Jan Romein hat kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Kunst des Biografen darin gesehen, «dass er das Allgemeine allgemein, das Individuelle individuell, das Körperliche körperlich, das Seelische seelisch, das Kleine klein und das Große groß zu sehen vermag, und also all diese Verhältnisse sauber abzuwägen und sauber zu beschreiben weiß; aber immer so, dass er im Allgemeinen zugleich das Individuelle, im Körperlichen das Seelische, im Kleinen das Große zu sehen vermag, und umgekehrt im Individuellen das Allgemeine, im Seelischen das Körperliche und im Großen das Kleine sondert und darstellt.»[24] Diesem – zugegebenermaßen hohen – Anspruch möchte die Freudenberg-Studie gerecht werden, auch wenn es sich bei ihr nicht um eine klassische Biografie handelt. Die Frage nach Handlungsspielräumen und -alternativen sowie nach der individuellen Verantwortung zieht sich daher wie ein Ariadnefaden durch die Arbeit, selbst wenn sich die politischen Grundbedingungen – Kaiserreich, Weimarer Republik, «Drittes Reich», Besatzungszeit und Bundesrepublik – wandelten. Wenn eine Auskunft darauf möglich ist, wird die Frage leichter zu beantworten sein, warum sich auch «ehrliche Kaufleute» wie die Freudenbergs im «Dritten Reich» an einer verwerflichen und verbrecherischen Politik beteiligten.

Kapitel 1

Eine wirtschaftsbürgerliche Lebenswelt im Kaiserreich: Anfänge und Entwicklungen des Unternehmens Freudenberg bis zum Ersten Weltkrieg

Anfänge des Unternehmens

Die Anfänge der Firma Freudenberg gehen nicht auf einen alten Handwerksbetrieb, sondern auf die 1823 gegründete Mannheimer Lederhandlung Heintze & Sammet zurück, die 1829 die Erlaubnis erhielt, in der alten Gerberstadt Weinheim an der Bergstraße eine Fabrik zur Herstellung feiner Kalbleder zu errichten.[1] Zu dieser Zeit waren Ledererzeugung und -verarbeitung häufig eine Angelegenheit von Familienbetrieben, die oft seit Generationen bestanden. Die Industrialisierung setzte in dieser Branche zwar mit einer gewissen Verzögerung ein, aber in der «Übergangszeit zwischen Handwerkertum und industriellem Großbetrieb»[2] wurde das Leder mit all seinen Besonderheiten, Fehlern und Beschädigungen häufig schon mechanisch bearbeitet, sodass die Herstellung den Charakter eines «industrialisierten Lederhandwerks» hatte.[3] Carl Johann Freudenberg (1819–1898), der mit Recht als «patriarchale Gründergestalt» gilt,[4] war der zweitälteste Sohn eines Gastwirts aus Hachenburg. Nach dem Tod seines Vaters konnte die Mutter nur dem ältesten Sohn eine Ausbildung zum Lehrer ermöglichen. Als Zweitältester ging Carl Johann daher beim Unternehmen seines Onkels mütterlicherseits, Jean Baptist Sammet, in die Lehre und arbeitete dort anschließend als Angestellter weiter. Als Heintze & Sammet in Schwierigkeiten gerieten und liquidiert werden mussten, übernahm Carl Johann Freudenberg zusammen mit Heinrich Christian Heintze (1800–1862) im Jahr 1849 die Lederfabrik. Mit der Gründung der kleinen Gerberei Heintze & Freudenberg am 9. Februar 1849, die rund 50 Arbeiter beschäftigte, setzt die eigentliche Unternehmensgeschichte ein.

Ihren schnellen Erfolg verdankte die Neugründung einer Innovation. Der Gerbermeister Eduard Michel bot Heintze & Freudenberg ein Rezept zur Herstellung von Lackleder an. Die Inhaber zögerten zunächst, griffen dann aber doch zu und konnten so ein neues Produkt, das zur damaligen Zeit gerade en vogue war, auf den Markt bringen.[5] Bereits nach fünf Jahren machte Lackleder vier Fünftel der Herstellung aus und wurde in einem immer weiter perfektionierten Verfahren, das rund 75 Produktionsschritte umfasste, mit inzwischen bereits 250 Mitarbeitern weiterentwickelt. Das Verhältnis der beiden Partner gestaltete sich indessen zunehmend schwieriger, weshalb Freudenberg, ohne Heintze zu beteiligen, im nahe bei Heidelberg gelegenen Schönau im Jahr 1869 eine zweite Gerberei errichtete, deren Leitung Carl Johanns Sohn Friedrich Carl (1848–1942) übernahm; er war systematisch auf die Unternehmensnachfolge vorbereitet worden.

Das Unternehmen in der Kaiserzeit

Im Kaiserreich von 1870/71 fielen die bislang bestehenden innerdeutschen Handelsschranken endgültig; der damit einhergehende «Gründerboom» trug dazu bei, dass Deutschland maßgeblich von der «zweiten industriellen Revolution» profitierte. Die wirtschaftliche Euphorie der «Gründerzeit» verflog zwar schnell, aber die Dynamik des zunehmenden Einsatzes von Maschinen in einer Zeit der Transformation von der handwerklichen Fertigung zur industriellen Produktion überlagerte diese politische Entwicklung. In jenen Jahren der industriellen Großfertigung, die den Übergang von der Manufaktur zur Fabrik[6] und den Wandel von der «Meisterwirtschaft» zur «Ingenieurwirtschaft» markierten,[7] zeichnete sich eine zunehmende Arbeitsteilung zwischen Fabrikation und Vertrieb ab. Großhändler, Zwischenhändler, Versandgeschäfte, Einkaufsvereinigungen und andere Grossisten bestimmten das Bild. An der Unternehmensspitze von Freudenberg wurden unterschiedliche Führungsstile gepflegt. Der Gerbermeister Eduard Michel, der als herrisch und cholerisch galt, hatte eine andere Einstellung als der Patriarch, wie sich dessen ältester Sohn Friedrich Carl Freudenberg noch Jahrzehnte später erinnerte: «Mit den Arbeitern verkehrte er wie mit Negersklaven und das trotz des Einspruchs seines Prinzipals, dessen gütigem Wesen, als eines Mannes, der in seiner Jugend die Bitterkeit der Armut selbst erfahren, jede Härte und Lieblosigkeit ganz entgegengesetzt war.»[8]

Abb. 2  Die Gerberei im Müllheimer Tal um 1880, später «Werk Müll» genannt.

