Der Baumkontrolleur - Sandra Anne Roos - E-Book

Der Baumkontrolleur E-Book

Sandra Anne Roos

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Tristan liebt die Natur, besonders die Bäume und hat sich diese Leidenschaft zum Beruf gemacht. Er erhält einen für ihn bedeutenden Auftrag zur Erstellung eines Baumgutachtens, welches er gemeinsam mit seiner Kollegin Clara erstellen soll. Als Tristan Claras Gefühle nicht erwidert und sich stattdessen Hals über Kopf in ihre beste Freundin Lilly verliebt, ist der Ärger vorprogrammiert. Wird es Clara gelingen durch ihre Intrigen seine Zukunft zu zerstören? Schon bald erleidet die junge Liebe Schiffbruch. Doch Tristan gibt nicht auf und muss bald um weit mehr, als nur um seine Liebe zu Lilly kämpfen.

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Seitenzahl: 576

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Für Adriana und Daniel S.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Schicksal

Alltag

Zwei Herzen

Wurzeln Schlagen

Lass Liebe Wurzeln schlagen

Friede Freude Eierkuchen?

Mäuse, die auf Tischen Tanzen

Alles wieder gut?

Abschied Nehmen

Verwüstung

Persönliche Hölle

Karma

Happy oder End

Nachwort

Aufgaben und Pflichten von Baumkontrolleuren

Wann haftet der Baumkontrolleur

Quellenverzeichnis

Danksagung

Vorwort

Diese Liebesgeschichte rund um Tristan und Lilly spielt in Koblenz und Umgebung. Tristan hat einen ganz besonderen Beruf, der mir sehr am Herzen liegt: Er arbeitet als Baumkontrolleur.

Ich habe mich dazu entschieden, dass der Protagonist diesen Beruf ausübt, da er noch nicht so populär ist. Es ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf, in dem man die Verkehrssicherheit von Bäumen beurteilt, Maßnahmen für deren Pflege oder weitere, gerätetechnische Untersuchungen festlegt. Siehe auch weitere Erläuterungen auf Seite 486 und 489.

Bei den gerätetechnischen Untersuchungen habe ich mich für das Produkt von Frank Rinn der Firma RINNTECH® entschieden, da dieser federführend in der gerätetechnische Baumkontrolle ist. Seit Ende der 80er Jahre ist der Name Frank Rinn untrennbar mit dem RESISTOGRAPH® verbunden, dem weltweit ersten Handmessgerät zur präzisen Kontrolle des inneren Zustands von Bäumen und Hölzern. Für seine innovativen Arbeiten erhielt Frank Rinn bereits zahlreiche Auszeichnungen.

Aber auch ein Baumkontrolleur hat ein Liebesleben - also lass‘ Liebe Wurzeln schlagen…

SCHICKSAL

„Heute möchte ich auf den tödlichen Unfall im November 2012 in Trier zu sprechen kommen. Das Landgericht Trier hatte einen Mitarbeiter des Grünflächenamtes wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Der Richter machte bei der Urteilsverkündung jedoch klar, dass auch andere in die Pflicht genommen werden müssen. Die Organisation der Stadt ließ generell zu wünschen übrig, doch auch fehlende Aufsicht von Vorgesetzten ändert nichts an der strafrechtlichen Verantwortung des Mitarbeiters, muss aber beim Strafmaß berücksichtigt werden...“ Die Stimme des Dozenten verhallt in meinen Gedanken.

Samstagabend und nur noch zwei Wochen bis zu den langersehnten Sommerferien. Die Sonne strahlt am Himmel und mein scheiß Mofa will mal wieder nicht anspringen.

Oh Mann, du blödes Teil! Jetzt spring schon endlich an, ich bin sowieso schon voll spät dran!

Mit dem Fuß trete ich gegen das Hinterrad. Nach dem x-ten Mal Anlasser treten springt das Drecksteil doch noch an. Ich muss mir unbedingt einen Ferienjob suchen, damit ich mir ein neues Mofa leisten kann. Den Gashahn voll aufgedreht, gebe ich Gas. Die anderen warten sicherlich schon längst auf dem Dorfplatz auf mich.

Unsere Clique besteht aus fünf. Drei von ihnen werde ich nach den Sommerferien nicht mehr sehen. Sie haben sich entschlossen, für ein Jahr in Australien zu arbeiten, bevor sie mit dem Studium loslegen. Wir treffen uns immer samstagsabends auf dem Dorfplatz und hängen auf der Bank unter der Linde ab, trinken Bier, quatschen, lachen, blödeln herum und beobachten die Leute.

Als ich um die Ecke auf den Dorfplatz einbiege, fängt der Motor an zu stottern und geht aus.

Na, großartig! Das war‘s jetzt endgültig, den Rest kann ich schieben.

Von Weitem sehe ich Vincent, meinen besten Kumpel aus Kindergartenzeiten, und meine Freundin Astrid gemeinsam auf der Bank sitzend. Die anderen scheinen noch unterwegs zu sein. Als Astrid mich sieht, springt sie auf und kommt freudestrahlend auf mich zugelaufen. Vincent blickt ihr grinsend nach und winkt mir zu.

Astrid ist das erste Mädchen, in das ich richtig verliebt bin. Astrid wohnte in den letzten Jahren mit ihrer Familie in Schweden, kam aber zu Beginn unseres letzten Schuljahres wieder zurück nach Deutschland. Ihr Vater arbeitete dort zehn Jahre als Ingenieur, ihre Mutter ist Schwedin. Die beiden hatten sich in Deutschland beim Studium kennengelernt. Von ihrer Mutter hat Astrid die schönen, langen blonden Haare geerbt. Ich habe mich direkt in ihre wahnsinnig tollen, fast eisblauen, Augen verliebt. Ihr warmer Blick ist mir direkt aufgefallen, als sie schüchtern vor der Klasse stand und von unserem Lehrer als die Neue vorgestellt wurde. Als sie sich dann noch mit ihrem schwedischen Akzent und für ein Mädchen recht tiefer Stimme der Klasse vorstellte, war es um mich geschehen. Wer kann so einem Mädchen schon widerstehen? Da ich Klassensprecher bin, hatte ich die Aufgabe, ihr nach dem Unterricht unser Schulgebäude zu zeigen und ihre Fragen zu beantworten. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Als Dankeschön lud sie mich in der Stadt auf einen Kaffee ein. Wir waren sofort auf einer Wellenlänge und die Zeit verging wie im Flug. Seit diesem Tag sind wir unzertrennlich. Ich kann es kaum erwarten, meine Ferien mit ihr zu verbringen. Wir fahren ihre Verwandten in Schweden besuchen.

Astrid ist fast bei mir, da höre ich plötzlich ein lautes Knarren und Quietschen. Ich schaue an ihrem erschrockenen Gesicht vorbei. Vincent! Bevor er es richtig begreift, begräbt ihn die Linde mit einem ohrenbetäubenden Lärm unter sich. Jetzt geschieht alles wie in Zeitlupe. Schreiend renne ich an Astrid, in Richtung Linde, vorbei. Die Leute auf dem Dorfplatz strömen herbei, aufgeregtes Stimmengewirr breitet sich aus. Ich möchte zu Vincent, schaffe es aber nicht so leicht durch die ganzen Äste und Blätter, die ihn unter sich begraben. Mein Herz rast und meine Ohren rauschen. Ich habe das Gefühl, in einem Traum zu sein und auf der Stelle zu laufen.

„Vincent! Vincent, verdammt!“, schreie ich in der Hoffnung, dass er noch bei Bewusstsein ist, mich hört und sich vielleicht bemerkbar machen kann. Doch ich werde enttäuscht. Keiner gibt mir eine Antwort. Ich höre noch nicht einmal ein Stöhnen, nichts! In der Ferne heulen die Sirenen der Feuerwehr und des Krankenwagens. Und ich? Ich stehe hier gefangen und hilflos in den Trümmern der Linde. Energisch versuche ich, die Äste von mir wegzudrücken. Irgendwo muss er doch sein! Doch ich habe keine Chance. Die Äste stehen so unter Spannung, dass die meisten sich gar nicht bewegen lassen. Ich muss mich durch sie hindurchzwängen, während mir aus allen möglichen Richtungen unvermittelt Zweige ins Gesicht schlagen. Mittlerweile brennt mein Gesicht wie Feuer. Scheiß egal, ich muss meinen besten Freund finden! Allerdings ist mir noch völlig unklar, wie ich ihn hier rausbekommen soll.

„Viiiinc!“, schreie ich erneut aus voller Kehle.

Als ich mich weiter vorkämpfe, sehe ich einen Arm. Seinen leblosen Arm. Mir stockt der Atem und das Blut gefriert mir in den Adern, Panik steigt in mir auf. Wieder beginne ich zu schreien, doch diesmal um Hilfe. Gott sei Dank! Da ist sie!