Im Zuge der sogenannten Gründerkrise geriet die Firma in Schwierigkeiten. Zugleich verschlechterte sich die Qualität des Vorzeigeprodukts Lackleder. Carl Johann Freudenberg, seinem Sohn Friedrich Carl und dem zunehmend «verknöcherten» Michel fehlte das notwendige Know-how, um auf den technischen Wandel angemessen reagieren zu können.

In dieser bedrohlichen Situation rief Friedrich Carl seinen jüngsten Bruder Hermann Ernst Freudenberg (1856–1923) zu Hilfe, der seine Lehr- und Wanderjahre in den Vereinigten Staaten verbracht hatte und 1875 nach Deutschland zurückkehrte. Die Voraussetzungen für Veränderungen waren günstig: Als 1874 der Teilhaber Leopold Heintze gestorben war, hatten sich seine Hinterbliebenen ihre Einlagen auszahlen lassen.[9] Die Firma war fortan alleine im Besitz der Familie Freudenberg. Gemeinsam erreichten die beiden Brüder als Unternehmer der zweiten Generation die Ablösung des einflussreichen, aber im Grunde überforderten Gerbermeisters Michel, der der Firma in der Vergangenheit mit Krediten immer wieder unter die Arme gegriffen hatte und dessen Ausscheiden das Unternehmen deshalb kurzfristig stark belastete.

Nach Michels Abschied war der Weg für ein von Hermann Ernst entwickeltes neues Lackleder frei, dessen Qualität über jeden Zweifel erhaben war. Hermann Ernst Freudenberg wurde zum «durchsetzungsstarken Betriebsleiter».[10] Unter seiner Ägide profitierte das Unternehmen von technischen Modernisierungen, dem industriellen Aufschwung der ganzen nordbadischen Region und einem erweiterten Angebot wie etwa dem Chagrinleder, einem Leder aus der Rückenhaut der Pferde.

Abb. 3  Seit 1874 hatte die Firma ein Gerberwappen als Logo verwendet. Es bildet in einem Oval die Handwerksgeräte des Gerbers ab: ein Falzeisen zur Herstellung der gleichmäßigen Dicke des Leders; ein Fleischeisen zum Entfernen von Fleisch und Fett auf der Unterseite der Haut; ein Haareisen zum Herunterschaben der Fellhaare. Die Geräte sind von zwei Löwen flankiert, während an der Spitze eine Krone abgebildet ist – selbstbewusstes Zeichen des Führungsanspruches.

Die Gerberei in Weinheim und das Zweigwerk in Schönau beschäftigten 1887 rund 500 Mitarbeiter. Das Unternehmen gehörte inzwischen zu den führenden südwestdeutschen Lederherstellern und wurde zu einem «im Welthandel fest verankerten Faktor».[11] Den Globus umspannende Handelsbeziehungen hatten von Anfang an die Gerberei geprägt, mit einem Einkaufs- und Vertriebsnetz, das bereits seit den 1850er-Jahren von Großbritannien über Italien, Skandinavien, Spanien, das Zarenreich bis nach Brasilien reichte. 1896 wurde eine erste Haarwäscherei eingerichtet, in der die beim Enthaaren der Felle gewonnenen Haare gereinigt, nach Farben sortiert und für die Herstellung von Filz weiterverwendet wurden. Durch den Bau des Werkes «Zwischen Dämmen» wurde am Ende des 19. Jahrhunderts der wichtige Zugang zur Rheinebene geschaffen und der Bahnanschluss wesentlich verbessert.

Abb. 4  Mitarbeiter der Wasserwerkstatt der Gerberei beim Reinigen der Felle, 1899.

Abb. 5  Mitarbeiter der Wasserwerkstatt der Gerberei beim Spalten und Beschneiden der Rohfelle, 1899.

1914 produzierten die vier größten deutschen Oberlederfabriken – neben Freudenberg zählten hierzu die Firmen Adler & Oppenheimer, Cornelius Heyl und Doerr & Reinhart – rund drei Viertel der deutschen Herstellungsmenge. Fast das gesamte Rohmaterial für die Gerbung wurde importiert, hauptsächlich aus dem Zarenreich, Polen, Argentinien und Frankreich, später auch aus den USA, wo die Chicagoer «Meatpacker»-Firmen Armour und Swift zu wichtigen Lieferanten avancierten. Das in Weinheim gegerbte und besonders leichte Oberleder wurde nach Großbritannien und in dessen Kolonien, in die Schweiz, nach Frankreich, Russland, Polen, in die Vereinigten Staaten sowie in zahlreiche andere überseeische Länder exportiert.

Die Jahrhundertwende brachte einen weiteren Schritt nach vorn. Hermann Ernst Freudenberg modifizierte in eigenen Versuchen das in den USA entwickelte Chromgerbeverfahren und brachte es seit 1900 in Weinheim zum Einsatz.[12] Diese Umstellung von der Verwendung von Gerberlohe, die aus unterschiedlichen pflanzlichen Stoffen wie Eichenrinde bestand, auf Chromsalze bzw. Chrombrühe brachte erhebliche Zeiteinsparungen, denn der Gerbprozess wurde von 18 Monaten auf ca. sechs Wochen verkürzt. Die modischen Chromleder, die wasserdicht und geschmeidiger waren, sich zudem leichter reinigen ließen und eine gleichmäßigere Oberfläche hatten, erwiesen sich europaweit als Verkaufsschlager, galten aber auch in den USA als «deutsche Spezialität».[13] Freudenberg sicherte sich damit beim Oberleder einen deutlichen Vorsprung vor der Konkurrenz. Vor allem in Großbritannien, dem Hauptabsatzmarkt, war die Nachfrage groß. Der wichtigste Geschäftspartner, Alfred Morris von der Firma «George Morris & Son», verlangte «dringend die Aufnahme von Boxcalf».[14] Bei diesem farbigen Boxkalb-Leder, der wichtigsten Variante des chromgegerbten Kalbleders, wurde Carl Freudenberg Marktführer mit einem europaweit guten Ruf.

Kartelle und Preisabsprachen, die sich in der übrigen deutschen Wirtschaft bildeten, waren in der Lederindustrie so gut wie unbekannt, was an dem kleinteiligen und geradezu zersplitterten offenen europaweiten Markt ohne wesentliche Zollschranken lag, der Absprachen erschwerte und einen entsprechend harten Wettbewerb zur Folge hatte.[15] Besonders die Cornelius Heyl AG in Worms war ein hart verhandelnder, ebenbürtiger und daher unbequemer Gegenspieler Freudenbergs. Das sich bald auch anderswo durchsetzende Verfahren der Schnellgerbung beschleunigte den Strukturwandel in der Lederindustrie und bewirkte eine «völlige Umwälzung der Oberlederfabrikation».[16] Die Chromgerbung war kapitalintensiv, was dazu führte, dass vor allem die kleineren Betriebe vor den Kosten kapitulieren mussten. Erst recht litten die Schuhmacher unter der fabrikmäßigen Herstellung, die «den gut situierten Schuhmachermeister von ehedem zum Flickschuster degradiere», wie in einem Bericht beklagt wurde.[17]

Carl Freudenberg als Familienunternehmen

1887 beteiligte der Firmengründer Carl Johann Freudenberg seine beiden Söhne Friedrich Carl und Hermann Ernst als gleichberechtigte Partner an seiner als offene Handelsgesellschaft eingetragenen Firma, die damit endgültig zu einem Familienunternehmen wurde. 1896 wurde die offene Handelsgesellschaft in eine GmbH umgewandelt. Dahinter stand der Gedanke, bei wachsendem Geschäft das Risiko einer unbeschränkten Haftung zu verringern, aber wohl auch der Wunsch, den beiden Söhnen die Fortsetzung des Betriebs als Alleinbesitzer zu ermöglichen.[18] An eine Beteiligung der weiblichen Familienmitglieder wurde, ganz der Tendenz der Zeit entsprechend, nicht gedacht. Das Gerben war ein Männerberuf; Frauen galten für die harte körperliche Arbeit als ungeeignet, und entsprechend wurden die Schwestern in den folgenden Jahren ausgezahlt.[19] 1898 starb Carl Johann Freudenberg, sein ältester Sohn Friedrich Carl erwies sich jedoch bald als aufbrausender Charakter, der sich zudem, wie ihm bisweilen nachgesagt wurde, «in Kleinigkeiten» verloren habe.[20] Weil der geschäftstüchtigere Hermann Ernst seinen acht Jahre älteren Bruder Friedrich Carl in wesentlichen kaufmännischen Belangen überflügelte, führten die damit unweigerlich verbundenen wachsenden Differenzen schließlich zu dessen «Ausschaltung».[21] Zwar hatte er selbst erkannt, dass er weniger als sein Bruder zum Unternehmer geboren war, aber die Trennung vollzog sich «nicht ganz ohne bittere Gefühle.»[22] Friedrich Carl zog sich kurz nach der Jahrhundertwende ins Privatleben zurück und schied 1905 offiziell aus dem Unternehmen aus.[23] Sein Sohn Walter hingegen bekam die latenten Spannungen zwischen den beiden Familienzweigen auch später noch zu spüren. Vor allem der Streit mit seinem Onkel Hermann Ernst als dem unbestrittenen Unternehmenschef drohte, wie sich ein mit den Verhältnissen vertrauter Mitarbeiter erinnerte, «manchmal explosive Formen anzunehmen».[24]

Hermann Ernst war fortan die prägende Gestalt des Unternehmens. Der Zwist zwischen den Brüdern war nach der geschäftlichen Trennung aber nur oberflächlich beseitigt. Von den Söhnen Friedrich Carl Freudenbergs trat lediglich Walter (1879–1957), der Zweitälteste, ins Geschäft ein.[25] Dieser besuchte bis zum Abitur ein Realgymnasium in Frankfurt am Main, trat 1898 als Lehrling in die Firma Carl Freudenberg ein und wurde, nicht zuletzt durch mehrere USA-Aufenthalte, systematisch auf die Arbeit in der Gerberei vorbereitet.[26]

Abb. 6  Der Firmengründer Carl Johann Freudenberg, um 1865.

Nachfolgefragen sind immer eine heikle Angelegenheit, besonders für eigentümergeführte Familienunternehmen.[27] Die Freudenbergs folgten traditionell der Maxime, das Firmeninteresse den Wünschen Einzelner überzuordnen. Das Geschäft sollte möglichst unabhängig davon florieren, wie die Gesellschafter untereinander ihre finanziellen Verhältnisse regelten. Nach dieser Vorgabe wurden die Satzungen für die dritte Generation ausgearbeitet. Von den Söhnen Friedrich Carls stand nur Walter Freudenberg für die Nachfolge zur Verfügung, aber Hermann Ernst Freudenberg hatte sechs Söhne, und es lag auf der Hand, dass sich nicht alle in leitender Stellung im Betrieb unterbringen ließen. 1908 wurden Walter Freudenberg sowie Hermann Ernst Freudenberg jr. (1881–1920), der älteste Sohn von Hermann Ernst Freudenberg, zu weiteren Geschäftsführern bestellt. Beide waren als «Kronprinzen» für die Nachfolge designiert und für den Rohledereinkauf resp. den technischen Bereich zuständig. Weil Hermann Freudenberg jedoch schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges krankheitsbedingt seine Tätigkeit erheblich reduzieren musste, fungierten nur noch Hermann Ernst Freudenberg sen. und der sich rasch bewährende Walter Freudenberg als die beiden Geschäftsführer.

Allerdings zeigte sich schon jetzt eine Verschiebung der familiären Gewichte. Hermann Ernst Freudenberg, ohnehin «Seele und treibende Kraft»[28] des Unternehmens, hatte durch den Aufkauf der Geschäftsanteile der Schwestern faktisch einen höheren Anteil am Unternehmen und genoss damit eine gewisse Vorrangstellung gegenüber seinem Bruder. Als seine Söhne Richard (1892–1975), Hans (1888–1966) und Otto (1890–1940) vor dem Ersten Weltkrieg ins Unternehmen eintraten, wurde ein «Geschäftsführerverband von mehreren spezialisierten und im Grunde gleichberechtigten Nachfolgern» etabliert. Planung und Strategie der Verfügungsrechte waren «an der vorhandenen Unternehmensstruktur orientiert und auf die personalen Bedürfnisse der Firma zugeschnitten».[29]