Die Feuerwehr kämpft sich mit Motorsägen bis zu uns durch. Vincent wird schwer verletzt mit dem Helikopter nach Koblenz ins Krankenhaus geflogen. Dort liegt er für fast vier Wochen mit einem Schädelhirntrauma und mehreren schweren Knochenbrüchen im Koma. Wenn man es so nennen kann, hat er Glück im Unglück. Denn er hätte tot sein können. Leider hatte man festgestellt, dass seine Wirbelsäule irreparable Schäden davongetragen hat. Seit dem Unglück sitzt er im Rollstuhl.

Dieser Vorfall hatte zwar nicht so viel Aufsehen erregt wie der Fall in Trier. Dennoch ... falscher Zeitpunkt, falscher Ort. Für die Menschen auf dem Dorfplatz war der Vorfall schnell vergessen. Für die Feuerwehr war es bloß ein Einsatz. Die Linde wurde durch einen neuen Baum ersetzt.

Aber für Vincent ..., für Vincent ist es sein Leben, welches seitdem völlig auf dem Kopf steht.

Doch mich hat das alles nicht mehr in Ruhe gelassen und tiefe Narben auf meiner Seele hinterlassen. Ich habe mich für ein Arboristik1-Studium entschieden, da ich etwas dazu beitragen will, dass sich so ein Vorfall nicht mehr wiederholt. Ich will einer derjenigen sein, die ihren Job gewissenhaft und mit Knowhow durchführen.

"Tristan?"

Irgendjemand ruft leise meinen Namen. Ich brauche einen Moment, um ins Hier und Jetzt zurückzukommen.

"Was ist los mit dir?", fragt mich die Stimme.

Erst jetzt merke ich, dass ich in die Ferne starre, kein bisschen von dem Thema mitbekommen habe und dem Dozenten schon seit längerem nicht mehr wirklich zuhöre.

Ich drehe mich zu meiner Sitznachbarin und Kollegin Clara um, die mir unsanft ihren Ellenbogen in die Rippen gerammt hat.

"Was?", zische ich sie leise an.

„Du solltest wenigstens so tun, als würde dich der ganze Scheiß hier interessieren. Der Typ da vorne hat schon das zweite Mal sauer in deine Richtung geguckt. Wenn du das alles schon kennst, tu wenigstens so, als würdest du zuhören. Das ist echt peinlich!" rügt sie mich. Clara ist Quereinsteigerin und hat ursprünglich Industriekauffrau gelernt. Aus diesem Grund nimmt sie solche Veranstaltungen immer sehr wichtig. Sie ist in ihrem Job sehr ehrgeizig.

„Reg dich ab" knurre ich sie an. Wir beide wissen, dass sie eine Übertreiberin ist.

Clara verdreht die Augen und fängt zu kichern an.

„Entschuldigt, dass ich den feinen Herrn bei wichtigen Gedankengängen gestört habe", feixt sie. Ich zwinkere ihr zu. Ich bin froh, dass ich dieses langweilige Anwendertreffen nicht allein überstehen muss. Clara und ich pflegen eine richtig gute kollegiale Freundschaft. Wenn die Zeit es zulässt, gehen wir Mittagessen oder treffen uns in der Büroküche auf einen Kaffee und erzählen uns den neusten Tratsch der Firma oder von Projekten, an denen wir arbeiten. Wenn es nach ihr ginge, würden wir auch nach der Arbeit Zeit miteinander verbringen. Sie hat mich schon öfters gefragt, ob ich nicht auf ein Feierabendbier mitkommen möchte. Irgendwie konnte ich mich bisher nie dazu durchringen, es sind zwar meistens andere Kollegen oder Freunde von ihr mit dabei, aber ich möchte Berufliches und Privates lieber so gut es geht trennen.

Der Fall Trier hat vielen Städten und Gemeinden die Augen geöffnet und für das Thema Baumkontrolle sensibilisiert. Was für uns Baumkontrolleure wiederum wichtig ist und seit dem Vorfall doch einiges an Rechtfertigungen und Diskussion über benötigte Etats vereinfacht hat. Im Grunde besprechen wir hier jedes Jahr dasselbe. Langsam hängt es mir echt zu den Ohren raus. Jetzt bin ich seit 3 Jahren FLL zertifizierter Baumkontrolleur. Ich weiß, wie ich Bäume verorten muss und was das Programm so alles kann. Aber wir sind nun mal dazu verpflichtet uns jährlich fortzubilden. Als würde sich in nur einem Jahr so viel ändern. Doch was beschwere ich mich? So kommt man wenigstens mal raus, auch wenn diesmal nicht all zu weit. Da das Seminar in Maria Laach stattfindet und somit nur knapp 30 km von meinem Wohnort entfernt liegt, was wiederum auch etwas Gutes hat.

Liege ich heute Abend wenigstens bei mir zuhause auf der Couch und kann mir entspannt ein Bier genehmigen.

Meine Rippen werden ein letztes Mal für diesen Tag von Claras Ellenbogen malträtiert. Genervt drehe ich mich erneut zu ihr um.

„Was habe ich jetzt schon wieder angestellt?", frage ich sie.

„Nichts", antwortet sie kokett und lächelt mich breit an.

„Das Seminar ist für heute vorbei, wir können gehen".

Wir stehen auf und gehen raus, raus aus diesem muffigen Raum, raus aus dem Gebäude an die frische Luft. Als ich tief die warme frühsommerliche Luft in meine Lungen einsauge beäugt Clara mich merkwürdig.

„Was?", frage ich und blicke aus dem Augenwinkel zu ihr rüber.

„Ich kann einfach nicht den ganzen Tag in so einem stickigen Raum sitzen, mein Körper ist frische Luft gewöhnt", murmele ich vor mich hin.

„Nein, das ist es nicht", lächelt sie und schüttelt amüsiert den Kopf.

„Ich wollte dich fragen ob… naja, meine Freundin Lilly hat heute Abend einen Auftritt mit ihrer Band auf einer Party. Hast du nicht Lust mit mir hinzugehen?" druckst sie herum.

Sie versucht es schon wieder.

"Echt jetzt? Ehrlich gesagt habe ich mich auf einen ruhigen Abend mit einem kühlen Bier auf der Couch gefreut", stöhne ich.

"Ach jetzt komm schon! Auf der Couch kannst du noch liegen, wenn du alt und gebrechlich bist. Bier kannst du auch auf der Party trinken. Jetzt gib dir einen Ruck und komm mit!", sie klingt schon fast beleidigt.

Ich denke kurz drüber nach und entschließe mich mit ihr zu gehen, immerhin habe ich ihr bisher so einige „lass uns ein Bier trinken gehen“ ausgeschlagen.

Okay, bei Band und Party hatte sie mich gehabt.

„Gut, aber lange bleib ich nicht!", sage ich etwas muffeliger als ich eigentlich klingen wollte.

„Juhu, endlich! Ich habe schon gedacht, dass ich dich nie dazu kriege“, übertriebener Weise führt sie ein Freudentänzchen auf und bringt mich mit ihrer albernen Art zum Lachen.

„Schluss jetzt, sonst überlege ich es mir doch noch anders“, tadle ich sie mit gespielt ernster Miene. Doch durchschaut sie mich sofort und schnaubt.

„Kommst du mich zuhause abholen und wir fahren gemeinsam hin?", fragt sie mich schmunzelnd und zieht eine Augenbraue hoch.

„Ja, mache ich“, willige ich seufzend in ihren Vorschlag ein.

"Super, dann sei um acht Uhr da", ruft sie mir über die Schulter hinweg zu und stapft zu ihrem Auto, welches am anderen Ende des Parkplatzes steht.

‚Ob das so eine gute Idee war bei Clara nachzugeben‘ frage ich mich, als ich im Auto sitze und nach Hause fahre. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich mich besser nicht darauf eingelassen hätte.

Aber hey, Schluss jetzt. Clara ist cool. Ich sollte keine Gespenster sehen, wo keine sind. Sie macht mir nicht den Anschein, als würde sie Berufliches und Privates auf diese Weise vermischen wollen.

Sicher? Sicher!

So etwas hatte ich nämlich schon einmal und es ist mir damals um die Ohren geflogen. Auf so etwas würde ich mich nie wieder einlassen!

Ich starte den Wagen und fahre die Landstraße entlang am Laacher See in Richtung Autobahn. Kaum habe ich die Musik aufgedreht, habe ich die Bedenken von soeben auch schon wieder vergessen.

Ich erwische mich dabei wie ich den Text des Songs mitsumme und meine Finger auf dem Lenkrad im Takt mit trommeln.

Good things will happen, bad things will happen, too, sometimes it's someone down the road, sometimes it's somebody next to you, enjoy it right now, because you never know, when it's gonna end...

Ich muss kurz auflachen. Wie wahr dieser Text doch ist und somit habe ich doch einen guten Grund heute Abend mit Clara auf die Party zu gehen. Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu genießen.

Zum Glück komme ich gut durch den Feierabendverkehr und es gibt auf dem Heimweg keinen Stau. Stadteinwärts ist es erstaunlich ruhig für einen Freitagnachmittag.

Als ich vor knapp vier Jahren nach der Uni nach Koblenz gezogen bin, habe ich es mehr wegen eines Tapetenwechsels gemacht und nicht daran gedacht, sesshaft zu werden. Nicht, dass Göttingen kein schönes Fleckchen Erde ist. Meine Ex hat es mir auch nicht gerade schwer gemacht, Niedersachsen zu verlassen. Allerdings vermiss ich doch hin und wieder die Uni und die gemütlichen Abende in den Kneipen der Altstadt. Ich war damals im Fachschaftsrat. Gefühlt war ich mehr für das betreute Saufen der Erstsemester zuständig als für irgendetwas anderes. Gedankenversunken schüttle ich den Kopf und muss schmunzeln.

Was war das eine verrückte Zeit.

Von weitem sehe ich schon, dass direkt vor meiner Haustüre ein Platz frei ist. Ich kann mein Glück kaum fassen. Die Parkplatzsituation in der Innenstadt ist echt zum Kotzen, besonders mit dem Schiff von Pickup, das ich fahre.

Nachdem ich mein Auto geparkt habe, gehe ich noch schnell in den kleinen Laden um die Ecke und besorge mir ein paar Lebensmittel für das anstehende Wochenende.

Zuhause angekommen verstaue ich die Einkäufe und gehe duschen. Mir hängt immer noch die stickige Seminarluft auf der Haut.

Auf dem Weg ins Badezimmer ziehe ich meine Klamotten aus und werfe sie im Schlafzimmer auf den Boden.

Eine heiße Dusche ist jetzt genau das richtige.

Mit den Händen an die Wand gestützt halte ich meinen Kopf unter den heißen Wasserstrahl und fühle, wie sich meine Schulter- und Nackenmuskulatur entspannen.

Ah, Wohltat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit drehe ich das Wasser ab. Der Nebel des heißen Wassers steht in dem kleinen Raum und ich reiße erst mal die Türe zur Dachterrasse auf. Mit dem Handtuch um die Hüften stapfe ich ins Schlafzimmer und krame Klamotten aus dem Schrank.

Was ziehe ich nur an?

Ich entscheide mich für eine schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt. Damit kann man nichts falsch machen. Nicht das ich sonderlich auf meine Outfits oder mein Aussehen achte, aber ein gewisser persönlicher Stil ist mir schon wichtig. Allerdings nicht in dieser modernen Art mit Augenbrauen zupfen, Peelings, Cremes und so einem Scheiß.

Lächerlich.

Ich ziehe an was mir gefällt. Am liebsten locker und lässig. Mir ist es wichtig, dass ich saubere Klamotten anhabe und nicht wie der letzte Penner aussehe, ungepflegt sein kommt mir nicht in die Tüte.

Ich könnte auch nie in Hipster Klamotten rumrennen. Röhrenjeans, Hüte und so Schnickschnack gehen bei Kerlen sowas von gar nicht. Gut, wenn ich ehrlich bin gehe ich meistens erst zum Friseur, wenn mir die Haare in die Stirn fallen. Meiner Ex-Freundin hat das immer gefallen, sie meinte es würde sexy aussehen. Was aber nicht der ausschlaggebende Punkt war sie wachsen zu lassen.

Ich war und bin einfach zu faul, zum Friseur zu gehen.

Zurück im Bad wische ich mit dem Handtuch den Spiegel frei und verteile etwas Gel in meinen Haaren.

Wieso sind das einzig Wilde an mir nur meine scheiß Haare?

Nicht das ich mich als Langweiler bezeichnen würde. Wenn ich unter Menschen bin, bin ich schon ein geselliges Kerlchen und sicherlich nicht der Erste, der nach Hause geht. Im Grunde habe ich einfach nur gerne meine Ruhe. Gut, ich war nie so einer, der sich bis Anschlag besäuft oder den Drang hatte, sämtliche Partydrogen auszuprobieren. Nachdem ich mit sechszehn auf einer Party im besoffenen Zustand gekifft und mir danach sowas von die Seele aus dem Leib gekotzt habe, war mir die Lust, mehr auszuprobieren abhandengekommen. Ich habe auch keine Tätowierungen. Nicht, dass ich sie bei anderen nicht schön finden würde, aber ich für meinen Teil konnte mich nie damit anfreunden, mit bemalter Haut rumzurennen.

Ich gebe den Versuch auf, eine Frisur hinzubekommen. Meine Laune befindet sich momentan in Richtung Talfahrt. Bevor ich es mir doch noch anders überlege, ziehe ich mir meine Vans an, greife nach meinem Schlüssel, stecke das Portemonnaie in die Hosentasche und gehe runter zu meinem Auto.

Die nächste Wohnung befindet sich eindeutig im Erdgeschoss.

Auch wenn die Dachterrasse mit der alten Zink-Badewanne in der Ecke, mitten in der Stadt, ohne dass die Nachbarn einen auf den Hintern gucken können, perfekt ist. Trotzdem möchte ich nicht ewig bis in den dritten Stock rauf und runter laufen müssen.

An meinem Auto angekommen wird mir bewusst, dass ich später wohl nicht mehr so einfach einen Parkplatz vor meiner Haustüre bekomme. Frustriert stoße einen lauten Seufzer aus. Mittlerweile ist es kurz vor acht und ich muss echt etwas Gas geben, um einigermaßen pünktlich bei Clara aufzukreuzen. Zum Glück muss ich keine Ortschaften abklappern und kann bis Höhr-Grenzhausen über die Autobahn fahren.

Als ich in Claras Straße einbiege, ist es acht Uhr. Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass sie wohl noch nicht so weit ist.

Ich hatte gehofft, dass sie bereits vor der Haustüre auf mich wartet.

Typisch.

Ich parke ein paar Meter entfernt, steige aus und schlendere zu ihrer Haustüre. Dort angekommen klingle ich. Als hätte sie neben dem Drücker gestanden, surrt die Tür augenblicklich.

An ihrer Wohnungstür im ersten Stock angekommen öffnet mir eine fast nackte Clara. Überrascht schaue ich sie an.

Ich will das nicht sehen!

Es ist nicht so, als ob sie in ihrer roten Spitzenwäsche nicht absolut heiß aussieht. Der perfekte Hintern für so ein knappes Höschen und die Brüste sind auch nicht von schlechten Eltern, ihre blonden Locken fallen ihr sanft über die Schultern...

Hallo? Nicht meine Baustelle!

Sie ist meine Kollegin und ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Bilder je wieder aus meinem Kopf bekommen werde.

„Wieso bist du noch nicht fertig?", frage ich sie überrascht. Immerhin war es ihr Vorschlag, wann ich sie abholen kommen soll.

„Komm noch kurz rein, ich hab mich verzettelt", lächelt sie mich unschuldig mit ihren großen braunen Augen an.

Ja klar, verzettelt nennt man sowas.

Ich lasse mich auf ihre Couch fallen.

„Bin direkt fertig, muss mir nur noch mein Kleid anziehen", ruft sie aus einem der hinteren Zimmer.

„Jaja, kein Stress".

Jetzt habe ich eh schon so gut wie alles gesehen.

Kurze Zeit später steht sie in einem roten Minikleid, das sich hauteng an ihre Kurven schmiegt und hohen, schwarzen Schuhen vor mir.

Oh Mann, das wird ein Abend werden.

„Fertig", strahlt sie und schnappt sich ihre mini Handtasche vom Couchtisch.

"Dann sollten wir uns auf den Weg machen", grummle ich vor mich hin, stehe von der Couch auf und frage mich, was Frau mit so einem kleinen Täschchen anfangen will. An meinem Auto angekommen öffne ich ihr gentlemanlike die Beifahrerseite und muss mich zusammenreißen, damit ich nicht laut auflache, als sie mit ihrem engen Fummel kaum ins Auto einsteigen kann.

Frauen sind immer so herrlich unpraktisch veranlagt.

Ich gehe um mein Auto herum, steige ein und starte den Motor, um loszufahren.

„Wohin müssen wir eigentlich?", frage ich Clara.

„Nicht weit, nur nach Ransbach", sagt sie zufrieden.

Wir verlassen ihre Straße und biegen auf die Hauptstraße in Richtung Ransbach ab.

„Das ist mein absolutes Lieblingslied!", schreit Clara plötzlich auf und dreht den Lautstärkeregler ordentlich nach rechts.

Das ist jetzt nicht ihr Ernst?

„Bang Bang“ von Ariana Grande. Naja gut, einen Arsch wie ein Cadillac hat sie schon in dem Kleid.

Gott, reiß dich zusammen! Nie wieder eine Kollegin.

Die Musik trifft so gar nicht meinen Geschmack und plötzlich mache ich mir ernsthaft Sorgen, wo sie mich heute Abend mit hin schleift. Sie wippt mit ihren Schultern und dem Kopf im Takt der Musik. Ungläubig schüttle ich den Kopf und verziehe das Gesicht.

Besser konzentriere ich mich auf die Straße. Zum Glück ist die Fahrt nicht weit und es dauert keine zehn Minuten, bis wir in Ransbach angekommen sind.