Nicht nur die Geschäftsführung, sondern auch die finanziellen Verhältnisse mussten geregelt werden. Friedrich Carl, Hermann Ernst sen. und dessen ältester, aber inzwischen schwerkranker Sohn Hermann schlossen im Juni 1917 einen weichenstellenden Gesellschaftsvertrag, mit dem zukünftig der Firmenbesitz angesichts des großen Kreises von Eigentümern «als gemeinsamer Familienbesitz für alle Erbberechtigten» gesichert werden sollte.[30] Den einzelnen Erben stand es frei, ob sie sich auszahlen lassen wollten oder nicht. Die beiden Senioren Friedrich Carl und Hermann Ernst Freudenberg übertrugen zu gleichen Anteilen Stammeinlagen an ihre Kinder. 25 Prozent der jährlichen Erträge standen den geschäftsführenden Gesellschaftern zu.[31] Der Vertrag war, obwohl er noch gewisse Sonderrechte für die ältere Generation enthielt, eine «klar erkennbare Abkehr vom Konzept des Eigentümer-Unternehmers hin zu einer Unternehmensverfassung».[32] Hermann Ernst Freudenberg hatte diese Einstellung in einem Brief an seinen Bruder im März 1914 bereits einmal bekräftigt: «Ich stehe überhaupt nicht auf dem Standpunkte, dass die Geschäftsführer von der Familie sein müssen. Dazu ist das Geschäft zu groß und die Familie zu verzweigt, um es als reines Familiengeschäft zu behandeln. Die Hauptsache ist, dass die Geschäftsführer erfahrene, tüchtige Fachleute sind, und nur wenn sich solche im Kreise der Familie finden, soll man sie wählen, sonst viel lieber Fremde.»[33]

Abb. 7  Friedrich Carl Freudenberg, nach einem Gemälde von Richard Scholz, 1895.

Abb. 8  Hermann Ernst Freudenberg, 1880.

Eine Auszahlung der vielen nicht in der Firma tätigen Familienmitglieder wäre kaum zu finanzieren gewesen. Der Gesellschaftsvertrag enthielt daher «sorgfältige Vorschriften»[34] über den Verkauf und das angemessene Vererben von Geschäftsanteilen. Die Gewinnverteilung erfolgte überwiegend nach der Kapitalbeteiligung: Tantiemen und Gehälter der Geschäftsführer durften insgesamt ein Viertel des Reingewinns nicht übersteigen. Der Rest wurde entsprechend den Geschäftseinlagen verteilt. Ein «Aufsichtsrat» aus den beiden Familien und Nicht-Familienmitgliedern legte die Zahl der Geschäftsführer sowie deren Bestellung und Abberufung fest, letztlich alles im Sinne eines funktionierenden «korporative[n] Führungsmodells in der dritten Generation, in dem sich die Familie als «Erfolgsfaktor»[35] erwies.

Der Vorgang widerlegt die immer wieder gerne herangezogene These, Familienunternehmen seien ein anachronistisches Relikt des 19. Jahrhunderts. Auch der gefürchtete «Buddenbrooks-Effekt», die Annahme, dass spätestens in der dritten Generation die unternehmerischen Kräfte einer Familie erlahmen, trat nicht ein.[36] Ob das Motto «Der Vater erstellt’s, der Sohn erhält’s, beim Enkel zerfällt’s»[37] überhaupt jemals in Weinheim thematisiert wurde, ist nicht überliefert. Jedenfalls gelang es, die Kenntnisse des Ledermarktes und die unternehmerischen Fähigkeiten auch weiterhin erfolgreich in den Dienst der Firma zu stellen.[38]

Abb. 9  Geschäftsgrundsätze von Carl Johann Freudenberg, 1887. Die Geschäftsgrundsätze schrieb Carl Johann Freudenberg anlässlich der Beteiligung seiner beiden Söhne, Friedrich Carl und Hermann Ernst Freudenberg, um 1887 eigenhändig als «Allgemeine Betrachtungen» nieder. Sie bilden bis heute die Basis der Geschäftsgrundsätze des Unternehmens.

Ein badischer Patriarch:Hermann Ernst Freudenberg

Der Liberalismus war im moderaten politischen Klima Südwestdeutschlands, der «Wiege der deutschen Demokratie», wie es verklärend genannt worden ist,[39] eine «eindeutig bürgerliche Bewegung»,[40] getragen von Akademikern, Beamten, Technikern, Ingenieuren, Kaufleuten und Angestellten. Baden hatte einen kontinuierlichen Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozess durchlaufen. Die Großherzöge und ihre Minister hatten es verstanden, die Bewohner ihres Territoriums mit einem weitgehend einheitlichen Staatsbewusstsein zu versehen. Schule, Kirche, Militär, die Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus und die liberalen Staatsgedanken führender südwestdeutscher Politiker hatten dabei eine wichtige Rolle gespielt, nicht zuletzt aber auch eine im 19. Jahrhundert umfänglich geförderte badische Geschichtsschreibung, der es gelang, so etwas wie ein badisches Identitätsgefühl zu schaffen.[41] Die traditionelle Frontstellung zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie wurde in einer Weise abgemildert, dass sogar eine Zusammenarbeit bei der «allmählichen Umgestaltung der monarchisch-autoritären Staatsordnung in eine parlamentarisch-demokratische»[42] vorstellbar war.

Aber der Fortschrittsgedanke und das Leitbild einer staatsfreien Gesellschaft hatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits an Glanz verloren. Mit dem Trend zum Interventionsstaat ging der liberale Glaube an die Kraft des Individualismus zurück. Die Gewerkschaften und industriellen Interessenverbände gewannen an Einfluss, während der Liberalismus in eine strukturelle Krise geriet. Sein sozialliberaler Flügel versuchte, sich durch Reformen wie die Anerkennung der Gewerkschaften, den Abschluss von Tarifverträgen sowie die «‹Konstitutionalisierung› der Fabrik» den neuen Erfordernissen anzupassen.[43]

Die meisten Unternehmer verstanden sich zwar als «Wirtschaftsbürger» und grenzten sich vom feudalistisch-aristokratischen Lebens- und Denkstil ab,[44] verzichteten aber auf die «verantwortliche Mitgestaltung» der Politik.[45] Ein einheitliches Bild der Unternehmer in dem von rastloser Dynamik gekennzeichneten Wilhelminischen Kaiserreich lässt sich dennoch nur schwer zeichnen. Elemente von Tradition und Moderne, Fortschrittsglauben und Kulturpessimismus durchmischten sich auf kaum entwirrbare Weise, bis der Erste Weltkrieg den Einsturz des «bürgerlichen Wertehimmels» mit sich brachte.[46]

Abb. 10  Hermann Ernst Freudenberg (rechts) mit seinem Kutscher im Jahr 1917.

Die Erziehung im Haus von Hermann Ernst Freudenberg lag weitgehend in den Händen der allgegenwärtigen Mutter. Das Bild, das die Kinder in späteren Zeiten vom Elternhaus zeichneten, zeugt von einem harmonischen Familienleben mit einem geregelten Tagesablauf. Dieser begann für den Vater um sieben Uhr mit dem Gang in die Lackierfabrik und endete mit der Büroarbeit am Abend. Die nächsten Stunden waren der Großfamilie gewidmet, bevor um zehn Uhr abends das Licht gelöscht wurde. Während die Mutter jeden Sonntag in den Gottesdienst ging, reichte dem Vater ein Besuch alle 14 Tage. Der Protestantismus wurde als Korrektiv gegen Hochmut gepflegt und die «Christenpflicht» als eine Selbstverständlichkeit angesehen,[47] ohne jedoch den Kirchgang zum Dogma zu erheben. Die Freudenbergs orientierten sich an der Tradition der deutschen Handwerker- und Kaufmannschaft des 19. Jahrhunderts mit ihrem stillschweigenden Leitbild des «ehrbaren Kaufmanns», der gegenüber seinem Geschäftspartner loyal, ehrlich und redlich auftritt.[48] «Kaufmännische Solidität» und die «Moral beim Geschäft» sollten ergänzt werden durch die «Moral fürs Geschäft» und eine vertrauenschaffende «sittliche Lebensführung».[49] Die Geschäftsprinzipien hatte Carl Johann Freudenberg schon 1887 in seinen «Allgemeinen Betrachtungen» formuliert: «So sehr ich all mein Lebtag bemüht war und mich gefreut habe, meinen Kindern einst ehrlich erworbenes Vermögen zu hinterlassen, so habe ich doch stets mit fast abergläubischer Ängstlichkeit darüber gewacht, dass kein unrechter Kreuzer dabei sei. Ich nahm das Bibelwort vom ungerechten Gut sehr wörtlich, und habe recht oft gesehen, wie wenig Segen Leute von ihrem Vermögen haben, die nicht genügend wählerisch mit ihren Mitteln waren, Geld zu erwerben.»[50]

In der klassischen Typologie Joseph Schumpeters waren die Freudenbergs «Fabrikherren», bei denen Unternehmertum und Kapitalbesitz zusammenfielen. In ihrem Selbstverständnis und Habitus pflegten sie ein patriarchalisches und unmittelbares, nicht rechtlich vermitteltes Verhältnis zu ihren Arbeitern und den als «Beamten» titulierten Angestellten.[51] Während sein Bruder Friedrich Carl als Nationalliberaler aktiv war, war Hermann Ernst Freudenberg politisch weniger interessiert.[52] Als «Geheimer Kommerzienrat», im Alltagsgebrauch als «Geheimrat» abgekürzt, regierte er sein Unternehmen in der «rechtschaffenen Ordnung des badischen Großherzogtums».[53] Diese zeittypische Einstellung des «Herrn im Hause» entsprach weitgehend derjenigen des Industriellen Walther Rathenau, der die Frage nach der besten Verfassung damit beantwortete, es sei diejenige, «welche die Geschäfte nicht gefährdet, gute Polizei übt, die Arbeiter im Zaum hält und wohlhabenden Bürgern verdiente Ehren zugänglich macht».[54] Der Staat sollte sich aus dem Ökonomischen möglichst weitgehend heraushalten und die betriebliche Sozialfürsorge das angemessene Lebensniveau der Beschäftigten sichern.[55] Entsprechend unverständlich erschienen dem Freudenberg-Senior die Forderungen mancher Gewerkschafter. Anlässlich von Arbeiterunruhen im Jahr 1905 reagierte er ungehalten: «Es ist ja leider unverkennbar, dass unter den führenden Geistern der Sozialdemokratie die ganz radikale Richtung triumphiert hat. Das zeigt sich im Großen wie im Kleinen. Auch wir bekommen es zu spüren, indem ein schändlicher Agitator mit allen Mitteln unsere Leute zu verhetzen sucht.»[56] Mit einer freiwilligen Ergänzungskasse wurde das «alte patriarchalische Verhältnis zu den Leuten» zu bewahren gesucht.[57] Noch im Juli 1918 wurde für Arbeiter eine «Dienstprämie» eingeführt. Jeder Arbeiter erhielt nach fünfjähriger Zugehörigkeit zum Unternehmen eine Prämie von 1200 Mark, die angelegt und verzinst wurde.[58]

Die Überzeugung, mit dem eigenen Modell der Sozialverfassung den richtigen Weg zu gehen, war unverkennbar. Als Hermann Ernst Freudenberg im Mai 1914 in die USA reiste und die Fließbandfabrik von Henry Ford besuchte, in der das als Kleinwagen konzipierte «Model T» kostengünstig und mit revolutionären Arbeitsmethoden produziert wurde, war er wenig begeistert: «Die ganze Organisation ist ebenso großartig wie einseitig und der Arbeiter absolut zur Maschine degradiert. Dafür erhält er als Mindestlohn fünf Dollar pro Tag, und wenn er nicht entsprechend Arbeit leisten kann, wird er gebimmelt. Trotz des Riesenlohnes sehen die Leute weder gehoben noch fröhlich aus. […] Dies hier geht zu weit, der Mensch ist keine Maschine […]. Er leidet hier Not an seiner Persönlichkeit, und dies um so mehr, als sich die Fabrik auch um seinen privaten Lebenswandel kümmert.»[59]