Glücklicherweise finden wir die Location recht schnell und parken auf einem benachbarten freien Gelände. Vor dem Gebäude tummeln sich einige Leute, die am Rauchen und Quatschen sind. Von drinnen dröhnt laute Musik nach draußen. Erleichtert stelle ich fest, dass es etwas Rockiges ist und nicht wie befürchtet irgendeine Dance Scheiße. Clara schnappt sich meine Hand und zieht mich an den Leuten vorbei in das Gebäude.

„Das war früher mal eine Keramikwerkstatt“, erklärt sie.

Auf dem Schild über der Eingangstüre hängt ein Neonschild Rotten Club.

Nachdem wir den Eintritt bezahlt haben, steigen wir eine steile Treppe hinauf und kommen in eine Art Vorraum mit Tresen und Spieltischen, zerschlissenen Couchs und Sesseln. Der ganze Raum ist mit Retropostern an den Wänden, Lichterketten an den Decken, alten Stehlampen und Perserteppichen dekoriert. Erstaunt ziehe ich die Augenbrauen hoch.

Nicht schlecht!

Während ich mich umsehe bemerke ich, wie zwei Mädels breit grinsend auf uns zusteuern.

Das sind dann wohl die Freundinnen von Clara.

Genervt beschließe ich mir ein Bier holen zu gehen. Auch wenn ich heute Abend noch nach Hause fahre, das Bier brauche ich, um die nächste halbe Stunde zu überstehen. Danach sehen wir weiter.

„Ich geh mir ein Bier holen, willst du auch was?“, rufe ich Clara zu.

„Ja gerne, ich nehme ein Glas Sekt“

„Sekt?“, frage ich überrascht nach. Drehe mich jedoch direkt um und quetsche mich durch die Menge an Leuten.

Ganz schön voll hier.

Am Tresen angekommen brülle ich dem Typen, der die Getränke ausgibt, meine Bestellung zu. Nachdem ich bezahlt habe schiebe ich mich erneut durch die ganzen Leute zurück zu Clara. Die, wie befürchtet, mit den zwei Mädels dicht beisammensteht und über irgendetwas Aufregendes am Erzählen zu sein scheint. Lange kann ich mir das nicht geben. Drei gackernde Hühner auf einem Haufen.

Ich seufze in mich hinein und denke an meine Couch. Als ich mich dem Gespann nähere, werden sie auf einmal still und Clara dreht sich zu mir um.

„Hier, dein Sekt“, sage ich und halte ihr das Glas hin.

„Danke Tristan, wirklich sehr lieb von dir“, grinst sie mich mit ihren großen braunen Augen freundlich an und irgendwie gefällt mir dieser Blick nicht. Ich beuge mich zu ihr hinunter, nah an ihr Ohr, so, dass ich nicht brüllen muss.

„Ich gehe mir mal nach nebenan die Band anschauen“, sie nickt und wirkt irgendwie geknickt.

War ich jetzt unhöflich?

Es tut mir fast leid, dass ich sie so stehen lasse immerhin sind wir gemeinsam hier, aber was soll's, sie hat ja ihre Freundinnen.

Als ich die Türe zum Nebenraum öffne, stimmt die Band gerade ein neues Lied an. Es muss ein Cover sein, da ich es in Gedanken direkt mitsinge. Der Raum, in dem die kleine Bühne aufgebaut ist, platzt aus allen Nähten. Die Band scheint ihren Job wirklich gut zu machen, die Menge bebt. Man hält es kaum aus, so stickig ist es hier drinnen. Doch scheint es keinen zu stören, dass man die Luft fast schneiden kann, alle Leute tanzen und haben eine Menge Spaß.

Man kommt sich vor wie in einem Hexenkessel. Die Atmosphäre reißt einen so mit, dass es einem unmöglich erscheint, sich nicht zu bewegen. Automatisch fange ich an, im Takt mit dem Kopf zu wippen.

Hatte Clara nicht gesagt, dass die Sängerin ihre Freundin sei?

Versuche ich mich zu erinnern, als ich den Song endlich erkenne.

Es ist “Fell in Love with a Girl” von den White Stripes. Ich bin beeindruckt wie die Sängerin ihn singt und beschließe, weiter vor in Richtung Bühne zu gelangen. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, als ich einen Blick auf die Bühne bekomme.

Wow!

Die Sängerin ist voll in ihrem Element und ich, ich kann gar nicht mehr woanders hinschauen. Die Kleine ist eine echte Naturgewalt.

Sie singt mit einer gewissen Gleichgültigkeit, schon fast Arroganz, blickt mit ihren dunkel geschminkten Augen ins Publikum und spitzt zwischendurch ihre knallpinken Lippen, zu einem sarkastischen Lächeln. Ich spüre plötzlich einen Druck in meiner Brust, der mir die Luft zum Atmen nimmt.

Sie nimmt mir die Luft zum Atmen.

Wie sie in ihrem kurzen, engen schwarzen Rock, den schwarzen zerlöcherten Strumpfhosen und dem knallgelben Tanktop diese Show abzieht. Ihre Arme sind mit Tattoos übersät. Ob ihren Körper noch mehr Tätowierungen zieren? Welche Stellen dieses heißen Körpers sind wohl noch bemalt? Bei dem Gedanken daran überkommt mich ein wohliger Schauer. Das muss ich mir von ganz nahem anschauen.

Ich muss sie ganz von nahem sehen.

Ich schiebe mich weiter durch die Menge nach vorne. Als ich dort ankomme, ist das Lied zu Ende und die Band beginnt etwas Langsames zu spielen. Da ich es nicht kenne, gehe ich davon aus, dass es ein eigener Song ist. Mittlerweile stehe ich in zweiter Reihe mittig zur Bühne und kann sie genau betrachten. Versunken in ihre blauen Augen realisiere ich, dass sie mich ansieht. Bei all den Menschen, die hier vor der Bühne stehen, treffen sich ausgerechnet unsere Blicke. Eigentlich sollte es mir peinlich sein. Ihr dürfte nicht entgangen sein, dass ich sie beobachtet habe. Doch scheint es ihr nichts auszumachen. Im Gegenteil, sie hält meinem Blick stand und beginnt zu singen. In diesem Moment stehe ich allein dort und sie singt den Song nur für mich. Wir sind Gefangene unserer Blicke und scheinen um uns herum alles zu vergessen. Wie sanft sie die Zeile singt „ich hasse es deinen Stolz brechen zu sehen, aber ich war lange genug dein kleines Mädchen. Lange genug habe ich zugesehen, wie du dich mit anderen amüsierst und nur zu mir zurückkamst, wenn keine andere mehr da war“.

Ihr Blick.

Diese Zeilen berühren mich, mein Herz beginnt zu rasen und meine Gedankenwelt fährt Achterbahn. Ob sie den Text selbst geschrieben hat? Ob sie über einen Ex singt? Vielleicht ist der Text autobiografisch. Aber wer würde diesem hübschen Mädchen so etwas antun?

Was für skurrile Gedankengänge habe ich gerade?

Was hat sie bloß an sich, dass sie mich so aus der Fassung bringt?

Als jemand meine Hand ergreift schrecke ich regelrecht zusammen.

Ich fahre herum und funkle Clara an.

Clara?

Mist, an sie habe ich gar nicht mehr gedacht. Verlegen lächelt sie, hält weiter meine Hand und lehnt sich mit dem Kopf an meine Schulter. Okay, ich bin gerade eindeutig mit dieser Situation überfordert!

Peinlich berührt würde ich sie am liebsten von mir stoßen. Ausgerechnet vor den Augen ihrer Freundin, in diesem Moment.

Krieg dich wieder in den Griff.

Aber wie komme ich aus dieser Situation wieder raus? Ich möchte nicht das sie denkt, Clara und ich wären zusammen. Plötzlich schleicht sich mir der Gedanke ein, dass Clara es darauf anlegt, dass dieser Eindruck entsteht, weil sie vielleicht doch in mir mehr sieht als nur einen guten Kollegen.

Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen!

Wie soll ich das nur ohne Theater geklärt bekommen? Schließlich arbeiten wir zusammen und auf Liebesstress am Arbeitsplatz habe ich keinen Bock. Die Sängerin lächelt Clara an, mustert mich danach eher verhalten und beendet das Lied mit einem traurigen, leeren Blick über das Publikum hinweg. Das reicht mir, ich lasse Claras Hand los, drehe mich um und beschließe, dass es heute Abend doch mehr als ein Bier braucht. Wenn morgen früh nicht noch ein Tag Seminar wäre, würde ich mich heute Abend aus lauter Frust darüber, dass Clara mir gerade den Moment versaut hat, betrinken und hier auf einer Couch, einem Sessel oder von mir aus auch auf dem Boden pennen.

„Whisky, bitte“, ist das Einzige, was ich dem Typ hinterm Tresen zublaffe. Er mustert mich kurz, nickt verständnisvoll und greift nach einem Glas. Füllt es mit ein paar Eiswürfeln, lässt das braune Gold in einem großen Bogen in das Glas fließen und stellt es vor mir auf den Tresen.

„Das macht dreieurofünfzig“ Mit einem Zug leere ich das Glas.

„Ich würde eher sagen macht sieben Euro“, stelle ich das Glas auf den Tresen zurück.

Grinsend füllt er es nach.

Was ich doch für ein vernünftiger Mensch bin!

Ich gebe ihm zehn Euro, drehe mich um und sehe Clara auf mich zusteuern. Verwirrt sieht sie mich an.

„Alles klar bei dir?“, fragt sie mich.

„Alles bestens, brauchte nur was zu trinken“.

Inzwischen läuft die Musik von Band, was den Vorteil hat, dass man sich einigermaßen normal unterhalten kann.

„Komm, wir setzen uns drüben zu ein paar Freunden von mir“, sagt sie und schaut mich fragend an.

„Okay“, ist das Einzige, was ich über meine Lippen bekomme und folge ihr. Wir setzen uns zu ein paar Leuten, die über den Auftritt der Band am diskutieren sind.

„Leute, das ist Tristan“, stellt Clara mich vor.

Ich hebe mein Glas und nicke in die Runde.

„Das sind Justin, Ben, Lena, Eric und Tiffi“, zeigt sie durch die Runde. Nach einem kurzen Hallo stecken die fünf ihre Köpfe wieder zusammen und diskutieren weiter.

„Wie hat dir Lillys Auftritt gefallen?“, erkundigt sich Clara.

Überrascht über die Frage verschlucke ich mich an meinem Whisky und beginne zu husten.

„Gut. Sehr gut sogar“, gestehe ich ehrlich.

„Hat man gemerkt“, wirft sie mir einen vielsagenden Blick zu.

„Jetzt komm schon. Du wirst jawohl zugeben müssen, dass ihr Auftritt wirklich richtig gut war“.

„Ich weiß, ich kenne ihre Auftritte“, zwinkert sie mir frech grinsend zu und ich muss lachen.

Wir sitzen noch einige Zeit zusammen und unterhalten uns mit den anderen über den Auftritt. Eric und Ben regen sich über den Sound auf, wobei Eric sich besonders darüber ärgert, dass der Gesang zu leise und der Bass zu laut war. „Ich frage mich, wofür die einen Soundcheck abhalten, wenn es sich nachher eh anders anhört!“, beschwert er sich.

„Genau meine Rede“, stimmt Ben ihm zu.

„Die müssen da in Zukunft was ändern, Lilly wird gleich sicherlich angepisst sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich über den Monitor gut gehört hat“, gibt er kopfschüttelnd zu bedenken.

Was, Lilly kommt hier hin?

Habe ich Trottel wirklich gedacht, dass die Band nach dem Auftritt ihre sieben Sachen packt und gleich verschwindet? Mein Herz schlägt definitiv einen Schlag schneller und in meiner Brust spüre ich wieder diesen Druck von vorhin. Doch werden meine Gedanken von Lena abgelenkt, die sich bei Clara über den letzten Song auslässt.

„Ich fasse es nicht, dass sie ausgerechnet den als letzten Song gewählt hat und das auch noch wo er hier ist. Die hat vielleicht Nerven!“, regt sie sich auf und schüttelt ungläubig mit dem Kopf.

„Jetzt halt aber mal die Luft an, Lena! Es ist ja wohl ihre Entscheidung wann sie den Song singt. Hat er halt Pech gehabt, wenn er ausgerechnet dann mal anwesend ist. Wo er doch sonst immer durch Abwesenheit geglänzt hat! Mal davon abgesehen, dass der Hohlkopf erst einmal raffen muss, dass sie über ihn singt. Aber mir ist schon klar, wieso dich das so fuchst. Er hat dir schon immer gefallen und wärst gerne an Lillys Stelle gewesen“, gibt sie mit einem empörten Gesicht zurück.

So außer sich habe ich Clara noch nie erlebt. Schön, dass sie für ihre Freundin so Partei ergreift und sie verteidigt. Schmunzelnd schaue ich den beiden zu. Lena bekommt einen roten Kopf und zieht die Augen zu Schlitzen zusammen. Doch bevor sie etwas sagen kann hat Justin ihr gegen das Bein getreten und nickt mit dem Kopf in Richtung Eingang. Die Band ist auf dem Weg zu uns. Jedoch bekomme ich das nur noch am Rande mit, da mir immer noch die Worte von Lena in meinem Kopf widerhallen „Und das, wo er hier ist“. Also hat sie doch über ihre letzte Beziehung gesungen und der Typ hängt hier irgendwo rum. Ich merke, wie sich ein komisches Gefühl in mir ausbreitet.

Bin ich etwa eifersüchtig?

Viel Zeit zum Grübeln bleibt mir nicht, denn Clara reißt mich aus meinem Gefühlschaos.

„Tristan, das sind Lilly, Simon, Jan, Anton und Henrik. Leute das ist Tristan, ein Freund“, lächelt sie und schaut unsicher in meine Richtung.

Ein knappes „Hallo“ ist das Einzige, was ich raus bekomme.

Hoffentlich bin ich nicht rot angelaufen.

Lilly mustert mich mit einem sehr offensichtlichen Blick, schaut mir tief in die Augen, lächelt knapp und setzt sich anschließend mit den anderen Bandmitgliedern auf die Couch gegenüber von uns.

Was sie wohl überlegt hat?

Die Jungs fangen sofort an, den Auftritt der Band zu analysieren, während Lilly sich an Clara wendet.

„Und, woher kennt ihr euch?“, fragt sie und nickt in meine Richtung.

„Wir sind Kollegen“, antworte ich für Clara, die mich etwas entrüstet mustert.

„Ja, das sind wir“, nickt Clara.

„Aber ich würde sagen, dass wir richtig gute Kollegen sind. Nicht wahr?“, lächelt sie und legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel.

Lilly zieht die Augenbrauen hoch und nickt, sie scheint verstanden zu haben, was Clara ihr deutlich machen wollte.

Mist!

Hätte ich bloß meine Klappe gehalten, dann hätte ich sie vielleicht nicht gerade zu dieser Geste animiert. Wie komme ich aus der Situation nur wieder raus? Da mein Glas mittlerweile leer ist beschließe ich, was zu trinken zu organisieren. Ich schiebe Claras Hand von meinem Oberschenkel und stehe auf.

„Braucht noch einer was zu trinken?“, frage ich in die Runde.

„Bring mir doch bitte noch einen Sekt mit“, klimpert Clara mit ihren Augen.

„Für uns Bier“, ruft mir Hendrik zu und zeigt auf die anderen in der Runde“.

„Da schließe ich mich an“, nickt Lena mir zu.

Wieso ist mir diese Person nur so unsympathisch?

Ob es an ihrem Minikleid liegt, das komplett aus Spitze besteht und durch das man die Unterwäsche durchscheinen sieht? Da nützen die brav aussehenden DocMartens auch nichts, bei ihrem Makeup scheint sie eher die Devise zu verfolgen: je mehr desto besser. Außerdem hat sie irgendwie etwas Biestiges an sich und ich denke unwillkürlich an die Unterhaltung von eben zurück. Plötzlich steht Lilly auf.

„Wie willst du denn die ganzen Flaschen getragen bekommen? Ich komme mit und helfe dir. Bis dahin weiß ich auch, was ich trinken will“.

„Alles klar“, nicke ich und schaue in Claras überraschtes Gesicht.

Ich lächle sie an und zwinkere ihr aufmunternd zu. Doch warum ich das gemacht habe weiß ich im nächsten Moment selbst nicht.

Aus irgendeinem Grund möchte ich nicht, dass sie sauer ist. Lilly schiebt sich an mir vorbei und geht in Richtung Tresen.

Ich gehe ihr lieber schnell hinterher.

Nicht, dass Clara noch auf die Idee kommt mit zu kommen. Lilly steht bereits am Tresen und ist mit dem Typen, der für die Getränke zuständig ist, am Reden und Lachen. Was immer der Typ zum Besten gibt scheint bei ihr Wirkung zu zeigen, sie legt sich die Hand vor den Bauch. Was sie doch für eine süße Person ist, so natürlich und fröhlich! Gerne wäre ich der Grund, aus dem sie so herzhaft lachen muss. Wie gerne würde ich jetzt zu ihr gehen und meine Arme um ihre Taille schlingen, sie an mich ziehen und meine Nase in ihrem Haar vergraben, um ihren Duft in mich aufzusaugen. Bei dem Gedanken daran läuft mir ein wohliger Schauer den Rücken hinunter. Am Tresen angekommen dreht sie sich zu mir um und lächelt.

Diese Lippen.

Wie gerne würde ich diesen Lippen näherkommen, sie zärtlich küssen und leicht dran knabbern. Ob das Lippenpiercing beim Küssen stört? Ich habe noch nie ein Mädchen mit Lippenpiercing geküsst.

„Alles in Ordnung bei dir, Tristan?“, fragt sie mich grinsend.

„Äh klar, ähm alles bestens“, fange ich zu stottern an.

Ihr Grinsen wird breiter.

„Ich habe schon mal die Getränke bestellt“.

„Was bekommst du von mir?“, frage ich den Typ hinterm Tresen.