Der Erste Weltkrieg

Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs stellte das Lebenswerk der Freudenbergs radikal infrage. Die Befolgung des Aufrufes zu den Waffen sah man als selbstverständliche Pflichterfüllung an, ohne die Bedeutungsschwere der Situation zu verkennen. Bei Kriegsausbruch wurden etwa 800 Mitarbeiter eingezogen, ein Drittel der mittlerweile auf 2500 angewachsenen Gesamtbelegschaft. Am 31. Juli 1914 rief Hermann Ernst Freudenberg seine Arbeiter auf dem Tafelacker bei der Alten Lackierfabrik zusammen. Er ermahnte «die ins Feld Ziehenden», voll und ganz ihre Schuldigkeit fürs Vaterland zu tun. Um das, was «in dieser Stunde jeden rechten Mann bedrücke», nämlich um «Brot und Unterhalt der Frauen und Kinder», werde er sich kümmern.[60] Während er überzeugt verkündete, dass alle Betriebsangehörigen spätestens zu Weihnachten wieder zu Hause seien, prophezeite ihm der Prokurist Philipp Baer einen mindestens dreijährigen Krieg.[61] Die Firma verpflichtete sich, pro Tag 1000 Mark zur Familienunterstützung der Eingezogenen bereitzustellen.[62] Über 350 Arbeiter und Angestellte der Firma kehrten aus dem Krieg nicht mehr zurück.[63]

Die handelspolitischen Folgen des Kriegsausbruchs waren für die deutsche Lederindustrie gravierend. Bis zu diesem Zeitpunkt galt die badische Lederindustrie als das «beste Beispiel für ein übermäßig blühendes Gewerbe».[64] Die Abhängigkeit von Rohstoffen aus dem Ausland sowie die Blockade- und Embargomaßnahmen der Entente wurden sofort spürbar. Weder von staatlicher noch von privater Seite waren Vorkehrungen getroffen worden, Reservelager für Häute und Felle anzulegen. Wahrscheinlich wäre die Lederversorgung bereits 1915 gefährdet gewesen, wenn nicht in Hamburg ein großes Transitlager mit Rohfellen und Häuten mit 10.000 Tonnen Material zur Verfügung gestanden hätte – und eine etwa gleich große Menge, die von deutschen Truppen im belgischen Antwerpen erbeutet worden war. Die Zivilfertigung von Schuhen wurde fast vollständig eingestellt, und die Nachfrage nach Farb- und Lackleder ging spürbar zurück. Auftragsstornierungen, Transportschwierigkeiten und zunehmende Arbeitslosigkeit waren die Folge.

Angesichts der gewaltigen Herausforderungen glaubte Walther Rathenau, der zum «Organisator der Kriegswirtschaft»[65] avanciert war, dass ein «rascher autoritativer Eingriff»[66] des Staates notwendig sei, um die Lenkungs- und Verwaltungsaufgaben zu bewältigen. Der freie Handel wurde durch weitgehende Reglementierungen der «Kriegsgesellschaften» ersetzt.[67] Insgesamt weit über 100 «Kriegsgesellschaften» sollten «eine effizientere Ressourcenallokation mittels staatlicher Kontrolle und Intervention» gewährleisten.[68] Das nun eingeführte System lief praktisch «auf die Erfindung eines neuen Wirtschaftsmodells hinaus».[69] Zur Koordinierung der vielfältigen Aufgaben wurde im August 1914 die Kriegsrohstoffabteilung (KRA) im preußischen Kriegsministerium gegründet. Sie wuchs im Verlauf des Krieges zu einer großen Behörde an, mit schließlich etwa 200 «Kriegsgesellschaften», zahlreichen Ämtern und Referaten. Der KRA kam die Rolle eines Wächters, Lenkers und Regulierers zu. Sie übernahm die staatliche Aufsicht für Fragen der Beschlagnahme, Überwachung und Preisfestsetzung. In der Praxis konnte sie allerdings ihren Anspruch, ein kompetenter Vermittler zwischen Industrie und Militärbehörden zu sein, niemals vollständig durchsetzen, weil althergebrachte militärische Instanzen wie Beschaffungsstellen, Generalkommandos und die Oberste Heeresleitung (OHL) auf ihren Kompetenzen beharrten.[70] Die KRA war dennoch «unbestritten die erfolgreichste Wirtschaftsorganisation, die während des Krieges in Deutschland geschaffen wurde»,[71] weil es ihr zu verdanken war, dass die Kriegsanstrengungen überhaupt so lange durchgehalten werden konnten.[72]

Für die Lederbranche war die Kriegsleder AG zuständig.[73] Da sich ein Teil des Führungspersonals der KRA aus den Kreisen der Industrie rekrutierte, war es kein Zufall, dass Hermann Ernst Freudenberg stellvertretender Vorsitzender wurde. Die Verteilung der knappen Ressourcen erfolgte bei Unterleder auf der Grundlage der Verarbeitungsziffern des ersten Kriegshalbjahres, und die Rohware wurde entsprechend verteilt, was schon deshalb böses Blut gab, weil Qualitätskriterien keine Rolle spielten. Die Gerbervereinigungen orderten Material im Auftrag der Generalkommandos und produzierten für den Militärbedarf. Carl Freudenberg profitierte davon, dass bis Ende 1916 Felle und leichte Häute von den «Sperrungen» noch ausgenommen waren und selbst der Export ins neutrale Ausland noch möglich war.

Abb. 11  Im Ersten Weltkrieg traten zahlreiche Frauen an die Stelle ihrer Männer und übernahmen die Arbeit in der Gerberei, um 1916.

Dennoch war Carl Freudenberg mit seiner Exportquote von teilweise über 70 Prozent durch die Abschnürung von seinen traditionellen Märkten besonders betroffen. Der Import von Rohware stockte ebenso wie die ausländischen Zahlungen.[74] Die Zahl der Beschäftigten ging insgesamt von knapp 2500 im letzten Friedensjahr bis zum Jahr 1917 auf rund 800 zurück. An die Stelle der Männer traten zunehmend Frauen. Bei Kriegsende stellten diese mehr als ein Drittel der Belegschaft.[75] Zudem wurden – nach damaligem Kriegsvölkerrecht legitim – zwölf französische und acht russische Kriegsgefangene beschäftigt, von denen nach Ansicht Hermann Ernst Freudenbergs die Franzosen «recht unangenehme Kerle» waren.[76]