„Passt schon, Lilly trinkt heute aufs Haus“, zwinkert er ihr zu.

Sie strahlt und greift sich ein paar Bierflaschen, die vor uns auf dem Tresen stehen.

„Ich nehme noch ein Wasser“ Breit grinsend stellt er ein Wasser zu den restlichen Flaschen Bier und dem Glas Sekt für Clara.

Arschloch.

„Seit wann bist du eigentlich Claras Kollege?“, fragt Lilly auf dem Weg zurück zu den anderen.

Oh, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet, dass sie mich sowas fragt.

„Seit knapp anderthalb Jahren“, antworte ich ihr.

„Ah“, ist alles, was sie sagt.

Bei den anderen angekommen verteilen wir die Getränke und stellen fest, dass Lena verschwunden ist und Clara etwas beklommen drein guckt.

„Was ist los?“, frage ich sie, als ich ihr das Glas Sekt reiche.

„Ach nichts“, sagt sie knapp mit einem kurzen Blick zu Lilly.

Das glaube ich jetzt nicht. Stellt sie sich so an, weil Lilly mit mir Getränke holen war?

„Clara, was ist los mit dir und wo ist Lena hin?“, fragt jetzt auch Lilly.

„Ich weiß nicht. Sie hat, glaube ich, jemanden gesehen, den sie kennt und wollte zu ihm“, druckst sie rum. Lilly schaut genauso verwirrt wie ich.

„Wen denn?“, will sie wissen.

„Ach Lilly, ist doch egal, oder? Niemand wichtiges“ Sieht sie sich dabei auf die Schuhe. Doch Lilly lässt nicht locker, ihre wunderschönen Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. Mittlerweile faucht sie.

„Sag es mir, Clara! Zu wem ist sie?“.

„Ich meine, dass sie Ole gesagt hat“, gibt Clara klein bei.

„Was, Ole ist hier? Was zum Teufel macht er hier?“ ruft Lilly aus.

„Dann hatte ich mich eben bei dem Auftritt doch nicht verguckt!“.

Sie bekommt einen roten Kopf und schaut kurz verwirrt zu mir.

Dann ist dieser Ole wohl ihr Ex, geht mir durch den Kopf. Aber wieso ist das so ein großes Ding für sie, dass er hier ist und dass Lena zu ihm gegangen ist? Es scheint noch ein interessanter Abend zu werden. Ich lasse mich neben Clara auf die Couch fallen und nippe an meinem Wasser.

„Scheiß doch drauf, echt jetzt. Selbst wenn sie zu ihm gegangen ist. Du weißt doch, dass sie es mit jedem treibt“, versucht Clara Lilly zu beruhigen.

„Super Clara, vielen Dank! Das macht die scheiß Sache auch nicht besser“

Der Schuss ging wohl nach hinten los.

„Ich hätte es einfach besser gefunden, wenn er hier heute nicht aufgetaucht wäre. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich ihn seit Monaten nicht mehr gesehen habe und hätte es auch gerne noch etwas dabei gelassen“.

„So habe ich das nicht gemeint“. Clara wird rot. „Lena ist ´ne Bitch. Außerdem habe ich dir von Anfang an gesagt, dass sie scharf auf ihn ist. War doch zu erwarten, dass sie sich ihm bei der nächstbesten Gelegenheit an den Hals wirft“.

Lilly leert die Flasche Bier in einem Zug und meine Gedanken fangen direkt an, verrückt zu spielen. Wie sie die Lippen an den Flaschenhals setzt und anfängt, das Bier runter zu kippen. In meinem Körper breitet sich eine angenehme Hitze aus.

Reiß dich zusammen!

Das ist nicht der richtige Moment für solche Gedankengänge. Gut, aber welcher Moment ist das schon?

„Was sagt du dazu?“, stupst Clara mich an.

„Wozu?“, frage ich sie beiläufig, gedanklich immer noch bei Lillys Lippen.

„Dass Lilly den Typ vergessen soll“, sie schüttelt den Kopf und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.

„Ähm, ja klar“, sage ich verwirrt.

Wir sitzen noch eine Weile auf der Couch und die Unterhaltung verläuft in ruhigeren Bahnen. Die Mädels unterhalten sich über den Auftritt und worüber Mädels halt so reden. Irgendwann besorge ich mir noch etwas zu trinken und setze mich zu den Jungs.

Wir sind gerade in einem Gespräch über Musik vertieft, als sich uns ein großer Typ mit zwei Frauen in den Armen nähert. Er ist sicherlich an die zwei Meter groß, seine langen, blonden Haare hat er zu einem wilden Dutt zusammengeknotet. Er trägt schwarze Röhrenjeans und ein helles Shirt auf dem badass Gentleman steht.

Sein Ernst?

Er ist sehr muskulös gebaut, seine Arme, Hände, Finger sowie der Hals sind komplett tätowiert und in seinen Ohren sind Tunnels.

Sein Blick schreit förmlich danach, dass er jede ins Bett kriegt, die er will. Eine von den Mädels in seinen Armen ist, wie soll es auch anders sein, Lena und ich ahne im selben Moment nichts Gutes.

„Lilly Baby, geiler Auftritt. Hast dich ja mächtig ins Zeug gelegt.

Besonders der letzte Song hat irgendwie mein Herz erwärmt. Ich frage mich nur, warum?“, sagt er selbstherrlich und wirft dämlich grinsend den Kopf in den Nacken.

„Fick Dich, Ole!“, keift Lilly und funkelt ihn an.

Sie schäumt vor Wut. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es an seinem Kommentar oder an den beiden Mädels in seinen Armen liegt.

Hätte ich ihr gar nicht gegeben, direkt so aus der Haut zu fahren.

Bisher habe ich sie eher cool und reserviert erlebt. Aber da hat dieser Ole bei ihr wohl ins Schwarze getroffen.

„Wenn ich könnte, würde ich es machen!“, lacht er sie aus.

„Willst du uns vielleicht Gesellschaft leisten? Ach so stimmt ja, du stehst ja auf die monogame Scheiße“, macht er sich weiter über sie lustig und drückt beide Mädels fester an sich. Lena und das andere Mädel haben mittlerweile ein dämliches Grinsen auf dem Gesicht und legen ihm wie auf Kommando die Hand bestätigend auf die Brust. Die anderen starren wie gebannt auf die Szenerie und geben keinen Ton von sich. Clara hat mittlerweile mal wieder meine Hand gefasst und schaut Ole mit einem giftigen Blick an. Jetzt verstehe ich, wieso Lilly sich so darüber aufgeregt hat, dass er hier ist. Anton erwacht aus seiner Schockstarre und tritt ganz nah vor Ole, seine Hände sind zu Fäusten geballt, seine Halsschlagader pocht.

„Mach, dass du Land gewinnst, Ole!“, knurrt er ihn an. Antons Augen sind mittlerweile nur noch kleine Schlitze. Ole mustert ihn einen Moment und wirft, zu meiner Verwunderung, Clara einen vielsagenden Blick zu.

„Du hast ihn gehört, hau endlich ab“, keift sie ihn an.

Es ist schön zu sehen, dass Clara so zu ihrer Freundin hält. Auch wenn ich ihren Blick nicht hundertprozentig deuten kann. Irgendwie sagt mit mein Bauchgefühl, dass da vielleicht auch noch etwas anderes ist. Sowas wie persönliche Verletztheit und nicht nur Mitgefühl Lilly gegenüber. Aber ich kann es mir auch genauso gut einbilden.

Nicht dein Interesse.

„Entspann dich Anton. Sollte nur ein Scherz sein, Mann. Ihr seid alle so verfickt verklemmt“ Er dreht sich um und schwirrt mit seinen Anhängerinnen ab. Beim Gehen zeigt er noch hinter Lenas Rücken den Mittelfinger in unsere Richtung.

Wow, was für ein Arschloch und mit dem war Lilly mal zusammen? Ich kann es nicht fassen. Was sie an dem wohl gefunden hat?

„Jetzt brauch ich was zu trinken und du auch Clara“, werde ich durch Lillys Stimme aus meinen Gedanken gerissen. Sie schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, atmet laut aus, steht anschließend auf und stiefelt in Richtung Tresen. Anton hat sich mittlerweile wieder zu den anderen gesetzt und macht seiner Wut über Ole Luft. Ich bin froh, dass er sich in den Streit zwischen den beiden eingemischt und Lilly zugehalten hat.

Als Lilly nach fünf Minuten mit einer Flasche Schnaps und drei Gläsern wiederkommt, wechselt er schnell das Thema. Sie stellt alles auf den Couchtisch vor uns ab und beginnt die Gläser zu füllen, reicht Clara eins und dann mir. Clara nimmt es ihr dankend ab und leert es sofort. Da ich ja noch fahren muss, lehne ich ab.

„Danke nein Lilly, ich muss heute Abend noch nach Hause kommen. Wir haben morgen noch einen Seminartag vor uns und verkatert verkrafte ich das nicht“.

„Gut“, sagt sie knapp, schnappt sich mein Glas und leert es in einem Zug, schüttet sich ihres und das von Clara nach und prostet ihr zu. Na super, wo das heute Abend mit den beiden wohl enden wird? Gut, verstehen kann ich es. Nach der Aktion von eben würde ich mir an ihrer Stelle auch einen hinter die Binde kippen wollen.

Ich geselle mich dann lieber wieder zu den anderen und lasse die beiden in Ruhe.

Irgendwann regt sich meine innere Stimme und fragt nach der Uhrzeit. Ein Blick auf mein Smartphone verrät mir, dass es mittlerweile zwei Uhr ist. Ein weiterer Blick zu Clara und Lilly und ich weiß augenblicklich, dass beide ordentlich betrunken sind. Nach dem die Flasche Schnaps fast vollständig geleert ist, verlangsamen die beiden ihr Trinktempo.

Gott sei Dank.

Mit dem Einschenken funktioniert es nicht mehr so gut und das meiste vom Schnaps trifft mehr den Tisch als die Gläser. Ich beschließe, den Heimweg anzutreten, der Abend war ereignisreich genug. Erst die Unterwäschevorführung von Clara, dann der Hammer-Auftritt von Lilly mit diesem besonderen Moment, in dem wir die Blicke nicht voneinander lösen konnten und zum krönenden Abschluss noch dieser Ole und der Streit. Mehr muss ich an einem Abend definitiv nicht erleben.

„Clara, ich würde jetzt fahren. Soll ich dich bei dir rauslassen oder kommst du allein klar?“, frage ich sie anstandshalber. Immerhin sind wir auch zusammen hier hingefahren. Sie schaut mich mit kleinen, roten Augen an und grinst breit.

„Duhu bist sooo ein lieber Kerl, Tristan. Sooo besorgt und fürsorglich. Weis su das eigentlich? Ich komme natürlich mit!“, lallt sie, versucht aufzustehen und stolpert in meine Richtung. Ich kann sie gerade noch auffangen. Na super, hoffentlich kotzt sie mir nicht das Auto voll. Ich überlege kurz, ob ich mir eine Ausrede einfallen lassen soll, um sie doch nicht heimzufahren.

Sei kein Arsch.

„Ich komme mit! Wenn du heute Abend hier den Taxifahrer spielst, dann komme ich, verdammt nochmal, mit“ ruft Lilly ganz unerwartet und fängt laut an zu lachen. Sie packt sich Clara und die beiden schleppen sich nach draußen. Na, ganz toll. Jetzt habe ich zwei besoffene Frauen, die ich heimfahren darf. Kopfschüttelnd gehe ich den beiden hinterher und sehe ihnen belustigt zu, wie sie unbeholfen in meinen Pickup krabbeln. Clara nimmt mal wieder auf dem Beifahrersitz Platz, während Lilly sich der Länge nach auf die Rückbank legt.

Auf dem Weg von Ransbach nach Höhr-Grenzhausen fällt mir ein, dass ich gar nicht weiß, wo Lilly wohnt.

„Lilly wo wohnst du eigentlich?“, frage ich sie.

„In Ehrenbreitstein“, nuschelt sie und stößt einen zufriedenen Seufzer aus. Ist sie etwa auf der Rückbank am Einschlafen? Nicht, dass es mir was ausmachen würde, wenn dieses wundervolle Mädchen in meinem Auto einschläft, dann könnte ich sie unbemerkt auf der Heimfahrt im Rückspiegel beobachten, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Doch bevor mein Kopfkino richtig Fahrt aufnehmen kann, biegen wir schon in Claras Straße ein und ich halte vor ihrer Haustüre. Nachdem ich den Motor abgestellt habe, blicke ich kurz zur schlafenden Lilly auf der Rückbank und steige aus.

Clara fällt regelrecht aus dem Pickup raus und landet beinah auf ihren Knien, fängt sich aber im letzten Moment doch noch und stolpert zur Haustüre. Mit dem Kopf an die Türe gelehnt kramt sie in ihrer Mini-Handtasche nach dem Schlüssel und versucht, die Türe aufzuschließen. Irgendwie bekommt sie das aber nicht wirklich gebacken, mir entfährt ein Stöhnen und ich rolle die Augen.

„Komm, ich helfe dir mal“, sage ich leicht genervt und nehme ihr den Haustürschlüssel ab.

„Danke, Tristaaan. Meins su, du könntest mir … bei der nächsten Tür au noch helfen?“

„Ja mach ich, kein Problem“ Als ich ihr dann die Wohnungstüre öffne, stolpert sie rein und fällt der Länge nach in den Flur.

Fuck, was ist denn jetzt los?

„Clara, alles gut bei dir?“, erschrocken beuge ich mich über sie und streiche ihr die Haare aus dem Gesicht.

„Mhmm s‘ alles bestens…“, lächelt sie mich mit geschlossenen Augen breit an.

„Steh auf, Clara“, bitte ich sie.

„Alles klar… mach ich…“, nuschelt sie. Doch sie bleibt einfach liegen und grummelt vor sich hin.

Jetzt mach schon!

Ob ich sie einfach liegen lassen soll? Besonders nett wäre es ja nicht gerade von mir und so wie mich kenne würde mich später mein schlechtes Gewissen plagen.

Ach, Herrgott, so kann ich sie nicht liegen lassen!

Also beschließe ich, sie in ihr Bett zu tragen. Vorsichtig schiebe ich meine Arme unter ihren Rücken und Beine und hebe sie hoch. Automatisch legt sie ihren Kopf an meine Brust.

„Bleib bei mir“, flüstert sie.

Diese Aufforderung trifft mich doch sehr unerwartet und ich bin völlig verwirrt.

Sie ist sturzbetrunken, daran wird es liegen.

„Clara du weißt, dass das nicht geht“, lehne ich ab und schüttle über ihre Bitte ungläubig den Kopf. Ich kann sie zwar wirklich gut leiden, aber das würde mir doch zu weit gehen. Spätestens morgen, wenn sie wieder nüchtern ist, wäre es ihr sicherlich peinlich. Vorausgesetzt, dass sie sich daran überhaupt noch erinnern kann.

Oder?

Doch dann schleicht sich mir der Gedanke ein, dass es vielleicht sogar ihr Plan für heute war und ich wirklich so blind, oder soll ich besser sagen so blöd bin, und es nicht gerafft habe!

Aber vielleicht habe ich mir das auch gerade nur eingebildet, versuche ich mir einzureden. Mittlerweile ist mein Hirn vor lauter Müdigkeit einfach nur noch leer. Oder sind das vielleicht die Nachwehen der zwei Gläser Jacky? Meine Gedanken gleiten ab zu Lilly, die in meinem Auto liegt und schläft. Wenn Lilly zu mir „bleib bei

mir“ sagen würde, hätte ich sicherlich keinen Moment gezögert.

Nicht, dass ich die Situation ausnutzen würde, nein, ich würde mich einfach nur neben sie legen und ihr beim Schlafen zusehen, bis mir selbst die Augen vor Müdigkeit zufallen würden. Mehr nicht, sie einfach nur in Seelenruhe beobachten, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Taumelnd stolpere ich mit der schlafenden Clara auf dem Arm durch den Flur, stoße die Türe zum Schlafzimmer auf und drücke mit dem Ellenbogen den Lichtschalter an.

Gar nicht so einfach mit einer Frau in den Armen.

Als ich sie auf das Bett lege hält sie sich so an mir fest, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als über ihr gebeugt zu bleiben.

Was soll das jetzt?

„Tristan, bleib bei mir“, flüstert sie erneut, doch diesmal schaut sie mir dabei direkt in die Augen. Unwohlsein durchfährt mich und ich schaue sie verwirrt an. Clara nutzt den Moment und presst ihre Lippen auf die meinen. Überrascht halte ich kurz inne, doch als ihr Kuss leidenschaftlicher wird, weiß ich gar nicht mehr was ich machen soll. Ihre Zungenspitze schiebt sich zwischen meine Lippen, sucht die meine, während sich ihre Hände in meinen Haaren vergraben.

Stopp!

Mit einem festen Ruck entziehe ich mich ihr.

„Lilly“, ist das Einzige, was ich sage.

Mist, wieso konnte ich mich nicht gegen ihren Kuss zur Wehr setzen? Was bin ich ein Idiot!

„Was hast du da gerade gesagt?“, fragt sie überrascht.

Schnell trete ich zwei Schritte von ihrem Bett zurück. Sicher ist sicher. Sie sieht mich an, als wollte sie mir an die Gurgel gehen.

„Ich meine Lilly ist allein unten im Auto“ „Hau einfach ab. Ich hätte es besser wissen müssen. Wie du sie den ganzen Abend immer wieder verstohlen angesehen hast! Bei ihrem Auftritt hast du sie ja regelrecht angeschmachtet“, keift sie mich lallend an und schließt ihre Augen zu kleinen Schlitzen zusammen.

Wieso lasse ich zu, dass sie mich küsst? Sie ist meine Kollegin!