Das Unternehmen lebte sozusagen von der Hand in den Mund und hatte im November 1916 für nur noch 14 Tage Rohware.[77] Die Zwangsmaßnahmen der Kriegsleder AG erfassten den Betrieb jetzt immer stärker. Die Einfuhr von Fellen aus dem Ausland und der Export aller Ledersorten wurden untersagt,[78] Kalbfelle nur noch selten zugewiesen bzw. von der Kriegsrohstoffabteilung wieder beschlagnahmt.[79] Das Geschäft, so lautete die Klage, habe «immer mehr seinen freien Charakter verloren» und die steuerlichen Belastungen hätten einen «vollständig konfiskatorischen Charakter» angenommen.[80] 1917 war das erste Jahr, das «vollständig in Zwangswirtschaft» verlief.[81] Angesichts der Importsperre für die unverzichtbaren Chromsalze musste seit dem Sommer 1917 auf Ersatzgerbstoffe zurückgegriffen werden. Auch die als überholt geltende Lohgerbung[82] wurde deshalb wieder eingeführt. Richard Freudenberg hat sich noch 30 Jahre später daran erinnert, dass man «ohne Fett, Farbe, mit zusammengesuchten nicht aufeinander abgestimmten Gerbstoffen» die Felle kaum zu einem einigermaßen anständigen Leder habe gerben können.[83] Schwarzhandel und Schwarzgerberei griffen um sich, einige mittelgroße Betriebe, wie die «Hessischen Lederwerke Neckaria» in Neckarsteinach, die bislang weniger als ein Zehntel der Freudenberg-Produktionsmenge vorzuweisen gehabt hatten, stellten nun durch «Nichteinhalten der Bewirtschaftungs- und Höchstpreis-Vorschriften» beinahe die gleiche Menge Leder her wie Freudenberg – eine «Disziplinlosigkeit», wie noch Jahrzehnte später beklagt wurde.[84] Für Transporte musste inzwischen statt auf Pferde- auf Ochsenkarren zurückgegriffen werden. Die Produktion sank auf ein Viertel der Vorkriegszeit. Bei Kriegsende waren die Bestände an Rohstoffen außerordentlich niedrig und «die Liquidität entsprechend hoch.»[85]

Der Erste Weltkrieg hatte der deutschen Lederwirtschaft einen Schlag versetzt, von der sie sich niemals wieder erholen sollte. Die Produktion betrug nach vier Jahren Krieg nur noch ein Fünftel der Vorkriegsmenge. Noch 30 Jahre später erinnerte sich Richard Freudenberg mit Schaudern an die damalige Situation des Unternehmens: «Am Kriegsende 1918 standen wir vor einem Trümmerhaufen.»[86]

Kapitel 2

Das Unternehmen Freudenberg nach 1918: Revolution, Hyperinflation und Scheinblüte

Das Ende des Krieges und der Übergang zur Friedenswirtschaft

Die Weimarer Republik entstand 1918 auf den Trümmern des Kaiserreichs. Im Zuge der von Norddeutschland ausgehenden Novemberrevolution kehrten Hundert-tausende Frontkämpfer in ihre Heimatorte zurück und trafen dort auf demonstrierende Arbeiter sowie auf ein um Ruhe und Ordnung bemühtes Bürgertum. In den landesweit spontan entstehenden Arbeiter- und Soldatenräten spielten außerhalb der Industriestädte auch viele Bürger und auf dem Lande zahlreiche konservativ gesinnte Bauern eine Rolle. Die Rätebewegung ermöglichte es der provisorisch gebildeten Regierung unter dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Bürokratie und Armee für eine parlamentarische Republik zu gewinnen.

Die Hohenzollernmonarchie hatte sich bei Kriegsende in den Augen der meisten Industriellen diskreditiert. Den Unternehmern, «die in erster Linie an Schornsteine und Schlackehaufen, Eingangsbücher und Gewinnspannen dachten, bedeutete das Schicksal von gekrönten Häuptern wenig», so ist diese Einstellung, das Kaiserreich wie einen schlecht geführten Betrieb dem Konkursverwalter zu überantworten, treffend beschrieben worden.[1] Die im November 1918 im «Stinnes-Legien-Abkommen» getroffene Stillhaltevereinbarung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften sollte die Revolution in geordnete Bahnen lenken. Während sich die Unternehmer verpflichteten, Arbeitsplätze für die heimkehrenden Soldaten zu schaffen, keine drastischen Lohnkürzungen vorzunehmen und den Acht-Stunden-Tag einzuführen, nahmen die Gewerkschaften von Sozialisierungsforderungen Abstand. Die Industriellen gelangten durch «relativ bescheidene Konzessionen» zu einem Modus Vivendi mit der neuen Ordnung.[2] Die unternehmerische Strategie – «Sozialpolitik gegen Verzicht auf Sozialisierung»[3] – schien zwar zukunftsweisend zu sein, auf Dauer verstand jedoch keine Seite, diesen prekären Sozialfrieden konstruktiv zu nutzen, ganz im Gegenteil war man darauf bedacht, den Konsens, wann immer es die Lage zuließ, jeweils zu den eigenen Gunsten zu verändern.[4]

Die Beruhigung der Lage spiegelte sich in den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919. Zwei Drittel der Wähler entschieden sich bei hoher Wahlbeteiligung für eine der Parteien, die sich für einen demokratischen Neubeginn aussprachen, die SPD, das katholische Zentrum oder die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP). Diese Wahlen fanden jedoch zugleich vor dem Hintergrund des sogenannten «Spartakus-Aufstandes» statt, in dem die radikale Linke den vergeblichen Versuch unternahm, den eigenen revolutionären Misserfolg vom November 1918 doch noch in einen Erfolg zu verwandeln.

Im Zuge der Novemberrevolution bildete sich auch in Weinheim, dem Mannheimer Beispiel folgend, ein «Arbeiter- und Soldatenrat». Die Freudenbergs mussten sich unmittelbar mit dessen Politik auseinandersetzen, obwohl deren Tragweite angesichts der Bandbreite der politischen Positionen kaum zu übersehen war: Sie reichten von gemäßigten, fast bürgerlichen Vorstellungen bis zu den linksradikalen Forderungen der Spartakisten.

Einen Einblick in das Denken der jüngeren Freudenbergs ermöglichen die Diskussionsbeiträge Richard und Walter Freudenbergs bei verschiedenen Weinheimer Versammlungen. Bei einer öffentlichen Veranstaltung am 21. November 1918 diskutierten im Weinheimer Prinz-Wilhelm-Saal die Repräsentanten des Bürgertums über die aktuelle Lage. Man wollte dem Beispiel anderer Städte folgen, den Arbeiter- und Soldatenräten sogenannte Bürgerräte an die Seite zu stellen. Die Revolution sollte beendet und möglichst rasch die Nationalversammlung einberufen werden. Dem Grundtenor, mit den Arbeiterräten zusammenzuarbeiten, schloss sich Richard Freudenberg an. «Obstruktion» sei keine Lösung, weil dadurch die gemäßigten Sozialdemokraten geschädigt würden, referierte der «Weinheimer Anzeiger» seine Stellungnahme: «Wir würden sonst nur die Geschäfte der Spartakusgruppe besorgen. Ebert wolle das Beste, und man dürfe sagen, dass die gemäßigte Sozialdemokratie sich patriotisch bewähre. Das Bürgertum habe im Weltkriege traurig versagt. Viele haben erkannt, dass große Gefahren drohen, aber niemand habe es gewagt, das zu sagen.»[5] Walter Freudenberg, der sich mehrfach in den Diskussionen zu Wort meldete, plädierte ebenfalls für die Schaffung eines überparteilichen und ehrenamtlich tätigen Bürgerrates, dem er jedoch die Bezeichnung «Volksrat» geben wollte. Richard Freudenberg sekundierte: In Orten wie in Heidelberg gebe es ein «durchaus schönes Zusammenarbeiten von Bürgerlichen und Sozialdemokraten», und es bestehe kein Grund, dies in Weinheim nicht nachzuahmen.[6]

Nach längeren Verhandlungen konstituierten sich in Weinheim neben dem «Arbeiter- und Soldatenrat» ein «Bauernrat» und ein «Volksrat». Richard Freudenberg wurde in dessen 44-köpfigen erweiterten Ausschuss gewählt und gehörte zu denjenigen fünf Mitgliedern, die in Absprache mit dem Arbeiter- und Soldatenrat zu dessen Sitzungen delegiert wurden. Hier saß er mit 16 Sozialdemokraten, vier weiteren Mitgliedern des Volksrats und drei Mitgliedern des Bauernrats zusammen. Richard Freudenberg hatte die Strukturen des Weinheimer Arbeiter- und Soldatenrats akribisch analysiert und seine Tätigkeit 1945 gegenüber amerikanischen Offizieren mit einem gewissen Stolz und einer kleinen Übertreibung hervorgehoben: «I believe I was its only member who was not a social democrat or a communist.»[7]

Bei einer öffentlichen Versammlung am 3. Dezember 1918 im Weinheimer Rathaus ging es in der Hauptsache erneut um die Frage, wie sich die bürgerlichen Kräfte mit ihrem «Volksrat» politisch einbringen sollten. Richard Freudenberg beklagte in einer schonungslosen Analyse das Versagen der politischen und wirtschaftlichen Eliten im Kaiserreich: «In dem politischen Leben hatten wir in Deutschland bislang 3 mächtige Partei-Organisationen: Die an Zahl geringe, aber an Macht einflussreichste konservative Partei, die an Zahl stärkste, aber niedergehaltene Sozialdemokratie, als dritte das Zentrum, das, geeint durch die gleiche Religion, seine Macht bald nach rechts, bald nach links zur Geltung brachte. Neben diesen 3 großen Partei-Organisationen hatten wir die liberalen Parteien, uneins untereinander, aber auch innerhalb der einzelnen Parteien waren die Reihen nicht geschlossen. […] Das Bürgertum war zersplittert – vielleicht eine Folge der Mannigfaltigkeit der Berufe. Weil es zersplittert war, konnte es sich nicht durchsetzen. So waren bereits Kreise, die im Wirtschaftsleben die einflussreichsten sind, im politischen Leben ausgeschaltet. Kritiklos haben sie sich im Frieden und erst recht im Krieg von der damals mächtigsten Gruppe der Konservativen führen lassen. Ein stark organisiertes Bürgertum hätte vieles verhindern können.»[8] Richard Freudenbergs Kritik war jedoch mehr als nur ein Echo der Klage seines Vaters über die politische Passivität der Unternehmer im Kaiserreich. Seiner Meinung nach führte kein Weg an einer aktiven Mitgestaltung der politischen Verhältnisse vorbei. Er bedauerte die «traurigen Auswüchse der Revolution», die er etwa im Abreißen der Epauletten bei den Offizieren beobachtet hatte. Auch für die spartakistischen Gruppen und die «Anmaßung der Exekutive» in manchen Großstädten hatte er kein Verständnis. Leider fehle dem Bürgertum nach dem Untergang der Hohenzollernmonarchie eine angemessene Organisation, um der erstarkenden Sozialdemokratie etwas entgegenzusetzen. Die Zersplitterung der bürgerlichen Parteien – in Baden: Zentrum, DDP, Evangelisch-Soziale Partei und Badische Volkspartei – hielt er für einen Fehler, gab aber die Hoffnung nicht auf, dass es auf regionaler Ebene zu einer Einigung von Links- und Rechtsliberalen kommen werde. Der jungen Demokratie räumte er gute Chancen ein: «Als die derzeit größten gemeinsamen Interessen aller Bürgerparteien gelten die Aufrechterhaltung der Ordnung und die baldigste Wahl zur Nationalversammlung. In diesen Forderungen sind wir auch einig mit der Sozialdemokratie. Der Volksrat stellt sich zur Erlangung dieser Ziele auf den Boden der neuen Verhältnisse. Er wird die derzeitige Regierung Ebert-Haase stützen gegenüber den Elementen, die dem Anarchismus huldigen.» Den Arbeiter- und Soldatenrat erkannte er ausdrücklich an, weil dieser der «Träger der Revolution» sei und diese gegen «reaktionäre Bestrebungen» sichern müsse.[9]

Bei den Freudenbergs, die sich eher ihrem badischen Großherzog als dem preußischen König verpflichtet gefühlt hatten, war die Haltung ähnlich: «Jeder, der wie ich verantwortlich in der Leitung eines größeren Unternehmens stand, konnte in den Folgejahren nur lächeln über das Ammenmärchen vom Dolchstoß»,[10] so lautete das Fazit von Richard Freudenberg. Spürbar hingegen war eine Ahnung, dass es wohl ein Fehler gewesen war, sich in der Kaiserzeit vornehmlich um das wirtschaftliche Fortkommen gesorgt und die politischen Angelegenheiten außen vor gelassen zu haben. Hermann Ernst Freudenberg bekannte gegenüber seinem Sohn Adolf: «Wir Alten hinterlassen Euch Jungen eine böse Erbschaft und müssen uns an die Brust schlagen, dass wir im Drange der Geschäfte […] das öffentliche Leben vernachlässigt haben und im blinden Vertrauen alles den Behörden überließen. Die aber und vor allem die Militärs haben sich maßlos überschätzt.»[11]