Auch wenn ich Clara gut leiden kann, von meiner Seite aus wird da nie mehr sein und ich habe ihr nie zu verstehen gegeben, dass es anders sein könnte. Wie konnte ich nur so naiv sein und denken, ihr fällt nicht auf, dass ich Lilly attraktiv finde. So wie ich sie den ganzen Abend beobachtet habe. Aber wieso küsst sie mich dann?

Und wieso war ich nicht in der Lage, mich direkt zur Wehr zu setzen?

„Clara, ich … lass es mich bitte erklären…“ stammele ich rum, doch sie fällt mir ins Wort.

„Spar dir deine Erklärung, Tristan, und verschwinde aus meiner Wohnung“. Ihre Stimme klingt resigniert und ihr Blick sagt mir, dass sie tief verletzt ist.

„Okay, wie du willst“, nicke ich kurz, drehe mich um, gehe wortlos aus ihrem Schlafzimmer und verlasse ihre Wohnung. Als ich die Wohnungstüre hinter mir zugezogen habe, bleibe ich noch einen kurzen Moment im Hausflur stehen, schließe die Augen und presse die Finger an meine Nasenwurzel.

Fuck, wieso hat sie das gemacht? Ich bin so ein Idiot!

Doch mein Gedankenkarussell ist nicht von langer Dauer, da ich im nächsten Moment wieder an Lilly denke.

Oh Gott, Lilly!

Ich renne die Treppe hinunter zur Haustüre, raus an mein Auto.

Dort angekommen öffne ich die hintere Türe und finde erleichtert eine immer noch seelenruhig schlafende Lilly auf der Rückbank vor. Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich raufe mir die Haare.

Fuck, fuck, fuck!

Wenn Clara mit Lilly über die Aktion von gerade eben redet, kann ich sie direkt vergessen. Dann hält sie mich für den letzten Arsch und das war´s. Dann will sie sicherlich nichts mehr mit mir zu tun haben.

Was denke ich da?

Ich kenne sie gerade fünf Stunden. Woher soll ich überhaupt wissen, dass sie etwas mit mir zu tun haben möchte? Dann fällt mir wieder der Moment ein, als sie das Lied über diesen Mistkerl von Ex-Freund gesungen hat. Wie sie mich, mit ihren wunderschönen blauen Augen, angesehen hat. Irgendwie muss es mir gelingen, dass ich sie wiedersehen kann. Die Sache mit Clara kläre ich, wenn der geeignete Zeitpunkt gekommen ist. Allerdings graut es mir jetzt schon vor dem morgigen Seminartag. Mal von der nächsten Woche im Büro abgesehen.

Vorsichtig schließe ich die Türe wieder und steige auf der Fahrerseite hinters Steuer. Ich brauche noch einen Moment, bevor ich losfahren kann, im Augenblick bin ich zu aufgewühlt. Die Stirn ans Lenkrad gelehnt, stoße ich ein lautes Fuck aus. Plötzlich fängt Lilly sich auf der Rückbank an zu bewegen. Ich drehe mich zu ihr um und blicke in ihre verschlafenen Augen. Sie raubt mir augenblicklich den Atem, selbst verschlafen sieht sie wundervoll aus.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken“.

„Kein Problem“, lächelt sie mich an.

„Wo sind wir?“

„Noch bei Clara, ich habe sie noch nach oben gebracht. Sie war zu betrunken, um die Türe selbst aufzuschließen“, sage ich und wende den Blick ab. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, wenn ich über Clara und eben nachdenke.

„Oh, das ist nett von dir, Tristan“, antwortet sie mit einem lauten Gähnen.

Hoffentlich merkt sie meine Unsicherheit nicht, mein schlechtes Gewissen könnte nicht größer sein.

„Willst du eigentlich noch die ganze Nacht hier stehen bleiben, oder fährst du mich noch nach Hause?“

„Wenn du zu mir nach vorne kommst, fahre ich dich wohin du willst“, lächle ich sie an. Ich möchte sie neben mir sitzen haben, jetzt wo sie wach ist. Dann kann ich sie besser ansehen, wenn wir uns unterhalten.

„Keine schlechte Idee. Dann kann ich dir zeigen, wo du herfahren musst“, klettert sie über die Mittelkonsole nach vorne und lässt sich auf den Beifahrersitz gleiten.

„Dann lass uns dich mal sicher nach Hause bringen“, sage ich und schaue sie aus dem Augenwinkel an.

Während der Fahrt nach Ehrenbreitstein schweigen wir. Der Abend war wohl einfach zu ereignisreich. Gedanklich hänge ich bei Clara fest. Lilly wird sicherlich über den unschönen Zwischenfall mit Ole nachdenken. Meine Hände packen fester um das Lenkrad. Anton hätte dem badass Gentleman eine reinhauen sollen!

Keine halbe Stunde später stehen wir vor Lillys Wohnungstür. Ich stelle den Motor ab.

„Wohnst du allein hier?“. Neugierig mustere ich das rosafarbene Haus.

„Nein, ich wohne mit Anton, Henrik und Simon in einer WG“, lächelt sie.

Dann wohnt sie also mit einem Teil ihrer Band zusammen. Es gibt wohl schlechtere Mitbewohner als die eigenen Bandkollegen.

„Und du?“, fragt sie.

„Ich wohne in Koblenz Innenstadt. Allein“, füge ich rasch hinzu.

„Wirklich? Ich arbeite in der Innenstadt. In dem Deli am Friedrich-Ebert-Ring. Komm doch mal auf einen Kaffee vorbei. Also natürlich nur, wenn du magst“ Ihre großen blauen Augen schauen mich erwartungsvoll an.

„Klar, gerne. Das ist auch ganz in der Nähe von meiner Wohnung“, sage ich einen Tick zu überschwänglich in der Freude, dass sie mich wiedersehen will.

„Geht’s dir eigentlich einigermaßen gut? Also ich meine nach dem ganzen Zirkus heute Abend“. Jetzt fange ich schon an, sie mit blöden Fragen hinzuhalten, aber ich kann sie noch nicht gehen lassen.

Ich würde gerne noch ein paar Minuten in diese Augen schauen können und sie dazu bekommen, dass sich ihre Lippen zu einem Lächeln formen. Dann bilden sich wieder diese süßen Grübchen auf ihren Wangen, die ihre Augen noch mehr strahlen lassen! Sie hat so zauberhaft volle Lippen, wie gerne würde ich diese mit meinen berühren.

Sanft, ganz sanft. Vorerst.

Wie sie wohl schmeckt? Ob das Piercing beim Küssen stört?

Entspann dich mal!

„Es geht schon“, reißt sie mich leicht traurig aus meinen Gedanken heraus.

„Weißt du, Ole und ich haben eine sehr chaotische Beziehung hinter uns. Wenn man das überhaupt Beziehung nennen kann. Aber ehrlich gesagt möchte ich heute nicht mehr darüber sprechen. Außer, dass der heutige Abend die Spitze des Eisbergs war und ich mit ihm nie wieder etwas zu tun haben möchte und Lena kann mich auch mal“ Sie zieht ihr Gesicht zu einer Grimasse und versucht, mich anzulächeln, was ihr aber misslingt.

„Kein Thema, Lilly. Ich wollte nicht unhöflich sein. Es geht mich im Grunde genommen auch nichts an, was zwischen dir und Ole ist oder war. Mich hat nur interessiert, ob es dir soweit gut geht und ich dich ruhigen Gewissens gehen lassen kann“, antworte ich ihr ehrlich.

„Das ist sehr lieb von dir Tristan, danke“, beugt sie sich zu mir vor und gibt mir einen verstohlenen Kuss auf die Wange. Als sie die Beifahrertür zum Aussteigen öffnet, atme ich laut aus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich die Luft angehalten habe, als sie sich zu mir gebeugt hat.

Lilly hebt kurz die Hand, bevor sie die Türe schließt, sich umdreht und zur Haustüre schwankt. Ich warte noch, bis sie im Innenhof verschwunden ist. Dann starte ich den Motor meines Wagens und mache mich auf den Weg nach Hause, in mein Bett. Mittlerweile ist es halb vier morgens und ich kann in drei Stunden schon wieder aufstehen.

Als ich in meine Straße einbiege ist zum Glück der Parkplatz vor meiner Haustüre frei.

Wenigstens etwas.

Ich schleppe mich hoch in meine Wohnung, schleudere meine Schuhe in die Ecke und die Jacke auf die Couch. Dann gehe ich ins Schlafzimmer und werfe die Klamotten vor mein Bett.

Stöhnend sinke ich auf meine Matratze, blicke an die Decke und warte auf den Schlaf.

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ALLTAG

Doch in meinen Gedanken schwirrt der Abend umher und ich wälze mich von der einen auf die andere Seite. Wieso bin ich nur so blöd gewesen und habe mich von Clara küssen lassen, mal ganz davon abgesehen, dass ich vor lauter Schreck nicht einmal in der Lage war, mich direkt aus ihren Fängen zu befreien? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr ärgere ich mich über mich selbst.

Ein Blick auf meinen Wecker neben dem Bett sagt mir, dass ich seit über einer Stunde wach liege.

Was soll‘s.